Gestrandet

Metagame

Von Peter

Schwertau, Königreich der Zwölf Auen, Winter 1279

„Verdammt ist es kalt geworden!“ murmelte Logan und zog seinen Umhang enger um die Schultern. Atheris, der größere und deutlich ältere der beiden Vatt’ghern, schaute zu seinem Begleiter rüber und nickte ihm zustimmend zu. Die beiden waren jetzt bereits seit einer Woche im Auftrag des Großmeisters der Greifenhexer Valerian im Grenzgebiet der Schwertau unterwegs. Mit sich führten sie eine gefährliche Ladung, die sicher in einer kleinen verschlossenen Holztruhe verstaut war. „Immer in Bewegung bleiben, haltet euch von Ärger fern und wir treffen uns in zwei Wochen am verabredeten Treffpunkt wieder“ waren die letzten Worte ihres Meisters gewesen. Ohne die eisige Kälte wäre es ein richtig schöner Ausritt gewesen, die Sonne schien strahlend vom Himmel, die Landschaft war vom weißen Schnee bedeckt und die Berge im Hintergrund bildeten eine beachtliche Kulisse. Gegen Nachmittag machten die beiden Reiter am Wegesrand eine Pause. Während Atheris die Karte studierte, versorgte Logan die Pferde. „So ein Mist, die Wasserschläuche sind zugefroren und unser Mittagessen ist hart wie Stein“ schimpfte er und biss dabei leicht genervt auf einem Stück Brot herum. Atheris blickte von der Karte auf und erwiderte, „nicht allzu weit von hier ist, glaube ich, ein Gasthof auf der Karte vermerkt. Er liegt zwar nicht auf unserer vorgesehenen Strecke, aber ich denke, wir sollten den Umweg in Kauf nehmen!“ Der junge Hexer nickte zustimmend. Die Aussicht, die Nacht in einem warmen Bett und mit einer ordentlichen Mahlzeit im Bauch verbringen zu können, hellte ihre Laune auf. Und so schwangen sich die beiden zurück auf den Rücken ihrer Pferde und zogen weiter.

Am Nachmittag waren die beiden Hexer tief in ihren Sätteln zusammengesunken und schwiegen, als sie von einem plötzlichen Wetterumschwung überrascht wurden: Innerhalb von wenigen Momenten wurde aus einem schönen Wintertag das reinste Schneechaos. Der Wind peitschte ihnen den Schnee ins Gesicht und jagte die Kälte endgültig durch ihre Mäntel. „Verdammt! Ich kann die Hand vor Augen kaum noch sehen!“ fluchte Atheris. „Wir müssen aufpassen, dass wir uns in dem Chaos nicht verlieren! Wir sollten uns aneinanderbinden!“ schrie Logan zurück. „Gute Idee!“ erwiderte der große Hexer. Sie befestigten ein Seil zwischen sich und führten fortan ihre Pferde am Zügel. Es dauerte gefühlt eine Ewigkeit, aber schließlich zeigte Atheris auf ein kaum wahrnehmbares Licht mitten im undurchdringlichen Weiß des Schneesturms. Völlig durchfroren erreichten sie das gesuchte Gasthaus „Sieht doch ganz einladend aus“, meinte Logan schmunzelnd. Er war sichtlich erleichtert, endlich angekommen zu sein. Das Gasthaus bestand aus einem zweistöckigen, gemütlich aussehenden Haupthaus und einem Nebengebäude, das aussah wie die Stallungen. Die beiden Hexer führten ihre Pferde in den Stall. Ein Bursche, der gerade dabei war, die Stallungen zu säubern, kam angelaufen und nahm die Tiere in Empfang. Atheris warf ihm eine silberne Münze zu, um sicherzustellen, dass die Reittiere bestens versorgt wurden. Mit ihrem leichten Gepäck unterm Arm gingen sie in den Schankraum. Mit einem prüfenden Blick musterten die beiden Gefährten die anderen Gäste. Am auffälligsten waren vier Soldaten aus der Au, die ebenfalls vor dem Sturm hier Zuflucht gesucht hatten. Am Tresen stand der Gastwirt, ein großer rothaariger Mann, der auch gut und gerne ein Schmied hätte sein können und neben ihm seine auf den ersten Blick wunderschöne Tochter, die ebenfalls rote Haare und Sommersprossen im Gesicht hatte. Entgegen der nördlichen Königreiche wurden Hexer in der Schwertau nicht sofort mit Beleidigungen oder einem Hausverbot bedacht. Hier galt das Gastrecht noch als hohes Gut, und so begrüßte der Wirt die beiden Monsterjäger freundlich. „Guten Tag die Herren, mein Name ist Hermann und das ist meine Tochter Charlotte – was können wir für euch tun?“ eröffnete er seine Begrüßung. „Wir hätten gerne ein Zimmer mit zwei Betten, wenn es geht ein heißes Bad und zuletzt ein warmes Essen mit einer Flasche Wein!“ entgegnete Atheris und legte dabei seine Geldkatze klingend auf den Tresen, um die Zahlungsfähigkeit der beiden zu untermauern. „Wie ihr wünscht, die Herren!“ sagte der Wirt und gab seiner Tochter ein Zeichen. Sie führte die beiden mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht eine Treppe hoch auf die obere Etage, wo sich offensichtlich die Gästezimmer befanden. Ihr Zimmer war einfach, sauber und vor allem warm. Diese Tatsache alleine zauberte Logan ein weiteres breites Lächeln in sein jugendliches Gesicht. „Wenn ihr beiden so weit seid, dann kommt wieder runter: Ich bereite euch das Bad vor“, sprach Charlotte und verließ sie. Wenn sich die scharfen katzenhaften Augen des älteren Hexers nicht täuschten, hatte das Mädchen beim Gehen Logan frech zugezwinkert – ob der Blondschopf das auch bemerkt hatte? Schwer zu sagen, denn er hatte sich schon auf sein Bett geworfen und strahlte wie ein kleiner Junge. „Es braucht ja nicht viel, um dich glücklich zu machen“ lachte Atheris. Nachdem sie ihr Gepäck verstaut hatten, machten sie sich auf den Weg ins Bad. Nur das geheime Truhenförmige mit Tüchern umhüllte Bündel, das sie bewachen sollten, nahmen sie mit.

Als sie sich in den Zuber setzten und das heiße Wasser die Kälte aus ihren Gliedmaßen vertrieb, kehrten vollends die Lebensgeister wieder. Sie ließen sich von Charlotte jeweils einen Humpen Bier bringen und unter den Umständen schmeckte es köstlich und hob ihre Stimmung. Sie blieben eine ganze Weile im Zuber und ließen sich von der Wirtstochter gerne den Rücken schrubben. Gebadet und mit guter Laune machten sie sich später im Schankraum an das Abendessen. Es gab leider kein Wildbret, aber dafür einen schmackhaften Eintopf. Nachdem sie satt waren, gesellte sich Logan an den Tresen und fing an, sich mit Charlotte zu unterhalten, die gerade mit dem Zapfhahn ein frisches Weinfass anschlug, während Atheris sich mit einem Kelch Rotwein an einen freien Tisch setzte, sein Tagebuch aus einer Tasche holte und anfing, seinen letzten Eintrag zu vervollständigen.

Der kürzliche Tod von zwei Reisegefährtinnen während der Sommerfeldzüge hatte ihn in letzter Zeit beschäftigt und veranlassten ihn über sein eigenes Schicksal nachzudenken. So notierte er die folgenden Worte auf die leere Seite: „Nach meinem Empfinden entfaltet sich das Elysium eines Vatt’ghern in seinem Gewissen, und wenn er sich seiner Verantwortung bewusst ist, wenn er gesucht und gefunden hat, wenn er sich dem gemeinsamen Ideal seiner Schule angenähert, seine Pflichten als Jäger erfüllt hat, dann ist er gut darauf vorbereitet, eine Welt zu verlassen, die er ein wenig besser zu machen sich bemüht hat. Er wird seinen Nachfolgern ein Königreich hinterlassen, das von seiner Arbeit geprägt und für alle Menschen lebenswerter sein wird.“ Ein gellender Schrei ließ ihn aufschrecken. Sein Blick traf sich mit dem von Logan und fast simultan zogen sie ihre Schwerter und stürmten los. Hinter dem Tresen führte eine steile Treppe in das Kellergewölbe des Gasthofes, vorbei an einem kleinen runden Tisch, an dem wohl öfters Karten gespielt wurde, vorbei an Regalen voller Geschirr und einem Spülzuber in einen großen Raum, in dem der Wirt seine Vorräte lagerte und in dessen Mitte sich ein alter, verschlossener Brunnen befand. Hier stand die Charlotte, die kreidebleich und mit beiden Händen an den Wangen etwas anstarrte, was weiter hinten im Raum vor den Blicken der Hexer verborgen lag. Mit gezogenen Schwertern drängten sich die beiden an der Frau vorbei. Ein paar Füße schauten hinter einem großen Fass hervor. „Das ist einer der Soldaten aus der Au!“ flüsterte Logan. Sie näherten sich weiter und behielten dabei die Umgebung genau im Auge, aber sie konnten keine weitere Gefahr ausmachen. Atheris beugte sich zum Leichnam des Soldaten runter und untersuchte ihn. Die Todesursache war schnell gefunden, ein scharfes Küchenmesser steckte in seinem Brustkorb. Er war an seinem eigenen Blut erstickt. Es gab keine Anzeichen für einen Kampf im Raum, noch wies der Körper weitere frische Blessuren auf. Als sich die beiden Hexer gerade daran machten den Raum weiter zu untersuchen, kamen die drei Kameraden des Gefallenen angelaufen. Die leicht angetrunkenen Soldaten sahen ihren Mann am Boden liegen und der älteste von ihnen schrie: „Was bei allen Göttern ist hier passiert! Verdammt! Macht Platz!“ fuhr er fort und schob die beiden Hexer zur Seite. Atheris und Logan blickten sich kurz an und zogen sich in den Schankraum zurück. Als sie sich wieder an ihren Tisch gesetzt hatten, fragte der jüngere der beiden Hexer: „Was meinst du was da unten passiert ist?“ „Ich kann wirklich nicht sagen, was da unten passiert ist Logan, es sieht für mich auf den ersten Blick nach einem Unfall aus! Letztendlich ist es aber nicht unser Problem. Valerians Anweisungen sind eindeutig, wir sollen uns aus Ärger heraushalten und auf das Artefakt achten“ erwiderte der sichtlich mies gelaunte muskelbepackte Hexer. Sie blieben noch eine Weile im Schankraum, bevor sie sich in ihr Zimmer begaben und sich zur Nachtruhe niederlegten. Die Tür und die Fenster sicherten sie mit kleinen Alarmglöckchen ab, diese hatte ihnen ihr Freund der Händler und Meisterattentäter Heskor mitgegeben, der berühmt für sein Alarmglöckchenspiel ist.

Am nächsten Morgen erwachte Atheris ausgeschlafen nach einer ruhigen Nacht. Wie er schnell feststellte, war er alleine im Zimmer. Das zweite Bett war leer, jedoch lag Logans Ausrüstung noch wie am Vorabend aufgeräumt auf einem Stuhl in der Zimmerecke. Die Tür war verschlossen, aber nicht mehr gesichert, er musste heute Nacht unbemerkt das Zimmer verlassen haben. Der Hexer zog sich an, prüfte das geheime Bündel, das neben ihm im Bett gelegen hatte, und nachdem alles in Ordnung schien, ging er hinunter in den Schankraum. Auch hier war sein Begleiter nicht aufzufinden. Nicht dass er sich Sorgen um ihn machte, sein Freund war durchaus mehr als in der Lage, auf sich selber aufzupassen, aber unter den Umständen des Vorabends würde er ihn doch gerne bei guter Gesundheit wissen, bevor er sich einem ausgiebigen Frühstück widmen würde. Nachdem er seinen Gefährten im Haupthaus nicht findet konnte, machte er sich über den kleinen überdachten Verbindungsweg auf den Weg zum Nebengebäude. Der Schneesturm hatte über Nacht kaum an Stärke verloren, und der Schnee peitschte ihm erneut unangenehm ins Gesicht. „So schnell werden wir hier wohl nicht wegkommen!“ seufzte er leise vor sich hin und schritt die letzten Meter weiter zu den Stallungen. Dort angelangt vergewisserte er sich, dass ihre beiden Pferde gut versorgt waren. Gerade als er dabei war, seinem schwarzen Hengst Ker’zaer eine Rübe zu reichen, vernahm er ein Geräusch vom Dachboden. „Logan! Bis du da oben auf dem Heuboden?“ rief er laut. Es dauerte nicht lange und der blonde Schopf schaute über den Rand nach unten und sein breites Grinsen im Gesicht sprach Bände. „Kommst du auch zum Frühstücken oder brauchst du noch etwas Zeit?“ fragte Atheris mit einem Grinsen im Gesicht. Der junge Hexer ließ sich elegant vom Heuboden herabgleiten, ihm folgte wenig später Charlotte und beide schlossen sich dem älteren Hexer an. Wenig später waren die beiden Gefährten mit dem Essen fertig und unterhielten sich, was sie als nächstes tun sollten. „Wir sind hier vorerst gestrandet Logan, und werden hier noch eine Zeit ausharren müssen!“ sprach Atheris und nippte an seinem Becher. „Wollen wir den Mord an dem Soldaten weiter untersuchen?“, fragte der junge Hexer, während er seinen heißen Tee schlückchenweise trank. „Die Anweisungen von Valerian waren klar, ‚haltet euch von Ärger fern!‘ Und zudem hast du ja selber mit angesehen, dass die Soldaten unsere Hilfe nicht wollen, also halten wir die Füße still und erledigen unseren Auftrag!“ Und so kam es, dass die beiden Hexer einen ruhigen Tag im Haus verbrachten. Logan vertrieb sich seine Zeit am Tresen, indem er viel mit Charlotte turtelte, und Atheris saß mit dem geheimen Paket in einer Ecke des Schankraumes und las in einem Buch mit dem Titel „Vampire – Fakten und Mythen“. Meister Valerian hatte es ihm auf die Reise mitgegeben, um sein Wissen um die Blutsauger zu vertiefen. Gerade las Atheris die spektakuläre Hypothese des Dottore Marxell Hippocampi der Universität Kastell Graupian, nach welcher ‚Vampiroide nur Blut Anderer trinken müssen, weil sie nicht bei Tageslicht hinauskönnen und deswegen einen wichtigen Nährstoff im Körper nicht bilden können, der sich nur bei Tageslicht synthetisiert im Körper – man könnte also sagen Ihre Lebensvoraussetzung der Dunkelheit mache sie depressiv, und der Rausch unseres Blutes heile sie von dieser Tristessé.‘

Der ältere der beiden Hexer beobachtete immer wieder das Treiben im Schankraum und wie die Schwertauer Soldaten versuchten, dass Schicksal ihres Kameraden zu ergründen. Der Abend verging genauso ereignisarm wie der Rest des Tages. Nach einem guten Abendessen verabschiedete sich Atheris und ging zu Bett. „Ich komme in ein paar Augenblicken nach, ich werde noch einmal im Stall nach dem Rechten schauen!“ gab ihm Logan mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Nachdem das Zimmer wieder mit den Glöckchen abgesichert war, legte sich der große Hexer ins Bett und schlief sofort ein. Es war mitten in der Nacht, als ein abscheulicher Schrei ihn abrupt aus seinen Träumen riss. Die einsetzenden Rufe und Befehle der Soldaten verrieten, dass nichts Gutes passiert sein konnte. Schnell zog sich Atheris Hose und Hemd an und machte sich mit seinem Schwertgurt über die Schulter geworfen auf den Weg runter in den Keller, aus welchem er die Stimmen der Soldaten hörte. „…es kann nicht sein, niemand hat den Keller betreten, wir hatten permanent eine Wache am Eingang stehen!“ stammelte einer der Soldaten, sie verstummten, als sie Atheris die Treppe runter schreiten sahen. „Darf ich fragen was passiert ist und warum hier so ein Tumult mitten in der Nacht ausgebrochen ist, oder soll ich mich wieder schlafen legen, weil ihr alles im Griff habt?“ fragte der muskulöse Hexer die zwei vor ihm stehenden Soldaten. Nach einem kurzen Blickwechsel entgegnete der ältere der beiden: „Unser Kamerad war im Kellergewölbe unterwegs, um weiter nach Hinweisen für das Geschehen gestern Abend zu suchen, als wir den Schrei hörten. Er liegt dahinten, neben dem Regal, es ist auf ihn gekippt und hat ihn vermutlich erschlagen!“ Er zeigte auf ein umgestürztes schweres Holzregal im hinteren Teil des Raumes. Neben zerbrochenen Krügen und Tellern lag der Verstorbene, den die beiden Kameraden bereits geborgen und dort unter einem Tuch abgelegt hatten. „Darf ich mir ein Bild von der Lage machen, oder wollen die Herren Soldaten ihre eigenen Ermittlungen fortführen?“ fragte Atheris mit einer bewusst hochgezogenen Augenbraue. Wieder blickten die beiden sich an, dann nahm einer seine Geldkatze von der Seite und fragte Atheris mit einem verachtenden Blick: „Wieviel nimmst du, Meister?“ über das ‚Meister‘ wollte er beinahe grinsen, ließ sich aber nichts anmerken. Atheris ließ die beiden links stehen und antwortete ohne sich umzudrehen „die nächste Runde geht auf euch!“ Gerade als er sich dem Gefallenen näherte, stieß Logan zu ihm. „Sieht auf den ersten Blick wieder wie ein Unfall aus!“ meinte der junge Hexer und betrachtete das Chaos vor sich. Atheris blickte auf und schaute zu ihm rüber, „so erscheint es zumindest! Hast du dich geschnitten Logan? Du hast Blut an deinem Hals!“ sprach er und senkte seinen Blick wieder. „Das ist nur ein Kratzer, Charlotte hatte sich bei dem Schrei erschreckt und muss mich dabei gekratzt haben!“ erwiderte er. „…Ganz gewiss hat sie dich dabei gekratzt.“ Zwinkerte Atheris ihm zu. Beide machten sich an die Arbeit und begannen sich systematisch vom Körper aus umzuschauen. Nach einer Weile setzten sich die beiden auf den Rand des versiegelten Brunnens, der ganz in der Nähe des Opfers mitten im Raum war, und begannen zu diskutieren. „Die Todesursache war definitiv das gebrochene Genick des Mannes. Das schwere Regal hat ihm beim Umstürzen unglücklich erwischt – es sieht auch bei genauerer Betrachtung noch nach einem Unfall aus!“ fasste Logan die Erkenntnisse zusammen. Atheris nickte zustimmend und dachte laut nach: „Es sieht aus wie ein Unfall, definitiv. Es gibt auch keinerlei Hinweise, die darauf schließen lassen, dass jemand anderes in diesem Raum war, und die Soldaten hatten den einzigen uns bekannten Zugang zusätzlich auch noch permanent bewacht. Aber wir sind uns beide einig, dass die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Unfälle innerhalb von so kurzer Zeit, die mitten in der Nacht passieren und zwei erfahrenen Soldaten das Leben gekostet haben, nicht sehr hoch sein kann.“ Der große Hexer ließ den Blick durch den Raum wandern, verharrte kurz bei der Vorratskammer, in dem der andere Soldat aufgefunden worden war und blickte wieder zurück zu Logan, bevor er weitersprach: „Eines haben beide Vorfälle aber gemein, die Soldaten sind jeweils mit dem Blick in unsere Richtung verunglückt, kann das ein Zufall sein? Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand so schnell rückwärts gegen ein Regal stößt, dass dieses auf ihn stürzt? Du hast es gesehen, dass Regal ist alt, aber stabil und war zusätzlich sogar noch in der Wand leicht verankert. Ich bin fest davon überzeugt, dass es nicht ohne weiteres umgefallen sein kann!“ Beide saßen noch eine ganze Weile da und sprachen mögliche Theorien durch, aber weder kamen sie auf eine plausible Erklärung noch fanden sie einen weiteren Hinweis, der ihnen half. Während die beiden Soldaten sich um ihren toten Kameraden kümmerten und der Wirt mit seiner Tochter anfing, den Keller wieder aufzuräumen, machten sich die beiden auf den Weg zu ihrem Zimmer und legten sich schlafen. Der neue Morgen brachte nichts neues, das Schneechaos war noch schlimmer geworden und es gab weder von den Soldaten noch vom Wirt Nachrichten über weitere Vorkommnisse in der Nacht. „Ich denke es bleibt uns nichts Anderes übrig, als uns heute Nacht selber auf die Lauer zu legen und mit eigenen Augen zu prüfen, was da Nachts im Gewölbe vor sich geht“, sagte Atheris, während er ein Stück Wurst abschnitt und es auf sein Frühstücksbrot legte. „Wie wollen wir das anstellen?“ entgegnete Logan interessiert. „Ganz einfach, wir stecken dich in ein leeres Fass und du beobachtest, was passiert und falls es gefährlich wird, schreist du laut. Währenddessen werde ich vor dem Keller die Stellung halten“, antwortete der ältere Hexer. Logan’s Blick verlor seine fröhliche Mimik, denn es war klar, dass ihn die Aussicht auf die bevorstehende Nacht nicht sonderlich glücklich machte – wenngleich er das Ausharren in Holzkonstruktionen gewöhnt war, zumindest laut hartnäckiger Schulexterner Gerüchte bezüglich eines ominösen Hexerschrankes. In den Armen von Charlotte hätte es ihm sicherlich besser gefallen, aber das war nun mal das Schicksal eines Vatt’ghern. Nachdem sie die beiden verbliebenen Soldaten und den Wirt über das Vorhaben unterrichtet hatten, verbrachten sie den Mittag mit den Vorbereitungen. Ein präpariertes Eichenfass stellten sie in eine schlecht ausgeleuchtete Ecke, so dass Logan eine gute Sicht auf den Raum haben würde. Einen kleinen Hocker konnten sie im Versteck noch unterbringen, dadurch würde es zumindest etwas bequemer werden. Einigermaßen zufrieden mit ihrer Arbeit zogen sich die beiden in ihr Zimmer zurück, damit sie für ihr Vorhaben gut ausgeruht sein würden.

Am späten Abend saß Logan schließlich in seinem Versteck. Ihm war schnell langweilig und seine Gliedmaßen schmerzten nach kurzer Zeit. Die Meditationsübungen, die er von Meister Valerian gelernt hatte, halfen ein wenig die Situation erträglicher zu machen. Innerlich verfluchte sich Logan, dass er bei diesen Lektionen nicht besser aufgepasst hatte. Er hatte immer mehr Spaß beim Fechten und den körperlichen Übungen gehabt. Die Meditationsübungen hatte er immer als die Spinnereien eines alten Mannes abgetan und das rächte sich nun. Wie lange er letztendlich in dem Fass verbrachte, konnte er nicht mehr sagen; und als er gerade innerlich am Hadern und Schimpfen war, wäre im fast die leichte Bewegung am Rand des Brunnens entgangen. Sein Adrenalinspiegel schnellte nach oben und seine Sinne schärften sich. „Was bei Valerians grauem Bart ist das nur?“ dachte er sich und beobachtete, wie jemand oder etwas aus dem verschlossenen Brunnen kletterte. Das Wesen stand nun im Raum, mit dem Rücken zu ihm gewendet. Von der Statur her war es ein junges Mädchen, vielleicht zwölf Jahre alt mit hellem schütterem Haar. Es stand da, nur mit einem zerschlissenen Nachthemd bekleidet. Unter ihr bildete sich langsam eine Pfütze und ihre nackten Füße platschten spielerisch in dem Wasser. Logan hatte in seinem Leben schon einiges an Monstern und geheimnisvollen Wesen gesehen, aber das sich ihm jetzt bietende Szenario verursachte bei ihm eine Gänsehaut. Ziemlich lange stand das Mädchen einfach nur da, den Blick zu Boden gerichtet, das lange Haar verdeckte ihr Gesicht und die Schultern hingen schlaff nach unten, als ob es keine Körperspannung hätte. Es summte dabei eine kaum hörbare Melodie, die Logan seltsam vertraut vorkam und in ihm traurige Gefühle weckte. Gerade als er sich an die Situation gewöhnte, wendete das Mädchen plötzlich den Kopf in seine Richtung, der Blick der fahlen Augen, die ihn gefühlt direkt durch das Fass anstarrten, ließen sein Herz zu Eis erstarren. Ohne dass es ihm bewusst war, hielt er die Luft an. Nach einer gefühlten Unendlichkeit verschwand das Mädchen schließlich wieder in den verschlossenen Brunnen. Der junge Hexer zählte langsam bis hundert, beruhigte seine Nerven und stieg endlich aus dem Fass. Er ging zum Brunnen und betrachtete die Abdeckung: Sie war massiv, verschlossen und es gab auch kein Anzeichen für eine Pfütze an der Stelle, wo gerade noch das Mädchen gestanden hatte. „Das erklärt einiges!“ murmelte Logan und ging mit schmerzenden Gliedmaßen in Richtung Ausgang. Hinter der Tür kauerte Atheris auf der Treppe, seine silberne Klinge war gezogen und ruhte griffbereit auf seinem Schoß. Er blickte auf, als Logan durch die Tür trat.

Wenig später saßen alle versammelt im Schankraum und Logan erzählte ausführlich über seine Beobachtungen, anschließend zogen sich die beiden Hexer in eine Ecke zurück und besprachen das weitere Vorgehen. Atheris holte aus seinem Reisegepäck ein altes Buch hervor mit dem Titel „Geister, Erscheinungen und die Verdammten“, er hatte es aus der Bibliothek von Kaer Iwhaell mitgenommen, zumindest was von der gestohlenen und abgebrannten Bibliothek seit der redanischen Belagerung übrig blieb, und sah nun eilig Seite für Seite durch bis er schließlich den gesuchten Eintrag mit einer Zeichnung gefunden hatte. Mit einem Finger zeigte er auf das Bild und meinte „deine Beschreibungen haben mich hieran erinnert, Logan. Was meinst du?“ „Es trifft ziemlich gut zu, allerdings Bekleidung und vor allem das Alter war natürlich anders,“ stimmte der junge Hexer zu. „Will man eine Erscheinung loswerden, muss man zuerst ihren Körper finden. Man versuche es in ungeweihter Erde oder in der Ecke eines Friedhofs, wo Gesetzlose begraben werden. Wenn man den Leichnam ausgräbt, wird man feststellen, dass er nicht verwest ist und Blut auf den Lippen hat. Man durchbohre den Leichnam mit einem Espenpflock, schneide den Kopf ab, lege ihn dem Leichnam zwischen die Beine und zünde alles an – sicher ist sicher. Dann kehrt die Erscheinung niemals zurück. Es sei denn, man macht etwas falsch – dann ist es um einen geschehen!“ las Atheris laut aus dem Buch vor und blickte seinen Freund an. „Also fehlt uns nur der Leichnam, ein Espenflock – wo auch immer wir den herbekommen sollen im Winter – und einen Friedhof hat es hier auch nicht und ja, ich denke auch was du denkst, die Erscheinung kam aus dem Brunnen und…“ Logan schluckte bei dem Gedanken und hielt kurz inne bevor er fortfuhr „…im Brunnen, das bedeutet einer muss sich wohl abseilen und nach dem Körper tauchen. Schau mich nicht so mit deinen Katzenaugen an Atheris, wir knobeln wie immer!“ fasste Logan zusammen. Atheris blickte an sich herunter und deutete mit seinen beiden Handflächen die Breite seines Körpers an und anschließend tat er das gleiche bei Logan, er sagte aber nichts weiter, und der junge Hexer gab mit einem Nicken zu verstehen, dass er dem Argument zustimmte. So kam es, dass Logan nur wenig später an einem Seil hängend in die Dunkelheit herabgelassen wurde. Wie sehr wünschte er sich die Katzenaugen von Atheris in diesem Moment. Als er den Wasserspiegel berührte, schnitt das kalte Wasser wie ein Dolch in seine Haut. „Der Brunnen musste gewiss von einem Gletscher unterirdisch gespeist werden!“ dachte sich der junge Lehrling. Als Logan komplett ins Wasser eingetaucht war, konnte er im ersten Moment nichts außer den Steinwänden mit den Händen ertasten und seine Füße fanden den Grund nicht. Logan holte ein paar Mal tief Luft und ließ sich dann unter die Wasseroberfläche gleiten. Nach einer kurzen Strecke öffnete sich eine größere Zisterne und er konnte sich nicht mehr am Brunnenrand orientieren. Die dunkle Kälte umfasste ihn, und er verlor das Gefühl für Raum und Zeit. Fast wäre er in Panik geraten, als etwas Weiches seinen nackten Fuß berührte. Geistesgegenwärtig machte er eine Rolle und griff beherzt nach dem Etwas, das ihn da berührt hatte. Er fühlte sich sehr beklommen, als ihm klar wurde, dass er eine kleine Hand in seinem Griff hatte. Er zog dreimal am Seil und tauchte vorsichtig dem kleinen Licht entgegen, das durch die Lampe, die Atheris runtergelassen hatte, verströmt wurde. Mit dem Seil zogen sie den kleinen, zerbrechlich wirkenden Körper hoch in das Kellergewölbe.

„Für eine Wasserleiche ziemlich gut erhalten, lediglich die Blutspuren auf dem Mund fehlen, aber sie lag ja auch im Wasser und nicht unter der Erde. Hier am Hals weist sie eine Wunde auf, könnten Bissspuren sein, aber es ist nicht mehr wirklich gut zu erkennen, zu aufgequollen ist die Haut!“ sprach Atheris und zeigte zuerst auf die Lippen und anschließend auf die Stelle am Hals. Logan, der sich in der Zwischenzeit abgetrocknet und wieder angezogen hatte, nickte zustimmend. Der Wirt und die Soldaten betrachteten ebenfalls den Leichnam, konnten aber auch keine neuen Erkenntnisse liefern. Der Wirt wusste auch nicht von einem vermissten Mädchen zu berichten. Er und die beiden Soldaten legten zusammen und boten den Vatt’ghern in Summe zwei Gold- und vier Silberstücke, wenn Sie sich um das Problem mit dem Geist kümmern würden. „Wir nehmen den Auftrag an!“ sagte Atheris und nahm die Münzen an sich. Die beiden gingen auf ihr Zimmer. Auf dem Weg dorthin flüsterte Logan: „Was ist aus dem Vorsatz geworden, uns aus allen Schwierigkeiten rauszuhalten?“ Atheris blieb stehen und blickte Logan in die Augen bevor er antwortete: „Ich weiß Logan, es sind nicht die Anweisungen unseres Meisters, aber hier sterben Menschen und wir können versuchen, etwas dagegen zu machen. Valerian hat noch nie jemanden im Stich gelassen, der unsere Hilfe benötigte und ich denke, wenn er hier wäre, würde er nicht anders handeln wie wir. Außer dass er wohl besser wüsste, auf was er sich hier einlässt als wir beide!“ Beim letzten Satz mussten beide schmunzeln und gingen weiter.

Die Vorbereitungen für den Bannversuch dauerten den ganzen Nachmittag an, doch woher den Espenpflock nehmen? Logan brachte Besenstile und Heugabeln – doch war jenes Holz schon brüchig und voller Makel. Atheris grübelnder Blick schweifte durch den Schankraum, bis er auf einen Gegenstand auf dem Tresen verharrte: Den massiven Zapfhahn eines Weinfasses.

Die beiden Hexer bereiteten die Überreste wie in dem Buch beschrieben vor. Es war sicher nicht die beste Idee, das Feuer im Kellergewölbe zu entzünden, aber einen besseren Raum gab es in diesem Schneechaos nicht. Anschließend bauten sie in ihrem Zimmer das kleine Reise-Alchemie-Labor auf und fertigten ein Klingenöl an, das im Wesentlichen aus Arenaria und Bärenfett bestand. Logan betrachtete seine eingefettete Silberklinge und zitierte aus dem Lehrbruch: „Es existiert eine geheimnisvolle Grenze zwischen den Welten der Toten und der Lebenden, welche für rastlose Geister einfacher zu überqueren ist als für Menschen. Wenn Ihr einen geisterhaften Gegner verletzen wollt, dann überzieht zuerst eine Klinge mit diesem Öl. Dann erst wird die Waffe den Vorhang durchdringen können, der die Welten trennt und somit den Geist schädigt.“ Als letzte Vorsichtsmaßnahme bildete Atheris das Zeichen Yrden um die zu verbrennenden Überreste. Die magische Falle würde ihnen einen weiteren Vorteil verschaffen, falls etwas Unerwartetes passieren sollte. Logan beherrschte das Zeichen zwar nicht, aber untertützte Atheris beim Wirken mit seiner eigenen Kraft.

Nachdem die Vorbereitungen kurz nach Einbruch der Nacht beendet waren, verließ der Wirt den Keller und nur die beiden Hexer blieben zurück. Atheris wirkte ein kleines Igni-Zeichen und der magisch entstandene Funke setzte die mit Öl übergossene Leiche in Brand, in ihr gipfelnd ein eingeschlagener Zapfhahn im Brustkorb, der Fasshammer zum Anstich noch daneben liegend. Ein unangenehmer Geruch verbreitete sich im Raum und der Qualm begann in den Augen zu brennen. Gerade als das Feuer seinen vermeintlichen Höhepunkt erreichte, barst der Körper in einem Funkenregen auseinander, und wie eine Furie brach die Erscheinung hervor und mit einem hasserfüllten Gesichtsausdruck, wendete sie sich gegen Atheris, der mit gezogenem Silberschwert bereitstand. Er duckte sich unter dem ersten Schlag der Verdammten hinweg, berührte mit seiner Hand das Yrden-Zeichen und schickte all seine magische Energie hinein. Ein violetter Lichtkegel bildete sich augenblicklich um das Wesen und den Hexer und ließ ersteres sich manifestieren. Nun kam die Zeit der Schwerter: Logan sprang von hinten in den Kreis und durchbohrte mit seiner Klinge die Erscheinung. Mit großen überraschten Augen betrachtete diese den aus dem Brustkorb ragenden Ort des silbernen Schwertes, und als nach einem kurzen Augenblick das Wesen den Blick wieder auf Atheris richtete, konnte sie nur noch die im Feuerschein blitzende Klinge des großen Hexers wahrnehmen, bevor sich ihr Kopf vom restlichen Körper trennte und der ganze Spuk sich in einer grauweißen Wolke auflöste. „War es das jetzt?“ fragte Logan. „Ich denke…ja!“ antwortete Atheris langsam. „Es ging ehrlichgesagt… schnell. Sehr schnell. Es lief etwas anders als erwartet, aber die Vorbereitung hat sich bezahlt gemacht!“ fügte er nach einem kurzen Moment des Schweigens hinzu. Er zuckte überrascht mit den Schultern. Die beiden Gefährten verharrten noch eine Weile an ihren Plätzen und betrachteten die Glut bis diese endgültig erloschen war. Erst als nur noch die kalte Asche übrig war und es keinerlei weitere Anhaltspunkte mehr gab, dass noch etwas in dieser Nacht passieren könnte, packten die Hexer ihre Ausrüstung zusammen und verließen den Keller. „Ist es vorbei?“ fragte Charlotte, die Wirtstochter, mit großen Augen, als die beiden Hexer den Schankraum betraten. „Ja, es ist vorbei!“ antwortete Logan ihr mit einem liebevollen Lächeln. Zur Erfrischung bot der Wirt ihnen jeweils einen großen Krug Bier an, und die beiden Freunde nahmen es dankend an. „Es gibt Schlimmeres, als sich den Staub mit einem Bier die Kehle herunterzuspülen!“ sagte Logan und leerte den ersten Becher mit einem Zug, und Atheris tat es ihm gleich. Nach einigen weiteren Runden wollte Logan nach den Pferden sehen und verabschiedete sich mit einem Augenzwinkern von dem großen Hexer. Es war natürlich kein Zufall, denn Charlotte hatte erst vor wenigen Augenblicken den Schankraum in Richtung Stall verlassen. „Es sei dem Kleinen gegönnt!“ dachte sich Atheris und nahm noch einen großen Schluck, dann begab er sich zu Bett. Währenddessen lag Logan auf dem Heuboden im Stroh und ließ sich von seiner Herzensdame langsam ausziehen. Er genoss den Duft ihrer Haare, die durch sein Gesicht streiften und die sanften Lippen, di seine nackte Brust berührten. Er ließ sich komplett fallen und lebte ganz im Hier und Jetzt. So kam es, dass er die beiden scharfen Zähne von Charlotte nicht bemerkte, die auf einmal aus ihrem Mund ragten. Wie hypnotisiert ließ er alles über sich ergehen. Selbst den Moment, als die messerscharfen Zähne in seinen Hals eindrangen, quittierte er nur mit einem lauten Aufstöhnen. Zeitgleich erreichte Atheris das Schlafzimmer und wollte gerade das aufgeschlagene Buch über Vampire, das noch auf seinem Bett lag, beiseitelegen, als sich auf einmal sein Augen weiteten, die Haut bleich wurde und der Adrenalinspiegel nach oben schoss. Er zog in einer flüssigen Bewegung sein Silberschwert aus der Scheide, griff in Eile nach einem kleinen Hölzernen Kästchen, in dem sich ein halbes Dutzend kleiner Phiolen befand, griff sich Diejenige mit der Aufschrift „schwarzes Blut“, löste den Verschluss, schluckte die übel schmeckende Flüssigkeit hinunter und sprintete los. Das Buch, indem er gerade noch gelesen hatte, fiel dabei geöffnet vom Bett auf den Boden. Auf dessen linker Seite war eine Zeichnung zu erkennen, die eine wunderschöne junge Frau dargestellte, und auf der anderen Seite ein Monster, das nur noch entfernt an ein weibliches Wesen erinnerte, dessen Maul mit spitzen Zähnen ausgestattet war und dessen Hände wie furchtbare Klauen aussahen. Der Text darunter lautete: „Es heißt, Bruxae suchen attraktive junge Männer heim und saugen ihnen das Blut aus. Diese Vampire bewegen sich lautlos in der Dunkelheit und tauchen unvermittelt vor ihren Opfern auf. Bruxae können die Gestalt wunderschöner junger Mädchen annehmen, weshalb manche sie mit Wassernymphen verwechseln, doch ihre langen Fangzähne und ihr unverhohlener Blutdurst verraten sie immer…“. Atheris erreichte den Nebeneingang zum Stall, in seinem Gesicht traten auf Grund des Trankes seine Adern bereits schwarz hervor. Er riss die Tür auf und stürmte in die Stallung. Sein Blick wanderte sofort Richtung Heuboden, auf dem er die beiden Liebenden bereits das letzte Mal vorgefunden hatte. Er erkannte nur noch Charlottes roten Schopf, weitere Ähnlichkeit hatte das Wesen, das er über Logan gebeugt sah, nicht mehr mit dem hübschen Mädchen gemein. Er bündelte alle seine verbliebenen magischen Reserven und wirkte das Ard-Zeichen, welches für Atheris‘ Verhältnisse eine sehr heftig ausfallende Druckwelle auslöste, durch welche die beiden vorderen Stützen des Dachbodens weggerissen wurden. Logan und der Vampir krachten hart auf den Stallboden, Atheris näherte sich mit einem riesigen Satz und mit einem gut platzierten Stoß durchbohrte er die Brust der Bruxa. Für einen kurzen Moment stiegen schon Triumphgefühle in dem älteren Hexer auf, und ein zufriedenes Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, als er sein Schwert mit einem Ruck aus dem Körper des Monsters befreite, um zu einem weiteren tödlichen Schlag in Richtung Hals auszuholen. Im letzten Moment blockte der Vampir mit seinen scharfen Klauen die Klinge. Den Gegenangriff mit der anderen Klaue konnte Atheris gerade noch mit der Parierstange seines Schwertes abfangen. Mit wilden Hieben trieb Charlotte den Hexerlehrling zurück. Gerade als sich eine Kontermöglichkeit ergab und er einen tiefen Stoß in Richtung Kehle platzieren wollte, löste sich das Wesen vor ihm in Luft auf. „Verdammt, ich wusste nicht, dass die das können!“ fluchte der Hexer und bewegte sich vorsichtig in Richtung Logan, der gerade dabei war wieder zu sich zu kommen. „Über dir, Atheris!“ schrie Logan. Der Angriff des Vampirs kam von oben, aber dank Logan konnte Atheris gerade noch reagieren: Es fehlte nicht viel und ihre Klauen hätten ihm seinen Hals zerfetzt, so aber gruben sich die Krallen tief in seine linke Schulterrüstung und hinterließen drei tiefe Schrammen im Stahl. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Atheris es schaffte, sie mit einem Schlag des Schwertknaufes, den er ihr mitten ins Gesicht verpasste, abzuschütteln. Die Bruxa taumelte nun schwer im Gesicht getroffen von dem Hexer weg. Es sah so aus, als ob der Schlag sie ein paar Zähne gekostet hatte „ich glaube du hast da was verloren!“ schrie der Hexer und setzte ihr nach, und mit einer schnellen einstudierten Folge von Hieben, die er sich von seinem Meister abgeschaut hatte, konnte er dem Wesen noch einige Wunden hinzufügen. Bevor er jedoch den letzten, vermeintlich tödlichen Hieb des Ausfalls setzten konnte, löste sich der Vampir wieder in Luft auf, so dass der Hau nur die Luft zerschnitt. „Verdammt!“ fluchte Atheris und nahm sofort wieder seine Hut ein. Die Pferde wieherten und der schwarze Ker’zaer war inzwischen kurz davor, die Tür seiner Box zu zerlegen. Er blickte sich in alle Richtungen um und versuchte in seinen Bewegungen kein Muster erkennen zu lassen. Sein Blick suchte Logan, doch er konnte seinen Freund nicht mehr sehen. Ein Fußabdruck auf dem von Hafer und Stroh bedeckten Boden verriet den nächsten Angriff des Vampirs. Mit einer schnellen Drehbewegung verbunden mit einem tiefen Ausfallschritt gelang es Atheris erneut das Wesen mit einem präzisen Stoß zu durchbohren. Die Wucht des Angriffs des Vampirs warf beide zu Boden, und der Hexer konnte seine Klinge nicht mehr befreien. Die beiden rollten ineinander verschlungen über den Boden. Atheris versuchte immer wieder mit kurzen, aber harten Faustschlägen, sich einen Vorteil zu verschaffen und so das Wesen abzuschütteln, aber sie erzielten leider nicht die erhoffte Wirkung. Letztendlich war es die Bruxa, die es schaffte, den Hexer am Boden festzunageln, und ihre Fänge gruben sich in seinen Hals. Gerade als er dabei war das Bewusstsein zu verlieren durchbohrte eine lange Silberklinge den Kopf des Monsters. Ihre Augen brachen und die Bruxa verwandelte sich zurück in das junge Mädchen. Logan zog langsam seine Klinge zurück, und man konnte ihm ansehen, dass er innerlich zutiefst erschüttert schien. „Danke Logan, das war im aller letzten Moment!“ stöhnte Atheris, sichtlich gezeichnet von dem Kampf, versuchte er sich zu erheben. Gerade als die beiden den Stall verlassen wollten, kam der Wirt hereingestürmt. Als er seine Tochter tot am Boden liegen sah, brach er in Tränen aus, und er begann mit einem lauten Wehklagen. Logan ergriff das Wort und erklärte im ruhigen Tonfall dem verzweifelten Mann, was sich zugetragen hatte und dass dies hier mit Sicherheit nicht seine Tochter war. Der junge Hexer blieb beim verwirrten Mann, während Atheris sich zurück zum Zimmer schleppte. Er suchte in der kleinen Holzkiste die rote Flasche mit der Aufschrift „Schwalbe“ und trank den Inhalt in einem Schluck. Es schmeckte etwas bitter, aber er hatte sich in letzter Zeit leider an den Geschmack gewöhnen müssen. Mit dem Gedanken, die Welt wieder ein wenig sicherer gemacht zu haben, legte sich Atheris auf sein Bett, vertraute sich der Wirkung des Trankes an und fiel Dank des enthaltenen Diethylethers in einen tiefen heilenden Schlaf. Vier Tage später ließ der Schneesturm endlich nach und auch Atheris war wieder in einem Zustand, der ihm eine Weiterreise erlaubte. Logan hatte die Pferde gesattelt und die Ausrüstung sicher verstaut. Es fehlte nur noch die geheimnisvolle kleine Truhe, die Atheris mit sich trug. Nach einer kurzen Verabschiedung gaben die beiden Hexer ihren Reittieren die Sporen und machten sich auf die längst überfällige Weiterreise.

Der Wirt beobachtete die beiden Reiter, wie sie in der Winterlandschaft verschwanden. Das Wesen, das sich hinter ihm aus dem Nichts materialisierte, bemerkte er dabei nicht.