Vorwort

Die Handlung der folgenden Geschichte setzt direkt nach den Ereignissen von ‚Das letzte Gefecht‘ ein und erzählt die abenteuerliche Reise der Greifen, nachdem sie durch das Portal geflohen sind.

Auf unbekannten Pfaden

Metagame von Peter

Winter 1280

Kapitel 1 – Flucht

Blaue Blitze bildeten sich um den Portalkreis und durchzuckten den Innenhof im alten Teil von Kaer Iwhaell. Die Szenerie vor seinen Augen schien zu verschwimmen, und einen Augenblick später umhüllte ihn absolute Dunkelheit. Ein inneres Gefühl der Zerrissenheit überkam ihn. Sein Körper fing an zu kribbeln und zu stechen, als wenn er in einem Ameisenhaufen liegen würde. Der Zustand hielt eine gefühlte Ewigkeit an. Atheris traute sich weder zu atmen noch sich in irgendeiner Form zu bewegen, sofern er dies überhaupt hätte tun können. Wie lange der Portalsprung dauerte, konnte er nicht sagen, denn er hatte jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren. Erst als der Portalkreis erneut anfing blaue Blitze zu erzeugen, und sich das Ganze zu einem wahren Lichtinferno entwickelte, endete der Spuk in einer grellen Lichtexplosion, die dem Nilfgaarder alle Sinne raubte.

Nachdem sich das bunte Nachbild vor dem inneren Auge des Hexers verflüchtigt hatte, umhüllte ihn erneut die absolute Finsternis. Sein Puls raste, der Atem war flach und schnell, seine sonst so ruhigen Hände zitterten wie Espenlaub. Atheris versuchte sich zu sammeln, als ihn ein würgendes Geräusch, sowie der darauffolgende Gestank von Gallenflüssigkeit und Erbrochenen aus seiner Starre riss. „Damit wäre der Beweis erbracht, dass wir offensichtlich nicht tot sind!“ merkte Atheris trocken und erntete zustimmendes Gemurmel. „Heskor! Alles gut?“ fragte er weiter. Es war nur eine Vermutung von Atheris gewesen, aber der alte Assassine war derjenige unter ihnen, der mit gewirkter Magie nicht zurechtkam. „Hier hinten ist alles gut! Ich hoffe ich habe niemanden getroffen!“ erwiderte Heskor. „Wie wäre es mit ein wenig Licht?“ fragte Atheris in die Runde seiner Begleiter. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis der Nilfgaarder hörte wie ein Stück Stoff zerrissen wurde, dann wie geschickte Hände etwas bastelten und letztendlich das Tropfen einer Flüssigkeit. Mit einem leisen „Igni!“ entzündete Viktor seine improvisierte Fackel und die Dunkelheit verflog.

Mit seinen katzenhaften Augen reichte Atheris das wenige Licht, um sich einen guten Überblick zu verschaffen.  Zunächst war er erleichtert zu sehen, dass alle Greifen den Sprung durch das Portal geschafft hatten. Auch konnte er zumindest auf den ersten Blick keine schweren Verletzungen bei seinen Freunden erkennen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass bei der Gruppe alles in Ordnung war, konzentrierte er sich auf den Raum in dem sie sich befanden. Er war fensterlos, das Gewölbe etwa zehn Schritt hoch und die Wände bestanden aus hellen Sandsteinquadern. Zwei dicke Säulen hielten das große Gewölbe in der Mitte, sie waren mit Früchten verziert und auf ihnen standen Worte, die Atheris nicht lesen konnte. Nur ein Tor schien aus diesem dunklen Raum zu führen und es war durch eine schwere Tür verschlossen. Direkt neben ihm befanden sich drei bronzene Feuerschalen, die in einem Dreieck um das Portal herum angeordnet standen. Apropos Portal, Atheris fiel auf, dass die vorher lose auf dem Boden ausgelegten Portalsteine nun auf in den Boden eingelassenen Sockeln ruhten … „seltsam!“ entfuhr es dem Hexer, als er die Konstellation betrachtete, und er zog die rechte Augenbraue leicht nach oben. Dies tat er meistens, wenn er sich etwas nicht erklären konnte. Er bemerkte Logan, wie er seinen Dolch durch die Luft schneiden sah. Dieser bemerkte den Blick des Nilfgaarders. „Ich denke wir können aus dem Portalkreis gefahrlos heraustreten!“ stellte der Blondschopf mit ernster Miene fest. Kein Wunder, so lag doch zu Logans Füßen der abgetrennte Kopf eines Fanatikers, der noch vor wenigen Augenblicken genau in dem Moment zum Angriff auf sie angesetzt hatte, als sich das Portal aktivierte. Wie durch eine unsichtbare, scharfe Klinge hatte sich der Körper von dem Kopf getrennt. Mit der Gewissheit, den Kreis sicher verlassen zu können, machten sich Atheris und seine Begleiter daran, den Raum weiter zu erkunden. Zunächst kümmerte sich sein Freund Raaga um die Feuerschalen, indem er zunächst daran roch und anschließend die zähe Flüssigkeit zwischen Daumen und Zeigefinger etwas verrieb. Zufrieden gab er Viktor und Atheris mit einem kurzen Nicken zu verstehen, dass er keine Bedenken hatte, die Flüssigkeit zu entzünden. Die drei Hexer entzündeten das Feuer in einer fast perfekten Synchronisation  mit dem Hexerzeichen ‚Igni‘. Das warme Licht des Feuers auf dem hellen Stein wirkte friedlich. Bei genauerer Betrachtung, konnte Atheris erkennen, dass die Steine der Wände in einem schlechten Zustand waren, überall taten sich feine Risse auf und die dicke Staubschicht auf dem Boden gab ihm deutlich zu verstehen, dass sie hier die ersten Besucher seit einer sehr langen Zeit waren.

Erst jetzt bemerkte Atheris, wie etwas Warmes von seiner linken Hand auf den Boden tropfte, es war Blut, sein Blut! Wie die anderen Hexer war auch der Nilfgaarder nicht ohne Blessuren aus dem Gefecht um Kaer Iwhaell davongekommen. Die Wunde befand sich am Übergang zwischen seiner Schulterplatte und der Ellenbogenkachel. Das war die Quittung dafür, dass er für eine höhere Beweglichkeit auf die schwerere Panzerung verzichtet hatte. Zumindest war es ein sauberer Schnitt von einer scharfen Waffe gewesen und würde nur eine kleine Narbe hinterlassen. Ansonsten hatte er Glück gehabt, die alten Teile seiner schwarzen Rüstung hatten ihn vor den schlimmsten Verletzungen geschützt. Raaga hatte es deutlich übler erwischt, eine Speerspitze musste ihren Weg durch seine Deckung gefunden haben und hatte sich in seine rechte Seite gebohrt. Im Fackelschein war ihm diese Wunde bei seinem Zunftbruder nicht aufgefallen, aber inzwischen hatte das Blut die Tunika dunkelgefärbt und somit die Verwundung offenbart.

Atheris ging von Logan gefolgt zum Tor und betrachtete die alte, massive Tür genauer. „Verschlossen!“ stellte er fest, als er an der Tür rüttelte. Er schaute zurück zu Heskor. Der Mann für solche Fälle hatte die Folgen des Portalsprunges noch nicht überwunden, er saß neben Nella auf dem Boden und ließ sich seine letzte Mahlzeit erneut durch den Kopf gehen. „Also schön Logan, dann eben auf die nicht feine Art!“ schmunzelte er, ging einen halben Schritt zurück … suchte sich einen festen Stand und trat mit aller Kraft gegen das alte Holz. Ein lautes Knacken war zu hören und einige Risse wurden sichtbar. Logan stellte sich neben den großen Nilfgaarder und sie wiederholten es gemeinsam. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen, die beiden hatten einige Bretter lose getreten und nach einem dritten Kraftakt war es ihnen möglich, drei Bretter aus der unteren Hälfte der Tür zu entfernen, so dass Logan hindurch schlüpfen konnte. Mit einem rostigen Klacken öffnete sich der Schließmechanismus und der Weg war frei. Zufrieden ging Atheris zurück zum Portalkreis und kniete sich neben Nella, die auf ihrem roten Mantel gebettet neben Heskor lag. Ihr Atem ging ruhig und das Herz schlug zwar langsam aber dafür kräftig. Er hatte gesehen, wie sie bei der Schlacht um Kaer Iwhaell mehrere Feuerbälle auf die Angreifer losgelassen hatte … blind vor Wut, weil die Fanatiker ihren geliebten Valerian auf einem Scheiterhaufen verbrennen wollten. Er hatte nicht viel Ahnung von Magie, aber vermutlich litt sie an einer Art magischer Erschöpfung … falls es sowas überhaupt gab. Atheris erhob sich langsam, zumindest war sie für den Moment nicht Gefahr und transportfähig. Als letztes ging er zu seinem treuen Streitross Ker’zaer, der schwarze Hengst stand ruhig am Rande des Portals und kaute an einem Stück Schwarzbrot, das er aus einer der kaputten Proviantkisten gezogen hatte. „Sheyss!“ fluchte er, als er realisierte, dass einige der Ausrüstungskisten und Taschen kaputt waren. Ob sie durch den Portalsprung oder während der Schlacht in Mitleidenschaft gezogen worden waren, konnte er nicht sagen … vermutlich beides. Schlecht gelaunt strich Atheris seinem Pferd beruhigend durch die dichte schwarze Mähne und klopfte ihm dann zum Schluss auf den muskulösen Hals. Nachdem die anderen sich auch wieder zusammengefunden hatten und es in diesem Raum nichts weiteres Aufregendes zu entdecken gab, setzte sich Atheris auf eine größere Tasche. Seine Gedanken wanderten für einen Moment zu Meister Valerian, sie hatten ihn vor der Burgmauer mitten im Schlachtgetümmel auf dem Rücken eines Trolles zurücklassen müssen. Ob er entkommen war?

Die knurrige Stimme von Raaga riss ihn zurück ins hier und jetzt. „Atheris, ich denke es ist Zeit zu gehen! … Lass uns rausfinden, was uns außerhalb dieser Wände erwartet!“ Der Nilfgaarder blickte zu dem bärtigen Skelliger auf, der mit seiner geschulterten Axt bereit für den Aufbruch schien. „Raaga … ich weiß du bist hart im Nehmen, aber du solltest dich zuerst um deine Wunde kümmern. Du bist inzwischen verdammt bleich, selbst für einen Skelliger, der die Sonne nur aus Erzählungen kennt!“ antwortete Atheris. Raaga schien zum ersten Mal Kenntnis von seiner Verletzung zu nehmen und brummte zustimmend. Er kniete sich ohne weitere Worte auf den Boden, zog aus einer unscheinbaren Tasche an seinem Gürtel eine Nadel, einen stabilen Faden aus Tierdarm und ein sauberes Stück Stoff. Während sich Raaga daranmachte, die Wunde mehr oder weniger schön zu nähen, tastete Atheris nach einem kleinen Fläschchen, das er für gewöhnlich an seinem linken Beinholster befestigt hatte. Seine Hand fand geübt das gesuchte Objekt, und er warf dem Skelliger den roten Trank mit der Aufschrift ‚Schwalbe‘ zu. „Geh kein Risiko ein Raaga, die Wunde scheint tief zu sein und womöglich hast du auch innere Verletzungen!“ erläuterte Atheris. Mit den Zähnen zog der Skelliger den Korken aus der Flasche und entleerte die Flüssigkeit in einem Zug. Sofort begann der Hexertrank seine Wirkung zu entfalten, mit der Folge, dass sein Gesicht noch bleicher wurde und seine Adern pulsierend hervortraten. Jeden ‚normalen‘ Menschen würde die Einnahme dieses Trankes das Leben kosten. Einzig der veränderte Metabolismus der Hexer ermöglichte ihnen, sich auf diese Art zu heilen. „Logan!“ rief Atheris und der blonde Jüngling, der gerade dabei war mit Egon die Portalsteine aus den Sockeln zu entfernen und in eine Kiste zu verstauen, blickte zu ihm auf. „Logan, lass uns schauen, was hinter der Tür auf uns wartet!“ fuhr der Nilfgaarder fort.

Eine etwa drei Schritt breite, verstaubte Rampe führte die beiden nach oben. Tiefe Spuren im Boden zeugten davon, dass hier schwere Wägen auf und abgefahren sein mussten. Ob die Bewohner den Portalraum für den Gütertransfer genutzt hatten, fragte sich Atheris. Zumindest würden sie keine Probleme damit haben, ihre Ausrüstung und Ker’zaer hier hoch zu bekommen. Der Weg nach oben endete vor einer weiteren massiven Flügeltür. „Wieder verschlossen!“ fluchte Atheris, als er die schweren Riegel bewegen wollte. Auch mehrmalige Tritte der beiden Hexer blieben wirkungslos. „Tritt mal beiseite, Logan!“ sagte Atheris und ging ebenfalls drei Schritt zurück und fing sich an zu konzentrieren. Nachdem er genügend Energie gesammelt hatte, wirkte er das Zeichen ‚Aard!“ und ließ die Druckwelle gegen die Tür peitschen … die gewünschte Wirkung blieb allerdings aus. „Warte kurz auf mich, Atheris!“ rief Logan, der sich bereits auf den Rückweg zum Lager befand. Kurze Zeit später kam er mit einer Flasche wieder. „Hey, hast du etwa den guten Wein darin weggekippt?“ beschwerte sich der Nilfgaarder, als er eine seiner Weinflaschen erkannte. Logan zog nur entschuldigend die Schultern hoch und hielt ihm die Flasche hin, aus der oben ein Stück Stoff rausragte. „Könntest du bitte?“ fragte der junge Hexer und Atheris entzündete mit einem kleinen ‚Igni‘ die provisorische Lunte. Aus sicherer Entfernung warf er dann die Flasche gegen die Tür. Mit einer Explosion zerbrach die Flasche in tausend Scherben und die nun brennende Flüssigkeit verteilte sich über die Tür. Die Hitze war so hoch, dass es nicht lange dauerte, bis das Holz der Tür zu glühen anfing. Der Rauch brannte Atheris unangenehm in den Augen und das Atmen wurde schwerer. Die Nase in der Ellenbeuge versteckt beobachteten die beiden Hexer, wie das verkohlte Holz endlich nachgab. „Stronthe!“ entfuhr es Atheris, als er sah, wie eine Sandlawine sich ihren Weg durch die Öffnung bahnte. Schnell wichen die beiden zurück und nach etwa zwanzig Schritt kam die Lawine zum Stehen. Vorsichtig traten die beiden durch die verkohlten Überreste der Tür, die nur noch lose in den Angeln hing.

Augenblicklich brannte den beiden die heiße Sonne mitten ins Gesicht. Atheris musste sich erneut die empfindlichen Augen reiben und es dauerte einen Moment, bis er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Sie befanden sich am Rande eines Innenhofes, der von einer alten dicken Mauer umgeben war. Die einstmals kunstvollen Verzierungen des Säulenganges, der den Hof umschloss, waren verwittert und die Männerstatue, die im Hof stand, hatte ihren Kopf und die Gliedmaßen verloren. Vermutlich würde man diese im Sand wiederfinden, der die Figur bereits bis zu den Knien verschlungen hatte. „Verdammt lange war hier niemand mehr!“ stellte Atheris nüchtern fest. „Das Leben großer Menschen erinnert uns daran, dass wir unser Leben erhaben leben und beim Abschied unseren Fußabdruck im Sand der Zeit hinterlassen können!“ zitierte Atheris einen alten Spruch, den er im Kastell Graupian in seiner Heimat gelernt hatte. Ein Fußabdruck im Sand der Zeit … der Sand der Zeit hatte dies alles hier in Vergessenheit geraten lassen. Atheris löste sich von seinen Gedanken und prüfte mit wachem Auge weiter die Umgebung. Der Keller, aus dem sie soeben geschritten waren, gehörte zu einem großen fünfstöckigen Palais, dessen Dach eine zerborstene Kuppel bildete. „Von da oben sollten wir eine gute Aussicht haben, Logan!“ Atheris zeigte auf einen Balkon im vierten Stock, der zumindest von unten noch stabil aussah. Mit aller gebotenen Vorsicht arbeiteten sich die beiden Hexer durch die Räumlichkeiten nach oben. Vorbei an vom groben Sand geschliffenen Säulen und Mosaiken … vorbei an zersplitterten Vasen und Skulpturen … über mit Sand bedeckte Treppenstufen und Hallen … der Sand … wie ein riesiges Leichentuch hatte er das einstige Leben hier bedeckt. Es dauerte länger als gedacht bis zum Ziel vorzustoßen, immer wieder mussten sie Umwege in Kauf nehmen, da Wände eingestürzt oder Treppen ihre Last nicht mehr tragen konnten. Endlich setzte Atheris seinen Fuß auf den Balkon … er hielt.  „A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris und Logans Gesichtsausdruck verdeutlichte, dass der Blondschopf es nicht anders beurteilte. Zu ihren Füßen lag eine ganze Stadt, die zu ihrer Blütezeit gut und gerne fünftausend Seelen beheimatet haben durfte. Die großen und kleinen Gebäude mussten in einem noch schlechteren Zustand sein als der Palais, durch den sie sich soeben gekämpft hatten … und über allem lag Sand. Die Stadt wurde umschlossen von einer breiten Stadtmauer, die im Verhältnis zu den anderen Objekten, relativ gut erhalten war. Was hinter der Stadtmauer zu sehen war, ließ den beiden Hexern das Herz in die Hose rutschen. Nichts … absolut nichts … Sand! „In was für eine verdammte Scheiße sind wir hier geraten?“ fragte Logan und starrte zum Horizont.

Kapitel 2 – Erkenntnisse

Zurück in der Portalkammer berichteten die beiden Hexer den anderen Greifen von den gemachten Entdeckungen. Nachdem diese den ersten Schock verdaut hatten und sie über ihre Lage kurz debattiert hatten, packten sie alles, was ihnen als Ausrüstung nach der Flucht von Kaer Iwhaell geblieben war zusammen und schlugen ihr neues Lager in der großen Eingangshalle des Palais auf. Tageslicht und frische Luft waren trotz der hohen Temperaturen, die hier draußen herrschten, der Dunkelheit und der stickigen Luft im Portalraum vorzuziehen. Im Innenbereich des großen Gebäudes war die inzwischen hoch am Firmament stehende Mittagssonne noch erträglich. Anders sah es aus, wenn man aus dem Schatten trat. Der direkte Kontakt mit dem Licht der Sonne ließ die Haut förmlich verbrennen. Es war so unerbittlich heiß, dass sich nicht mal ein Schweißfilm auf der Haut bildete und somit die kühlende Wirkung ausblieb. Atheris hatte von solchen Temperaturen gehört und nun wünschte er sich, dass es dabeigeblieben wäre. „Weit werden wir mit unseren Wasservorräten bei dieser Hitze nicht kommen!“ stöhnte Raaga, der unter der Sonne am meisten zu leiden schien. Seine weiße Haut hatte sich schon nach wenigen Momenten in der Wüstensonne rot verfärbt. „Atheris … Logan … Viktor … Egon! Ihr zieht los und durchkämmt die Stadt! Wir müssen etwas finden, was uns weiterhilft … Karten … Essen … Ausrüstung … alles was uns helfen könnte. Bei Einbruch der Nacht treffen wir uns wieder hier und fällen eine Entscheidung, wie wir weitermachen!“ fasste Raaga die Ergebnisse einer vorangegangenen Diskussion zusammen.

Um ein größeres Gebiet in der verbliebenen Zeit bis zum Sonnenuntergang abdecken zu können, zogen die Hexer jeweils alleine los. Wenig später fand sich Atheris einsam in der Häuserschlucht nach Norden wieder. Es war befremdlich auf dem weichen Sand durch die Ruinen der Stadt zu streifen. Immer wieder betrat Atheris Gebäude, bei denen sein Bauchgefühl ihm sagte, dass es hier vielleicht etwas zu holen geben könnte, aber dem war nicht so. Vieles lag unter einer meterdicken Schicht aus Sand und der machte es nahezu unmöglich, die unteren Räumlichkeiten zu untersuchen. Ab und an fand er Dinge aus dem alltäglichen Leben der einstigen Bewohner, nichts besonders oder etwas, was sie gebrauchen konnten … ein Löffel, eine kleine Holzkatze und einen Puppenkopf aus Ton. Wo waren sie geblieben, was ist hier vor langer Zeit vorgefallen? Vielleicht hatte sich die Stadt in Mitten einer blühenden Oase befunden und nachdem die Quelle versiegt war, musste die Stadt geräumt worden sein. Zumindest fand er keine sterblichen Überreste bei seiner Suche. Atheris konnte nicht mehr sagen, wie viele Straßenzüge und Gebäude er ohne einen nennenswerten Erfolg durchsucht hatte. „Hoffentlich haben die anderen mehr Glück als ich!“ stöhnte er, als er erneut ein Gebäude erfolglos verlassen hatte und zurück auf die Straße trat. Es war unmöglich, bis zum Sonnenuntergang alles abzuklappern und mit jedem Schritt wich die Hoffnung weiter. „Aen iarean nyald aep kroofeir!“ brummte er fast schon resignierend, als ihm ein Gebäude am Ende einer schmalen Seitengasse ins Auge fiel. Im Vergleich zu den anderen Häusern hatte es nicht das hier typische Flachdach, sondern war als ein großer, breiter und runder Turm angelegt. Das Dach war ähnlich wie beim Palais eine Kuppel und bestand aus einem Metall … vielleicht Kupfer? Atheris beschleunigte seinen Schritt und eilte auf das überraschend gut erhaltene Tor zu. „Verzinkt!“ stellte der Hexer fest, als er die Tür etwas genauer untersuchte. Sie stand einen Spalt offen und war durch den Sand blockiert. Die Öffnung war breit genug, dass Atheris ohne Probleme hindurchschlüpfen konnte – die langsamen Bewegungen im Sand hinter ihm bemerkte er dabei nicht.

Es überraschte ihn nicht, dass es im Erdgeschoss wie in den bisherigen Häusern wenig zu entdecken gab. Es herrschte ein wildes Durcheinander und falls es hier jemals etwas Wertvolles gegeben haben sollte, so waren Plünderer oder die Naturgewalten inzwischen am Werk gewesen. Enttäuscht nahm er die alte hölzerne Wendeltreppe in das obere Stockwerk. Hier sah es deutlich besser aus. Alte Tische und Gerätschaften, deren Sinn und Zweck dem Hexer verborgen blieben, standen in einem kleinen Raum … vielleicht war es mal das Labor eines Wissenschaftlers gewesen … oder eines Magiers? Die Behälter, die er in einem Wandschrank fand, waren nicht mehr brauchbar … die Flüssigkeiten über die Jahrzehnte verdunstet und der Rest hatte die Haltbarkeit weit überschritten. Interessant waren einige vergilbte Pergamente, die in einem Fach im Schrank fein säuberlich sortiert abgelegt waren. Als Atheris sie musterte, erkannte er, dass es sich um verschiedene Sternenkonstellationen handelte … Sternzeichen! Atheris machte große Augen. „Aen Ard Feainn!“ rief er auf einmal freudig aus. Er war sich ziemlich sicher, dass er einige von ihnen kannte, was bedeutete, dass das Portal sie zumindest auf ihre eigene Welt gebracht hatte. Hoffnung keimte in dem Hexer auf und aufgeregt suchte er weiter in den Schriftstücken … die langsame Bewegung an der Treppe nahm er dabei nicht wahr. Enttäuscht legte Atheris das letzte Dokument beiseite, er hatte keine weiteren Hinweise finden können. Nun gut, es gab ja noch ein Stockwerk. Eine recht enge, diesmal eiserne Wendeltreppe führte ihn direkt unter die Kuppel. Durch eine große rundliche Öffnung drang das Sonnenlicht in den ansonsten fensterlosen Raum. In der Mitte musste etwas Großes gestanden haben, zumindest ließ der Sockel, der sich dort am Boden befand, dies vermuten – eines von diesen Ferngläsern? Atheris kannte die Apparaturen, dieses hier musste aber Jahrzehnte alt gewesen sein. Eine verlorene Hochkultur?  Dieser Ort hier war wirklich merkwürdig. Vor dem leeren Sockel befand sich eine alte ebenfalls verzinkte Kiste. Eine vergilbte Papierecke lugte aus der Seite hervor – es sah aus wie der Rand einer Karte. Atheris kniete sich vor die Entdeckung und betrachtete das Vorhängeschloss … es war nicht verzinkt. Mit dem Knauf seines Dolches schlug er dreimal kräftig gegen das verrostete Ding und es gab nach. Es war in der Tat eine Karte, und die Schrift auf ihr kam ihm verdächtig bekannt vor … fast wie elfisch. Das alleine war aber keine große Erkenntnis, denn die Sprache vieler menschlicher Länder basierte auf der Sprache des alten Volkes. Seine Heimat Nilfgaard ging sogar einen Schritt weiter und sah sich in direkter erblicher Nachfolge zu der einstigen Hochkultur dieser Wesen. Die heute lebenden Elfenvölker waren hingegen nur noch ein Schatten ihrer Vorfahren. In den nördlichen Kriegen hatte er mal eines ihrer Dörfer besucht und er war alles andere als angetan gewesen. Er schweifte schon wieder ab. Endlich kam es ihm wieder, Saleha, eine Alchimistin aus Ophir und Freundin der Greifenschule, hatte ihm vor einigen Monaten ein Forschungsdokument über die Mutationen der Hexer gezeigt. Die Schrift … die Sternbilder … die Wüste und nicht zuletzt der Baustil … wie Schatten fiel es Atheris von den Augen … natürlich, sie mussten in Ophir sein! Der anfänglichen Freude folgte sogleich eine bittere Erkenntnis. Viel wusste er über die Länder, die weit südlich des Kaiserreiches lagen nicht, außer dass der Großteil des Landes aus Felsen und Sandwüsten bestand, also keine gute Aussicht, aus dieser Gluthölle schnell zu entkommen.

Ein leises kaum hörbares kratzendes Geräusch ließ ihn aufblicken … war da was? Seine scharfen Augen suchten den Raum ab, aber er sah nichts Auffälliges. Er packte die Karte vorsichtig zusammen und steckte sie in die Tasche, die er an seinem Brustgurt befestigt hatte. Ein Gelehrter hätte vielleicht noch so manchen Schatz in dieser Truhe finden können, aber die Sonne hatte den Horizont erreicht, und die Zeit drängte. Atheris machte sich auf den Weg zurück zum Treffpunkt und stieg die die enge Wendeltreppe wieder hinab. Ein zweites Geräusch ließ ihn auf der untersten Treppenstufe verharren und seine Hand wanderte an seine Brust, wo sein großer Jagddolch befestigt war. Wieder blickte er sich um, doch auch diesmal konnten seine Sinne die Quelle nicht ausfindig machen … seltsam! Atheris schüttelte den Kopf, vielleicht spielten ihm seine Sinne wegen der Hitze und des Wassermangels einen Streich. Vorsichtig nahm er die letzte Stufe und genau in dem Moment, wo er seinen Fuß auf dem Boden absetzte, griff etwas nach seinem Knöchel und ihm wurde der Fuß weggezogen. Den Sturz fing der Hexer mit einer Schulterrolle ab, krachte aber gegen ein altes Wandregal, das über ihm zusammenbrach. „A d’yaebl aép arse!“ schimpfte Atheris, als er sich wieder aufsetzte und seinen Kopf abtastete. Es war nur seinen schnellen Reflexen zu verdanken, dass er diesen nicht verlor. Ein wurmartiges Wesen war unter der Treppe hervorgeschnellt, und hatte mit seinem kreisrunden Maul, das gespickt war mit kleinen spitzen Zähnen, versucht seinen Kopf abzubeißen. Erst im letzten Moment hatte er sich über die rechte Schulter kippen lassen, so dass der Wurm nur den Boden erwischte. Mit einem kräftigen Tritt gegen den vermeintlichen Kopf schickte der Hexer das Wesen zu Boden und mit zwei kräftigen Stichen seines Dolches versicherte er sich, dass es dort auch blieb. Gerade als er sich zum Gehen anschickte, kamen hinter einem der Regale zwei weitere dieser Viecher hervorgekrochen. Atheris wich ihnen aus und versuchte zur Holztreppe, die nach unten führte zu gelangen, aber als er sie erreichte, war die Treppe bereits übersät von diesen Monstern, die ihren Weg nach oben suchten … gerade Wegs zu ihm. Der Hexer machte drei schnelle Schritte zum Fenster, aber die beiden Würmer, die bereits auf dem Stockwerk waren, schnitten ihm den Weg ab. „Oh Mann, ihr seid echt ekelig!“ schimpfte er, während er sich rückwärts zur eisernen Treppe bewegte und langsam die Stufen hinaufstieg – und die Würmer folgten ihm. Er erhöhte seine Geschwindigkeit – und seine Verfolger passten sich ihm an. Atheris erreichte wieder das dunkle Dachgeschoss und seine Aufmerksamkeit richtete sich sofort auf die Öffnung im Dach.

Schnell kletterte er auf den massiven Sockel, ging tief in die Knie, schätze die Entfernung ab und Sprang. Schon in der Luft wurde ihm bewusst, dass er es nicht schaffen würde, seine Fingerkuppen streiften zwar den Rand, aber es reichte nicht aus, um einen Halt zu gewinnen und so stürzte er wieder zurück in den Raum zu den Würmern. Die Landung war hart, aber mit einer geschickten Rolle konnte er schlimmere Verletzungen verhindern. Die zahlreichen Viecher stürzten sich augenblicklich auf die Stelle, bei der er aufgekommen war … nicht aber auf ihn. Bewegungslos verharrte er an Ort und Stelle, beobachtete seine Jäger und suchte einen Ausweg.

Die Wesen besaßen weder Augen noch Ohren … kleine Stacheln, vielleicht Fühler waren überall an ihren zylindrischen Körpern zu finden … riechen konnten sie vermutlich nicht, oder zumindest nicht gut, sonst hätten sie ihn schon längst wittern müssen. Ein besonders großes Exemplar ahnte sich seinen Weg die Treppe hinauf. Die kleineren Artgenossen wichen dem schweren Körper aus, um nicht zerquetscht zu werden. Es war gut und gerne sieben Schritt lang und ein Schritt breit. Als dieser ‚Große‘ über den Sockel glitt, fasste sich Atheris ein Herz und nutzte den Moment. Er drückte sich fest vom Boden ab und mit drei weiten Sätzen überwand er die Entfernung zum Sockel, sprang auf die dicke Wulst des Wurmes und von dort in Richtung Dachöffnung. Diesmal bekam er die Kante zu fassen, und mit einem Klimmzug hievte er sich gerade noch rechtzeitig durch die Öffnung, um nicht von dem Riesenvieh verschlungen zu werden. Mit einer Hand hielt er sich am Kuppeldach fest, während sich der große Wurm durch die Öffnung schlängelte … er suchte den Hexer, konnte ihn aber trotz der Nähe nicht spüren. Reglos hing Atheris an der Kuppel und überlegte seinen nächsten Schritt. Er musste sich entweder seinem Häscher entledigen oder aber einen Fluchtweg finden. Seine Augen suchten die Kuppel ab, fanden aber keinen Weg hinunter auf die Straße. Einzig ein halsbrecherischer Sprung auf das Nachbargebäude versprach eine erfolgreiche Flucht. Es wurde Zeit, seiner Hand verlor langsam den Halt. Mit der freien Hand zog er langsam und vorsichtig die Silberklinge vom Rücken. Als er das vertraute Gewicht in seiner Hand spürte, setzte er seine Füße auf und begann die Kuppel hinunterzurennen. Als er eine Lücke zwischen den Panzersegmenten des Wurmes erspähte, stieß er die Klinge bis zum Heft in den Körper, drehte sie um und zog sie wieder hinaus. Der ‚Große‘ quittierte das mit einem lauen Schrei und der Kopf fuhr blitz schnell in seine Richtung. Jetzt wurde es Zeit, und er rannte erneut los und als er die Kante des Daches erreichte, passte er den richtigen Moment ab und flog durch die Luft. Eine gefühlte Ewigkeit dauerte die Flugphase, bevor er unsanft auf dem Dach landete und sich mehrfach abrollte. „Gloir aen Ard Feainn! Was für ein Satz!“ freute er sich, als er feststellte, dass er noch lebte. Er blickte zurück zur Kuppel und vergewisserte sich, dass er nicht verfolgt worden war. Um dennoch kein weiteres Risiko einzugehen, legte er den Weg bis zur Hauptstraße über die flachen Dächer zurück, was sich als ziemlich einfach erwies. Bei den in seiner Heimat üblichen Giebeldächern wäre ein solches Unterfangen deutlich schwerer gewesen.

Als die Sonne den Horizont berührte, erreichte Atheris das provisorische Lager. Die anderen warteten bereits auf ihn, und als er an den Kreis seiner Freunde herantrat, strahlte die Abendsonne ein letztes Mal hell auf. Raaga schmunzelte, „Man könnte meinen, du machst das mit Absicht, dass du als Nilfgaarder mit dem Sonnenschein im Rücken den Raum betrittst!“.

Kapitel 3 – Durch die Hölle

Die Karte, die Atheris gefunden hatte, erwies sich nur als bedingt nützlich, da sie nicht sicher sagen konnten, wo sie sich befanden. Ein möglicher Hinweis waren die eingezeichneten Städte auf der Karte, in deren Mitte ein stilisiertes und für die Stadt markantes Gebäude eingezeichnet war. Eine der Zeichnungen sah dem Palais ähnlich, indem sie sich befanden. Einen weiteren Hinweis lieferte Viktors Entdeckung am Westtor. Eine gut erhaltene, mit großen Steinen gepflasterte Handelsstraße führte von dem Tor in die Wüste. Eine der Wegmarkierungen wies zudem ein Zeichen auf, das dem über einer dicken eingezeichneten Handelsroute auf der Karte glich. Da sie nichts Besseres hatten, entschlossen sie sich diesem Weg zu folgen, da zumindest einige Oasen eingezeichnet waren und sie früher oder später an einer Stadt vorbeikommen mussten.

Im Gegensatz zu der Hitze, die ihnen tagsüber zugesetzt hatte, war die Nacht in der Wüste verdammt kühl. Dick eingepackt in seinen Mantel, bahnte sich Atheris zusammen mit den anderen Greifen seinen Weg durch die unwirtliche Leere der Wüste. Am Zügel führte er Ker’zaer, der eine von Heskor gebaute provisorische Pritsche zog, die neben der bewusstlosen Nella auch einen Teil des Proviants beförderte. Der Mond hatte fast seine volle Größe erreicht, und er spendete mehr als genug Licht, dass er sich in dieser fremden Umgebung zurechtfinden konnte. Hinzu kam, dass die alten Erbauer vor Jahrhunderten in festen Abständen mehrere Fuß hohe Wegemarkierungen gesetzt hatten, die zum Teil noch sichtbar waren, obwohl der Wüstensand die Pflastersteine unter sich begraben hatte.

Trotz der Kälte und dem tiefen, weichen Sand kamen sie in dieser ersten Nacht gut voran, und erst als die Morgensonne schon hochstand am Himmel stand und es anfing deutlich wärmer zu werden, machten sie halt und spannten ein improvisiertes Sonnensegel aus ihren Umhängen auf, unter dem sich alle zusammendrängten. Nach einem kargen, streng rationierten Mahl und etwas Wasser legten sich Atheris wie seine Begleiter zum Schlafen nieder. Gegen Mittag hatte die Sonne ihren höchsten Stand erreicht und brannte unerbittlich auf sie nieder. Die Hitze war inzwischen so unerträglich geworden, dass Atheris keinen Schlaf mehr fand. Ker’zaer, der schwarze Hengst, litt am schlimmsten, und der Nilfgaarder begann sich große Sorgen um sein treues Tier zu machen. „Die Wasserreserven werden schneller zu Ende gehen als gedacht!“ stöhnte Viktor, als er den letzten Tropfen aus einem der Wasserschläuche trank. Atheris war inzwischen schon so erschöpft, dass er schon nicht mal mehr nickend zustimmen wollte. Wie in einem Delirium wartete er darauf, dass die glühende Sonne endlich am Horizont verschwinden würde, und er erwischte sich sogar dabei, wie er sich eingestand, dass die verregneten und vereisten Fjorde von Skellige schöner waren als das hier. Nach einer gewühlten Ewigkeit zog endlich die Kühle der Nacht heran und die Temperaturen wurden angenehm. Schnell packten sie das improvisierte Lager zusammen und zogen in die Dunkelheit weiter nach Westen. Trotz der körperlichen Strapazen und der bitteren Kälte empfand Atheris die Nacht als wohltuend, und den anderen Greifen schien es ähnlich zu ergehen. Auch in dieser zweiten Nacht kamen sie für sein Gefühl gut voran und die Hoffnung lebte, dass sie diesen Glutofen verlassen konnten, bevor sich die Vorräte dem Ende zuneigten. Leider hatte Nella nicht ihr Bewusstsein wiedererlangt, und so lag sie auch in dieser Nacht in eine dicke Decke eingepackt auf der Pritsche und nur ihre spitzen Ohren bewegten sich im Rhythmus des Pferdes. Atheris begann sich langsam ernsthafte Sorgen um ihre Gesundheit zu machen. Er kannte sich mit der Anatomie der Elfen nicht wirklich gut aus und konnte nicht abschätzen, wieviel Wasserverlust sie ertragen konnten, aber ihr inzwischen fahles, eingefallenes Gesicht sprach Bände. Immer wieder versuchten sie ihr Wasser einzuflößen, aber das gelang ihnen nur bedingt. Sie waren so verzweifelt, dass sie sogar die Möglichkeit diskutierten, ihr einen Hexertrank zu verabreichen, doch die Idee verwarfen sie schnell wieder, zu ausführlich und eindeutig waren Valerians Ausführungen im Alchemie Unterricht gewesen, dass für jemanden ohne die notwendigen Mutationen die Elixiere das reinste Gift darstellten. Die Stimmung erreichte ihren absoluten Tiefpunkt, als die Morgendämmerung einsetzte. Atheris ärgerte sich, sein gutes Gefühl hatte ihn getäuscht. Sie hatten fleißig die Steinmarkierungen gezählt, die sie passiert hatten, und es sah so aus, als ob sie eine deutlich geringere Strecke zurückgelegt hatten, als in der vorangegangenen Nacht. „For helvede! So kommen wir hier nicht raus!“ schimpfte Raaga beim erneuten Aufbau des Sonnensegels. „Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren, mein Freund!“ antwortete Viktor in seinem, für ihn typischen, ruhigen Tonfall. Als die Sonne höher stieg und die Temperaturen erneut brutal wurden, versuchte sich Atheris mit den Meditationstechniken, die er von Meister Valerian erlernt hatte, so gut wie möglich zu entspannen und seine innere Ruhe zu finden, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen. Völlig ausgelaugt machten sie sich am Abend erneut auf den Weg, in der Hoffnung, dass in dieser Nacht ein Wunder geschehen möge. „Verdammt, das war erst der zweite Tag in dieser Hölle!“ schimpfte Logan. „Wir halten durch, bis unsere Vorräte verbraucht sind, und wenn dann alle Stricke reißen, legen wir die Portalsteine wieder aus und probieren unser Glück eben erneut!“ antwortete Atheris, „ich habe wirklich keine Lust hier auf dem sandigen Boden als Gerippe unter dem Sand zu liegen oder von irgendeinem Wüstenwurm gefressen zu werden!“ fuhr er fort und Logan stimmte ihm zu. Immer wieder blickte Atheris in die Gesichter seiner Kameraden und sah, wie ausgelaugt und müde sie waren. Das harte Training von Valerian zahlte sich zumindest aus, denn in den Augen der Hexer konnte der Nilfgaarder die tiefe Entschlossenheit sehen, sich mit jeder Faser des Körpers gegen diese aussichtslose Situation zu stemmen, die Qualen zu überwinden und lebend aus diesem Glutofen zu entkommen.

Es war kurz vor Morgengrauen, als Atheris ein Geräusch vernahm, dass ihm die Nackenhaare aufrichten ließ … Würmer? Er schaute sich um, aber seine Augen fanden in dem fahlen Licht keine Hinweise. Zum dritten Mal errichteten sie ihr Lager und machten es sich so bequem wie möglich. „Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals eine flammende Sonne für ein schlechtes Zeichen halten könnte!“ stellte Atheris fest, dessen Heimatland genau dieses Symbol im Wappen führte. „Aen Ard Feainn! Dann soll es wohl so sein!“ seufzte er und ging zur Pritsche, suchte das Buch heraus, das er bereits vor einigen Tagen, während der Belagerung von Kaer Iwhaell erfolglos versucht hatte zu studieren und setzte sich unter das Sonnensegel. Falls sie keinen Weg aus dieser Wüste finden sollten, musste er wenigstens mehr über die Portalsteine herausfinden, sie könnten erneut die einzige Fluchtmöglichkeit bieten. Zu seinem Glück fanden die anderen ebenfalls keine Ruhe, und sie sinnierten gemeinsam über die Zeichnungen in dem Buch.

Gegen Mittag hatte es Atheris endlich geschafft etwas Schlaf zu finden, als er erneut das verdächtige Geräusch vernahm und aufschreckte. Er blickte sich um … keiner der anderen schien die Gefahr zu spüren. Es war Ker’zaers Schnauben, das Atheris dazu veranlasste, sich zu erheben, und langsam nach seiner Klinge zu greifen, die neben ihm in der Scheide auf dem Boden lag. „Atheris! Was ist los?“ flüsterte Raaga, der ihn mit einem offenen Auge musterte. „Die Würmer! Von denen ich euch erzählt habe!“ antwortete der Nilfgaarder…“ich glaube es sind welche hier!“. In einer flüssigen Bewegung erhob sich der Skelliger und gesellte sich mit seiner Axt an die Seite von Atheris.  Eine ganze Weile standen die beiden kampfbereit da und beobachteten den Sand um sie herum. Sie nahmen keine Bewegungen war und obwohl sie auf einen eventuellen Angriff vorbereitet waren, überraschte sie eines dieser wurmartigen Wesen:  Obwohl sie den Angriff erwarteten, waren sie dennoch überrascht, als eines dieser wurmartigen Biester aus dem Boden geschossen kam und versuchte, sich in Raagas Bein zu verbeißen. Reflexartig zog der Skelliger sein Bein nach oben und machte einen Hechtsprung zur Seite, wobei er einen Schrei von sich gab, der die Gefährten aus ihren unruhigen Träumen riss. Währenddessen führte Atheris einen schnellen Hieb mit seinem Schwert aus, traf auf die gezielte Stelle zwischen den Segmenten und schnitt den Wurm sauber in zwei Hälften … doch wider Erwarten fiel der Körper nicht sofort leblos zu Boden, sondern der vordere Teil setzte Raaga nach, während der hintere Teil wild zuckelte. Raaga beendete den Spuck, als er mit seiner Axt den Kopf des Wesens zertrümmerte. Auf einmal herrschte wieder Ruhe, keiner sprach ein Wort … der erlegte Wurm war Erklärung genug. Die Sonne brannte Atheris ins Gesicht und verursachte Kopfschmerzen. Der schwarze Hengst wurde unruhig und fing an mit den Hufen zu scharren. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris und stürmte los zu seinem Pferd. Es dauerte keinen Wimpernschlag und der erste Wurm, der sich unter Atheris befunden haben musste, schoss nach oben. Raaga reagierte schnell und nagelte den Wurm mit seiner Axt fest, so dass er dem Nilfgaarder nicht nachsetzten konnte. Vier weitere der Biester schossen nun an die Oberfläche und hefteten sich an Atheris Fersen. Für einen kurzen Moment herrschte Chaos unter den Gefährten, aber die Routine im Kampf gegen die ungewöhnlichsten und seltsamsten Kreaturen war ihr Handwerk und Valerian wäre sicher Stolz auf sie gewesen. Mit kurzen gezielten Hieben und Stichen machten sie ihren Gegnern schnell den Garaus. Sie formierten sich unter dem Sonnensegel und warteten … aber nichts geschah. „Haben wir alle erwischt?“ fragte Logan nach einer Weile. „Ich glaube nicht … sie liegen auf der Lauer!“ antwortete Atheris im Flüsterton. Viktor nahm vorsichtig ein großes Stück von einem der erschlagenen Würmer und warf es einige Schritt weit entfernt auf den Sand. Augenblicklich wurde der Kadaver unter die Erde gezogen. „Verdammt!“ kommentierte Viktor die bittere Erkenntnis, die sie soeben gewonnen hatten. Es gab viele Jäger im Tierreich, die ihre Beute in die Enge trieben oder verletzten und dann warteten, dass sie starben oder so geschwächt waren, dass sie leichtes Spiel hatten. Inzwischen hatten die Viecher sicherlich gelernt, dass ihre Beute nicht leicht zu erlegen war und sie hatten ihre Taktik geändert. Vermutlich würden die Wesen, in deren natürlichen Habitat sie sich befanden, darauf warten, dass sie einen entscheidenden Fehler machten … die Zeit war auf jeden Fall auf ihrer Seite.

Als die Nachmittagssonne sich langsam wieder dem Horizont näherte und die abendliche Kühle die Gruppe durchschnaufen ließ, kam auch der Moment der Entscheidung. Lange genug hatten sie sich darüber ausgetauscht, was sie für Möglichkeiten hatten, während sie auf einen weiteren Angriff gewartet hatten … der aber nicht gekommen war. Sie hatten sich vorerst gegen eine erneute Nutzung des Portals entschieden und würden den Versuch wagen, sich durch die unbekannte Anzahl dieser Würmer zu schlagen in der Hoffnung, dass sie von ihnen abließen, wenn sie sich nur teuer genug verkauften. Atheris war das recht, er wollte lieber seinen eigenen Fähigkeiten vertrauen, als erneut sich auf einen glücklichen Zufall zu verlassen.

Gerade als sie sich wieder marschbereit machen wollten, durchbrach ein seltsamer Tierschrei die morgendliche Ruhe. „Was bei Valerians grauem Bart war das?“ zischte Logan. Atheris blickte gespannt in die Richtung, aus der sie das Geräusch gehört hatten. Es dauerte nicht lange bis fünfzehn berittene Gestalten am Horizont erschienen, und sich mit rascher Geschwindigkeit näherten. „Dromedare!“ stellte Atheris erstaunt fest, Saleha hatte ihm bei einem guten Wein von den exotischen Tieren ihrer Heimat erzählt. Neben Dromedaren und riesigen Geiern gab es auch schwarzweiß gestreifte Pferde in Ophir, nur diese ekelhaften Würmer hatte sie ihm vorenthalten. Die Reiter waren in lange bunte Roben gekleidet und trugen große Turbane auf dem Kopf. In ihren Händen hielten die meisten von ihnen kleine Rundschilde und in der anderen langen Lanzen.

Was genau ihre Intension war, konnte Atheris nicht erkennen und nachdem sie auch noch anfingen mit wildem Geschrei auf ihre Schilde zu trommeln, schloss sich seine Hand fester um den Griff seiner Klinge. „Egal was passiert! Haltet die Formation!“ brüllte Atheris über den Lärm hinweg. Zwanzig Schritt vor dem Lager wichen die Reiter nach rechts aus und begannen, in einer enger werdenden Spirale die Greifen zu umkreisen. Auf einen lauten Befehl hin stießen die Männer ihre metallenen Lanzen in den Boden und zogen ihre Säbel. „Wollen die uns verarschen!“ schimpfte Logan, der sichtlich genervt schien von dem Spektakel. Als sie auch noch anfingen mit der flachen Seite gegen die Lanzen zu schlagen, konnte Atheris spüren, wie der Boden leicht anfing zu vibrieren. Schon nach kurzer Zeit schossen die Würmer aus dem Boden und die Reiter zogen die Lanzen wieder aus dem Boden und machten Jagd auf die wild umherkriechenden Biester. Das Spektakel dauerte nicht lange und neun weitere Würmer lagen tot auf dem Wüstenboden … dann wurde es ruhig. Atheris, der seine Klinge noch immer erhoben hatte, war verwundert über das was die Fremden gerade veranstaltet hatten. Einer der Wüstenreiter, vermeintlich der Anführer der Gruppe, näherte sich ihnen und begann, in einer für Atheris kaum verständlichen Sprache zu reden. „Hört sich entfernt nach elfisch an!“ dachte er sich. Die Stimme des Anführers hörte sich warm und unerwartet freundlich an. „Wir verstehen deine Sprache nicht!“ versuchte er höflich mit Gesten zu vermitteln, und erhob dabei seine beiden Hände, um ihre friedlichen Absichten zu untermauern, dabei machte er drei Schritte aus der Formation heraus auf den Anführer zu. Der Anführer schien zu verstehen und wechselte in eine andere Sprache, die für Atheris entfernt nach den Dialekten, aus den südlichsten kaiserlichen Provinzen klang und er zumindest die grobe Kernbotschaft verstand. Da er nicht wusste, inwiefern seine Freunde in der Lage waren, selber zu verstehen, was gesagt wurde, versuchte er es sinngemäß zu übersetzten. „Friede sei mit euch, Sadiq! Mein Name ist Zahir ben Salem!“ sprach der Anführer und breitete dabei seine Arme offen vor der Brust aus, wobei seine Handflächen gen Himmel zeigten. „Aen Ard Feainn! Mein Name ist Atheris von Toussaint!“ antwortete der Nilfgaarder und wieder holte die Geste von Zahir. „Was treibt euch in diese trostlose Gegend?“ stellte der Wüstenmann weiter seine Fragen. „Meine Freunde und ich sind durch unglückliche Umstände in diese missliche Lage geraten!“ entgegnete Atheris. „La yuhimu! Ihr habt Glück gehabt meine Freunde, dass meine Späher euch entdeckt haben, die nächste Oase liegt etwa zwei Tagesreisen von hier entfernt, und so wie es aussieht werdet ihr sie mit euren Vorräten und eurem zustand kaum erreichen können!“ fuhr Zahir fort. „Werdet ihr uns Helfen… Sadiq?“ fragte Atheris und machte eine Geste in Richtung seiner Freunde. Zahir entblößte eine Reihe strahlend weißer Zähne, bevor der braungebrannte Mann antwortete: „Das Gebot der Gastfreundschaft wird bei meinem Volk hochgehalten, Sadiq. Wir werden euch nicht den Aasfressern überlassen. Meine Karawane befindet sich nicht weit von hier und erwartet meine Rückkehr. Macht euch bereit und folgt uns!“ erneut machte Zahir eine einladende Geste.

Während die Greifen ihre Ausrüstung zusammenpackten und auf zwei Dromedaren verstauten, die Zahir ihnen zur Verfügung gestellt hatte, trat Egon zu Atheris. „Meinst du, wir können ihm vertrauen?“ – „Haben wir eine bessere Wahl?“ antwortete Atheris mit einem leichten Schulterzucken. „Wenn du die Portalsteine meinst…nein!“ erwiderte Egon mit einem leicht resignierten Blick. Atheris war überrascht, als die Ophiri sie einluden auf ihren Dromedaren mitzureiten und auch seinem Hengst wurde die Last der Pritsche abgenommen. Das Aufsteigen auf die exotischen Tiere war gewöhnungsbedürftig, denn sie legten sich auf den Boden, damit die Reiter Platz nehmen konnten. Atheris hatte so etwas Ähnliches im Krieg erlebt. Bei den Friedensgesprächen von Cintra war König Henselt von Kaedwen so fett gewesen, dass man seinem Pferd beigebracht hatte, für ihn auf die Knie zu gehen, damit der Mann ohne seine Würde zu verlieren aufsteigen konnte. Der ungewohnte Passgang der Tiere fühlte sich seltsam an und mehrfach erwischte er sich dabei, wie er sich am Sattel festkrallte, weil er dachte, das Dromedar würde umkippen. Er brauchte nicht lange um für sich zu entscheiden, dass er den Kreuzgang der Pferde bevorzugte. Zumindest konnte er aber nun nachvollziehen, warum man diese Tiere auch Wüstenschiffe nannte, denn in der Tat hatte man bei geschlossenen Augen das Gefühl, sich auf einem Boot bei leichtem Wellengang zu befinden. Wie ihnen Zahir versprochen hatte, dauerte es nicht lange und sie gelangten zu dem Rest seiner Karawane, und gemeinsam zogen sie durch die kühle Nacht weiter. Kurz nach dem Sonnenaufgang schlugen sie das Lager im Schatten zweier massiver Felsen auf. Es dauerte auch nicht lange und zehn große Zelte waren aufgestellt. Es herrschte trotz der steigenden Temperaturen ein reges Treiben im Lager. Ihr Gastgeber Zahir hatte sich erwartungsgemäß in das größte und prunkvollste der Zelte zurückgezogen, aber auch das ihnen zur Verfügung gestellte Zelt konnte sich sehen lassen. Es war groß genug, dass alle bequem platzfanden und sich auf weichen Kissen ausstrecken konnten. Im Zelt war es trotz der hohen Außentemperaturen angenehm kühl, und ein ‚Khadim‘ – eine Art Bediensteter – brachte ihnen Wasser und seltsame braune, getrocknete Früchte, die aber recht gut schmeckten und ein sättigendes Gefühl verursachten. Atheris fiel auf, wie sein Pferd das Interesse einiger Ophiri weckte. Saleha hatte ihm erzählt, wie pferdebegeistert die Menschen in Ophir waren. „Die besten Reittiere der Welt stammen aus Ophir!“ hatte sie erzählt … aber er glaubte das nicht. Im Gegensatz zu den eher kleinen und wendigeren Tieren aus Ophir, war Ker’zaer eine Züchtung aus seiner Heimat Toussaint, bei der viel Wert auf Kraft, Vielseitigkeit und einen guten Charakter gelegt wurde, damit die Tiere sich hervorragend für die Hohe Schule der Reitkunst eigneten. Er hätte sich selber ein so edles Tier nie leisten können, aber Ker’zaer war ein Geschenk von einem nilfgaarder Adligen für seine Verdienste nach der Schlacht von Brenna und der darauffolgenden gemeinsamen Flucht durch die Sümpfe bis zur Jaruga, gewesen. Neben der Verpflegung sendete Zahir ihnen auch seinen persönlichen Medicus vorbei, der ihre Wunden untersuchte und versorgte. Für Nella konnte der Mann, der sich als Sharif vorstellte, leider nicht viel machen. „Ihr Körper ist durch den Wasser- und Nahrungsmangel zwar geschwächt, aber ansonsten fehlt ihr nichts!“ war seine Diagnose gewesen. Bei den Mangelerscheinungen konnte er zumindest helfen, mit einer Art Schlauch und Trichter verabreichte er der Magierin eine trübe, gelb-bräunliche Flüssigkeit, die in den feinen Nasen der Hexer fürchterlich stank. „Das wird ihren Körper stärken, so dass er sich von den Strapazen erholen kann … gegen ihre Bewusstlosigkeit haben meine Mittel nicht geholfen, es tut mir leid Sadiq!“ erklärte er sich, bevor er das Zelt nach einiger Zeit wieder verließ.

Es war das erste Mal seit dem Fall von Kaer Iwhaell, dass die Greifen sich richtig erholen konnten.  Bis auf Raaga und Atheris hatten sich alle zum Schlafen niedergelegt. Mit einem Weinkelch in der Hand näherte sich der nilfgaarder Hexer seinem Freund, der es sich auf einem weichen Kissenlager bequem gemacht hatte und zu ihm hinaufblickte. „Wir hätten es deutlich schlechter erwischen können!“ meinte Atheris und der Skelliger nickte zustimmend, wie es seine Art war. „Ob es Valerian ebenfalls in Sicherheit geschafft hat? Ich habe in dem Gemetzel nicht mehr sehen können, was passiert ist.“, fuhr er fort. „Ich bin mir sicher, dass der Alte heil rausgekommen ist, er hat nicht nur die Augen einer Katze, sondern auch deren sieben Leben!“ antwortete Raaga und wirkte dabei ziemlich zuversichtlich. Die beiden älteren Hexer unterhielten sich noch eine ganze Weile über die Vorgänge in den letzten Tagen. Sie waren sich einig, dass der beste Weg um zu ihrem Ziel – die Leuenmark – zu kommen über Miklagard führte. Die beiden Cousinen waren reich und hatten beste Verbindungen – allerdings trieben sie sich nicht immer in ihrer Heimatstadt rum, aber über das Problem konnten sie sich noch Gedanken machen, wenn es eintreten würde. Von dem riesigen Handelshafen Miklagards würden sie sicher über den Seeweg weiterreisen können. Die Frage war, wie weit lag Miklagard von ihrer jetzigen Position entfernt? Wenn sie Glück hatten, war das Ziel der Karawane von Zahir bereits eben jene Stadt und sie mussten ihn nur überzeugen, sie mitzunehmen.

Gerade als sich die beiden über den besten Ansatz unterhielten, betrat ein Ophiri das Zelt. „Mein Herr hat nun Zeit für euch, Sadiq!“ sprach er, wartete einen höflichen Moment und trat wieder ins Freie. Die beiden Hexer erhoben sich und folgten dem Khadim aus dem Zelt, während sie den Rest der Gefährten weiterschlafen ließen. Sie schritten an mehreren Zelten vorbei, in denen sich die Wachen und Arbeiter ausruhten. Die kostbaren Waren wurden streng bewacht, und als sie das große Zelt von Zahir erreichten, hatten sie sich einen guten Eindruck über die Karawane verschaffen können. Vor dem Zelt stand ein Wächter, der Atheris um einen guten Kopf überragte, und der sie mit seinem großen Krummsäbel in der Hand kritisch beäugte. Letztendlich trat er aber zur Seite und gab den Weg ins Innere frei. Das Zelt war geräumig und ließ trotz seiner Zweckmäßigkeit den Reichtum Zahirs erahnen. Der Kaufmann saß auf einem großen Kissen auf einer Empore und hatte eine Art Schlauch im Mund stecken, der zu einem Gefäß führte, in dem eine grünliche Flüssigkeit über einem kleinen Feuer blubberte. Kleine, weiße Wolken verließen beim Ausatmen seine Nase und verbreiteten einen interessanten Geruch im Zelt. Hinter ihm stand ein junger, in kostbare Gewänder gehüllter Mann und betrachtete die Fremdlinge aus aufgeweckten, fast schwarzen Augen. Atheris erinnerte sich, dass dieser Ophiri schon während der letzten Nacht nicht von Zahirs Seite gewichen war … vielleicht ein Leibwächter? Was folgte war ein traditioneller Ophirische Gästeempfang, bei dem Essen und Wein geteilt und höfliche Floskeln ausgetauscht wurden. Die ganzen Rituale zogen sich ziemlich in die Länge, und Atheris bemerkte, wie sein Freund Raaga bereits ungeduldig auf seinem Platz hin und her rutschte – der Skelliger hasste derart offizielle Anlässe. Im weiteren Verlauf des Gesprächs lenkte Atheris mehr oder weniger geschickt auf das Thema Miklagard. Er war erleichtert zu erfahren, dass die Stadt sich tatsächlich in ihrer Nähe befand und die Wüste im Westen an den Grenzen zu eben jener Stadt endete. Nachdem er zusätzlich noch die Namen der beiden Cousinen Eiwa und Saleha in einem Nebensatz fallen ließ, hatte er spätestens das Interesse Zahirs geweckt. Ob Miklagard tatsächlich auf seinem Weg gelegen hätte konnte Atheris nicht sagen – es interessierte ihn aber auch nicht weiter, denn der Kaufmann bot ihnen an, sie bis zu ihrem Ziel zu bringen. Als sie viel später endlich wieder in ihrem Zelt waren, ließ sich Atheris auf sein Kissenlager fallen, streckte sich ein letztes Mal und schlief erleichtert ein. Der Weg durch die Wüste könnte sich von einer üblen Tortur zu einer angenehmen Erfahrung wandeln.

Kapitel 4 – Überfall

Zahir hatte recht behalten, es dauerte noch gute zwei Tagesreisen durch die trostlose Wüste, bis sie schließlich die Oase erreicht hatten. Atheris hatte die Zeit damit verbracht, mehr über Ophir zu erfahren. „Wissen ist Macht!“ war der Leitspruch der Gelehrten vom Kastell Graupian gewesen, wo er seine Jugendzeit verbracht hatte. Frei nach diesem Credo hatte er Gespräche geführt, beobachtet und sich unter die Leute gemischt. Die größten Gefahren in der Wüste waren tatsächlich die extremen Temperaturen, verbunden mit Wassermangel und die unliebsamen Sandwürmer, die über Erschütterungen des Bodens ihre Opfer fanden – diese Gefahren wären aber noch einigermaßen überschaubar gewesen, da die Würmer nicht bekannt dafür waren, große Gruppen an Menschen anzugreifen – eine große Gefahr war der rechtsfreie Raum, der viele Räuber und Verbrecher anzog. Weder Miklagard noch irgendeines der anderen an die Wüste angrenzenden Königreiche in Ophir versuchten diesen Glutofen komplett zu kontrollieren, zu groß und zu unwirtlich war dieses Gebiet. Die Folge war, dass Karawanen, wie die von Zahir, ihre eigene Privatarmee benötigten, um dieses Gebiet sicher zu passieren. Der alte Karawanenführer von Zahir schien aus Atheris Sicht ein Meister seines Faches zu sein, denn er führte sie über geheime und sichere Pfade ohne Zwischenfall zu der Oase, die sich in einem kleinen Tal vor ihnen ausbreitete.

Die Größe und das geschäftige Treiben, das hier herrschte, erstaunte Atheris. Er hatte sich nicht vorstellen können, dass so ein lebendiger Ort in einer Wüste existieren kann – auch wenn er davon gehört hatte. Es mussten mindestens drei unterschiedliche Karawanen ihr Lager hier aufgeschlagen haben, um ihre Wasservorräte zu füllen. Dieses kleine Tal war wohl ein wichtiger Knotenpunkt der Handelsstraßen zwischen den östlichen und westlichen Reichen Ophirs – vielleicht war es sogar mal eine Stadt gewesen, die ebenfalls zum Teil aufgegeben worden war. Es gab große Steingebäude, in denen geschäftstüchtige Familien ihre Leistungen für die Reisenden Händler darboten, einen kleinen Markt, auf dem Früchte und Getränke verkauft wurden und so manch ein Geschäft zwischen den Karawanen schon gemacht wurde, bevor diese ihr Ziel erreichten. Zuletzt gab es sogar noch eine kleine Arena, in der ab und an Wettkämpfe ausgetragen wurden. Nachdem ihnen einer der Dienstbote Zahirs mitgeteilt hatte, dass sie hier einen Tag lagern würden, um den Tieren und Menschen die dringend benötigte Erholung zu bieten, machte sich Atheris auf, und schlenderte zwischen den alten Gebäuden umher. Auf seinem Streifzug traf er auf Heskor, der dabei war, die verschiedenen Handelsgüter genauer zu inspizieren. Atheris kannte ihn schon eine ganze Weile und wusste, dass der alte Dienstleister immer auf der Suche nach der nächsten gewinnbringenden Geschäftsidee war. Das kleine Handelsgeschäft, das er führte, war jahrelang sein finanzielles zweites Standbein und zugleich auch seine Tarnung für seine nicht legalen Aufträge gewesen.

Die letzten Jahre waren bescheiden gelaufen, Atheris hatte miterlebt, wie der Großteil seines Vermögens innerhalb von wenigen Tagen verloren gegangen war. Gerade als der Gute wieder einigermaßen Fuß gefasst hatte, ging ein Großteil seiner Ware bei der Schlacht um Kaer Iwhaell in Flammen auf. Die wenigen Besitztümer, die Heskor noch hatte, trug er entweder am Körper oder – so hoffte Atheris – auf dem Weg in die Leuenmark. Die Welt bot unendlich viele Möglichkeiten, man musste nur die Augen und Ohren offenhalten und die Gelegenheit beim Schopf ergreifen. Heskor zeigte ihm, wie intensiv die Ophiri ihren Handel betrieben – gestenreich, lautstark und schnell. Ein Handschlag hier, eine erhobene Hand dort und die Ware wechselte den Besitzer. Neben der Art und Weise war auch die Frage, was die Händler hier an Waren darboten, für Heskor von Interesse. Feinste Seide und andere kostbare Stoffe, herrlich verarbeiteter Schmuck mit seltenen Juwelen besetzt, fruchtige Weine und etwas, stärkerer Alkohol – der nach Lakritze schmeckte, Gewürze, die Atheris nicht kannte und Felle von Tieren, von denen er noch nicht einmal geträumt hatte. Heskor schien begeistert zu sein, wenn er diese Waren auf den Märkten in den nördlichen Königreichen oder vielleicht auch im Kaiserreich feilbieten würde, könnte er ein Vermögen machen. Einzig die lange Überfahrt zwischen den Kontinenten war ein nicht zu unterschätzendes Risiko, sonst würde der Handel bereits florieren. Heskor kam mit der Idee, die Portalsteine zu nutzen. Eine permanente Verbindung zwischen den Kontinenten wäre eine schnelle und sofern von einem Magier überwacht auch sicherer Weg, die kostbaren Waren zu transportieren. Er würde bei nächster Gelegenheit auf jeden Fall ein Gespräch mit Nella oder Lennox führen. Gut gelaunt schlenderten die beiden weiter und Heskor ließ seinen Geschäftsphantasien freien Lauf und Atheris hörte ihm mal mehr oder weniger interessiert zu.

Als die Dunkelheit über die Oase hereinbrach und das Treiben in den Lagern zunahm – eine Karawane schien sich für die Weiterreise vorzubereiten – machten es sich die beiden unter einer Palme bequem. Heskor zog eine dicke Pfeife aus seiner Tasche, stopfte diese mit ‚dem besten Tabak der Welt‘ und ließ kleine Ringe in den Abendhimmel steigen. Atheris lehnte sich zurück an den Baum, schlug die Beine übereinander, faltete die Hände hinter dem Kopf und betrachtete, wie die letzten Sonnenstrahlen am Horizont verschwanden.

„Oh! Jetzt wird’s interessant!“ freute sich Heskor und zeigte mit seinem Finger auf eine Gestalt, die zwischen den Zelten umherstrich. Atheris wusste, dass Heskor kein moralisches Urteil über Diebe oder vielleicht auch heimlich Liebende fällte. Noch interessanter wurde es, als ein weiterer Schatten zum ersten stieß. Einen dritten entdeckten die beiden hinter einem seltsamen Baum. „Was habt ihr vor?“ sinnierte Atheris noch laut, als einer der Schatten eine Fackel entzündete und begann, diese hoch in der Luft zu schwenken. Er folgte der Blickrichtung, in die der Verdächtige schaute und auf einmal war da am Rande einer Düne ein zweites Signal. Das war alles andere als ein harmloser kleiner Diebstahl oder eine heimliche Liebschaft, das war ein verdammter „Überfall!“ schrie Atheris seinen letzten Gedanken laut aus und zog sein Stahlschwert vom Rücken. Heskor neben ihm hatte die Situation ebenfalls erkannt und begann bereits mit gezogenen Dolchen hinunter zu den anderen Kameraden zu rennen.

Seine feinen Ohren warnten Atheris vor dem heranreitenden Angreifer. Im letzten Moment warf er sich zu Boden und entkam damit der gekrümmten Klinge, die sich von hinten auf ihn herabgesenkt hatte. Er rollte sich schnell zur linken Seite, um nicht von einem zweiten Reiter nieder gemacht zu werden. Zu seinem Leidwesen waren es mehr als zwei Reiter die angriffen und so erwischte ihn ein dritter Angreifer, und er wurde hart niedergeritten, wobei ihn das Knie des Pferdes hart am Kopf traf. Für einen kurzen Moment schien es so, als ob die Sterne vor seinem inneren Auge mit hoher Geschwindigkeit zusammengezogen wurden, bevor er von einer alles umfassenden Dunkelheit umgeben wurde. Er musste für einen längeren Moment das Bewusstsein verloren haben, denn als er die Augen wieder öffnete und sich seine Sicht wieder schärfte, war in der Oase die Hölle losgebrochen. Brennende Zelte und Häuser, schreiende Menschen und Tiere und überall Leichen. Der Vollmond wurde von dem dunklen Rauch verhüllt. Seine Augen suchten das Zelt, indem seine Freunde lagerten. Das Zelt stand in Flammen und der Sandboden vor dem Zelt war vom roten Blut durchtränkt. In der Mitte standen Viktor und Raaga Rücken an Rücken und erwehrten sich der Angreifer. Mit einem kurz aber kräftig geführten Stich seiner im Mondlicht blitzenden Klinge holte Viktor gerade einen der Banditen aus dem Sattel, während Raaga seine Axt aus einem zertrümmerten Brustkorb zog, nur um sie einen Augenblick später in den Schädel eines in schwarz gekleideten Mannes zu versenken. Aber wo waren die anderen? Immer noch leicht schwankend und mit einem schmerzenden Kopf rannte er so schnell es ging durch den tiefen Sand auf Viktor und Raaga zu. Als er noch etwa vierzig Schritt von seinen Freunden entfernt war, flog einer der Banditen durch eine Zeltöffnung und blieb reglos vor ihm liegen, dabei starrten die leeren Augen ihn an, als ob sie immer noch nicht realisiert hatten, was soeben passiert war. „Atheris, wo warst du? Wir haben dich überall gesucht!“ schrie Logan, als er durch die Zeltöffnung, dicht gefolgt von Egon, ins Freie trat. „Ihr habt mich gefunden! Los zu den anderen!“ rief Atheris und rannte weiter. Wo war eigentlich Heskor geblieben? Immer wieder suchte er nach dem Assassinen, nicht, weil er sich Sorgen um ihn machte, denn er konnte sehr gut auf sich selbst aufpassen, viel mehr interessierte ihn, warum er nicht hier war zum Helfen! Mit den beiden jungen Hexern dich an seinen Fersen rannte er zu dem, was einst ihr Zelt gewesen war. „A d’yaebl aép arse! Wo ist Nella?“ entfuhr es Atheris. Panik stieg in ihm auf, die Magierin war in ihrer Bewusstlosigkeit den Angreifern schutzlos ausgeliefert. Er versuchte sich einen Überblick über das Chaos zu verschaffen, aber das war unmöglich, es gab keine Ordnung mehr. Er entdeckte Viktor und Raaga, die inzwischen stark unter Bedrängnis standen und sich zwischen zwei steinerne Mauerreste zurückgezogen hatten. „Helft den beiden!“ sagte Atheris und die beiden jüngeren Hexer rannten los.

Atheris rannte auf der Suche nach Nella durch die umkämpften Straßenzüge, bis er Ker’zaer entdeckte. Einer der Banditen hatte sich des Tieres bemächtigt und ritt mordend durch die fliehenden Zivilisten. Wütend rannte der Hexer dem Reiter hinterher und als der Dieb den Fehler machte, das Pferd zu zügeln, um sich einen Kelch aus einen der Straßenläden zu nehmen, kannte Atheris keine Gnade und trieb seine Stahlklinge dem Mann von hinten durch das Genick. Leblos fiel der Körper zu Boden und Atheris schwang sich auf sein Ross, das ihn mit einem freundlichen Schnauben begrüßte.

Der Rückzug der Banditen kam genauso überraschend wie der Angriff. Atheris sah, wie immer mehr der Reiter ihre Plünderungen einstellten und sich aus dem Staub machten. Wider besseren Wissens entschloss sich der Hexer den Fliehenden zu folgen. Etwas außerhalb der Oase war offenbar der Sammelpunkt der Schurken. In einer großen Senke zwischen zwei Dünen warteten inzwischen zwei Dutzend Reiter und es trafen tropfenweise immer noch Nachzügler ein. Atheris wartete etwas abseits und beobachtete ungesehen, was sich vor seinen Augen abspielte. Es war sein Glück, dass die Meute nicht sonderlich diszipliniert zu sein schien, denn anstatt leise zu warten, jubelte die Menge über den erfolgreichen Raubzug, wohl fest in der Annahme, dass sie keiner verfolgen würde. Neben verschiedensten Kisten, Töpfen und Körben hatten sie auch einige Gefangene gemacht, darunter entdeckte er auch die Elfenmagierin, die sich einer der Männer vor sich auf sein Pferd gezogen hatte. Nun hing sie dort wie ein nasser Sack und Atheris war kurz davor seinem Pferd die Sporen zu geben und die Drecksäcke niederzumachen. „Warte, Atheris!“ flüsterte Heskor, der scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht war. „Wenn du jetzt angreifst, erreichst du nur deinen schnellen Tod!“ fuhr er fort. Heskor hatte sicherlich recht, ein Fontalangriff war nicht sonderlich erfolgsversprechend, aber er hatte schon aussichtslosere Kämpfe geführt und überlebt. So warteten die beiden unerkannt bis sich die Gruppe gesammelt hatte. Der vermeintliche Anführer, ein großer Mann mit hageren Gesicht und einem fein rasierten Vollbart, zählte seine Männer und war sichtlich sauer über das Ergebnis, es schien ein höherer Blutzoll gewesen zu sein, als ihm lieb war. Nichts desto trotz machten sie sich im Licht des Mondes auf den Weg zurück in die Wüste. Atheris und Heskor hielten etwas Abstand und folgten den im Sand gut sichtbaren Spuren. Der Mond hatte noch nicht seinen Zenit erreicht, als die Räuberbande vor einem kleinen Gebirgszug haltmachte. Ein Felsen versperrte ihnen den Weg in die dahinterliegende Schlucht. „Aftah ya samsam!“ sprach der Anführer in einem gebieterischen Tonfall, und wie von Geisterhand bewegte sich das Hindernis zur Seite und gab den Eingang frei. „Hmmmm…!“ flüsterte Heskor und Atheris stimmte seinem Kameraden zu. Als der letzte der Räuber die Schlucht betreten hatte, rollte der Felsen zurück in seine ursprüngliche Position. Die beiden Gefährten machten einen großen Bogen und näherten sich dem Eingang von der Seite. Die Pferde ließen sie unter einem Felsvorsprung zurück und legten die letzten Schritte zu Fuß zurück. Am Felsen angelangt hielten sie kurz inne und lauschten nach Geräuschen. Heskor hob die Faust, dann den Zeigefinger und den Mittelfinger – Zwei. Atheris nickte zustimmend. Seine feinen Ohren hatten auch mindestens zwei leise Stimmen vernommen, die sich unterhielten. Atheris beobachtete, wie Heskor vorsichtig mit der Handfläche über den Felsen strich und sich dann die Berührungspunkte am Übergang zwischen Fels und Steinwand genauer betrachtete. Mit einer flinken Bewegung tauchte auf einmal aus dem Nichts ein kleines Messer in der Hand von Heskor auf und er schnitt eine kleine Öffnung in den Felsen … wobei Felsen falsch war, wie Atheris erkannte. Es musste sich um eine Attrappe handeln. Heskor benötigte eine gefühlte Ewigkeit mit seiner Arbeit, denn immer wieder hielt er inne und schien zu lauschen, was sich auf der anderen Seite des Eingangs abspielte. Gerade als Atheris anfing ungeduldig zu werden, verschwand das Messer und Heskor zauberte einen kleinen Spiegel hervor, der an einem Stab befestigt war. Diesen führte er durch das Loch und machte sich vermutlich ein genaues Bild der Situation. Er schien mit seiner Erkenntnis zufrieden zu sein, denn er steckte auch den Spiegel wieder weg und zog dafür ein kleines Ledertäschchen hervor und öffnete es leise. Atheris erkannte zwei kleine metallene Röhrchen, die Heskor herausnahm und zusammensteckte – ein Blasrohr, interessant. Der Hexer beobachtete weiter, wie sein Begleiter eine kleine Innentasche öffnete, in der vier kleinen metallenen Phiolen befestigt waren. Der Auftragsmörder schien einen Moment zu überlegen und entschied sich dann für eines der Gifte ‚Nowitschok` – interessante Wahl, dachte sich Atheris.

Als nächstes zog er zwei kleine Pfeile aus ihrer Befestigung, öffnete das Giftfläschchen und tauchte die Pfeilspitzen hinein. Langsam steckte er das Blasrohrdurch die Öffnung und schaute durch das Rohr, steckte dann den ersten Pfeil hinein und schoss. Heskor wiederholte das Ganze in atemberaubender Geschwindigkeit ein zweites Mal, als wenn es das natürlichste der Welt war. Atheris vernahm nur einen Wimpernschlag später das dumpfe Aufprallen zweier Körper. Zufrieden mit seinem Ergebnis nahm Heskor die Felsenattrappe und schob sie weitgenug zur Seite, dass sie passieren konnten. Atheris sah die beiden Wachen, die leblos am Boden lagen und offensichtlich bei einem Kartenspiel ihr zeitliches gesegnet hatten. Nicht gerade ehrenhaft, dachte sich Atheris, aber andererseits waren das Räuber und keine Männer von Ehre. Atheris wollte schon der Schlucht weiter folgen, als er merkte, dass Heskor zurückgeblieben war. Als er sich nach seinem Begleiter umblickte, sah er, wie sich dieser die Zeit nahm, um die beiden Männer so zu drapieren, dass man auch den ersten Blick denken musste, dass sie friedlich dasaßen und Karten spielten – Atheris lief es kalt den Rückenrunter. Er hatte seinen Freund noch nie bei seiner eigentlichen Tätigkeit beobachtet … vielleicht musste er das Bild, das er sich von Heskor gemacht hatte doch nochmal überdenken … aber dafür war jetzt keine Zeit. Sie folgten der schmalen Schlucht zu einem Höhleneingang, der gerade breit genug war, um einen Reiter passieren zu lassen. Nachdem die beiden sich vergewissert hatten, dass der Eingang nicht bewacht wurde, schlichen sie sich in die Dunkelheit. Im Inneren öffnete sich eine große natürliche Halle, die über tausende von Jahren durch Wasser und Sand aus dem harten Stein geschliffen worden war. Ein schmaler Pfad, der aus dem harten Stein der Höhlenwand geschlagen worden war, führte gut zehn Schritt in die Tiefe. Am Höhlenboden sah er das Lager der Räuber, wobei Lager absolut untertrieben war, es wirkte vielmehr wie eine kleine Siedlung mit Gebäuden und Ställen. Das wertvollste in der Höhle war mit Sicherheit ein kleiner See mit genügend Wasser, um die Siedlung zu versorgen und das Leben in der Wüste überhaupt erst ermöglichte.

Ob es hier eine unterirdische Quelle gab oder das Wasser woanders herkam, konnte er auf die Schnelle nicht feststellen. Durch ein großes Loch in der Höhlendecke gelangte etwas Mondlicht, so dass Atheris mit seinen scharfen Augen keine Probleme hatte sich gut zurecht zu finden, ob die Lichtverhältnisse für Heskor ein Störfaktor waren, konnte er nicht sagen, aber der Attentäter machte keine Anzeichen, dass er darüber nachdachte. Von ihrer Position aus hatten sie einen guten Überblick und konnten sehen, wie die erbeuteten Waren in einem Lagerhaus gesammelt wurden. Der Räuber, der Nella entführt hatte, schien auf einmal nicht mehr glücklich mit seiner Beute zu sein, denn er musste sich von seinem Anführer eine ordentliche Standpauke anhören – vielleicht sollten bewusst keine Personen entführt werden? Egal, der Anführer ließ die Elfe von zwei weiteren Männern in das größte der Häuser tragen. Langsam schlichen sie den Pfad hinab, wobei schleichen nicht die größte Stärke von Atheris war. Die gefühlte Sicherheit, in der sich Räuber wähnten, machte es ihnen aber verhältnismäßig einfach, ungesehen zwischen die ersten Gebäude zu gelangen. Der Hexer bemerkte eine ihm inzwischen bekannte Bauweise, es war dieselbe wie in der verlassenen Wüstenstadt – aber deswegen waren sie nicht hier. Beide harrten einen Moment zwischen zwei Kisten versteckt aus und beobachteten das Treiben. Die meisten Männer waren noch beim Verladen und Begutachten der geraubten Güter beschäftigt. Zwei weitere ließen sich von einem alten Feldscher die Wunden behandeln. Ihre Toten hatten sie in der Oase zurückgelassen. In einem ungesehenen Moment kletterte Heskor auf das Flachdach des Gebäudes und verschwand aus dem Sichtfeld von Atheris. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris leise und kletterte dem Gefährten nach aufs Dach. Heskor hatte sich inzwischen neben eine alte Holzkiste gelegt, die genügend Deckung bot und sich eine von Ratten zerfressene, durchlöcherte Decke über den Kopf gezogen. Atheris robbte zu ihm hinüber, vermied aber mit der übelstinkenden Decke in Kontakt zu kommen. Eine Weile lagen die beiden dort auf dem Dach und beobachteten das große Gebäude, in dem sich Nella aufhielt und dessen Umgebung. Sie durften sich nicht ewig Zeit lassen, die Nacht war schon so gut wie vorbei und Atheris wollte vermeiden, dass sie durch die pralle Mittagssonne den Weg zur Oase finden mussten. Es war ein stetes Kommen und Gehen in dem Haus, Atheris vermutete, dass es sich vielleicht um eine Art Taverne handeln konnte, in der sich die Männer ihre Rationen holen konnten, oder sich zu gesellschaftlichen Zwecken trafen. Das Haus hatte insgesamt drei Stockwerke und im obersten schien der Anführer sein Lager aufgeschlagen zu haben. „Heskor! Wie machen wir es?“ flüsterte Atheris. „Ganz einfach, du marschierst rein und lenkst sie ab und ich hole Nella!“ antwortete er mit leiser Stimme. Das klang zwar nach einem dummen Plan, aber Atheris hatte keine Geduld mehr, wenn er sich nicht verzählt hatte, waren keine fünf Mann in dem Haus, das Risiko war er bereit einzugehen. Etwas hielt ihn am Fuß fest – „Atheris, zieh die Decke über deinen Kopf, wenn du über die Straße zum Haus gehst, sonst schlägt noch jemand Alarm und dann haben wir ein Problem!“ Im Schatten meinte er ein boshaftes Lächeln von Heskor zu sehen. Widerwillig nahm er das stinkende, flohverpestete Ding unter den Arm und ließ sich in die Nebengasse hinunter. Dort zog er sich das löchrige Teil über den Kopf und marschierte los. Als er halber über der Straße war, erkannte er Heskor’s Antlitz auf dem Dach – wie war er so schnell auf die andere Seite gekommen? Egal – das konnte er ihn noch später fragen. Atheris erreichte die hölzerne Tür und öffnete sie, sie war erwartungsgemäß nicht verschlossen gewesen. Das Erdgeschoss ähnelte entfernt einem Tavernen Raum, nur gab es keine Stühle sondern die in Ophir üblichen Sitzkissen und flache Tische. An einer Art Tresen stand ein Wirt oder Koch – was auch immer und füllte kleine tönerne Becher mit einer klaren Flüssigkeit. Ein Mann stand bei ihm und wartete vermutlich auf die Getränke, die er für sich und seine Kumpane holen wollte. Diese saßen zu viert an einem Tisch und löffelten eine Suppe – keiner beachtete den Hexer mit den zwei Schwertern auf dem Rücken. Erst als der Mann mit den gefüllten Bechern zum Tisch zurückkehren wollte entdeckte dieser Atheris, der inzwischen mit gezogener Stahlklinge mitten im Raum stand. „Ich muss ja ziemlich furchterregend wirken“, dachte sich der Hexer, als er sah, wie das Tablett zitterte. „Karim, kommst du endlich?“ fragte einer am Tisch, als er sah, dass der Mann mit dem Tablett stehen geblieben war. Erst als er dessen Blick folgte, schrak er ebenfalls auf und wollte seinen Dolch ziehen. Doch Atheris hatte das kommen sehen und im gleichen Moment wie die Hand des Mannes den Griff seiner Waffe spürte, spürte er auch die Spitze der Klinge an seiner Kehle. Mit dem Zeigefinger seiner Linken vor den Lippen, zeigte er den Männern an, dass sie schweigen sollten – und das taten sie auch. Es dauerte nicht lange und Heskor kam mit Nella über die linke Schulter geworfen die Treppe hinunter. „Wie hast du …?“ wollte Atheris ansetzten, unterließ aber den Rest der Bemerkung. Er legte Nella auf das Kissen vorsichtig ab, griff in seinen Mantel und zog ein Flächen heraus. Atheris sah, wie er einen Tropfen des Inhaltes auf den Tisch fallen ließ und wie sich dieser sofort durch das Holz fraß – Säure! Die Augen der Männer wurden größer, als er sich dem Mann mit dem Tablett näherte und in jeden der Becher etwas schüttete. Dann nahm er die Gefäße und stellte jedem eines vorsichtig auf den Kopf, selbst der Wirt entkam dem Spiel von Heskor nicht. Heskor steckte seinen Kopf durch die Tür und gab Atheris das Zeichen, dass der Weg frei war. Über zwei Seitengassen näherten sie sich schnell den Stallungen – sie hatten keine Zeit! Als sie die Rückseite des Stalles erreicht hatten, bedeutete Heskor dem Hexer mit Nella im Arm zu warten. Atheris sah, wie Heskor sich dem Stallburschen von hinten näherte und ihn dann kurz und schmerzlos mit einem Würgegriff außer Gefecht setzte. Er zog den bewusstlosen Jungen zum Hintereingang, versteckte ihn hinter einem Stapel Holzbrettern und ließ ihn dort liegen. Anschließend gab er Atheris ein Zeichen und er eilte zu ihm. Leise sattelten sie zwei Pferde und sabotierten bei den nicht benötigten Sätteln die Gurte und Riemen, um eine mögliche Verfolgung zu verzögern. Zuletzt nahm Heskor eine brennende Fackel und warf sie in die große Futterkrippe. Die Flammen schossen augenblicklich nach oben und die Pferde gerieten in Panik. Heskor schwang sich gerade noch rechtzeitig auf das für ihn vorgesehene Pferd, um mit der fliehenden Herde davon zu galoppieren. Es war ein halsbrecherischer Ritt durch die engen Straßenzüge der kleinen Siedlung, aber Atheris schaffte es, zügig sich an die Spitze der Herde zu setzten und auf den schmalen Pfad nach draußen.  Als sie den schmalen Pfad hinaufgaloppierten, war sich der Hexer nicht mehr so sicher, dass es eine gute Idee gewesen war- aber nun mussten sie da durch. Atheris war erleichtert, als er mit Nella vor sich im Sattel das Dunkel der Höhle verließ, dicht gefolgt von Heskor, der sich sichtlich Mühe gab, nicht von seinem Pferd zu fliegen. Einige Schritte weiter wartete das nächste Hindernis auf sie, der falsche Felsen. Ein letztes Mal trieb Atheris sein Pferd zu einem gestreckten Galopp an und mit einem Sprung setzte das Tier durch den getarnten Eingang hindurch und die drei Gefährten sahen das Morgengrauen über der Wüste heraufziehen. Nachdem Atheris sein treues Ross eingesammelt hatte, brachten sie im Galopp so viel Strecke wie möglich zwischen sich und die Höhle. Wenig später stand die Sonne bereits hoch am Himmel und Atheris fand sich erneut mitten in der Wüste wieder. Zum Glück hatte er die verlauste, stinkende … ist ja auch egal. Dieses gehasste Ding spendete nun während des Rittes wertwollen Schatten. Ohne Ausrüstung für ein Lager und nur mit wenig Wasser ausgestattet kämpften sie sich durch den Glutofen, der sich Wüste schimpfte zurück in Richtung Oase, was sich gar nicht als so leicht herausstellte. Atheris sah, wie Heskor im Sattel zusammengesunken war und offensichtlich eingeschlafen war. Immer wieder hörte er, wie sein Gefährte im Schlaf wirres Zeug redete, etwas von einem Wesen, das weder Form noch Gestalt hatte … das aus den Tiefen der Hölle stammte … das ihn beobachtete – schon sein ganzes Leben und das Jagd auf ihn machte. Atheris schüttelte den Kopf, aber Albträume waren keine Seltenheit bei dem was sie bei ihrer Arbeit alles erlebten.

Am späten Nachmittag, die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten, riss ein lauter Ruf Atheris aus seinem Schlaf. Er brauchte einen kurzen Moment sich wieder zu finden und er konnte sich nicht erinnern, wann er in der Hitze eingenickt war. Er wischte sich über die trockenen Augen, was er sogleich bereute, die wunden Augen schmerzten bei der Berührung, verrieten ihm aber, dass er nicht mehr am Träumen war und dass Viktor und Egon tatsächlich auf ihn zu gerannt kamen. “Endlich, ihr habt euch ganzschön Zeit gelassen!” stammelte er in seiner kecken Art und lächelte seinen Freunden zu.

Kapitel 5 – Miklagard

Nach dem Überfall auf die Karawane vor fünf Tagen und der geglückten Rettungsaktion waren sie noch in derselben Nacht weitergezogen. Atheris saß weit oben über dem Wüstensand, bequem auf einem der Dromedare und betrachtete das gewaltige Naturschauspiel, das sich ihm bot. Bereits vor zwei Tagen hatte sich das Spektakel am Horizont angedeutet. Zahir hatte ihnen erklärt, dass diese riesige Felsenkante, die sich wie eine Sichel durch die Wüste zog, die natürliche Grenze zum Königreich Miklagard bildete. Die fast senkrechte Wand, auf die sie zuhielten, war etwa hundert Schritt hoch und es existierten nur wenige, streng bewachte Pfade, die hinauf zum Hochplateau führten. Wie streng die Pässe bewacht wurden erlebte Atheris, als sie am Fuße des Plateaus ankamen. Eine schmale etwa drei Schritt breite Rampe war in den Felsen geschlagen worden, an deren Ende ein massives, gut fünf Schritt hohes Tor den Weg versperrte. Oben hinter den Zinnen des Tores sah Atheris vier Armbrustschützen, deren bronzefarbene Schuppenpanzer in der Sonne funkelten. Zahir ritt als erstes zum geschlossenen Tor und nach mehreren höflichen Grußworten und einigen gewechselten Münzstücken öffnete sich die großen Flügeltüren und ein Trupp von zehn schwerbewaffneten Soldaten trat hindurch. Die ebenfalls mit bronzefarbenen Rüstungen ausgestatteten Männer begannen sofort mit der Überprüfung der Karawane und gingen dabei für Atheris Empfinden ziemlich gründlich vor – hatte Zahir etwa zu wenig für die Passage bezahlt? In seiner Heimat Nilfgaard gab es wie in jedem anderen Land, das er bereist hatte, das Problem der Korruption, wobei der Kaiser im Vergleich zu den Königen in den nördlichen Reichen diese nicht duldete und die Strafen für derlei Vergehen empfindlich waren. So akribisch wie die Soldaten hier vorgingen, kannte er allerdings nur in Kriegszeiten. Als die Wachen zu Atheris und seinen Freunden kamen, wurde die Situation etwas komplizierter. Wie sollte man auch erklären, dass eine ganze Reihe schwer bewaffneter Fremder, mit zwei Klingen auf dem Rücken und einer bewusstlosen Elfenmagierin sich bei einer Handelskarawane aufhielten. Zahir erwies sich als Meister der Zunge, denn auch wenn Atheris nicht alles verstand, was der Händler so über die Greifen erzählte, die Geschichte hörte sich wahnsinnig interessant an, vor allem wie er die Rettung Nellas laut und gestenreich erzählte, schien die Soldaten zu überzeugen … oder waren es wieder die Münzen gewesen, die den Besitzer gewechselt hatten? Atheris musste lächeln. Als Zahir auch noch die beiden Cousinen aleha bint Nour bint Heema bint Zarah al’Hakima und Eiwa Al’Razina nannte und dass diese Fremden Freunde von ihnen waren, ging es auf einmal ganz schnell mit der Kontrolle und die Karawane wurde durch das Tor gewunken. Als es endlich weiterging, schwang sich Atheris erfreut zurück auf sein exotisches Reittier und nur wenige Momente später genoss er die Aussicht, die sich ihm bot. Der schmale Pfad, welcher in die Felsenwand getrieben worden war, bot gerade genug Platz für ein Dromedar oder Pferd und war ganz sicher nichts für schwache Nerven. An manchen Stellen war der Pfad mit einer Art Hängebrücke verbessert worden, da Teile abgestürzt zu sein schienen. An einer besonders engen Stelle, musste Atheris kurz an das Portal denken und überlegte, ob es wirklich so viel gefährlicher war, als das, was die Ophiri hier als Weg bezeichneten. Es dauerte fast den ganzen Tag, bis sie oben am Plateau angelangt waren und vor einem weiteren Tor standen. Die Papiere, die sie unten erhalten hatten, machte es bei der zweiten Kontrolle deutlich leichter zu passieren. Atheris blickte noch einmal zurück und schaute auf die riesige Wüstenebene hinunter. Der Anblick war atemberaubend, zeigte aber auch unmissverständlich auf, wieviel Glück sie gehabt hatten und aus dieser lebensfeindlichen Umgebung entkommen waren. Hier oben war das Klima deutlich angenehmer, so dass Zahir sie darüber informierte, dass sie von nun an tagsüber reisen würden. Am nächsten Morgen zogen sie in aller Früh weiter und Atheris wechselte zum ersten Mal wieder auf sein geliebtes Ross. Es dauerte auch nicht lange, bis sie die erste Siedlung passierten und es war offensichtlich, dass die Bewohner in dieser Gegend von der Tonarbeit lebten. Vor den Hütten der Handwerker stapelten sich wunderschöne Töpfereien und unglaubliche Menge an gebrannten Ziegeln. Die Lehmgruben, an denen sie vorbeizogen, waren die größten, die Atheris in seinem Leben gesehen hatte. Je weiter sie zogen umso mehr nahm die Luftfeuchtigkeit zu und zwei Tagesreisen später hatte sich der trockene Tonboden in ein kultiviertes Sumpfgebiet gewandelt. Die Leute wohnten in begrünten Hütten und bauten Pflanzen in seichten, überfluteten Feldern an. In seiner Heimat wurde viel Aufwand betrieben, solche Sumpfgebiete trockenzulegen, von der Möglichkeit Wasserpflanzen anzubauen hatte er bisher noch nie etwas gehört. Die Gegend war nach den Tagen in der Wüste eine schöne Abwechslung, einzig die ständige Belästigung durch die Mücken war ihm ein furchtbarer Dorn im Auge. Erst als die Hexer nach der zweiten zerstochenen Nacht sich zusammensetzten und eine Tinktur auf Basis eines Insektoiden-Öls zusammenbrauten, wurde ihre Situation erträglicher.

Einige Tage später erreichte die Karawane die Kornkammer Ophirs. Die goldenen Ährenfelder erstreckten sich, soweit das Auge reichte und am Horizont sah Atheris das Ziel ihrer Reise, die Stadt Miklagard. Ihr Weg führte sie durch die Felder und Weiden. Die weißen Türme und die blaugoldenen Dächer wurden größer und erhoben sich wie ein einziger riesiger Palast vor ihnen. Je näher sie kamen, desto beeindruckender wurde die Kulisse. Zahir erklärte ihnen, dass die palastähnlichen Gebäude zur Madrasa gehörten – Madrasa, so hatte Atheris gelernt entsprach im weiteren Sinne einer Universität. Die Wissenschaft hat einen großen Einfluss auf das Stadtleben und die Politik, hatte ihm Saleha erzählt, und das ist es, was Miklagard so einzigartig macht. Obwohl die ganze Stadt wie ein Palast wirkte, war dieser nicht inmitten der Stadt, sondern lag etwas außerhalb der Stadtmauern auf einem Gebirgskamm. Mit bloßem Auge konnte man ihn nicht sonderlich gut erkennen, lediglich das Glitzern der prunkvollen Dächer verriet ihm die genaue Position. Besonders auffällig war ein großer, in seiner Architektur chaotisch wirkender Turm, die Hauptbibliothek der Stadt, die unter den Einwohnern ‚Babaal‘ genannt wurde.

Das Wetteifern der Kaufleute sorgte dafür, dass innerhalb der Stadt neben den Gebäuden der Madrasa wunderschöne und repräsentative Bauten entstanden waren. Noch bevor sie das südöstliche Stadttor erreichten, wurden Boten zu Saleha und Eiwa ausgesandt, welche die beiden Cousinen über die Ankunft der Greifenhexer unterrichten sollten, sofern sie sich in der Stadt aufhielten. An den Toren Miklagards trennten sich die Wege von Zahir und den Greifen. Der Kaufmann hatte sein Versprechen erfüllt und sie sicher in die Stadt gebracht. Nun zog er nach einer langen und freundschaftlichen Verabschiedung seines Weges. Während sie hinter dem Stadttor auf einem kleinen Platz auf die Boten warteten, beobachtete Atheris das rege Treiben auf den Straßen. Es war lange her, dass er in einer solch großen Stadt gewesen war und er empfand es als willkommene Abwechslung, nachdem er die letzten Jahre meist in der Wildnis oder in Kaer Iwhaell verbracht hatte. Es dauerte nicht sonderlich lange, bis Saleha’s Bote auf dem Platz eintrat und sie im Namen von ihr willkommen hieß. Zu ihrer Überraschung hatte er vier große Sänften mitgebracht, die jeweils von acht starken Männern getragen wurden.  Die immer noch nicht zum Bewusstsein gekommene Nella wurde in einer der Sänften gelegt und die anderen Greifen nahmen in den übrigen Platz, lediglich Atheris bevorzugte den Rücken seines Pferdes. Ihr Weg führte sie über Prachtstraßen, die mit vielen verschiedenen kleineren und größeren Geschäften sowie Kaffeehäusern gesäumt waren, über zwei Marktplätze, auf denen allerlei Exotisches Feilgeboten wurden, vorbei an Stadthäusern, die sich mit Marmor und Brunnen schmückten und an Dekadenz kaum zu überbieten waren. Es war eine reiche Stadt und von dem was der Hexer sah, konnten nur wenige Städte mit der Schönheit dieses Ortes mithalten. Eine dieser Städte, die ihm in den Sinn kam, war die Hauptstadt des Kaiserreiches, die auch liebevoll die Stadt der goldenen Türme genannt wurde.

Die Zeit verging schnell und sie erreichten ihr Ziel, das Stadthaus von Saleha. „Nicht schlecht!“ kommentierte Atheris das Bauwerk, das vor ihm aufragte. Die meisten Herrscher kleinerer Reiche konnten mitnichten ein Palais wie dieses vorweisen. Durch das mit blauen Mosaiken und Marmor verzierte, repräsentative Eingangstor gelangten sie in einen großen rechtwinkligen Innenhof, der neben einem kleinen schönen Kräutergarten, vor allem die Stallungen, eine große Küche und die Gemächer der Bediensteten beherbergte. Hier wurde ihnen von einem ziemlich großen, grobschlächtig wirkenden Skelliger das Gepäck abgenommen und er war es auch, der wenig später Ker’zaer im Stall versorgte – warum Saleha trotz ihres Reichtums nicht mehr Bedienstete hatte, verwunderte Atheris. Liebevoll streichelte Atheris sein treues Tier und beeilte sich dann seinen Gefährten zu folgen, die bereits in Richtung Hauptgebäude geführt wurden – von dem einen großen Skelliger. Verwundert schüttelte der Hexer den Kopf und beschleunigte seinen Schritt. Über eine breite weiße Treppe mit drei Stufen wurden sie zu einem weiteren Eingangsbereich geleitet, dessen Portal von zwei schönen Statuen geschmückt wurde. Der Boden war mit feinem Marmor ausgelegt und die Wände mit kunstvollen Mosaiken geschmückt, die unterschiedlichste Szenarien darstellten. Hinter dem Eingangsbereich lag ein weiterer, kleinerer Innenhof, in dessen Zentrum ein weißer Springbrunnen stand, in dessen Wasser drei Seerosen schwammen. Außenherum waren bunte Blumenbeete angelegt. Die für Atheris unbekannten Blumen verströmten einen faszinierenden Duft. Der Innenhof wurde eingeschlossen von Säulengängen, die es ermöglichten, trockenen Fußes zum Hauptflügel zu gelangen oder aber Sitzgelegenheiten im Schatten boten. Ein Pfau bemerkte die Neuankömmlinge und schlug sein Rad. Direkt neben dem Brunnen stand eine niedrige Bank aus weißen Marmor, die mit großen bunten Kissen ausgelegt war.

Saleha stand nah am Eingang und unterhielt sich leise mit einem hochgewachsenen Mann in edlen dunklen Gewändern. Atheris hatte den Eindruck, als ob sie ihn gerade hinauskomplimentieren wollte. Sie hatte zwar ein nettes Lächeln aufgesetzt, aber das musste nichts heißen, es konnte auch nur aus Höflichkeit sein. Es dauerte ein kleines Weilchen, bis sich der Mann endlich überreden ließ. Er verabschiedete sich mit einer sehr tiefen Verbeugung und einem Handkuss von Saleha, wobei letzterer überraschend lang dauerte. Endlich wendete sich der Mann ab und schritt auf die Hexer zu. Vermutlich ein Krieger, dachte sich Atheris, der die raubtierhaften Bewegungen musterte. Er grüßte die Hexer freundlich, zu freundlich für seinen Geschmack und er war sich sicher, dass dieser Mann genau wusste, was sie waren – Hexer. Vielleicht hatte er von ihnen gehört oder gelesen … egal, für den Moment freute sich Atheris einfach nur, die Gesichter der beiden Cousinen zu sehen, die sie nun fröhlich begrüßten.

Nach einer herzlichen Begrüßung nahm Saleha Atheris zur Seite und führte ihn in eine der Ecken des Hofes. „Was um alles in der Welt ist passiert, Atheris? Was hat euch an dieses Ende der Welt verschlagen und wo ist Valerian?“ fragte sie etwas überrascht. Ihre Augen musterten ihn von oben bis unten – er musste wohl immer noch ziemlich fertig aussehen, nach all den Strapazen der unfreiwilligen Reise. „Bevor ich dir die ganze Geschichte erzähle, benötigt Nella dringend eure Hilfe, sie hat seit Tagen nicht mehr das Bewusstsein erlangt und musste mit einem Schlauch ernährt werden“ fuhr Atheris fort. Er drehte sich zu der Magierin um und bemerkte, dass Eiwa bereits bei der Elfe stand und dem großen Skelliger Anweisungen gab. Vorsichtig hob er sie hoch und folgte Eiwa ins Haupthaus. „Mach dir keine Sorgen, Atheris! Wenn jemand sich mit leergebrannten Magiern auskennt, dann ist es Eiwa!“ beruhigte Saleha den Hexer. Schon bald kam der Diener wieder zurück und zeigte nun den übrigen Gästen ihre Quartiere. Auch hier kannte der Luxus keine Grenzen und Egon merkte fröhlich an, dass Großmeister Valerian überlegen sollte, ob sie nicht lieber ihre neue Schule hier gründen wollten. Zumindest was die Annehmlichkeiten anbelangte, gab Atheris dem jungen Hexer recht.

Nachdem sie sich frisch gemacht und etwas ausgeruht hatten, wurden sie zum Essen gerufen. Eiwa, die eine Spezialistin der magischen Analyse war, hatte in der Zwischenzeit Nella behandelt und sie war auf dem Weg der Besserung. Eiwa erzählte Atheris zwar beim Essen, was sie genau gemacht hatte und wo das Problem lag, aber er hatte es nicht wirklich verstanden – und an das monotone Nicken der anderen Zuhörer, dass er nur zu gut aus Valerians Unterrichtsstunden kannte, verriet ihm, dass es ihnen nicht anders erging. Zumindest grob hatte er die Ursache für die Bewusstlosigkeit kapiert. Nella hatte sich während der Schlacht um Kaer Iwhaell und bei der anschließenden Flucht durch das Portal so verausgabt, dass sich ihr Astralkörper runtergefahren hatte, um sie vor weiterem Magieentzug zu schützen. Einer der Nebeneffekte war dabei, dass sie auch das Bewusstsein verloren hatte. Später erzählte Atheris den Cousinen ausführlich die Geschichte, wie die Greifenhexerschule Kaer Iwhaell letztendlich durch die Fanatiker gefallen war … von Valerians Flucht und der bleibenden Ungewissheit, ob er überlebt hatte … und von ihrer eigenen Flucht durch das Portal, mit der anschließenden Reise durch die Wüste. „Es war ziemlich leichtsinnig, mein lieber Atheris, das Portal ohne Kenntnisse über dessen Funktionsweise zu nutzen – aber ich verstehe, dass ihr nicht gerade eine Wahl in der Situation hattet!“ mahnte Saleha und lächelte den nilfgaarder Hexer keck an, bevor sie wieder ernster fortfuhr, „und ihr meint Valerian hat es ebenfalls geschafft zu entkommen?“ „Wir haben nur gesehen, wie der Steintroll, auf dem Valerian stand, zu Fall gebracht worden ist und kurz darauf eine blendende Explosion … ab dem Zeitpunkt verlieren sich seine Spuren! Wir werden erst wissen, ob es ihm gelungen ist zu fliehen, wenn wir ihn am vereinbarten Treffpunkt wiedersehen!“ entgegnete Atheris.

Wenig später lenkte Saleha das Thema in eine andere Richtung. „Wie sieht es mit den Forschungen an der Kräuterprobe aus? Sollen wir fortfahren? Eiwa und ich sind in den letzten Monaten gut mit unserer Arbeit vorangekommen und die Gelegenheit drei mutierte Hexer, hier mit den Möglichkeiten unserer Labore untersuchen zu können, würde die Forschung deutlich beschleunigen … Was meinst du?“ die begeisterte Aufregung war in Saleha’s Stimme deutlich zu hören. „Unabhängig von Valerians Schicksal, stehen wir als Greifenhexer weiterhin hinter dem Vorhaben, und ich für meinen Teil stehe dir für deine Untersuchungen zur Verfügung!“ antwortete Atheris ohne zu zögern. Seine Gedanken schweiften kurz ab und er erinnerte sich an seine Zeit an der Universität in Nilfgaard. Man hatte ihn damals, nachdem man ihn in der Wildnis aufgelesen hatte, auf Herz und Nieren untersucht, um mehr über das Wesen der Hexer und deren Mutationen zu erfahren. Auch heute noch waren seine kaiserlichen Landsleute hinter den Geheimnissen her und Atheris musste sich, zum ersten Mal seit langem, an seinen letzten Auftrag erinnern, welchen er im Namen des Kaisers erhalten hatte. Schnell schüttelte er die Gedanken wieder ab und lächelte Saleha charmant an.

Nach dem ganzen Erzählen widmete sich Atheris endlich dem Essen. Die beiden Cousinen hatten sich nicht lumpen lassen und ein wahres Festmahl aufgetischt und er hatte sich vorgenommen, von dem Angebot an Speisen und Tränken alles einmal probiert zu haben. Die Stimmung wurde zunehmend ausgelassener und alle lachten und hatten ihren Spaß, fast so wie bei ihrem letzten Abendessen in Kaer Iwhaell. Bei gutem Wein und einigen anderen Spirituosen führte Atheris tiefsinnige Gespräche über alles was ihm an diesen Abend so in den Sinn kam. Als er sich gerade mit vollem körperlichen Einsatz dem Nachtisch zu widmen wollte, kam Saleha zu ihm und baute sich vor seinem Platz auf … es wirkte fast schon gebieterisch. Mit der rechten Hand zog sie eine Weinflasche hinter ihrem Rücken hervor und hielt sie ihm unter die Nase mit den Worten „Wie wäre es mit diesem Nachtisch?“ „Nein!“ hauchte der Hexer „doch!“ grinste die Gelehrte zurück. Atheris hatte das Etikett sofort erkannt. Es war ein echter ‚Est Est‘ aus seiner Heimat und sein absoluter Lieblingswein. „Wie bist du an die gekommen?“ fragte er voller Begeisterung. „Du hast mir beim letzten Treffen so von dem Wein vorgeschwärmt, dass ich keine Kosten gescheut habe und mir ein paar Flaschen direkt aus Toussaint besorgt habe!“ lächelte Saleha und zog den Hexer auf die Beine. „Wie wäre es, wenn wir mit den Untersuchungen … schon heute Nacht loslegen würden?“ sprach sie und zog den Hexer mit sich. Atheris lächelte vergnügt und folgte Saleha, die mit einem verführerischen Hüftschwung den Raum verließ. Ihm war durchaus bewusst, dass Miklagard streng matriarchisch geführt wurde und dementsprechend von einem Mann erwartet wurde sich unterzuordnen, was er in dieser Nacht liebend gern machte.

Kapitel 6 – Das Labor

Am nächsten Morgen machten sich die beiden Cousinen und die mutierten Hexer Viktor, Raaga und Atheris auf den Weg zur „Universität“, während der Rest der Gefährten im Stadthaus verweilte. Die Madrasa al’Alchemya, also die Schule der Alchemie lag im Osten der Stadt an den Ausläufern der Gebirge und ruhte auf einem Felsenplateau. Die mit sieben großen weißen Säulen ausgestattete Front des Bauwerkes erinnerte Atheris mehr an einen alten Tempel, als an eine wissenschaftliche Akademie, aber der äußere Eindruck täuschte. Kaum waren sie durch das Eingangsportal geschritten, wandelte sich der prunkvolle Stil, der die Ophirischen Bauten ausmachte, in eine der Wissenschaften dienliche Funktionalität. Die Grundstruktur im Inneren bildete ein zylindrisches, offenes Treppenhaus, das sich über sieben Stockwerke nach oben erstreckte und nur knapp unterhalb der großen Kuppel, die das Zentrum des Gebäudes bildete, endete. Der Boden im Eingangsbereich war im Vergleich zu dem prunkvollen Stadthaus von Saleha schlicht gehalten.

Über eine der Wände in der großen Hall erstreckte sich eine große Wandzeile mit Regalen und Fächern, in denen hunderte von Dokumenten und Büchern lagen. An einem langen Tresen vor dieser Wand waren Angestellte damit beschäftigt, sich um das Anliegen der Studenten zu kümmern.  Einige Wächter behielten das muntere Treiben im Auge. Immer wieder wurden Saleha und Eiwa respektvoll und freundlich gegrüßt, wenn sie jemanden passierten.

Atheris fiel eine interessante Konstruktion in einer Ecke auf, es handelte sich um eine Transportplattform, die an einem Seilzug hing, und über die man ebenfalls auf die verschiedenen Ebenen gelangen konnte. Die Kuppel hatte viele große ovale Fenster und im Treppenhaus waren überall geschickt platzierte Spiegel zu sehen, mit deren Hilfe der zentrale Bereich von Licht durchflutet wurde. „Willkommen in der Madrasa der Alchemie meine Freunde!“ strahlte Saleha und breitet dabei die Arme aus. „Folgt mir, ich gebe euch eine kleine Führung durch die Anlage, bevor wir zu meinem Labor gehen!“ sagte sie und schritt voran. Wieder fühlte sich Atheris in seine Jugendzeit erinnert, die er an der kaiserlichen Akademie im Kastell Graupian verbracht hatte. Auch hier in Miklagard gab es die zu erwartenden Räumlichkeiten wie eine riesige, über mehrere Stockwerke reichende Bibliothek, Lehrzimmer für den Unterricht der Studenten, Büros für die Professoren und was nicht fehlen durfte, die verschiedensten Arten von wissenschaftlichen Laboren. „Wo befindet sich dein Labor?“ fragte Atheris die Gelehrte. „Im Keller, mein Lieber!“ antwortete Saleha und als sie den fragenden Gesichtsausdruck von dem Hexer sah, fuhr sie mit einer Erklärung fort, „die Labore im Keller unterliegen hohen Sicherheitsvorkehrungen! Die drei Ebenen sind aus dem harten Felsengestein geschlagen worden und der Zugangsbereich wird durch eine Schleuse von mehreren Türen abgeriegelt. Ja, die Universität hat aus ihren Fehlern in der Vergangenheit gelernt!“ Als sich die Gruppe dem Kellereingang näherte, sahen sie, dass Saleha nicht untertrieben hatte. Der Eingangsbereich war überraschend klein gehalten und die äußersten Türen waren aus schwerem dickem Metall gearbeitet, die eher an einen Tresor als an einen Durchgang erinnerte. Das zweite Tor bestand aus einer Art Bleilegierung, warum das so war, wollte er lieber nicht wissen. Vier schwer bewaffnete Wachen grüßten Sie respektvoll und prüften mit kritischen Blicken die Fremden, ließen sie aber unbehelligt passieren. Eine schmale gewundene Treppe führte sie ziemlich steil nach unten in die Tiefen des Felsenplateaus. Spätestens hier war der Glanz Ophirs komplett verschwunden und die Funktion bestimmte die Form und Ausstattung der Räumlichkeiten. Saleha’s Räumlichkeiten befanden sich auf der untersten Ebene. Die Wendeltreppe endete in einem langen, kahlen aber mit alchimistischen Lampen gut ausgeleuchteten Gang. Zwei weitere Soldaten standen am Anfang des Ganges und wie zuvor, wurden sie genau gemustert. Ihr Weg führte sie vorbei an verschiedenen Lagerräumen und Arbeitsräumen, an deren Tür Symbole angebracht waren, die klar verrieten, dass hier nicht unvorsichtig gehandelt werden durfte. Ein der Metalltüren schimmert bläulich – Atheris vermutete eine Dimeritiumlegierung, vermutlich befanden sich in dem Raum besonders wertvolle oder gefährliche alchimistische Zutaten. Atheris empfand eine bedrückende Stimmung, wie konnte man hier unten bloß die ganze Zeit aushalten? Vor einem, mit einer schweren Tür, verschlossenen Raum blieben sie stehen. Saleha drehte sich zu ihnen um und sagte: „Wie euch vielleicht aufgefallen ist, werdet ihr als Hexer hier in Miklagard nicht so sehr angestarrt wie in eurer Heimat. Das liegt nicht nur daran, dass das Wissen und die Geschichten über die Hexer hier nicht sonderlich verbreitet sind, sondern vor allem daran, dass wir andersartige Erscheinungsbilder gewöhnt sind. Die Wissenschaftler unserer Universität widmen sich schon seit vielen Dekaden der Erforschung von Mutagenen und ihren Folgen auf den Organismus. Fast alles, was wir im Alltag verwenden, wurde durch Mutationen verändert, von Pflanzen über Tiere bis hin zu den Menschen. Viele Änderungen haben uns das Leben leichter gemacht, bessere Ernteerträge, mehr Milch bei den Kühen oder aber auch wetterresistentere Pflanzen. Auch in der Medizin haben wir Fortschritte gemacht, so konnten wir eine beachtliche Anzahl an Erkrankungen lindern oder sogar ausmerzen und somit unsere Lebensqualität verbessern. Aber neben ethischen Fragestellungen gab es und gibt es auch massive Probleme durch das Eingreifen in die Organismen. Ein Problem kennt ihr als Hexer ja selber, die Unfruchtbarkeit! Viele der Pflanzen und Tiere sind unfruchtbar, und wir müssen bei jeder Generation wieder neu eingreifen und die Mutation erneut durchführen. Zudem haben wir durch die Veränderung in den natürlichen Kreislauf der Natur eingegriffen und somit ein Aussterben der Arten verursacht. Ihr seht also, es gibt massive Probleme, an denen wir arbeiten.“ Eiwa nahm den Faden auf und ergänzte: „Zudem könnt ihr euch sicherlich vorstellen, dass unser Wissen über Mutationen zu Begehrlichkeiten, vor allem beim Militär, gesorgt haben. Auch Diar al’Fahid, der Kriegsminister, den ihr bei eurer Ankunft gesehen habt, hegt Ambitionen in dieser Richtung. Versteht ihn nicht falsch, er ist sicher einer der ‚Guten‘ aber die Sicherheit unserer Heimat liegt ihm am Herzen. Unsere Wissenschaftler haben auch in der Vergangenheit mit mehr oder weniger Erfolg an militärischen Projekten gearbeitet …  bis die Mutter unserer Regentin in ihrer Regierungszeit, auf Drängen des Volkes und Empfehlung ihrer Räte, die Forschungen in diese Richtung strikt verboten hat und dieses Verbot bis heute Bestand hat – zum Missfallen von unserem Kriegsminister. Hier hinter dieser massiven Tür befinden sich die wichtigsten Forschungsergebnisse bezüglich der Mutationen. Neben den Dokumentationen lagern hier auch die Reserven für die Samen und Föten, die für unsere Landwirtschaft zwingend notwendig sind!“ Die beiden Gelehrten gingen einige Schritte weiter zum nächsten verschlossenen Lagerraum und Saleha fuhr mit ihren Erklärungen fort: „Was hinter dieser Tür gelagert ist, nenne ich das Gruselkabinett. Es sind die Überbleibsel der Bemühungen einer vergangenen Generation von Wissenschaftlern, die uns daran erinnert, was alles schiefgehen kann, wenn man mit der Natur spielt. Ich möchte es euch zeigen um euch eine Vorstellung davon zu geben, wie schwer und kompliziert es ist, eine gezielte Mutation mit einem gewünschten Ergebnis herbei zu führen, ohne dabei schreckliche und nicht gewollte Nebenwirkungen zu verursachen. Genau dort liegt auch das Problem mit eurer Kräuterprobe begraben. In meinen Gesprächen mit Valerian und den Untersuchungen der Blutproben, die ich bereits erhalten hatte, ist es gut nachvollziehbar, warum die Mortalitätsraten so enorm hoch sind, warum nur Jungen unter zehn Jahren überhaupt eine realistische Chance hatten, die Mutationen zu überleben und warum die Mutationsergebnisse so unterschiedlich ausfallen“. Eiwa versuchte noch eine Erklärung zu geben, welch wichtigen Einfluss die Magie bei der Wandlung hatte, gab es aber auf, als sie die leeren Blicke der jungen Hexer bemerkte und blickte mit hochgezogener Augenbraue zu Saleha. Saleha verkniff sich ein Schmunzeln. Sie schätzte die kühle Analytik ihrer Cousine sehr, jedoch musste dies die jungen Männer ohne die jahrelange akademische Ausbildung überfordern. „Aber nun seht selber, was alles schieflaufen kann, folgt mir!“ sprach sie mit einem ernsten Tonfall und öffnete die Tür. Schon bei den ersten Exponaten verstand Atheris, warum dieser Raum den Namen ‚Gruselkabinett‘ verdient hatte. In langen Regalen lagerten hunderte von Glasbehältern in unterschiedlichen Größen und Formen. Die meisten von ihnen waren mit einer durchsichtigen Substanz gefüllt, in der massiv verunstaltete Kreaturen schwammen, die direkt aus einem Alptraum entsprungen zu sein schienen. Die Vielfalt der Experimente war für Atheris erstaunlich und beängstigend zugleich, neben nicht lebensfähigen Föten, bei denen man das Ausmaß der Mutationen nur erahnen konnte, gab es auch mannshohe Behälter, bei denen unter anderem versucht worden war, Menschen und Tiere zu kreuzen. Für letztere Versuche waren die Verwandlungen der Werwölfe die Forschungsgrundlage gewesen. Viele der fehlgeschlagenen Experimente waren schon Jahrzehnte her, und nur anhand der Aufzeichnungen konnten die heutigen Wissenschaftler, sofern sie das wollten, nachvollziehen, wie und was der Zweck des Versuches war. Atheris hatte schon viel Übel in seinem Leben gesehen und auch seine eigene Mutation, so hilfreich sie auch im Kampf gegen Monster sein mochte, warf immer wieder ethische Debatten und Ausgrenzungen auf. Was er aber hier und jetzt sah, übertraf seine schlimmsten Vorstellungen. „Ein Ghul ist eine wahre Schönheit, im Vergleich zu dem was hier teilweise zu sehen ist!“ fasste Raaga trocken zusammen. Am Ende des ‚Gruselkabinetts‘ gab es eine weitere schwere Tür, vor der Saleha kurz innehielt, bevor sie auch diese schweren Riegel öffnete und die Hexer hineinführte. Der Raum bestand grob aus zwei Teilen, einem vorderen Bereich, der an eine kleine Bibliothek erinnerte und einen durch Gitterstäbe abgetrennten zweiten größeren Teil, der mehr wie ein Gefängnis aussah. Im letzteren waren sechs weiß gekachelte Tische kreisförmig angeordnet, in deren Mitte ein großer kupferner Behälter stand, von dessen Mitte aus gläserne und kupferne Röhrchen zu den Tischen liefen. Auf jedem Tisch ruhte ein abscheuliches Monster, das Atheris nicht zuordnen konnte. Die Röhrchen endeten in verschiedenen Regionen der Körper und versorgten diese mit unterschiedlichen Flüssigkeiten. Das leichte Heben und Senken der Brustkörbe verriet, dass diese Kreaturen am Leben waren, was dazu führe, dass Atheris scharf die Luft einzog. „Das hier sind die lebensfähigen Experimente aus den militärischen Forschungen unserer Universität. Sie wurden hier vor knapp vierzig Jahren weggeschlossen, da sie eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellten, da sie charakterlich zu labil waren und zu aggressivem Verhalten tendierten. Seither liegen sie in einem künstlichen Koma, bis der Ethikrat der Universität entschieden hat, was mit ihnen passieren soll. Versteht das nicht falsch, es wurde viel versucht ihnen ein ‚normales‘ Leben trotz der Mutationen zu ermöglichen. Aber vier von ihnen waren bereits zum Tode verurteilte Schwerverbrecher und zwei von ihnen waren treue Soldaten Miklagards, die an einer unheilbaren Krankheit dahinsiechten.“  Erzählte die Gelehrte, während sie die Reaktionen der Hexer beobachtete. Atheris fiel es schwer, seinen Blick von den Mutanten abzuwenden, es war der Universität tatsächlich gelungen, Mischwesen aus Tieren und Menschen zu erzeugen und damit Mutationen zu bewirken, die über die der Hexer hinausreichten. Einzig die magische Komponente der Kräuterprobe fehlte hier komplett. Atheris betrachtete die Wesen genauer, ähnlich wie bei den Werwölfen waren die Körper im wesentlichen humanoid, wohingegen der Kopf ziemlich dem des gekreuzten Tieres entsprach. Bei den Extremitäten war die Mischung zwischen Mensch und Tier am größten, hier hatten alle klauenbewährte Hände und Füße und einer der Mutanten sogar den Ansatz von Flügeln. Atheris wäre nicht in den Sinn gekommen, verfluchte Wesen zu untersuchen und diese auf den menschlichen Körper anzuwenden. Die Tiere, die verwendet wurden, besaßen Eigenschaften, denen man wohl militärisch etwas abgewinnen wollte, eine Panzerechse, ein Löwe, ein Stier, eine Schlange und eine Fledermaus. Nachdem die Cousinen mit den Hexern noch ein wenig über die Wesen philosophiert hatten, verließen sie den Raum wieder und kamen endlich zum eigentlichen Labor von Saleha.

Der Raum war geräumig und mit bunten Kacheln verkleidet, was Atheris einen sauberen Eindruck vermittelte, es war so ganz anders als das Labor von Meister Valerian, bei dem mehr Chaos als Ordnung herrschte. In einer Ecke stand ein großer hölzerner Schreibtisch, auf dem einige Schriftrollen und Bücher gestapelt lagen. Die Mitte des Raumes nahm ein sehr großer, metallener Tisch ein, auf den verschiedenen, komplex wirkenden Konstellationen von Glaskolben, Reagenzgläsern, Glasspiralen, Kupferbehälter und drei Ölbrenner aufgebaut standen. An den Wänden befanden sich schwere Holzregale, die mit Büchern, Schriftrollen und verschiedenen Reagenzien vollgestellt waren, wobei auffiel, dass alles fein säuberlich beschriftet war. Zuletzt fiel dem Hexer eine Apparatur in einer weiteren Ecke des Raumes auf. Sie bestand aus einem zylindrischen Metallbehälter, in den mehrere unterschiedlich vermutlich geschliffene Linsen gesteckt werden konnten. Unterhalb des Zylinders war ein kleiner flacher Teller, dessen Mitte aus durchsichtigen Glas bestand. Unter dem Teller befand sich ein schwarzes Tuch, welches einen runden, faustgroßen Gegenstand verdeckte. Saleha hatte das Interesse des Hexers bemerkt und trat an ihn heran, während sie seinen starken Schwertarm umschlang. „Damit mein lieber Atheris, können wir dein Blut und deine Zellen untersuchen, auch wenn dies nur ein kleines Exemplar ist. Ich werde es dir in den nächsten Tagen zeigen!“ lächelte die Alchemistin und schob ihn weiter in den Raum, das Augenrollen von Raaga, der in seinem Rücken stand, hatte er nur erahnen können.

Die ersten Untersuchungen dauerten den ganzen Vormittag, während Eiwa die magische Analyse der Hexer Mutationen genauer unter die Lupe nahm, und dafür Raaga mit seltsamen Geräten systematisch viele Fragen stellte, widmete sich Saleha der anatomischen und physiologischen Auswirkungen und machte sich daran, die Körper von Atheris und Viktor genauer zu vermessen, Organe abzutasten und mit Durchschnittswerten zu vergleichen. Schon nach den ersten Ergebnissen, zeichnete sich ab, dass alleine schon die Mutationen von Atheris und Viktor nur bedingt ähnlich verlaufen waren, zu unterschiedlich waren die Auswirkungen in den körperlichen Eigenschaften. Nachdem sie auch einige Tests der Sinnesfertigkeiten durchgeführt hatte, zogen sich Raaga, Viktor und Eiwa zum Mittagessen in Salehas Anwesen zurück, nur Atheris und Saleha blieben im Labor zurück um noch einen Versuch durchzuführen. Immer wieder erwischte sich Atheris dabei, wie er an seine Jugend denken musste und die Experimente, die die Professoren damals in Nilfgaard an ihm durchgeführt hatten, um mehr über die Kräuterprobe der Hexer zu erfahren, und ihm war klar, dass der Geheimdienst des Kaiserreiches nach wie vor an den Ergebnissen interessiert war. Auch der Eid, den er vor vielen Jahren abgelegt hatte, seine Heimat unter allen Umständen zu beschützen, lastete in diesem Moment schwer auf seinem Herzen. Was könnte der Kaiser mit dem Wissen anfangen, das in diesen Keller schlummerte … er brauchte sich das gar nicht weiter vorzustellen, das, was einige Schritte von hier entfernt hinter der dicken Tür lauerte, konnte und wollte er nicht gutheißen. Atheris fiel ins Grübeln, aber andererseits, was die Hexer mit der Wiederentdeckung der Kräuterprobe und sogar deren Verbesserung vorhatten, unterschied sich nicht wirklich so sehr von dem, was mit den sechs Wesen angestellt worden war. Zwar waren vier von den sechs Mutanten schon vorher gewalttätig gewesen, aber konnte man das bei einem Hexer ausschließen? Die Geschichten der Katzenschule kannte Atheris von Valerians Erzählungen gut genug, obwohl auch hier wieder nicht alle verrückt waren, er hatte einen getroffen, der bei der Verteidigung von Kaer Iwhaell geholfen hatte und der hatte sich als ein recht anständiger Kerl erwiesen hatte. Auch das äußerliche Erscheinungsbild war aus seiner Sicht keine Rechtfertigung, klar sahen die sechs Wesen in ihrer Mischform zum Fürchten aus, aber auch die weniger gravierenden äußeren Veränderungen der Vatt’gern verursachten bei den Menschen alles andere als vertrauensvolle Gefühle … wobei die Katzenaugen auch bei den Frauen meist gut ankamen. „Was schmunzelst du, Atheris?“ fragte Saleha von der anderen Seite des Tisches. „Ich freue mich einfach nur hier zu sein!“ antwortete der Hexer, während er der Gelehrten ein Gefäß mit einer schleimigen, grünlichen Flüssigkeit überreichte, einem Elixier, das vielleicht den ersten Schritt zur neuen Kräuterprobe darstellen konnte.

Kapitel 7 – Was bei Valerians grauem Bart?

Es war spät geworden und die Sonne über Miklagard war vor einigen Augenblicken am Horizont untergegangen. Im unterirdischen Labor bekamen Saleha und Atheris davon allerdings nichts mit. Vertieft in ihre Experimente hatten die Gelehrte weitere Versuche mit dem Hexer durchgeführt und er ließ es beharrlich über sich ergehen. „Lass uns noch eine letzte Testreihe starten, mir ist da gerade noch eine interessante Idee gekommen!“ meinte Saleha, während sie die letzten Testergebnisse in ihren Notizen erfasste. „Ich bin für jede Schandtat bereit!“ antwortete Atheris, obwohl er sich innerlich darauf gefreut hatte, heute Abend mit den anderen das Badehaus aufzusuchen. Eiwa hatte am Vorabend von dieser Einrichtung erzählt und sie brannten alle darauf, sich von den Masseuren verwöhnen zu lassen. „Lass mich noch kurz Austreten, bevor wir weitermachen!“ ergänzte Atheris seine Antwort. Das bräunliche, warme Getränk, das die Cousinen dem Hexer gegeben hatten und welches leicht bitter schmeckte, trieb ihn öfter auf den stillen Ort, als er es gewöhnt war.

Atheris trat hinaus in den Flur und machte sich zum wiederholten Male auf den Weg zum Abort. Als er die schwere Eisentür zum ‚Gruselkabinett‘ passierte, hörte er ein lautes Klicken und während er sich noch zu dem Geräusch drehte, wurde er von einer Explosion von den Beinen gerissen und hart gegen die Wand geschleudert. Als Atheris wieder das Bewusstsein erlangte, konnte er nicht sagen, wie lange er außer Gefecht gesetzt war. Erst als er seine Augen endlich wieder öffnete und er in seinem Mund einen eisernen Geschmack wahrnahm, wurde ihm wieder klar, wo er sich befand. Beim Versuch aufzustehen stürzte er zweimal unsanft zu Boden, bevor er es endlich schaffte sich zu erheben. Das feine Gehör eines Hexers war oftmals von Vorteil, aber gerade bei Explosionen erwies es sich als ein großes Problem. Er spürte wie ihm das Blut an der Stirnseite runter tropfte und durch das schrille Pfeifen seiner Ohren vernahm Atheris Schreie, die von Saleha sein mussten. Als er gerade seinen Dolch ziehen wollte umschlossen ihn zwei riesige Arme. Die mit Schuppen bedeckten Gliedmaßen fingen sofort an, sich enger zu ziehen, und ihm die Luft aus den Lungen zu pressen. Er versuchte den Solarplexus seines Gegners mit dem Ellenbogen zu erreichen, aber er konnte sich nicht genug bewegen um eine Wirkung zu erzielen, geschweige denn, ob der Mutant überhaupt so etwas besaß. Auch ein Kopfstoß nach hinten erzeugte nicht die gewünschte Wirkung. Durch die Rauchschwaden und seinen sich langsam brechenden Blick sah der Hexer, wie Saleha aus ihrem Labor stürmte und einen Gegenstand auf das Biest warf. Mit einem zischenden Geräusch das gepaart war mit einem schmerzhaften Schreien, löste sich die Umklammerung ein wenig, und das reichte Atheris, um die kurze Klinge aus seiner Armschiene zu lösen und sie in dem schuppigen grünen Fleisch zu versenken. Mit all seiner Kraft drehte der Hexer das Messer und zog es anschließend quer über den Unterarm des Mutanten, wobei er merkte, wie er die Muskeln und Sehnen trennte. Der Griff lockerte sich soweit, dass er seinen linken Ellenbogen in der Magengrube seines Gegners versenken konnte. Zumindest glaubte Atheris, dass es sich um diese handelte, aber der Erfolg gab ihm recht. Als sich der Griff endgültig lockerte, befreite sich der Hexer mit einer Rolle nach vorne. Wieder auf den immer noch etwas zittrigen Beinen zog er in einer fließenden Bewegung seine beiden Dolche aus den Beinholstern und ging, ohne zu zögern, zum Gegenangriff über. Saleha musste das Biest mit irgendeiner Säure im Gesicht getroffen haben, zumindest war es für den Hexer ein leichtes unter dem versuchten Biss hindurch zu tauchen und die beiden Klingen in den Seiten des Halses zu versenken, wo die Halsschlagadern für gewöhnlich verliefen. Mit einer leichten Drehbewegung löste der Hexer die Waffen wieder aus seinem Opfer, und brachte sich mit einem großen Schritt aus der Schlagdistanz des Monsters. Dieses stellte jedoch keine Gefahr mehr da, mit einem letzten Gurgeln brach das Wesen leblos zusammen. Erst jetzt bemerkte der Hexer den schneidenden Schmerz der Wunden, die ihm die Splitter der Explosion zugefügt hatten und sein weißes Hemd zum Teil rot gefärbt hatten. „Alles in Ordnung bei dir, Atheris?“ fragte ihn Saleha besorgt. Der Hexer musterte die Frau und zumindest sie sah unverletzt aus. „Mir ging es schon besser, aber ich bin noch am Leben, Danke!“ antwortete Atheris und warf einen Blick auf das Trümmerfeld, das sich neben ihm befand. „Sie dir das Desaster nur an!“ brach es wütend aus Saleha raus, als sie die gesprengte Kammer betrat. Atheris trat zu ihr in den Raum und sah die Verwüstung, die die Eindringlinge angerichtet hatten. Am Boden vor ihnen lagen die zwei Wächter und neben ihnen vier in schwarzes Tuch gekleidete Männer, deren Gliedmaßen so verrenkt waren, dass der Hexer keine Zweifel hatte, dass sie keine Gefahr mehr darstellen konnten. Zwischen den Toten lag der erschlagene Fledermausmutant, der aus mehreren letalen Stichwunden blutete und keine Lebenszeichen mehr von sich gab. Weiter hinten im Raum lagen weitere Männer sowie der Löwen- und der Adlermutant. „Die Dokumente und die zwei übrigen Mutanten … sie sind weg!“ Saleha zeigte auf die fast leeren Regale im Vorraum und auf den geöffneten Käfig. Der Behälter, der zwischen den Steinbetten gestanden hatte, war umgefallen und die Flüssigkeiten hatten sich auf dem Boden verteilt. Man musste kein Jäger sein, um zu sehen, wie die Mutanten ihre Schlafstätte verlassen hatten und in den Vorraum geschlichen waren. Hier war es dann zum Kampf mit den Eindringlingen gekommen, den nicht alle überlebt hatten. Atheris beugte sich zu einen der toten Männer und zog ihm das Tuch vom Gesicht. Der Hexer zog überrascht die Luft ein „diesen hier kenne ich … ganz sicher! Er gehört zu Zahirs Männern!“ sagte er zu Saleha. „Wenn das Wissen in die falschen Hände gelangen sollte …“ fuhr die Gelehrte fort und der Hexer nickte, er hatte den gleichen Gedanken gehabt. „Wenn Zahir dahinter steckt, müssen wir ihn ausfindig machen!“ fügte Atheris hinzu.  Wenigsten wussten die Diebe nichts von den Experimenten mit den Hexermutagenen. „Also, wo fangen wir an?“ fragte Saleha noch, aber Atheris war bereits auf dem Weg nach oben.

Kapitel 8 – Freizeit

Während die anderen den Tag im Labor verbrachten, hatten es sich die verbliebenen Greifen in der Stadtvilla von Saleha gemütlich gemacht und genossen die Annehmlichkeiten.  Erst nach dem Mittagessen beschlossen die drei, sich in der Stadt etwas umzusehen und einige von Eiwa‘s ‚Empfehlungen‘ zu besuchen. Sie kamen allerdings nicht sonderlich weit, denn bereits an der Hafenpromenade entdeckte Logan ein sehr einladend wirkendes Kaffeehaus, in dem er die kulturellen Errungenschaften Miklagards unbedingt vertiefen wollte, und da weder Heskor noch Egon einen sinnigen Einwand gegen etwas Kultur hatten, deswegen waren sie ja schließlich auch losgezogen, betraten sie das bereits gut gefüllte Gebäude und ließen sich auf einer der niedrigen Emporen, die mit Kissen und einem kleinen runden Tisch ausgestattet war, nieder. Die optimale Lage Miklagards an einer großen Flussmündung mit offenen Zugang zum Meer war eine der Hauptursachen für den blühenden Handel und somit den Reichtum der Stadt.  Schiffe aus vielen ihnen bekannten und zum Teil auch unbekannten Ecken der Welt liefen hier permanent ein und aus. Neben einigen Handelskoggen aus dem Kaiserreich Nilfgaard, war vor allem der große Anteil an Langschiffen aus Skellige auffällig. „Mir war nicht bekannt, dass die Skelliger mit Ophir einen solchen Handel betreiben!“ sinnierte Heskor und überdachte einmal mehr seine Pläne für ein mögliches Handelsgeschäft. „Eiwa hatte doch gestern Abend erzählt, dass sich viele Skelliger hier in Miklagard niedergelassen haben und sogar einen permanenten Handelsposten hier errichtet haben, und zudem gerne als Soldaten in der Armee von Miklagard angeheuert werden. Die Regentin selber verfügt über eine eigene Skelliger-Kompanie, die ihr als Leibgarde dient Sie leben fast alle in einer eigenen großen Siedlung nördlich der Stadtmauern. Raaga wollte sich dort heute Abend mal umschauen!“ antwortete Logan lehrerhaft auf die Feststellung seines Freundes. „Klugscheißer!“ antwortete Heskor mit einem Lächeln im Gesicht, „würdest du Valerian auch mal so gut zuhören im Unterricht, wärst du auch sicherlich bereits Geselle!“ fügte er feixend hinzu und leerte sein Schnapsglas, dessen Inhalt ihn an Lakritze erinnerte. Nachdem sie sich auch noch an einer sogenannten Wasserpfeife versucht hatten, und Egon sich bei einem Glücksspiel mit den Einheimischen über den Tisch hatte ziehen lassen, was fast in einer handfesten Schlägerei geendet war, machten sie sich gutgelaunt auf den Weg zum Badehaus. „Ich bin wirklich gespannt, wie ein Dampfbad so ist!“ zeigte sich Egon mehr als interessiert, denn wie so etwas funktionieren sollte, konnte er sich nicht vorstellen. In dem Dorf, aus dem er kam, gab es einen kleinen Fluss und ab und an mal einen kleinen Zuber. Ihr Weg führte sie von der Promenade weiter an den Anlegedocks für die größeren Handelsschiffe vorbei, und so gesellig wie die Freunde unterwegs waren, wäre Egon fast mit Zahir zusammengestoßen, der sich gerade mit einigen seiner Männer unterhielt. Freundlich grüßte der Händler die Greifen, wechselte ein paar Nettigkeiten aus und ging weiter seinen Geschäften nach. „Wie es scheint, will er seine Handelsreise mit dem Schiff fortsetzten!“ stellte Heskor beiläufig fest, während er die dicke Handelskogge musterte, welches von Hafenarbeitern bereits eifrig beladen wurde. „Ich würde auch nicht mehr freiwillig den Weg durch die Wüste wählen!“ stellte Logan mit vollkommener Überzeugung fest, drehte sich um und folgte Egon, der von dem ganzen nichts mitbekommen hatte. Das Badehaus lag im Zentrum der Stadt. Um nicht den gleichen Weg wie zum Hafen zu gehen, wählten die drei einen Umweg, der sich allerdings als ein ordentlicher Fußmarsch herausstellte, Heskor aber die eine und andere Gelegenheit ermöglichte, einige Kleinode käuflich zu erwerben – die beiden Cousinen waren bereit gewesen, ihm ein zinsfreies Startkapital zu gewähren, nachdem sie erfahren hatten, dass er fast alles verloren hatte. Als sie vor dem Badehaus standen, überlegten die drei kurz, ob sie auf einen Abstecher im Labor vorbeischauen sollten, aber nach einem Moment der Stille einigten sie sich grinsend darauf, lieber sofort das wohltuende Nass aufzusuchen. Es war Raagas knurrender Ruf, der sie kurz vor dem Betreten des Bades innehalten ließ. Der Skelliger hatte seine Hände in die Hüften gestemmt und starrte die drei an. „Wie ich sehe, habt ihr richtig Spaß gehabt, während wir anderen hart gearbeitet haben!“ stellte der Hexer fest. „Wir haben uns nur kulturell weitergebildet!“ antwortete Logan mit seinem typisch schelmischen Grinsen im Gesicht. „Habt ihr die Übungen absolviert, wie ich es euch heute Morgen aufgetragen habe?“ raunzte Raaga die beiden Lehrlinge an. „Äh…welche…!“ wollte Egon antworten, als ihm Logan auf den Fuß trat und das Wort übernahm. „Atheris meinte, wir sollten die Möglichkeit nutzen und uns kulturell weiterbilden!“ sagte der Blondschopf und fuhr mit seiner Argumentation fort, „und wir sind noch nicht fertig mit unseren Nachforschungen, in diesem Gebäude vor uns gibt es noch viel Kultur zu entdecken! Man soll hier sogar in Dampf baden können!“ Gerade als Raaga zu einer Schimpftriade ansetzten wollte, trat Viktor neben ihn, legte ihm die Hand auf die Schulter und meinte auf seine ruhige, gelassene Art: „Weißt du was Raaga! Ich denke heute kannst du eine Ausnahme machen! Ich für meinen Teil, werde mich den dreien anschließen, ein gutes Bad und etwas Kultur hat noch niemandem geschadet. Die Übungen können wir auch in der kühleren Abenddämmerung nachholen. Kommst du auch mit?“ Raaga, der als Valerians rechte Hand und Geselle für einen Teil der Ausbildung der Lehrlinge verantwortlich war, brauchte einen Moment, um sich innerlich wieder zu beruhigen. Atheris hatte keinerlei Weisungsbefugnis gegenüber Egon und Logan, da er selber nur ein Lehrling war, auch wenn er aufgrund seines Alters und Erfahrungen von Valerian anders behandelt wurde. „Nein Danke! Macht ihr nur, ich suche mir eine Taverne im skelliger Viertel!“ antwortete er, während er bereits kehrtgemacht hatte. Eiwa, die das ganze ruhig mit angehört hatte, zuckte kurz mit den Schultern und meinte dann süffisant: „Raaga, mit schlechter Laune, in einer Taverne voller Landsmänner? … das könnte interessant werden!“ und machte ebenfalls kehrt. Das Badehaus war ähnlich wie die meisten Gebäude in Miklagard aufgebaut, durch das einladend wirkende Eingangsportal gelangten sie in einen großzügig angelegten Innenhof, in dem die Besucher verschiedensten körperlichen Ertüchtigungen nachgingen. „Zum Glück ist Raaga nicht mitgekommen, er wäre bei dem Anblick der Geräte hier sicherlich auf dumme Gedanken gekommen!“ sagte Logan und erntete ein fast verängstigtes Lachen von Egon, „mach bloß keine Scherze darüber! Dagegen wäre die Wüste ein Zuckerschlecken gewesen!“ antwortete er seinem Kameraden. Ein großer Torbogen führte sie in eine große, belebte Halle, die mit den hier typischen bunten Mosaiken ausgekleidet war. Dieser Treffpunkt bildete offensichtlich das gesellschaftliche Zentrum des Bades. Hier saßen und standen die Besucher wie sie die Götter geschaffen hatten und unterhielten sich sowohl über privates als auch geschäftliches Dinge. Der überwältigende Anteil der weiblichen Besucher fiel dabei besonders ins Auge, aber Heskor erinnerte die beiden jüngeren Greifen daran, dass hier in Miklagard ein strenges Matriarchat herrschte, und sie sich hier besser zurückzuhalten sollten, um keine Probleme zu verursachen. Von einem Bediensteten wurden sie in einen Raum geführt, in der sie sich entkleideten und lediglich mit einem Tuch bewaffnet wieder in die Halle zurücktraten. „Psst…Heskor!“ zischte Logan, als er sah, dass sich der ältere Mann das Tuch um die Hüften geschlungen hatte. „Heeessskor!“ wiederholte sich Logan etwas lauter, bis dieser sich zu ihm umdrehte. „Was?“ fragte Heskor mit hochgezogenen Augenbrauen. „Wir wollen doch hier keine Probleme bekommen, also trage dein Handtuch wie die anderen Männer besser auch über die Schulter gelegt!“ grinste Logan, als Heskor sich leicht verlegen umblickte. „Hups!“ grinste er zurück, löste das Tuch um seine Hüften und schwang es elegant auf seine Schulter. „Besser?“ fragte er, „viel besser!“ entgegnete Logan und fügte hinzu „hoffentlich ist das Wasser hier nicht zu kalt!“. Als sie weitergingen meinte Egon: „Valerian würde mit uns ein Hühnchen rupfen, wenn er wüsste, dass wir uns hier unbewaffnet herumtrieben!“ „Dann haben wir ja Glück, dass der alte Mann nicht hier ist, um uns als Strafe Runden um das Badehaus laufen zu lassen!“ erwiderte Viktor trocken und machte sich auf den Weg zum Dampfbad.

Die Zeit verging schnell und ehe sich die Hexer versahen, war die Dunkelheit über der Stadt hereingebrochen. Heskor und Viktor unterhielten sich gerade mit einem Händler aus Skellige, den sie auf ein paar Gläser des hiesigen Schnapses eingeladen hatten. Heskor hatte den Mann schon fast so weit beackert, dass er ihnen eine Passage in die Leuenmark zu einem vernünftigen Preis anbieten könnte. Währenddessen waren die beiden jüngeren Hexerlehrlinge dabei mit zwei ophirischen Schönheiten anzubandeln, beziehungsweise sich anbandeln zu lassen. Ihrer Aufmerksamkeit beraubt, nahmen die Greifen nicht wahr, wie sich im Licht der Fackeln ein großer schwarzer Schatten in eines der Becken gleiten ließ. Ein kreischender und dann abrupt erstickender Schrei einer Frau riss ließ sie aufschrecken. Panik brach aus und die verbliebenen Gäste verließen so schnell sie konnten das Wasser, während sich in der Mitte das rote Blut im sprudelnden Wasser verteilte. Egon und Logan sprangen sofort ins Wasser und begannen den Leute aus dem Wasser zu helfen, während Heskor und Viktor in die Halle gerannt kamen. Wenig später war Logan der letzte, der sich im Wasser befand, nachdem er gerade einer alten Dame aus dem Wasser geholfen hatte, als er in seinen Augenwinkeln die schäumende Welle wahrnahm, die sich sehr schnell auf ihn zubewegte. Gerade als er sich innerlich darauf vorbereitete, sich mit allem zu wehren, was er hatte, packten ihn im letzten Moment zwei kräftige Hände und zogen ihn aus dem Wasser. Der junge Hexer fand sich in den Armen von Heskor wieder, während Viktor mit einem schweren Kerzenständer auf den abscheulichen Kopf einschlug. Nach zwei schweren Treffern, ließ sich das Biest zurück ins Wasser gleiten und schwamm auf die andere Seite des Beckens. Dort sprang es aus dem Wasser und verließ den Raum durch einen Vorhang. Es war mindestens drei Schritt hoch und Viktor erkannte in dem Monster den Mutanten aus der Asservatenkammer. „Verdammt, wie kommt das hierher?“ rief Viktor. Das entsetzte Schreien der Gäste in den anderen Raum ließ nicht lange auf sich warten. „Logan…Egon, hinterher! Heskor, hol die Waffen!“ knurrte Viktor und rannte mit dem Kerzenständer in der Hand dem Monster hinterher. „Bei Valerians grauem Bart!“ schimpfte Logan und stürzte Viktor hinterher. Im anderen Raum erblickten sie das Monster, wie es sich gerade über sein nächstes Opfer hermachen wollte. Bevor die Echse ihr Opfer stellen konnte, schleuderte Viktor den Kerzenständer gegen den Rücken des Biestes, in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit auf sich lenken zu können, und das gelang ihm auch. Das Wesen, halb Mensch halb Tier ließ sich mit einem furchtbaren Brüllen auf alle Viere fallen, und lief mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu. Kurz vor dem Aufeinandertreffen stoben die Greifen auseinander und ließen den Angreifer ins Leere laufen. Es hatte sich Logan als sein erstes Opfer auserkoren und setzte dem nackten Blondschopf nach. Der Blondschopf schlitterte so schnell er konnte den Beckenrand entlang, was gar nicht so einfach war, da diese blöden Kacheln feucht und verdammt rutschig waren und nur ein Fehler konnte ihm in seiner Situation das Leben kosten. Als er merkte, dass seine Flucht aussichtslos war, bremste er ab, drehte sich um und rannte seinem Jäger entgegen. „Logan! Nein!“ schrie Viktor aus einiger Entfernung. Die Echse öffnete ihre vor Zähnen strotzenden Fänge, und keinen Moment zu früh, setzte Logan zu einem Sprung an, zog die Beine an und ließ den Mutanten unter sich hinwegfliegen. Im richtigen Augenblick drückte sich Logan nochmal einmal mit dem rechten Bein von dem Schädel seines Gegners ab, wodurch er einen zusätzlichen Impuls nach oben erhielt und mit seinen nach oben gestreckten Armen einen der Deckenleuchter zu fassen bekam. Den Schwung nutzend zog er sich vollends hoch und schaffte es außerhalb der Reichweite des Jägers, der die Situation mit einem erneuten animalischen Brüllen quittierte. Wütend machte sich das Wesen auf, sich ein neues Opfer zu suchen. Seine Wahl fiel auf Viktor, der sich inzwischen mit einem Wischmopp und einem Holzeimer bewaffnet hatte. Als er den Mutanten nun auf sich zustürmen sah, nahm er den Mopp, schlug diesen gegen die Wand, dass der untere Teil abbrach und richtete die Spitze auf das Maul seines Gegners, während er den Eimer ähnlich einem Faustschild in der anderen Hand hielt. Kurz vor dem Aufprall zerschnitt ein scharfes Pfeifen die Luft und ein kurzer Bolzen grub sich in die Schulter des Biestes und riss dieses überrascht zu Boden. Viktor nutzte die sich bietende Gelegenheit und rammte die Spitze seines Stiels mit voller Wucht in eines der Augen, des sich am Boden wälzenden Wesens. Schwer gezeichnet griff das Wesen nach einem Metallgitter, das eine Öffnung in der Wand verkleidete, riss es aus seiner Fassung und schleuderte es auf den Hexer, der sich gerade noch ducken konnte. Durch diese Öffnung floh das Wesen in die Dunkelheit. Die drei anderen Greifen gesellten sich zu Viktor und starteten zur etwa einen Schritt hohen und ebenso breiten Öffnung in der Wand. Heskor warf ein Bündel vor die Füße seiner Freunde, das deren Ausrüstung beinhaltete, spannte mit Hilfe des Fußbügels die aufgegabelte Armbrust und legte einen neuen Bolzen auf. Viktor war der erste, der in Windes Eile seine Ausrüstung anlegte, sich ein Messer zwischen die Zähne steckte und dann mit dem Kopf voran, dem Wesen in die Dunkelheit folgte. „Ernsthaft jetzt?“ fragte Egon und blickte zu den beiden anderen hinüber. Logan zuckte mit den Schultern „Schade, ich hatte gerade erst gebadet!“ und verschwand ebenfalls durch die Öffnung. „Schau mich nicht so an! Ich habe schon schlimmeres erlebt!“ sprach Heskor und tat es den anderen beiden gleich. So hatte sich Egon das Hexer Dasein nicht vorgestellt, „Na dann, Waldmannsheil!“ rief der junge Lehrling und stürzte sich ebenfalls ins Dunkel.

Kapitel 9 – Die Jagd

Saleha und Atheris waren auf ihrem Weg aus den unteren Ebenen der Madrasa. Die Einbrecher waren schnell und hart vorgegangen. Die schwere Schleusentür hing nur noch in den Angeln und im Eingangsbereich lagen die Wachen sowie einige Studenten und Mitarbeiter erschlagen am Boden. „Ich muss den Alarm auslösen!“ rief Saleha und rannte in einen Nebenraum. Kurz darauf erschall eine helle Glocke und es dauerte nur wenige Momente, als die schweren lauten Glocken der Stadt in das Läuten mit einfiel. Während Atheris die Szenerie betrachtete, sah er wie auf der anderen Seite des Platzes sechs Gestalten, die ähnlich gekleidet waren wie die Eindringlinge in einer der Gassen, die sich auf der anderen Seite des Platzes vor der Universität befand, verschwanden. Bei sich trugen sie etwas, was aussah wie eine große metallene Kiste. Ohne zu zögern begann Atheris mit der Verfolgung.

Unter dem Badehaus waren die Viktor, Logan, Egon und Heskor dem Ungetüm durch die kleine Öffnung in die Kanalisation gefolgt. Zu Beginn war es noch relativ einfach gewesen den Spuren zu folgen. Der Belüftungsschacht hatte sie über Umwege in die untere Ebene geführt, vorbei an Wasserrohren aus Ton und Kupfer bis sie schließlich im Kesselraum angelangten. Hier wurde das warme Wasser für die Bäder aufbereitet und genau hier hatte das Monster wieder zugeschlagen. Der Diener lag in einer sich ausbreitenden Blutlache am Boden und die Spuren wiesen den Greifen den Weg durch eine zerstörte Holztür in die Abwasserkanalisation. Zu Beginn war der Gestank und die Verunreinigung noch erträglich gewesen, das ganze Restwasser, das aus den Becken hier abgelassen wurde, sorgte dafür, dass nicht viel Unrat liegen blieb. Den eingeschlagenen Weg des flüchtigen Mutanten konnten sie gut eingrenzen, da die meisten Rohre, die in den Schacht mündeten zu klein waren, um diese zu betreten. Dies änderte sich abrupt, als sie den ersten großen Knotenpunkt in der Kanalisation erreichten. Hier mündeten vier Kanäle in ein großes Becken, indem die Greifen knietief in einer ekeligen und stinkenden Brühe standen. Nachdem sie das Becken durchsucht, aber den Mutanten unter Wasser nicht gefunden hatten, war es nicht leicht gewesen, eine mögliche Spur aufzunehmen. Letztendlich waren es Viktors scharfe Augen gewesen, die ungewöhnlichen Kratzspuren an der Öffnung des größten Kanals entdeckt hatten, die zu ihrer Beute passten. Wenig später waren sie sich ziemlich sicher, dass sie ihrem Ziel auf der Spur waren, denn sie konnten, wenn sie kurz innehielten, das schwere Kratzen von Krallen auf Stein klar und deutlich vernehmen. Nach einer langgezogenen Biegung gelangten sie zum vermeintlichen Hauptabwasserkanal, hier mündeten die mannshohen Kanäle in einem steten Strom aus Fäkalien und sonstigen Unrat, der sich wie ein brauner, unterirdischer Fluss, in Richtung Meer bewegte. Zu ihrem Leidwesen konnten Sie kein Boot finden, das sie hätten nutzen können und so ließ sich zunächst Logan in die stinkende Suppe hinab. „So eine verdammte Scheiße!“ schimpfte dieser als er begann mit leichten Schwimmbewegungen gegen die Strömung anzukämpfen. „Wollen wir dem Viech wirklich hierhinein folgen?“ fragte Heskor, der sich an der kahlen Stirn kratzte, während er zum jungen Blondschopf hinunterblickte. „Wie haben keinen Auftrag erhalten, und ich denke unsere Schuldigkeit ist mehr als getan!“ stimmte Egon ein, wobei er versuchte nicht zu tief einzuatmen. Viktor war sichtlich hin und her gerissen und man konnte an seinem Gesicht ablesen, dass auch er nicht wirklich Lust hatte, es Logan gleich zu tun. Ein heftiger Schlag traf unerwartet Logan an den Beinen und zog sie ihm unter dem Körper weg, so dass er mit einem lauten Platschen in den braunen Fluten verschwand. Viktor zögerte keinen Moment und sprang Logan hinterher. Egon zog seinen Dolch, bückte sich wie eine Raubkatze und machte sich sprungbereit, während er die bewegte Oberfläche beobachtete. Heskor stand direkt neben ihm und zielte mit seiner Armbrust auf die Stelle, wo die beiden Hexer verschwunden waren.  Der Moment zog sich eine gefühlte Ewigkeit hin, und die beiden konnten nur erahnen, was sich unterhalb der Oberfläche abspielte. Egon zuckte für einen Moment zusammen, als sich die Fluten für einen Moment teilten und sich der Echsenmutant aus der braunen Suppe erhob. Auf seinem Rücken befand sich  Logan, der seinen linken Arm um den Hals des Wesens gelegt hatte und gleichzeitig immer wieder mit seinem Jagdmesser auf die Flanke einstach. Viktor befand sich direkt vor dem Mutanten, er hatte seine Beine eng um dessen Taille geschlungen, und war mit beiden Händen damit beschäftigt, das riesige Maul, mit den messerscharfen Zähnen von sich fernzuhalten, während die bösartigen Klauen ihm das Kettenhemd am Rücken zerfetzten. Heskor zielte auf die entblößte Flanke des Monsters und ließ erneut einen Bolzen fliegen. Das Geschoss traf aus kurzer Distanz sein Ziel und die Echse ließ sofort von Viktor ab, der aber seine Umklammerung nicht löste und nun mit seinen Fäusten begann, das Wesen zu bearbeiten. Egon warf sich mit einem Hechtsprung ebenfalls auf die Panzerechse und brachte es aus dem Gleichgewicht.

In der festen Umklammerung und im Nahkampf mit den Hexern begann das Wesen mit heftigen Rollbewegungen um die eigene Achse und schaffte es unter dem Fluchen der Greifen diese abzuschütteln. „Verdammt! Wir hatten es!“ schrie Viktor und spuckte einen ganzen Schwall an braunem Wasser aus. „Los hinterher, da vorne schwimmt er!“ schrie Heskor aus seiner erhöhten Position heraus. Mit einem lauten Platschen landete er neben den anderen und gemeinsam nahmen sie erneut die Verfolgung auf.

Atheris rannte so schnell ihn seine Beine tragen konnten durch die engen und dunklen Gassen der Stadt, immer den sechs Einbrechern folgend, die sich fast wie Affen über etwaige Hindernisse hinwegsetzten. Immer wieder musste er diversen Gegenständen und vereinzelten Bewohnern ausweichen, die zum Teil schockiert reagierten und ihm Wörter hinterherwarfen, von denen er nicht wissen wollte, was sie zu bedeuten hatten. Das harte Training der letzten Jahre in den Wäldern rund um Kaer Iwhaell zahlte sich aus. Sein durch die Mutationen veränderter Metabolismus verlieh ihm sowohl eine höhere Geschwindigkeit, als auch eine bessere Ausdauer wie den Flüchtigen. Gerade als er dabei war, die Männer einzuholen, wechselten sie von der Gasse hinauf auf die Dächer. Der Hexer fluchte laut, ergriff einen Stuhl, der vor einer Hintertür stand und vermutlich für die nächtliche Wasserpfeife vorgesehen war, und warf das Ding auf den letzten der Einbrecher. Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, etwas zu treffen, aber der Stuhl streifte den Mann so unglücklich, dass dieser ins Straucheln geriet, den Absprungpunkt verpasste und übel gegen eine Hauswand krachte. Ein inneres Triumphgefühl kam nur kurz auf, denn er war mehr als beschäftigt, den anderen beiden zu folgen. Die Hatz ging weiter über die flachen Dächer, wie ein Bluthund klebte Atheris an den schwarzgekleideten Männern und er kam ihnen immer näher. Als er die ersten Masten des Hafens erblickte, und der Hexer sich überlegte, ob dieser das Ziel ihrer Flucht war, blieben zwei von ihnen stehen und zogen ihre Krummsäbel. Atheris sprang zu den beiden auf das Flachdach. „Wo sind die Dokumente!“ rief er den beiden zu, doch keiner der beiden antworte. „Wäre auch zu einfach gewesen!“ murmelte der Hexer. Er griff langsam über seine Schulter, löste die Schwertscheide vom Rücken, und zog seine scharfe Klinge in einer fließenden Bewegung. Die Schwertscheide warf er achtlos nach vorne auf den Boden, wobei er während der Bewegung das Hexerzeichen ‚Aard‘ wirkte. Die Druckwelle löste sich von seiner Handfläche und wie von einer unsichtbaren Faust getroffen, wurden die beiden Männer unsanft zu Boden geschmettert. Mit drei schnellen Schritten war er über seinen Gegner und bevor die beiden sich wieder sammeln konnten, hatte er sie entwaffnet, den einen Bewusstlos geschlagen und den zweiten in den Schwitzkasten genommen. Er Blickte sich noch einmal um, aber von den letzten drei Gesuchten sah er keine Spur mehr.

Wenig später hatte Atheris den Hafen von Miklagard erreicht. Bei dem Anblick des riesigen Hafens und der gefühlt unzähligen Schiffe, sank ihm das Herz in die Hose. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris, während er seinen Blick über den Hafen wandern ließ, er hatte während des kurzen Verhörs aus dem Einbrecher nicht viele Informationen gewinnen können, entweder waren sie zu allgemeint gewesen, oder er hatte nicht verstanden, was der Mann von sich gegeben hatte. Obwohl es Nacht war, herrschte hier im Hafenviertel noch reges Treiben. Aus den Tavernen ertönten fröhliche Seemannslieder oder wie man es auch bezeichnen konnte, ein fröhliches Gegröle. In den dunklen Nebengassen erspähte der Hexer neben Matrosen, Liebespärchen und den einen oder anderen Haudegen, der sich den Abend nochmal durch den Kopf gingen ließ. „Egal wo man sich auf der Welt befindet, manches ändert sich nie!“ bemerkte Atheris und konzentrierte sich wieder auf seine eigentliche Mission. Kurz spielte der Hexer mit dem Gedanken auf das Dach eines der Häuser zu klettern, um eine bessere Übersicht zu bekommen, aber er verwarf diese Idee schnell wieder, von den Dächern hatte er genug gehabt für diese Nacht, stattdessen rannte er auf die Promenade. Während er den Hafen entlangrannte und die einzelnen Schiffe beobachtete, fragte er immer wieder Passanten ob sie einen Mann namens Zahir gesehen hatten, aber niemand konnte oder wollte dem Hexer helfen. „Aen iarean nyald aep kroofeir!“ schimpfte Atheris verzweifelt, und schlug mit der Faust laut auf ein Fass, das neben ihm stand. „Gloir aen Nilfgaard!“ grüßte ihn auf einmal ein Mann, der hinter ihm aufgetaucht war.  Er war in feiner schwarzweißer Gewandung gekleidet und das stilisierte goldene Sonnensymbol des Kaiserreiches schmückte seine Brust. „E’er y glòir!“ erwiderte Atheris, nach dem Brauch seiner Heimat. „Mein Name ist Kapitän Calderon aep Barca, und meine Männer haben vom Schiff aus einen Soldaten des Kaiserreiches in Not gemeldet! Wenn ich es richtig sehe, stimmt diese Annahme jedoch nicht zur Gänze, du bist ein Vatt’ghern! Ist bestimmt eine interessante Geschichte, aber zunächst einmal, was ist dein Problem, du wirkst verzweifelt?“ begann der Mann seine Konversation. „Mein Name ist Atheris aus Toussaint, ein Vatt’ghern und ein Veteran der drei nördlichen Kriege. Ich erzähle dir meine Geschichte gerne, aber vorher muss ich dringend den Händler Zahir finden! Kennst du ihn?“ entgegnete der Hexer. Calderon schien für einen Moment zu überlegen, und schaute zu einem etwas entfernten Dock hinüber. Atheris folgte seinem Blick, doch der Kai war leer. Der Kapitän schaute sich in Richtung Hafenbecken um und zeigte, nach wenigen Augenblicken, auf eine dicke Handelskogge, die bereits einen Teil ihrer Segel gesetzt hatte und auf die Hafenausfahrt zuhielt. „Er hatte mit mir um eine Überfahrtmöglichkeit in seine Heimatstadt verhandelt. Mein Weg führt mich aber in den Norden, zurück in das Imperium. Kapitän Rawan hingegen hat sein Angebot wohl angenommen, zumindest wurden Zahirs Güter auf das Schiff dort gebracht!“ sagte der nilfgaarder Kapitän. „A d’yaebl aép arse!“ wiederholte Atheris seinen Fluch, dankte seinem Landsmann und rannte die Promenade in Richtung Hafenausfahrt entlang. Wie sollte er nur an Bord gelangen, geschweige denn es anhalten?! Es war nicht mehr weit bis zur Hafenausfahrt, spätestens dort würde das Schiff unter vollen Segeln kaum noch einzuholen sein. Die Hafenausfahrt war durch zwei große, massive Türme gesichert, die im Zusammenspiel mit einer Hafenmauer ein Nadelöhr bildeten, die jedes Schiff, das in oder aus dem Hafen wollte, passieren musste. Kurz überlegte er, ob er von der Mauer mit einem Sprung zum Schiff gelangen konnte, aber der Abstand war viel zu weit. In einem Sprung setzte Atheris über einen Stapel Kisten hinweg, passierte zwei torkelnde Seemänner und konzentrierte sich dann wieder auf sein Problem. Die Türme waren mit schweren Katapulten ausgerüstet, man könnte das Handelsschiff versenken und so Zahir an der Flucht hindern, aber er hatte keine konkreten Beweise, dass Zahir selber für den Diebstahl verantwortlich war, zudem müsste er die Wachen erstmal davon überzeugen, auf Grund seiner Aussage, ein fremdes Schiff zu versenken. Kurz bevor er den Turm auf seiner Seite des Hafens erreichte, sah er eine dicke Kette vom Turm ins Wasser hängen, und wenn er es richtig interpretiert, auf der anderen Seite der Verjüngung das andere Ende. Im Kaiserreich gab es einige Hafenstädte, die eine ähnliche Verteidigungsmaßnahme besaßen. „Also gut, dann eben die Kette!“ Atheris lächelte und beschleunigte noch einmal sein Tempo. Er erreichte einige Augenblicke vor dem Schiff die Hafenausfahrt. Die Tür zum Turm stand offen, wurde aber von zwei Soldaten bewacht. Als diese den heranstürmenden Hexer erblickten, zogen diese ihre Krummsäbel und schrien ihm etwas entgegen. Auch wenn er die Worte nicht verstand, war die Ansage eindeutig. Wie bei einem Déjà-vu formte er mit seinen Fingern erneut das Hexer-Zeichen Aard und kurz bevor er die auf ihn gerichteten klingen erreichte, entfachte er die Druckwelle…beziehungsweise, wollte er diese entfesseln, aber sie blieb aus. „Was zum…?“ entfuhr es dem überraschten Atheris, der es gerade noch schaffte, dem ersten Hieb, der gegen seine rechte Schulter ausgeführt worden war, auszuweichen. Die zweite Attacke blockte er mit seinem Dolch, den er aus seinem Beinholster gezogen hatte. Mit einem festen Tritt, gegen den Knöchel des ersten Wächters, zwang er diesen auf die Knie, während er selber im folgenden Moment, aus seiner gebückten Haltung nach vorne schoss und seine Schulter der anderen Wache in die Magengrube versenkte. So gut die Wachen aus Miklagard auch ausgerüstet waren, diese beiden hier, waren zu seinem Glück, schon lange nicht mehr in einen ernsthaften Kampf gefordert gewesen. Als Atheris den Turm betrat, sprangen zwei weitere Wachen von ihren Stühlen auf und kippten dabei ihren Spieltisch um. Ohne sich zu erklären, stürmte er an den beiden Männern vorbei zu der Winde, mit der er hoffte, die Kette straffen zu können. Er betrachtete für einen Moment den komplexen Mechanismus, nahm eine große Axt aus einer Halterung und zerschlug, mit zwei kräftigen Hieben, ein dickes Tau. Mit einem lauten Krachen, das den Turm in seinen Grundfesten erbeben ließ, fiel ein massiver Gegenstand im Keller des Turmes hinunter, und mit einem Blick aus dem Fenster erkannte er, dass sich die Kette aus dem Wasser erhoben hatte, und die Hafenausfahrt versperrte. Die vier Wachen hatten inzwischen den Hexer erreicht, und er blickte auf vier scharfe Klingenspitzen, die vor seinem Gesicht die Luft zerschnitten. Langsam ließ er die schwere Axt aus seinen Händen gleiten, und erhob als Zeichen seiner Aufgabe, beide Hände über den Kopf. Er sah den Knauf der Waffe kommen, ließ sich aber mit einem Schlag auf den Solar Plexus zu Boden strecken. Sein Gehör vernahm, neben dem Brüllen der Wachen, auch das Schreien der erschrockenen Seemänner, die versuchten, eine Kollision mit der Hafenkette zu vermeiden. Unsanft wurde Atheris von den Soldaten gefesselt und an den Füßen aus dem Turm gezogen. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie das Schiff beigedreht hatte. Ein dumpfer Tritt gegen seinen Kopf ließ den Hexer schwarz vor Augen werden und er verlor das Bewusstsein.

Als der Hexer wieder zu sich kam, blickte er in Salehas besorgte Augen. Während sie ihm auf die Beine half, zeigte sie auf die Kogge, die inzwischen von zwei kleinen Patrouillenbooten der Hafenwache geentert wurde. „Wir haben gesehen, wie das Schiff beigedreht hat und dachten uns schon, dass du deine Hände im Spiel hast!“ sagte die Gelehrte und bedeute den Wachen mit einem Wink weiter Platz zu machen. Am Fuße des Turms, befand sich ein weiteres kleines Patrouillenboot, mit dem sich die beiden zum geenterten Schiff übersetzten ließen. Zahir stand vor seinen Männern und protestierte mit wilden Gesten, während er mit dem Kommandanten der Wache diskutierte. Für einen kurzen Moment hielt er in seiner Schimpftriade inne, als er sah, wie Saleha und Atheris an Bord der Kogge gingen. „Sayida, wir haben bisher nichts gefunden!“ meldete sich einer der Soldaten bei Saleha. „Sucht weiter, wir müssen die Dokumente sicherstellen!“ war ihre knappe Antwort.

 

Mühsam waren die vier dem tiefen braunen Strom gefolgt, noch immer auf der Jagd nach dem inzwischen schwer verwundeten Mutanten. Rücken an Rücken glitten sie durch das Wasser, jederzeit auf einen Angriff gefasst. Ein erschrockener Aufschrei, gefolgt von einem unheimlichen Gurgeln ließ die Greifen in der Kanalisation zusammenzucken. „Das kam von dort hinten!“ schrie Logan und zeigte auf einen abzweigenden Seitenarm. Sie beeilten sich, zur besagten Stelle zu gelangen und ließen dabei in ihrer Vorsicht etwas nach. Wieder hörten sie ein ersticktes Gurgeln, diesmal schien es nah zu sein, aber sie konnten in der Dunkelheit nichts erkennen. Beim dritten Mal sahen sie im seichten Abwasser des Seitenarms, den gebückt über seinem letzten Opfer kauernden Mutanten. Mit einem ausgerissenen Arm im Maul, blickte sie das Wesen direkt an, und die weißen Zähne, scharfen Zähne, bildeten in der Dunkelheit eine abscheuliche Fratze. Heskor fackelte nicht lange, zielte mit ruhiger Hand, atmete langsam aus und betätigte sachte den Abzug. Der Bolzen flog in einer fast perfekten Geraden und traf das Monster am Hals. Schwer getroffen kippte das Monster, nun selber gurgelnd, zur Seite.

Die drei Hexer hatten inzwischen die Entfernung zu der humanoiden Panzerechse zurückgelegt. Mit schnellen und wilden Schlägen ihres Schwanzes versuchte sie, im Todeskampf die Hexer auf Distanz zu halten. ‚Zipp‘ ein vierter Bolzen von Heskor beendete das Schauspiel und das Wesen sackte leblos zusammen. Während sich Viktor zweimal versichert, dass das Monster keine Gefahr mehr darstellte, eilten die übrigen zum schwer verletzten Opfer. Die schwarze Kleidung hing in Fetzten an dem Körper des jungen Mannes. Egon prüfte die Vitalzeichen und schüttelte nur den Kopf, ihm war nicht mehr zu helfen. Logan entfernte das Tuch vor dem Gesicht des Mannes und fuhr erschrocken zurück, es war Amir, der Sohn Zahirs! „Was bei Valerians grauem Bart hat er hier verloren?“ fluchte Logan und blickte zu den anderen. „Das wird er uns nun nicht mehr sagen können!“ schüttelte Viktor traurig den Kopf. Nach einem Moment der Stille räusperte sich Heskor „Also gut, wir sollten schauen, dass wir hier unten wieder rauskommen und Amir nehmen wir mit!“ „Seht mal hier!“ rief Egon von der Mündung des Seitenarms. Er war auf eine metallene Kiste gestoßen, die achtlos zur Hälfte im Wasser lag. Trotz ihrer Größe, war die Kiste überraschend leicht, als Egon versuchte sie anzuheben. „Sie ist versiegelt!“ stellte Heskor fest, während er auf das Schloss zeigte. „Die nehmen wir auch mit und untersuchen sie später im Trockenen!“ knurrte Viktor, der offensichtlich keine Lust mehr hatte länger an diesem Ort zu verweilen. Sie folgten der Strömung des Hauptkanals. Nach einem kurzen Stück des Weges bemerkten sie eine weitere Gestalt im Strom treibend. „Der hier war auch einer von Zahirs Männern!“ schrie Egon „Die Kehle ist von scharfen Zähnen zerrissen worden!“ führte er weiter fort. „Kommt, wir müssen weiter, ich glaube meine Nase fault bei dem Gestank langsam ab!“ schimpfte Viktor, dessen Laune sich zunehmend verschlechterte.

 

Derweil lief die Durchsuchung am Bord der ‚Mahnaz‘ weiter. „Was machen wir, wenn die Dokumente und Proben nicht hier sind?“ fragte Atheris die Gelehrte. „Frag lieber nicht!“ seufzte Saleha und beobachtete, wie die Soldaten eine weitere Kiste entleerten. „Atheris! Atheris! … Hier drüben!“ drang die Stimme von Logan an das Ohr des Nilfgaarder. „Atheris! Hier drüben, beim Kanal!“ erklang Logans Stimme erneut. „Was für ein Kanal?“ murmelte Atheris und drehte sich um. Nicht weit entfernt sah er an der Mündung der Kanalisation seine Freunde stehen, die ihm wild zuwinkten. Einige Minuten später näherte sich Saleha und Atheris am Bord des kleinen Patrouillenboots seinen Freunden. Von oben bis unten mit Kot beschmiert standen die Vier vor ihnen. Atheris rümpfte die Nase, als er ihnen ein Seil hinüberwarf. Sein Lächeln verblasste, als er die Leiche Amirs am Boden liegen sah. „Wir hatten im Badehaus eine unliebsame Begegnung und das eine führte zum anderen!“ erklärte Logan, nachdem er den Blick des Nilfgaarders gedeutet hatte. „Was hat euch denn auf das Schiff dort getrieben?“ fragte Heskor. „In der Madrasa ist eingebrochen worden. Unterlagen und Dokumente sind aus dem ‚Gruselkabinett‘ entwendet worden!“ antwortete Atheris. „Dort auf der Kogge befindet sich Zahir! Seine Männer waren am Überfall beteiligt und nun suchen wir an Bord nach den Dokumenten!“ fuhr der Nilfgaarder fort. „Dann ist es sicher kein Zufall, dass wir Amir, und einen von Zahirs Männern in der Kanalisation aufgefunden haben! Und das hier dürfte soeben noch interessanter geworden sein!“ Heskor zeigte auf die Truhe, die sie gefunden hatten. Salehas Augen weiteten sich „das ist sie! Es ist zwar nicht alles, was entwendet wurde, aber das ist das wichtigste!“ die Gelehrte sprang unerwartet aus dem Boot und rannte vorbei an den Greifen zur Truhe. Nach einer kurzen Prüfung des Siegels drehte sie sich um und lächelte. „Das Siegel ist intakt!“ Zufriedenheit und die Erleichterung war ihr sichtlich ins Gesicht geschrieben. Gemeinsam machten sie sich alle auf den Rückweg zur Hafenpromenade, wo sie ausgiebig zu den Vorkommnissen von der Wache befragt wurden.

Die Beweislast reichte aus, um Zahir und seine Männer fürs erste in Haft zu nehmen, und die Mahnaz in den Hafen zur weiteren Untersuchung zurückzubringen. Als der Morgen graute, machten sich die Freunde auf den Weg zurück zu Salehas Residenz, wo sie sich ihre Wunden versorgen ließen und sie auf eine endlich wieder wache Nella trafen. „Wo steckt eigentlich Raaga?“ fragte Atheris, als sie bei einer kleinen Mahlzeit gemeinsam am Tisch saßen. „Der wollte endlich mal wieder eine richtige Taverne besuchen, mit richtigem Met und guter Musik!“ antwortete Heskor. „Eiwa müsste bei ihm sein!“ merkte Egon an. „Das war vermutlich der einzige Grund, warum er endlich mal wieder in die Heimat wollte, von wegen persönliche Angelegenheiten klären, der wollte endlich mal wieder richtig einen Drauf machen!“ gluckste Logan lachend und mit erhobenen Weinkelch von der anderen Seite des Tisches.

Kapitel 10 – Ein unerwarteter Gast

Es hatte nicht lange gedauert, bis Raaga eine Taverne nach seinen Vorstellungen gefunden hatte. In all der Pracht und exotischen Schönheit der Stadt, war die rustikale Einrichtung eine willkommene und für Raaga heimatliche Abwechslung. Wie auf den Inseln üblich, gab es einen langen Tisch, an denen sich die Gäste gesellig wie sie waren zusammenfanden und neben einer großen Menge an Bier und Met auch noch die besten und deftigsten Speisen genossen.  Zunächst hatte Raaga noch Bedenken, dass die hier ansässigen Landsmänner die Sitten nicht mehr lebten, aber dem war zu seinem Glück nicht so. Es dauerte auch nicht lange, als er in der Begleitung von Eiwa mitten unter ihnen saß, und sie sich das Seemannsgarn und sonstige zotige Geschichten anhörten. Raaga der normalerweise eher ruhig blieb, ließ sich nach der fünften Runde Met und der mehrfachen Aufforderung von Eiwa, ebenfalls zu der einen oder anderen Geschichte aus dem Leben eines Hexers hinreißen. Seine Geschichten, die er in kurzen und wenig ausschweifenden Sätzen von sich gab, ließ die Männer in jeder Pause, die Raaga machte, um seinen Krug zu leeren, einen Gesang anstimmen „Was trinkt ein Hexer bevor er jagen geht! Skelliger-Met! Skelliger-Met!“.

Als der Morgen graute und sich die Taverne weitestgehend geleert hatte, saßen Eiwa und Raaga alleine am Tresen und nippten an ihren Humpen. Der Volksmund sagt, dass Hexer aufgrund ihrer Mutationen trinkfest sind, was grundsätzlich auch der Wahrheit entsprach, es war aber letztendlich wie in so vielen Dingen des Lebens eine Frage der Menge und der Dosierung des Gesöffs, das er zu sich nahm. An diesem Abend hatte er viel getrunken und er spürte die Wirkung des Alkohols. Seine Hand wanderte zu einem kleinen Beutel, den er an seinem Gürtel trug, öffnete diesen und zog eine kleine Flasche mit der Aufschrift ‚Weiße Möwe‘ heraus. Raaga betrachtete die milchig weiße Flüssigkeit für einen Moment. Die meisten Hexer nutzten diesen Trank vor allem in den Wintermonaten, um sich die Zeit angenehmer zu gestalten, da die Einnahme zu leichten Halluzinationen führte. Mit seinem Daumen schnippte Raaga den Korken von der Flasche und schüttete die Flüssigkeit in seinen gerade frisch gefüllten Krug. Eiwa beobachtete den Hexer und das Fläschchen genau und fragte: „Das Elixier ist sicher nichts für mich oder?“ Raaga schaute sie mit ihren katzenhaften Augen an und antwortete, schon leicht lallend: „Lieber nicht, ich kenne keinen Menschen, der das getrunken und überlebt hat!“ Gerade als der Hexer dazu ansetzte, seinen letzten Krug zu genießen, flog die Tür aus den Angeln und jemand sehr großes und schweres betrat mit einem kräftigen Schnauben die Taverne. Die wenigen noch anwesenden Gäste ließen sich vor Schreck unter den Tisch sinken und der Wirt, ein großer und kräftiger Skelliger, brachte sich mit einem beachtlichen Sprung hinter den Tresen in Deckung. Raaga hatte sich umgedreht und betrachtete den Neuankömmling interessiert, während Eiwa den Mutanten aus der Asservatenkammer sofort erkannte. Das Wesen, das er betrachtete, war eine wilde Mischung aus Mensch und Stier, das schwarze Fell glänzte vor Schweiz und aus zwei kleineren Wunden tropfte frisches Blut. Für einen Moment schaute es sich im Schankraum um, bis sein Blick auf den Hexer und die Magierin fiel und hängenblieb. Die gelben Augen schienen den Hexer zu durchbohren und Raaga merkte, wie sich jede Faser seines Körpers anspannte und das Adrenalin in seinen Adern anfing zu kochen. Obwohl der Abend feucht und lang war, wusste er, dass seine silberne Axt hinter ihm am Tresen lehnte und er sie schnell erreichen konnte. Der Mutant setzte sich mit donnernden Schritten in Bewegung und näherte sich dem Tresen. Die verbliebenen Skelliger, die unter dem langen Tischen kauerten, nutzten die Gelegenheit und verließen fluchtartig den Raum. Das Wesen schob sich zwischen Eiwa und Raaga an den Tresen, und ließ seine mächtigen Arme auf diesen krachen. „Wirt, ein Met! Aber schnell!“ grollte das Wesen mit seiner tiefen Stimme. Nachdem er einige Augenblicke gewartet hatte, aber nichts geschah, schlug es mit seiner Faust kräftig auf den Tresen, so hart, dass die Holzplatte einen großen Riss bekam. Raaga, der seinen Krug rechtzeitig von der Platte genommen hatte, blickte äußerlich gelassen auf seinen Nachbarn. Zumindest für den Moment, schien sich das Wesen nicht um den Hexer oder die Magierin zu kümmern. „Wirt! Ein Met! Ich habe Durst!“ grollte es erneut. Raaga schaute zum Krug in seiner Hand, und begann dann in ruhiger Stimmlage „hier nimm meins!“. Der gehörnte Kopf drehte sich langsam zu Raaga und der feuchte Atem des Stiermenschen blies ihm direkt ins Gesicht. Der Hexer streckte dem Wesen den Krug entgegen. Mit einem kurzen „Shukraane!“ nahm es das Gesöff entgegen, roch einmal kräftig daran, und Raaga war es, als könnte er ein Lächeln in seinem Gesicht erkennen. Mit einem großen Schluck leerte es den Krug und warf diesen gegen ein Fenster, durch das inzwischen einige Schaulustige starrten. „Kan dhlk jayidaan!“ sprach das Wesen, dessen Laune sich etwas gebessert hatte. „Wirt! Komm schon! Noch ein Met!“ grollte das Wesen und polterte wieder auf dem Tisch herum. Nachdem sich erneut hinter dem Tresen nichts tat, schnappte sich Raaga seine Axt, und sprang elegant über den Tresen auf die andere Seite. Dort lag der Wirt der Länge nach unter dem Tresen und nur das leichte Zittern seines Körpers verriet, dass er alles mitbekommen hatte. Der Hexer schnappte sich einen frischen Krug, füllte diesen mit Met und schob ihn zu dem wartenden Gast. „Shukraane!“ brummte das Wesen. Der Hexer füllte noch zwei Krüge und schob einen von ihnen zu Eiwa hinüber. Gemeinsam hoben sie die Krüge und tranken den Inhalt in einem Zug. Raaga hatte nicht mitgezählt, wieviel Eiwa an diesem Abend getrunken hatte, aber sie erwies sich als äußerst trinkfest. Insgesamt musste er sich eingestehen, dass sie erfrischend anders war als die meisten Magierinnen die er kannte, auf jeden Fall konnte man mit ihr Spaß haben. Ein Grollen vor ihm riss ihn aus seinen Gedanken und er füllte erneut die Krüge. Nach sechs weiteren Runden begann das Wesen zu gähnen und legte kurz darauf sein Haupt auf dem Tresen ab und begann laut zu schnarchen. Nachdem sich Eiwa und Raaga vergewissert hatten, dass der Mutant auch friedlich schlief, halfen sie dem Wirt auf die Beine und verließen gemeinsam den Schanksaal Richtung Ausgang. Draußen vor der Tür standen inzwischen zwanzig schwerbewaffnete Männer der Stadtwache, die dem Trio wortlos zunickten und dann an ihnen vorbei in die Taverne marschierten. Neben den Soldaten hatte sich auch ein großer Pulk von Schaulustigen eingefunden, die sich das ganze Ereignis durch die Fenster angeschaut hatten und nun Eiwa und Raaga zujubelten. Die beiden Protagonisten bahnten sich langsam ihren Weg durch die Gratulanten und wunderten sich dabei, was sie denn gemacht haben sollten, letztendlich wollte das Wesen einfach mal wieder einen Drauf machen.

Epilog – Der Aufbruch

Atheris stand auf der Hafenpromenade und schaute zu, wie die letzten Kisten und Fässer an Bord der ‚Addan‘ geladen wurden. In einem langen Gespräch mit Kapitän Calderon hatte Atheris herausgefunden, dass dieser im Dienste von Arteveck Aep Laedahm, einem Gelehrten des Kastell Graupian in Ophir unterwegs war, und nachdem Atheris ihm erzählt hatte, wie er seine Jugend an eben jener Universität verbracht hatte und er Francois noch aus seiner Jugendzeit kannte, bot der Kapitän den Greifen eine Überfahrt ins Kaiserreich an, von wo aus sie mit einem anderen Schiff in die Leuenmark weiterreisen konnten.

„Atheris! Da bist du ja!“ Saleha’s Rufen übertönte das geschäftige Treiben am Pier. „Ich hatte dich bei den anderen im Stadthaus gesucht, Egon erzählte mir, dass du bereits zum Hafen aufgebrochen warst!“ fuhr die Gelehrte fort. „Ich wollte nur sichergehen, dass Ker’zaer gut behandelt und sicher verladen wird!“ lächelte der Hexer „Was kann ich für dich tun?“ „Eiwa und ich haben die letzten Tage damit verbracht Ordnung in das Labor zu bringen und zu prüfen, ob alle Dokumente und Proben vorhanden oder vernichtet sind. Wie soll ich sagen … bei den Aufräumarbeiten ist mir die Probe von Viktor in die Hände gekommen. Die Analyse war zum Zeitpunkt des Angriffs noch nicht fertig gewesen … nun ist sie es. Was auch immer bei der Kräuterprobe von Viktor passiert ist, sie unterscheidet sich massiv von denen der anderen Hexer, egal welcher Schule!“ führte Saleha aus. „Hmmm … es waren komplett andere Umstände, er hat die Mutation als Erwachsener durchgemacht und wenn ich mich recht erinnere, war ein Magier namens Silven für die Transformation hauptverantwortlich!“ antwortete Atheris nachdenklich. „Gibt es Probleme?“ fuhr er fort. „Es ist noch ziemlich früh etwas Genaues zu sagen, aber die Mutationen schreiten bei ihm immer noch voran, der ganze Metabolismus ist nicht stabil, auch wenn es im Moment so wirken mag. Ich werde mich bei euch melden, wenn ich mehr herausgefunden habe, aber behalte ihn im Auge!“ antwortete die Gelehrte.

Beide saßen noch eine Weile und unterhielten sich darüber, wie es mit der Erforschung der Kräuterprobe weitergehen könnte und wie sie mit Valerian in Kontakt treten konnten. Später am Mittag kamen die restlichen Greifen zum Schiff und nach einer freundschaftlichen Verabschiedung von Eiwa und Saleha, gingen sie an Bord der ‚Addan‘, die kurz darauf die Segel setzte und den Hafen in Richtung Norden verließ. Als die Sonne am Horizont unterging, erreichte das Schiff die offene See und nahm volle Fahrt auf.

Mehrere Tage nach der Abreise der Hexer verabschiedete sich Saleha von ihren Ratskollegen. Die Sitzung war stellenweise ausgesprochen hitzig gewesen. Dass geheimes Wissen aus den Kellern gestohlen worden war, war nur ein kleiner Teil des Ganzen. Die Ausmaße der Zerstörung in der Madrasa, die hohe Anzahl an Toten und Verletzen hatte im gesamten Stadtstaat für Aufsehen gesorgt. Eiwa und sie hatten die Tage zuvor beratschlagt, was in welcher Form gesagt oder besser nicht gesagt werden sollte. Aber ihre Sorge war unbegründet gewesen. Denn ebenso hatte sich die Kunde verbreitet, dass es eine Gruppe von Hexern war, die Schlimmeres verhindert hatten. So war aus der Sorge, dass Forschung an Mutationen noch strenger untersagt worden, das Gegenteil erwachsen. Nicht nur in den Räten der Regentin, auch auf den Straßen wurde darüber diskutiert, ob die geltenden Vorschriften zur Forschung an Mutanten nicht doch gelockert werden sollten.

Zu Hause angekommen legte Saleha das aufwendige Ornat ab und zog eine bequeme Tunika über. Eiwa hatte währenddessen, halb liegend, in einer der Sitzecken Platz genommen und lauschte geduldig Salehas Tiraden über die blasierten Ratsmitglieder und deren leeren Worthülsen. Sie wusste nur zu gut warum sie sich von den Amtsgeschäften fern hielt und spürte, dass auch ihre Cousine dringend mal wieder Abstand vom diesem Theater brauchte.

Als Saleha sich endlich in die Kissen ihr gegenüber fallen ließ merkte Eiwa trocken an „was alle scheinbar vergessen, natürlich hilft den Hexern ihre Mutation im Kampf, aber am Ende waren es Herz und Verstand und der Wille beherzt einzugreifen, als es notwendig war. Das steckt in keinem Gen, das Du mir je gezeigt hast.“ „Du hast vollkommen recht. ‚Möge unser Verstand stets mit Klarheit und unser Geist stets mit Wachsamkeit gesegnet sein‘“ zitierte Saleha den klassischen Gruß Miklagards in abgewandelter Form. Eine angenehme Pause entstand zwischen den beiden. „Und nun?“ durchbrach Eiwa irgendwann die Stille. Saleha schwieg noch etwas bevor sie antwortete „Ich glaube nicht, dass sich bei uns viel ändern wird. All diese ‚al‘ahmaqs‘ haben eh nicht verstanden um was es ging und wer die Angreifer nun wirklich waren – ich weiß es ja selber nicht… Zahir und seine Männer waren nur Handlanger, er wird sich noch einigen Befragungen stellen müssen, bevor ein abschließendes Urteil über ihn gefällt wird. Diar hat sein neugieriges Bohren zu den Hexern eingestellt, als man ihm mehr Geld und Personal für Wachen und Kampfmagier zugesagt hat… Er ist ein guter Freund, aber er ist noch zu ambitioniert, was seine Karriere betrifft.“ Wieder trat Stille ein. Eiwa beobachtete ihre Cousine, versuchte ihre Mimik und Körpersprache zu ergründen. „Was noch? Etwas hast du mir noch nicht erzählt, oder?“ Saleha lächelte müde zurück „sicher, dass Du nicht doch mit in den Rat möchtest? Du entwickelst Talent.“ sie seufzte „Gangar hat alle Unterlagen aus dem Labor zusammengetragen. Und wenn er sagt, dass er alle Ecken und Ritzen abgesucht hat, besteht für mich kein Zweifel. Es fehlt der Vergleich zwischen Viktor und Atheris.“ Eiwa sog die Luft ein, sagte aber nichts dazu.

Beide blieben noch lange so sitzen, lauschten dem abklingenden Lärm von den Straßen und dem einsetzenden Zirpen der Zikaden. Als es dunkel wurde, kam Esraina mit dem Abendessen herein, zündete ein paar Kerzen an und setzte sich zu den Cousinen. Kurz darauf gesellte sich der große Skelliger namens Gangar dazu und die vier aßen und plauderten über Belanglosigkeiten. Als alle fertig gegessen hatten ergriff Esraina das Wort „Sayida? Sollen wir die Vorbereitungen starten? So wie immer?“ „Ja“ merkte Eiwa knapp an und Saleha ergänzte „und sollte Gangar von seinem Auftrag früh genug zurückkehren, kommt er mit. Sicherheitshalber.“ Wir müssen mit den Hexern reden.

Atheris stand alleine an der Reling des Schiffes und hatte seinen gefüllten Weinkelch in der Hand. Die halbleere Flasche Est Est die er von Saleha als Abschiedsgeschenk erhalten hatte, stand in einem Wassereimer neben ihm am Boden. Eine zierliche Hand legte sich auf seine Schulter. „Nella!“ grüßte er die Elfenmagierin, er hatte sich nicht umblicken müssen, der liebliche Duft, den sie versprühte, hatte sie wie immer verraten. „Atheris!“ antwortete sie mit ihrer zarten Stimme. „Es ist Zeit für dich zu gehen, nicht wahr?“ vollendete der Hexer ihren Satz. Atheris ahnte, dass Nella sehr besorgt um ihren geliebten Valerian sein musste, wenngleich sie es niemals lautstark offen kundtun würde. Es war damit ein leichtes, ihr nächstes Handeln zu erahnen. „Ja!“ war die knappe Antwort und Atheris lächelte verständnisvoll. „Richte Valerian meine Grüße aus und sag ihm, dass ich auf den Rest seiner Schule Acht geben werde!“ fügte Atheris hinzu. „Das weiß er, sonst wäre er nie gegangen!“ antwortete sie. „Gute Reise!“ wünschten sich die beiden fast gleichzeitig. Nella trat einige Schritte zurück und mit einer kurzen Formel und einer knappen Handbewegung öffnete sie ein Portal, das sie nach Wyzima bringen würde, hoffentlich in die Arme ihres Geliebten. Atheris erinnerte sich daran, dass Valerian dereinst Andeutungen gemacht hatte, dass er dort noch einer interessanten Spur auf den Grund gehen wollte. „Eines noch Atheris!“ sagte die Elfe „Ja?“ fragte der Hexer. „Benutze die Portalsteine nicht ohne mich! Du hattest Glück, dass ich in der Mitte des Portals lag und es sich durch meine Magie stabilisiert hat, sonst hätte es böse enden können!“ sprach sie ihre Warnung aus. „Ich weiß!“ war seine kurze Antwort. Nachdem Nella durch das kleine Portal getreten und in einem kleinen Feuerball verschwunden war, wendete sich Atheris ab und nahm wieder seine Position an der Reling ein.

Einige Zeit später … Im tiefsten Inneren des Schiffes saß eine Gestalt versteckt zwischen den Kisten des Laderaums und betrachtete das wissenschaftliche Dokument in seiner rechten Hand und eine Phiole in seiner Anderen. Das Gesicht zeigte keine Freude, ob der Errungenschaft in seiner Hand, es wirkte zutiefst nachdenklich.