Die Rache des Waldes

Metagame von Yannic und Peter

Prolog

Der Weg war schlammig, machte das voranschreiten des Pferdes hinderlich. Der Mann auf dem Rücken des Pferdes zog seinen Umhang fester und hoffte, dass der Loden den hier anbrausenden Sturm möglichst von ihm und seiner wertvollen Ware abhalten mochte. Der Reiter rutschte ein wenig auf dem Pferd hin und her um eine angenehmere Position zu finden. Ein Unterfangen, dass nach den Stunden im Sattel ebenso bemüht wie zwecklos war.

Es war ungewöhnlich dunkel für diese Tageszeit befand der Reiter nach einem Blick in den von dunklen Wolken gänzlich verschluckten Himmel, aus dem es mehr Wasser goss als in Wyzima an einem guten Waschtag aus den Fenstern geschüttet wurde. Der Mann auf dem Rücken des Pferdes hieß Godwin Birnbaum. Sein Name stand in weißen Lettern aufgestickt auf seiner Brust, direkt über einem darunter stehenden Stickwerk, dessen Buchstaben das Wort ‚Vattweir Botendienste‘ bildete. Godwin hasste diese Aufschrift auf seiner Brust, denn wenngleich auch Menschen dazu neigten sich nichts merken zu können – den Namen eines Dienstleisters, der sie nicht zufrieden stellte, den merkte sich jeder. Und Menschen die auf Post warteten waren selten zufrieden. Sie ignorierten den Fakt, dass die Straßen mit all ihren Passierwegen, Schlagbäumen und Zöllen nicht mehr so einfach zu bereisen waren wie dereinst unter König Foltest Zeiten. Ja, damals unter Foltest war das Leben noch einfacher gewesen. Damals hatte er als königlicher Bote gedient, hatte Befehle des Königs ausgeliefert, an jeder Herberge ein frisches Pferd verlangen können und war stolz auf seinen Beruf gewesen. Heute gab es keinen Foltest mehr. Keine königlichen Boten, keine Befehle die er ausliefern konnte. Statt einem frischen Pferd an jeder Herberge durfte er nur an genau bestimmten Wegposten sein Pferd wechseln. Wegposten, die als Außenstellen zu den ‚Vattweir Botendiensten‘ gehörten. Es gab genau zwei davon in ganz Temerien.

Aber die Zeiten änderten sich. Einst war er ein königlicher Bote gewesen. Aber einst war sein Weib auch schön, die Kinder brav und seine Manneskraft unvorstellbar gewesen. Die Welt änderte sich. Er wurde alt, sein Weib runzelig und seine Kinder Tyrannen, die ihm auf der Tasche lagen. Also musste er weiterarbeiten und da er nie etwas Anderes gelernt hatte, war er zu den ‚Vattweir Botendiensten‘ gegangen. Aber die Zeiten änderten sich nunmal. Und das Gehalt. Meistens zum schlechteren.

Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken, die sich in behäbiger Regelmäßigkeit um den Körper seines Weibes vor mehr als dreißig Jahren oder die Körper anderer Weiber, die heute keine dreißig waren, drehte. Er blickte sich in dem kleinen Waldstück um, welches sie nun erreicht hatten. Sein Pferd und er. An den Rändern des Weges lagen hohe Baumstämme, gefällt und aufeinandergeschichtet, weitere Bäume am Rande waren mit weißer Farbe markiert. Der Regen hatte zugenommen, zog lange Flüsse aus braunem Schlamm durch die Rillen am Wegesrand. Ein Rascheln war zu hören. Godwin sah in die Richtung des Raschelns, doch nichts zeigte sich. Godwin hätte schon geglaubt, dass er sich getäuscht hatte, dass er von der Reise müde und erschöpft war. Erneut wollte er das Pferd antreiben, doch der alte Gaul bewegte sich nicht. „Komm schon du verdammtes…“ er trieb die Fersen in die Flanken, doch das Tier scheute nur auf, warf Godwin von sich, der mit einem krachen auf dem Boden aufschlug und schrie, als er sah was der Sturz mit seinem Bein angerichtet hatte. Er schrie, als er sah was sich ihm nährte. Schrie, als die Wurzeln ihn packten, schrie als sich die Raben auf ihn stürzten. Er schrie nicht mehr als die Wölfe kamen. Konnte nicht mehr schreien.

Vorbei an Brugge

Sie hatten das Dorf der Antherion bereits seit mehr als einer Woche hinter sich gelassen, doch Gabhan war noch immer nicht bester Laune. Womöglich war er niemals wirklich bester Laune, doch seine Stimmung zeigte sich ganz eindeutig wesentlich gedrückter als zu Anfang der Reise. Der Hexer, der sich beständig weigerte auf Atheris Gaul aufzusteigen verzögerte die Reise, wenngleich er auch abends und am Lagerfeuer ein wenig aufzutauen schien. Dann, wenn die Flammen fast gänzlich heruntergebrannt und die Sterne hell waren, erzählte er Atheris von den besten Möglichkeiten ein Silberschwert zu führen, von den Vergiftungen, die Monster herbeiführen konnten oder aber von dem direkten Zweikampf gegen übermächtige Gegner. Er zeigte ihm jene, wuchtige Hiebe, die den Bärenhexern zu eigen waren und die wenig mit der tänzerischen Eleganz von Atheris Greifenstil gemein haben wollten, dessen weite Schwünge weniger dem Schaden als der Verwundung vieler Gegner zur gleichen Zeit golt.

Doch an den darauf folgenden Morgen war Gabhan wieder ganz der Alte. Hing seinen eigenen Gedanken nach und sprach nur das notwendigste. Andererseits beteiligte er sich an der Jagd, gab Atheris von seinem Essen ab und erwies sich auch sonst als durchaus nützlicher Reisegefährte. Es war der Morgen des zehnten Tages, als Gabhan Atheris schließlich festhielt. „Wir überqueren bald die Grenze zu Temerien,“ erklärte er leise und bedacht. „Tu mir einen gefallen und gehe nicht zu sehr auf die Eroberung Nilfgaards bezüglich Temerien ein. Nach allem was ich weiß ist das ein Thema auf das niemand gut zu sprechen ist – und das womöglich bei weitem noch nicht so klar ist wie du glaubst. Partisanen sind eine scheußliche Angelegenheit und ich würde mich gerne dieses eine Mal nicht mit einem ganzen Dorf anlegen.“

„Werde ich nicht, Gabhan!“ antwortete Atheris. Es war der letzte Feldzug gewesen, an dem der nilfgaarder Hexer als Soldat des Kaiserreichs teilgenommen hatte. Beim dritten Versuch hatte Nilfgaard das einst so stolze Temerien bezwungen und zu seiner nördlichsten Provinz gemacht. Dennoch wehrten sich auch nach all den Jahren noch vereinzelte ehemalige Anhänger des verschiedenen König Foltests gegen die Besatzung. Atheris hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass es diese Meinung gab und da er als Hexer nun versuchte, sich aus der Politik rauszuhalten, sah er kein Problem darin. „Lass uns weiterziehen, Gabhan!“

Der angesprochene Hexer zog eine Augenbraue nach oben, nickte dann aber. Es war nie eine gute Idee mit Leuten über gewissen Dinge zu sprechen. Wenn man Freunde bleiben wollte, so waren Themen wie Religion und Politik immer auszusparen. Immer. Die Straße unter ihnen wurde mit jedem Schritt breiter, während sich die Straße von Brugge zu jener Temeriens formte. Mit jeder Meile die sie zurücklegten wurde es kälter, die Wolkenformationen dichter und die Luft drückender. Es würde bald ein Gewitter geben. Das Zweifellos – woran Gabhan jedoch Zweifel hatte war an der genauen Wegrichtung. Natürlich, wenn sie zur Hauptstadt wollten mussten sie nur der Straße und den Schildern folgen. Aber dort wollten sie nicht hin. Sie mussten Richtung Vattweir – dort irgendwo auf dem Weg war jenes Dorf, von dem der Aushang sprach, den er gelesen hatte. „Wenn ich das richtig sehe,“ murrte er leise und blinzelte gegen den anbrausenden Sturm. „Dürften wir in weniger als zwei Tagen das Dorf erreichen, wo die Menschen verschwinden. Laut Aushang soll es 250 Orens für die Beseitigung des Problems geben. Zu wenig, wenn du mich fragst. Wir sind zwei Leute. Nicht weniger als 400 Orens. Hier geht es um das Leben von Menschen, die Leute sind dann in der Regel bereit zu zahlen. Vor allem, da auch unseres auf dem Spiel steht.“

Der folgende Tag war verregnet und der kalte Herbstwind sorgte für keine gute Laune unter den Zunftbrüdern. Tief in ihre Mäntel gehüllt folgten sie dem schlammigen Pfad. Der Norden … unzivilisiert und rau, dachte sich Atheris. Im Kaiserreich waren die meisten Wege gepflastert und sorgten für ein besseres Vorankommen. Als das Unwetter immer schlimmer wurde, passierten sie ein altes Gasthaus…klein und nicht im besten Zustand … aber aus den Fenstern schien ein warmes Licht. Hier im Niemandsland der temerischen Wälder, war es aber schon ziemlich viel. Atheris blickte von Ker’zaer hinab zu Gabhan und ihre Blicke begegneten sich. Sie wechselten kein Wort, sondern bogen gemeinsam durch das kleine Tor auf den Hof des Gasthauses.

Das kleine Gasthaus im Niemandsland kam Gabhan gerade recht, während sich der Regen des nahen Sturms tief in dem Fell seines großen Mantels verfangen hatte. Der Bärenhexer hatte den, aus dutzenden Fellresten zusammengestückelten Mantel noch nicht abgelegt, kaum die Verschnürung am Hals gelöst, als eine tiefe Stimme aus dem Inneren der Taverne ihn innehalten ließ. „Solchen Abschaum bedienen wir hier nicht!“ die Stimme war rau und unfreundlich. „Hey, Mutant! Hörst du schlecht?“ Gabhan verharrte weiter in der Bewegung, die Hand noch immer am Knoten in Hals höhe. „Hat man Töne? Nicht nur ein dreckiger Hexling, nein – jetzt sind sie auch noch zu den schwarzen Übergelaufen!“ eine andere Stimme, deren Besitzer offensichtlich Atheris entdeckt hatte, der nun nach Gabhan die Taverne betrat, nachdem er Ker’zaer irgendwo angebunden haben musste. „Was hat der Kaiser euch Geschmeiß versprochen? Ein eigenes Königreich wie den Spitzohren?“ Gabhan verharrte noch immer, während er seinen Blick über die Anwesenden schweifen ließ. Der Wirt und mehrere Männer, die anhand von Kleidung und Geruch professionelle Holzfäller waren. Männer, deren Statur den Begriff „Holzfällersteak“ geprägt hatten und die dem Geruch und der Anzahl an Bierkrügen nach zu urteilen wohl allein dafür verantwortlich waren, dass die Taverne hier wirtschaftlich rentabel war.

„Das geht ja gut los, Gabhan!“ flüsterte Atheris seinem Zunftbruder zu und zog weiter seinen nassen Umhang aus. Er hatte keine Lust auf Streitigkeiten, er wollte einen warmen Eintopf und ein Wein…oder Bier…vermutlich Bier – es war das falsche Publikum für Wein. Er betrachtete die Männer, die sich inzwischen erhoben hatten und die beiden hasserfüllt anstarrten. „Vorurteile, Unwissenheit, Alkohol und Gruppendynamik!“ meinte er zu seinem Zunftbruder.

Atheris sah, wie ein rothaariger, sehr breit gebauter Jüngling sich erhob und auf Atheris mit dem Bierkrug in der Hand zu schwankte. „Überlege dir genau, was du vorhast. Wenn du auch nur einen kleinen Teil der Geschichten über Hexer und ihre Fähigkeiten kennst, dann weißt du, dass es keine gute Idee ist!“ warnte Atheris den Herannahenden. Leider blieb die Warnung ungehört – der Jüngling holte zu einem mächtigen Schwinger mit der Faust aus und schlug zu. Atheris sah den Schlag kommen, was auch kein Kunststück gewesen war und machte einen Schritt zurück. Der Hieb, der sein Ziel verfehlte und nur die Luft durcheinanderwirbelte, brachte den jungen Holzfäller aus dem Gleichgewicht, so dass er taumelnd gegen einen Tisch krachte, sich den Kopf ordentlich anschlug und bewusstlos liegen blieb. Sofort war der ganze Schankraum auf den Beinen und stürmten auf Atheris los. „Zumindest wird es uns aufwärmen, Gabhan!“ seufzte Atheris, formte mit seinen Händen das Zeichen Aard und entfesselte die Druckwelle gegen die Beine, der heranstürmenden Männer. Als ob man ihnen einen großen Teppich unter den Füßen weggezogen hatte, stürzten die Holzfäller übereinander. Atheris blickte noch einmal über die Schulter von Gabhan und begann dann mit seinen zwei schlagenden Argumenten die Männer eines Besseren zu belehren.

Es gab viele Geschichten über die verschiedenen Hexerschulen. Die Schule des Wolfes galt als eine der klassischen Hexerschulen – sie hatten für so ziemlich jedes Monster ein Hausmittel, jagten ihre Beute unerbittlich und sollten, so sie denn mal zusammenkamen, auch im Rudel gegen ein starkes Ungetüm ankommen. Über die Schule des Mantikors war wenig bekannt, die Schule der Schlange waren für außerordentliche Mutationen und den gezielten und perfektionierten Einsatz von Giften und Tränken bekannt. Die Greifen kannten sich wie kein zweiter in der Nutzung der Zeichen aus, fochten auch mit Leichtigkeit gegen viele Gegner und wählten, so der Ruf, meistens Worte statt Taten. Die Schule des Bären indes war grobschlächtig, steckte viel ein, teilte viel aus und war rauflustig. Soweit die allgemeine Meinung.

Und dennoch – dennoch hätte Gabhan auf diese Schlägerei verzichten können. Er hatte vorgehabt Atheris zu sagen, dass es das nicht wert war. Dass sie sich ihren gesamten Ruf bereits im vornherein ruinierten und mit einem ruinierten Ruf würde das Folgende nur noch schwieriger werden. Doch Atheris, der Hexer der Greifenschule, schien sich ein wenig zu sehr von dem vermeintlichen Temperament der Schule des Bären abgeschaut zu haben und noch ehe Gabhan sich Fragen konnte wie es so weit gekommen war, flogen die Fäuste.

Der Bärenhexer ließ seinen schweren Mantel los, welcher mit einem satten und hörbar platschenden Geräusch auf den Boden fiel. Dann war schon einer der Holzfäller bei ihm, schlug ihm zwei Mal satt in den Magen, doch der Bärenhexer bewegte sich nicht. Ging nicht, wie vom Holzfäller erwartet in die Knie. Gabhan ballte nur die Hand zur Faust und ließ diese krachend mitsamt den Nieten gegen den Schädel des Angreifers donnern, dass dieser das Bewusstsein verlor. Der nächste war schon heran, Fäuste und Flaschen flogen, krachten gegen Gabhans Scheitel und zerbarsten. Splitter setzten sich, glitzernd wie kleine Sterne, im Haar des Hexers fest. Gabhan machte einen Schritt nach vorne, hob die Fäuste, täuschte an. Seine flachen Hände knallten seitwärts an die Ohren des Angreifers, der die Orientierung verlor und von einem Tritt auf den Tavernen Boden zurückgeschleudert wurde.

Gabhan wandte sich um, sah wie Atheris zwei weitere mit einem Fuß Feger auf die Bretter schickte, dann zitterte sein Amulett und er blickte nach links. Der größte der Angreifer hatte ein Messer gezogen und Gabhan hob die Hand. „Das war bisher ja ganz lustig,“ knurrte er tief und kehlig. „Aber jetzt steck das Messer weg Hundsfott. Ich zähle bis drei. Wenn du den Zahnstocher dann nicht weggesteckt hast bring ich dich um. Eins…“

Atheris ärgerte sich über die unnötige Schlägerei und hätte sie am liebsten vermieden, wäre der Jüngling nicht aufgestanden, hätte er Gabhan vorgeschlagen, es Gut sein zu lassen. Mit einem Fuß Feger schickte er zwei der Raufbolde unsanft zu Boden – es waren keine kampferprobten Männer … soviel war klar. Dann hörte er das Zählen und wendete sich in Richtung Gabhans. „Sheyys!“ fluchte er, als er das Messer sah und den ernsten Blick in den Augen des Zunftbruders. Schnell griff er einen Stuhl, der neben ihm am Boden lag und schleuderte diesen gegen den Angreifer mit dem Messer. Atheris sah, wie der Stuhl den Mann hart in der Magengegend erwischte und dieser zu Boden sackte und dabei das Messer sowie seinen Mageninhalt verlor.

Ruhe kehrte ein – Atheris blickte zu Gabhan, dessen Haare merkwürdig im Kerzenschein glitzerten. Ansonsten schien der Bärenhexer unverletzt zu sein. Mit einem Kopfnicken deutete Atheris zum Tresen. Gabhan zuckte kurz mit den Schultern und folgte ihm. Der Wirt, mit Abstand der kleinste und schmächtigste Mann hatte sich vor dem Kampf gedrückt. Als Atheris ihn hinter einem Bierfass kauern sah, fragte er trocken: „Willst du uns jetzt bedienen, oder bleibst du bei deiner Meinung?“
Der Mann hinter dem Tresen zitterte noch immer vor Angst, während sich der große nilfgaarder Hexer in den Schankraum beugte und ihn mit seinen schlangenhaften Augen musterte. Gabhan trat nach vorne und legte Atheris eine Hand auf die Schulter. „Lass gut sein,“ murmelte er leise und griff in seine eigene Tasche, spürte die wenigen Orens die er noch darin hatte und legte diese auf die Theke. „Guter Mann, verzeiht bitte. Das alles ist ein wenig außer Kontrolle geraten…“ erklärte Gabhan leise. Er hasste es. Hasste sich für das dumme Verhalten dieser Halsabschneider entschuldigen zu müssen, aber er wusste was geschehen würde, wenn sie blieben. Was es nach sich ziehen würde. „Nehmt das hier als Entschädigung für die Möbel und die Gläser,“ bat Gabhan. „Es ist nicht viel, aber mehr als wir uns momentan leisten können. Wir wollten nur ein Bett für die Nacht und etwas zu trinken am Kamin, denn es ist scheußlich draußen. Ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagt. Aber Hexer natürlich schon. Ich verstehe. Ich verstehe gut. Daher nehmt das Gold und ersetzt was wir zerbrochen haben. Nur eine Frage beantwortet mir noch – in welche Richtung liegt Carunwan?“ der Mann auf dem Boden deutete zitternd in jene Richtung, die Gabhan und Atheris eingeschlagen hatten und bestätigte damit wenigstens den Verdacht des Hexers, dass sie auf der richtigen Spur waren. „Dank dir, guter Mann“ Gabhan wandte sich um, stieg über einen der sich noch immer am Boden windenden Holzfäller und hob seinen Mantel auf. „Atheris, wir gehen. Wir sind hier nicht willkommen.“

Verlassen

Atheris war immer noch sauer, dass sie die Möglichkeit einer warmen Mahlzeit ausgeschlagen hatten. Gabhan mochte Recht haben, sie waren nicht willkommen … Hexer waren bei den Menschen in den Nördlichen Reichen schon lange nicht mehr gern gesehen gewesen … im Kaiserreich sah die Sache anders aus, die Menschen waren aufgeschlossener und gingen mit Anderlingen anders um – sicher auch nicht immer zum Guten, aber nicht wie hier. Das es seit Jahren im Norden brodelte und es zu mehr als einem Pogrom gekommen war – vor allem in Redanien – ist die Folge dieser Intoleranz und Unwissenheit.

Es war jetzt anderthalb Tage her, dass sie ein Zeichen von Zivilisation angetroffen hatten und seit ebenso langer Zeit hielt das miese Wetter an…kalt…nass…windig. Er blickte hinab zu Gabhan, der Bärenhexer schien weniger schlecht gelaunt zu sein, er war für die Wildnis gemacht worden … kein Wunder, dass sich die Bärenhexer auf den rauen Skelliger Inseln niedergelassen hatten, sie passten dahin. Ein Grund mehr für Atheris, seinen Meister Valerian davon zu überzeugen, die neue Greifenschule in Toussaint zu gründen und nicht in so einer Wildnis wie hier.

Atheris hing noch eine Weile seinen Gedanken nach, als sie eine größere Lichtung erreichten … ihr Ziel lag vor ihnen. Das Schild am Eingang des Dorfes lag in der aufgeweichten Wiese. Die Häuser sahen heruntergekommen aus, kein Rauch war über den Schornsteinen zu sehen und kein Licht schien aus den zahlreichen Fenstern. Ihr erster Eindruck bestätigte sich, als sie durch das Dorf streiften … es schien komplett verlassen.

Atheris hatte den halben Weg über die sonst so schlechte Laune des Bärenhexers übernommen, hatte in der aufkommenden Kälte und der überbordenden Nässe gezittert, während diese Gabhan selbst kaum etwas ausgemacht hatte. Und dennoch – dennoch hatte er sich über das nahende Dorf gefreut. Er hatte sich gefreut, sehr sogar. Nun, beim Anblick des Dorfes, freute er sich nicht mehr. Es war viel mehr die Sorge, die in sein Gesicht geschnitten war, tiefer als die hässlichen Narben, die seine rechte Gesichtshälfte entstellten. Da war kein Rauch mehr in den Kaminen, kein Kerzenschein in den Fenstern, kein Kinderlachen hinter verschlossenen Türen. Gabhan betrat gemeinsam mit Atheris den Dorfplatz und blieb stehen, drehte sich einmal im Kreis, während sein Mantel den dunklen Schlamm in sich aufsog. „Das hatte ich nicht erwartet,“ meldete sich schließlich der Hexer zu Wort und betrachtete die untergehende Sonne im Westen. Betrachtete ihre letzten blutroten Strahlen, die sich von der Welt verabschiedeten. „Tut mir Leid Atheris. Mir scheint, ich habe uns in die Irre geführt. Zu einem aussichtslosen Unterfangen. Wir kommen zu spät. Was auch immer die Dorfbewohner geholt hat, es ist über sie einhergefahren wie der Deibel. Sie sind geflohen oder tot. Sei es das Eine oder das Andere – sie sind nicht mehr da. Und jemand der nicht da ist, der kann uns nicht bezahlen. Verzeih den langen Weg und verzeih die Umstände,“ Gabhan kniete sich nieder, als er etwas im Schlamm entdeckte und hob es auf. Das, was er da aus dem Schlamm zog trug ein rotes Kleidchen über kleinen Ärmelchen und Haare aus Kordelfäden. Hornknöpfe bildeten Augen, ein knapper Strich einen Mund. Das einst hübsche rote Kleidchen war nass und braun geworden. Gabhan betrachtete das Püpplein, während der Regen heftiger wurde. „Wir sollten uns in eines der Häuser für die Nacht zurückziehen und morgen brechen wir wieder auf. Suchen uns eine andere Beschäftigung.“
„Musst dich dafür nicht entschuldigen, Gabhan. Sowas kann niemand ahnen. Schau das große Haus dort hinten, das sieht doch noch brauchbar aus!“ antwortete Atheris.
Wenig später hatten sie es sich im Haus gemütlich gemacht. Es war groß genug um sogar Ker’zaer einen warmen Unterschlupf zu bieten. Trockenes Holz fanden sie auch noch und so hatten sie es zum ersten Mal seit Tagen etwas gemütlich. Nachdem sie aus ihrem Proviant eine leckere Suppe zubereitet hatten, setzten die beiden Hexer ans Feuer. „Was wohl den Bewohnern zugestoßen ist, Gabhan?“ begann Atheris und blickte auf die Puppe, die Gabhan achtlos – oder vielleicht auch nicht – in die Nähe des Feuers gelegt hatte.

„Es ist egal Atheris,“ erwiderte der angesprochene und schüttelte den Kopf. „Sie sind tot – zumindest die meisten von ihnen. Ich glaube nicht, dass alle von ihnen gestorben sind. Oder zumindest habe ich noch Hoffnung und Hoffnung ist alles was sie gebrauchen können… Was sie gebrauchen konnten. Aber es ist gleich. Völlig gleich…“ er ließ die Schultern sinken. „Was ändert es noch?“ hakte er leise nach und stand auf, trat zu dem großen Fenster und stieß es auf, ließ sich den Sturm für einen kurzen Moment um die Nase wehen. Es tat gut. Die kalte Luft half beim Nachdenken. Er atmete tief ein und aus, warf einen Blick nach hinten zu dem Hexer, der am Feuer saß. „Oh bitte nicht,“ er fuhr sich durch den Bart. „Atheris bitte sag mir nicht, dass du all dem hier nachgehen willst.“

Atheris blickte von der Puppe in seiner Hand auf zu Gabhan, der zum Fenster gegangen war. Er wusste selber nicht, warum er die Puppe überhaupt vom Boden aufgehoben hatte. Jetzt wo ihn sein Gefährte aber darauf ansprach, musste er zugeben, dass er daran gedacht hatte. „Wir sind den ganzen weiten Weg hierhergekommen, was schadet es uns ein bis zwei Tage hier zu bleiben um den Ereignissen auf den Grund zu gehen?“ Atheris machte eine Pause und starrte die Puppe an, dann fuhr er fort, „Wenn auch nur einer der Bewohner noch am Leben ist … wenn nur einer von ihnen verzweifelt auf Hilfe hofft … Hoffnung Gabhan, es geht mir um die Hoffnung! Ich kann den Gedanken nicht ertragen, hier im Nirgendwo jemanden im Stich zu lassen … vielleicht ist es ein Kind, vielleicht auch ein Greis – egal! Es ist es Wert ein wenig Zeit zu investieren! Und Gabhan, ich bin bereit dafür zu zahlen!“ bei den letzten Worten hob er den Blick erneut zum Bärenhexer.

Hoffnung. Solch ein großes Wort. Hoffnung. Es kam ihm so einfach über die Lippen. Hoffnung. So hatte sie es immer genannt. „Ein Feuer in der Finsternis…“ flüsterte er leise, so leise, dass Atheris es über den Sturm kaum verstehen konnte. Sie hätte ebenfalls gewollt, dass sie die Kinder hier retteten oder es zumindest versuchten. Hoffnung spenden. Sie hätte gewollt, dass er es tut. Mein treuer Ritter. Ihr Ritter. Hexer. Er war ein Hexer.

„250 Oren,“ hob er schließlich die Stimme. „Du willst, dass ich helfe? Dann zahlst du den Preis!“ er war ein Hexer. Er brauchte seinen Preis. Er war nicht mehr ihr Ritter. Sie war fort. Weit, weit fort. „Wir bleiben den Abend hier. Draußen ist es verdamm mich dunkel und nass. Wir finden heute Abend nicht mehr als wir morgen früh finden werden. Wir sollten etwas essen und uns aufwärmen. Morgen früh finden wir dann raus was hier geschehen ist.“

„Abgemacht, Gabhan!“ antwortete Atheris und legte die Puppe bei Seite. 250 Oren war eine stattliche Summe, aber es ging Atheris nicht ums Geld – dass hatte es nie. Es ging darum den Unterschied auszumachen, etwas zu bewirken was zählte! Er hätte sich schon vor Jahren in sein kleines Häuschen in Toussaint zurückziehen können, um dort von seiner Pension, die er als ehemaliger Offizier der kaiserlichen Armee erhielt leben können, aber das war es nicht was er wollte … das war nicht das Ziel seines Lebens! Wenn eines Tages der Sensenmann an seiner Türklopfen sollte, wollte Atheris die ihm gegebene Zeit genutzt haben, er würde mit erhobenen Haupt diese Welt verlassen. Atheris zog sich seine Decke enger um die Schultern und lächelte den Zunftbruder an. „Setzt dich wieder ans Feuer, Gabhan! Du siehst aus, als ob du einen Geist gesehen hast!“
„Nein, kein Geist,“ erwiderte Gabhan und schüttelte den Kopf. „Nur ein Echo. Mehr nicht Atheris, nichts worüber du dir Gedanken machen musst. Nichts was diese Mission gefährden wird…“ er schluckte die Bitterkeit seiner eigenen Worte hinunter und wandte sich um, nachdem er die Läden wieder geschlossen hatte. Die Kälte draußen konnte er wenigstens aussperren. Wenigstens diese. Er ging langsam auf Atheris zu, ließ sich neben ihm auf den Boden sinken und warf einen Blick hinüber in das Feuer. In die Flammen. „Wir werden dein verdammtes Dorf retten. Ganz den ritterlichen Tugenden gleich denen du so anhängst. Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich dir wenn all das vorbei ist sagen werde ‚Ich hab’s dir ja gesagt‘, nur damit wir uns verstehen.“

„Und dennoch hoffe ich, dass du Unrecht hast, Gabhan!“ erwiderte Atheris und starrte wieder in das Feuer.

Gegenwart – Nacht

Der Mond hatte seinen Zenit überschritten und der Regen hatte endlich aufgehört gegen das Dach zu prasseln. Atheris wachte auf, die Natur rief ihn – nein, nicht, dass er etwas gehört hatte, dass ihn aufschrecken lies – nein, es war viel trivialer, er musste Austreten. Er schälte sich aus seinen warmen Decken, schnappte sich seine Silberklinge und schlich sich zur Tür – Es war Meister Valerians oberstes Gebot, dass ein Greifenhexer nie unbewaffnet umherziehen durfte, und diese Regel hatte ihn mehr als einmal das Leben gerettet. Gabhan schnaubte einmal kurz auf, als Atheris eine Holzdiele erwischte, die unter seinem Gewicht furchtbar knarzte. Nachdem sich sein Zunftbruder jedoch ohne Aufzuwachen zur Seite gedreht hatte, öffnete er die Tür und schlüpfte nach draußen. Die frische Luft war eine wohltuende Abwechslung zur rauchigen Luft im Inneren des Hauses und jetzt wo auch der Wind aufgehört hatte zu wehen, waren auch die herbstlichen Temperaturen ganz angenehm. Er ging über die kleine Holzveranda zur Hausecke, wo ein noch kleiner Haselnussbaum wuchs, öffnete seinen Schamlatz und lies der Natur seinen freien Lauf.

Als er fertig war und sich gerade daran machen wollte wieder ins Bett zu gehen, fing sein Medaillon an leicht zu vibrieren – Magie!? Atheris schaute sich mit seinen scharfen Augen um, die Dunkelheit machte ihm wenig aus, er sah gut – aber auch nichts. Seine empfindlichen Ohren – hörten nichts! Atheris schreckte auf … nichts? Wo waren die ganzen Geräusche der nachtaktiven Waldtiere geblieben, die er noch beim Verlassen des Gebäudes gehört hatte. Bodennebel breitete sich vom Waldrand her in die Gassen des kleinen Dörfchens aus – unheimlich, wenn auch nicht zwingend ungewöhnlich. Dennoch glitt die Hand des Hexers zu seiner Silberklinge und zog sie leise aus der Schwertscheide. Das ziehen des Medaillons wurde stärker – er konnte den Ursprung nicht ausmachen. Er ging langsam drei Schritte rückwärts bis zum Fensterladen, öffnete ihn leise … bückte sich nach einer Haselnuss, die zu seinen Füßen auf der Veranda lag und warf sie auf Gabhan – sie traf ihn leicht am Kopf.

Nass

Der Boden war durchnässt. Durchnässt waren die teuren Vorhänge, deren einst so samtenes rot sich vollgesogen hatte und die nun wie blutige Stränge schwer von den sich biegenden Gardinenstangen hingen.

Gabhan irrte durch die langen Korridore. Diese unendlich langen Korridore. Er kannte sie. Kannte sie schon immer. Aber nie waren sie so lang gewesen. Nie so weit. Nie. Seine kleinen Füße rutschten immer wieder beinahe auf dem nassen Marmor aus, dessen Oberfläche glatter als jeder Spiegel geworden war. Er hörte Rufe. „Flieh“ riefen die Stimmen. „Flieh kleiner Page, flieh. Dreh dich nicht um, niemals. Niemals!“

Gabhan rannte. Er floh, floh weiter und weiter, doch der Gang wollte nicht enden. Niemals. Niemals. Nie. Da waren Ritter blau und weiß, der Drache auf der Brust. Doch sie standen nicht. Hatten immer dort gestanden. Doch sie standen nicht. Sie lagen. Hier. Und dort lagen sie auch. Und dort ebenfalls. Einer von ihnen lag an zwei Orten zu gleich. Wie konnte jemand an zwei Orten zu gleich liegen? Da war Blut. Gabhan stürzte. Blut. Überall Blut. Es läuft ihm über die Hände, übers Gesicht. Es fließt in die Rillen im Marmor. Wie Blut das durch Venen fließt. Es fließt, fließt hinab, den Gang hinab, dort wo er herkam. Dort wo das Blut seinen Ursprung hatte. Das Blutbad. Der Tod. Tod. Tod überall, Gabhan versucht aufzustehen, aber es gelingt ihm nicht. Er hört Schritte. Schritte hinter ihm. Hinter ihm? Über ihm. Eine starke Hand die ihn hochzieht ihn aufrichtet. Augen. Diese Augen. Diese furchtbaren, alten Augen. Kalt. Kalt wie der Tod. Ohne Mitgefühl. Ohne Reue. Abschätzig. Taktierend. Starke Hände halten ihn. Halten ihn fest. Und er kann sich vor Angst nicht bewegen. Hängt da, wie ein Lumpenmännchen, während der Mann mit der langen Robe ihn hochhält. Ihn ansieht. Flieh rufen die Stimmen. Flieh kleiner Page, flieh.

Er lässt los. Gabhan wird losgelassen. Gabhan fällt. Der Boden tut sich auf und er fällt. Tief fällt er und schnell. Ungeheuer schnell. Flieh kleiner Page, flieh. Dreh dich nicht um niemals. Du darfst dich niemals umdrehen. Denn wenn du dich umdrehst, dann wird er da sein. Er mit den bösen Augen. Den kalten Augen. Flieh kleiner Page, flieh. Soweit du kannst.

Tiefe Nacht

Die Haselnuss flog einen weiten Bogen. Flog über das Stück Stoff, dass die einstigen Besitzer des Hauses zurückgelassen und in ihrer Rückständigkeit als ‚Teppich‘ bezeichnet hatten. Flog über die Risse im Boden, in denen Holzwürmer lebten und ihrem Tagwerk nachgingen und dann, in einem eleganten Bogen, traf es den Kopf des Bärenhexers. Dieser schlug, wie auf ein geheimes Signal die Augen auf, schoss nach oben und hatte bereits eine Klinge aus dem Stiefel gezogen, die halbe Drehung vollführt und beinahe – beinahe – die Klinge losgelassen. Doch er ließ sie nicht los. Er hing an Atheris Leben und am eigenen, wenn die Greifen von solch einem Missgeschick erführen. Er nahm einen tiefen Atemzug, während er die Situation in sich aufnahm. Dann, sehr leise und sehr ruhig, sagte er: „Atheris. Beweg deinen Arsch hier rein du Hundsfott. Langsam und ruhig. Keine hektischen Bewegungen. Und mach kein Geräusch. Nicht das geringste. Wage nicht einmal zu atmen. Komm durch die Tür. Langsam. Bei allen Göttern, langsam sage ich. Dann schließen wir alle Fenster. Jetzt!“

Atheris vernahm was ihm der Zunftbruder gesagt hatte und begann sich rückwärts der Tür zu nähern. Der Nebel wurde schnell dichter … das Medaillon riss förmlich an der Kette um seinen Hals. Gabhan schien zu ahnen, was hier los war – er selber wusste es nicht! Leise schloss er die Tür von innen. Der Bärenhexer war bereits auf der anderen Seite des Raumes und stand am gegenüberliegenden Fenster, die scharfe Klinge gezogen. Atheris nahm die Position an dem Fenster neben der Tür ein und schaute durch die kleinen Ritzen nach draußen. Inzwischen war der Nebel so dicht, dass man die anderen Häuser nicht mehr sehen konnte. Unheimlich … so fühlte es sich an! Der geisterhafte Nebel suchte sich seinen Weg durch die Spalten und trat in kleinen Wölkchen zu den Hexern ins Innere. Atheris blickte zu Ker’zaer der unruhig wurde aber still hielt – zum Glück war das treue Tier in der Hohen Schule der Reitkunst in Toussaint ausgebildet worden, denn er blieb auch in diesen Stresssituationen außergewöhnlich ruhig. Dann … auf einmal war da was … Atheris hatte es für einen Moment im dicken Nebel gesehen! Da draußen war jemand! Das Adrenalin schoss in seine Adern. Ruhe. Nichts. Auf einmal bewegte sich der Riegel der Tür, langsam schob er sich zur Seite. Atheris machte drei kleine vorsichtige Schritte zur Tür und hob die silberne Klinge über den Kopf. Gabhan hatte es auch gesehen und beobachtete aufmerksam die Tür. Der Riegel öffnete sich und langsam schob sich etwas durch die Tür. Atheris spürte, wie sich seine Muskeln anspannten und zum Angriff bereitmachten, noch einen Schritt und dann … blickte ein kleines ängstliches Gesicht in seine Augen!

Ein Kind. Gabhan hätte Fluchen können. Kinder machten immer alles komplizierter. Aber ihm blieb keine Zeit darüber nachzudenken. Keine Zeit um zu Fluchen. Keine Zeit. Der Bärenhexer machte einen schnellen geräuschlosen Schritt nach vorne, übersprang dabei jenes knarzende Brett, welches Atheris bei seinem Gang nach draußen aus seinem hölzernen Schlaf erweckt hatte und zog den kleinen Menschen am Kragen hinein, presste ihn an eine Wand und hielt ihm mit der Hand den Mund zu. Er spürte den Widerwillen des Kindes, doch er konnte jetzt keine Rücksicht darauf nehmen. Auch das was da draußen wartete würde keine Rücksicht auf sie nehmen.

Gabhan sah wie Atheris den Mund öffnete, wie er protestieren wollte. Doch in Gabhans Augen lag ein Ausdruck, der dem anderen unmissverständlich klarmachen sollte, dass er es nun nicht wagen sollte einen Zank vom Zaun zu brechen. Noch immer hielt Gabhan das Kind fest, schloss die Tür so leise er es vermochte. Seine Augen wanderten fieberhaft in dem Raum umher, der einst so viel Leben beinhaltet haben musste, so viele Geschichten und schöne Momente, nun aber kalt und leer war. Gabhan formte mit dem Mund das Wort Nägel und hoffte, dass Atheris verstand. Einer alten Sage nach sollte man den Teufel des Waldes, Ihn der aus dem Wald kam, mit eisernen Nägeln vom eigenen Hause abhalten können, wenn man diese über die Pforte in den Türrahmen schlug. Er wusste nicht ob es stimmte, war diesen Wesenheiten bisher nur mit dem Silberschwert entgegengetreten, aber er hatte keine Rüstung. Keine Tränke und vor allem Dingen hatten sie keinen Plan. Es war ihre einzige Chance den heutigen Abend zu überleben um zu planen. Zu erforschen. Wenn dies nicht gelang? Dann lag ihr Leben in den Händen der Götter. Und an die glaubte Gabhan ebenso wenig wie an eine Chance hier raus zu kommen.

Atheris wollte fluchen, aber der Blick Gabhans erinnerte ihn daran, dass es nicht der Zeitpunkt war. Verdammt, was machte das Kind alleine da draußen? … Egal, sie waren in Schwierigkeiten. Vielleicht auch in großen Schwierigkeiten. Dann sah er wie Gabhan etwas sagte … meinte er Nägel – ja Nägel, ganz sicher. Aber warum? Atheris ließ seinen Blick durch den Raum schweifen bis er das knarzende Brett erblickte. Leise schlich er zu der Stelle – lose. Es knarzte weil die Nägel nicht mehr fest im Brett waren. Schnell zog er sein Messer aus dem Beinholster und hebelte drei dicke eiserne Nägel aus dem Brett. Es ging schnell und fast lautlos. Zufrieden blickte er zurück zu Gabhan und dem Mädchen. Letztere schien sich etwas beruhigt zu haben, zumindest hielt sie still. Der Bärenhexer zeigte mit dem Schwert auf den dicken Balken oberhalb der Tür. Vorsichtig durchquerte Atheris erneut den Raum und blieb an der Tür stehen. Er nahm den ersten Nagel und rammte ihn so hart er konnte gegen den Balken … dann nochmal … und ein drittes Mal. Die Nägel steckten mit der Spitze fest … aber das Reichte vermutlich nicht. Langsam verstand er auch, was er da machte. Er kannte ein Märchen, in dem ein böser Waldgeist durch eiserne Nägel vor dem Betreten des Hauses gehindert werden konnte – aus der Sicht und mit den Erfahrungen eines Hexers hätte Atheris gesagt, dass es Humbug ist – aber Gabhan schien es ernst zu meinen und nun ja, er schien mehr zu ahnen als er. Der Greifenhexer holte das nun lose Brett, hielt es quer über die Nägel und mit drei Schlägen rammte der Hexer die Nägel bis zu Hälfte ins alte Holz der Hütte. Ruhe.

Es begann mit einem komisch kratzenden Geräusch – leise war es, aber für ein Hexerohr gut zu hören. Dann nochmal, auf der anderen Seite des Hauses – diesmal lauter. Von allen Seiten kam das Geräusch und es wurde noch lauter. Ein Poltern – da war etwas Schweres auf die Veranda gestiegen. Schritte. Schwere langsame Schritte. Die Tür! Atheris hob sein Schwert und blickte angespannt zur Tür. Das Mondlicht warf einen Schatten von dem Etwas, das da auf der anderen Seite stand durch die Tür Ritze.
Gabhan hatte Atheris beobachtet, während er selbst seine Atmung so flach wie möglich angesetzt hatte. Das Kind hatte noch ein wenig gezappelt und beinahe hätte Gabhan es geschüttelt, als ihm auffiel, dass er es ein wenig zu gut gemeint hatte, als er dem Kind die Hand auf Mund und Nase gepresst hatte. Er lockerte die Hand ein wenig, was das mittlerweile hochrote Kind mit einem leisen japsen kommentierte. Doch es schien wenigstens zu verstehen – oder wenigstens zu ahnen – dass es nun galt still wie eine Maus zu sein.

Der Schatten kroch langsam durch die Ritze der Tür, schien zu flackern, sich zu verändern, die Formen von Menschen und Tieren anzunehmen. Ein Brüllen. Ein ohrenbetäubendes Brüllen. Der Waldteufel, der Lesovoi war wütend. Dann krachte es erneut und Gabhans Blick huschte zu den Fenstern, deren Läden nun heftig gegen die Mauern schlugen. Die Fenster. Der verdammte Nilfgaarder hatte die Fenster vergessen. Gabhan fluchte, stieß das Mädchen von sich, in Atheris Richtung und zwang diesen damit das Kind aufzufangen. „Vernagle die Fenster!“ brüllte er, dann rannte er zu einem der eben erwähnten Öffnungen und schwang sich selbst hinaus.
Er landete im Schlamm. Der Boden war weich und er sank tief. Seine große graue Hose, die er bequemerweise angezogen hatte. Seine lange, blaue Tunika. Keine Rüstung. Kein Leder. Keine Kette. Keine Tränke. Nur er, das Monster und das Silber. Zeit. Atheris brauchte nur Zeit. Gabhan erhob sich, ließ sein Schwert kreisen. Er hörte den Wolf heulen. Atheris sollte sich lieber beeilen.

Atheris fing das Mädchen auf und musste tatenlos zuschauen, wie Gabhan nur mit der Silberklinge bewaffnet durch das Fenster sprang. Die Fenster! Die Kindergeschichte ging nie so weit, dass man auch einen Nagel über den Fenstern einschlagen musste, aber klar … wenn es denn funktioniert, musste man alle Eingänge mit Eisen absichern. Atheris setzte das verängstigte Kind auf seine Schlafstätte und warf ihm die Decke über dem Kopf … natürlich war das kein Schutz, aber es konnte dem Kind etwas die Angst nehmen! Schnell trat er zu der Stelle, an der er bereits das erste Brett aus dem Boden gezogen hatte, überlegte kurz und formte dann das Zeichen Aard. Mit einem Zeichen der linken Hand entfachte er aus kurzer Distanz die Druckwelle, die stark genug war um das Brett zu zerstören. aus den Resten konnte er die zwei benötigten Eisennägel ohne größere Probleme mit dem Dolch lösen. Er sprang auf und beeilte sich zum ersten Fenster zu kommen und schlug mir aller Kraft den Nagel in den Fensterrahmen – er hielt. Dann rannte er zum zweiten Fenster, durch das Gabhan hinaus gesprungen war … und sah ihn nicht. Wo war er nur? Der Nagel! Schoss es ihm wieder in den Kopf und erneut rammte er das kleine spitze Ding in das Holz. Nach dem er fertig war, schaute er noch einmal zum Fenster hinaus … wo war er nur?

Nebel. Eisige Finger die an seinen Waden emporkrochen. Humusgeruch. Nasses Fell. Gabhan sah nichts mehr außer dem alles umfassenden Nebel. Eine weiße Wand, geformt aus Boshaftigkeit. Er sah nichts mehr. Konnte nichts mehr sehen. Also tat er das Einzige was vernünftig war. Er schloss die Augen. Er musste nichts sehen.
Kälte umschloss ihn. Der Nebel umschmeichelte seine Haut wie die feuchte Hand eines Toten. Der Hexer kontrollierte seine Atmung. Spannte die Muskeln an. Lauschte. Ein schneller Hieb, eine Halbpirouette. Er spürte wie das Schwert auf Fleisch traf, wusste was er aufgeschlitzt hatte, noch ehe er das erbärmliche Wolfsgeheul hörte. Er atmete tief ein und aus. Ein Rudel. Es war immer ein Rudel. Eine erneute Ahnung, ein Zittern des Medaillons. Schon wieder eine Halbdrehung, Schritt zur Seite, Schwert nach oben. Muskeln rissen, Fleisch platzte auf, Blut spritzte. Zwei Angreifer ohne den geringsten Kratzer. Mehr Glück denn können. Es konnte kein drittes Mal gelingen. Es gelang ein drittes Mal und Unruhe griff nach Gabhans Herz.

Er wusste, dass es kommen würde, noch bevor er es spürte. Er brauchte kein Hexermedallion, keine Zauberei und keine Mutationen um es zu wissen. Es war die Erfahrung des Kriegers, der viele Kämpfe geschlagen und viele Wunden erlitten hatte. Und es traf. Die Wucht riss ihn von den Füßen. Schleuderte ihn beinahe drei Meter in die Luft. So schnell und so heftig, dass er sein Silberschwert verlor. Der schlammige Morast bremste einen Aufprall. Aber nicht sehr. Gabhan schmeckte Blut und bittere Galle. Da war ein weiterer Wolf. Zähne. Fell. Klauen. Antherion? Nein Gabhan, nein. Wölfe. Stinknormale Wölfe. Wie erbärmlich. Sie waren da. Überall. Bissen zu. In Waden, Arme. Den Hals beschützen. Immer den Hals beschützen. Schlamm. Überall Schlamm. Etwas Festes, er brauchte etwas Festes. Da. Er spürte es. Holz. Ein schwerer Griff. Gabhan packte danach, schwang es durch die Luft. Die Axt begrüßte gierig den Schädel des Wolfes. Ein zweiter Hieb. Und ein dritter. Immer mehr Hiebe. Stinkendes Fell. Blut, dass ihm in die Augen lief. Gabhan rollte den Wolf von sich hinunter, stand auf so schnell er es konnte. Alles schmerzte. Es war noch da draußen. Kein Silber. Keine Rüstung. Keine Tränke. Keine Kraft. Gabhan drehte sich um sich selbst. Wo war Atheris? Verflucht. Wo war überhaupt irgendwas? Weißer Nebel. Brauner Schlamm. Alles schien sich gegen ihn verschworen zu haben und ihm die Sicht zu nehmen. Und dann sah er es. Ein kleiner Schein Feuer, der durch einen halb offenen Fensterladen fiel. Atheris! Gabhan rannte los, konnte nur hoffen, dass er dem anderen genug Zeit verschafft hatte. Wenn er das Monster zum Haus lockte und sie es nicht vorbereitet hatten. Nein. Er durfte nicht daran denken.
Atheris blickte in den dichten Nebel, es war ruhig, zu ruhig … keine Spur von Gabhan! Aber die Gefahr war da, er konnte sie förmlich spüren und das Medaillon um seinen Hals verriet ihm, dass er sich nicht irrte. Dann hörte er was – platschende Geräusche im aufgeweichten Boden – das gurgeln eines sterbenden Tieres – dann war wieder Ruhe. Wo steckte nur Gabhan? Atheris wollte hinausstürmen und ihm zu Hilfe eilen, aber das ging nicht, er konnte das Kind nicht alleine … ungeschützt lassen. Ein dumpfes Geräusch gefolgt – etwas Schweres fiel in den Schlamm – fletschende Zähne – Wölfe! Dumpfe hiebe und das scherzhafte Jaulen von mindestens einem Tier – dann wieder Ruhe. „Atheris!“ drang es an sein Ohr und dann sah er ihn! Sein Zunftbruder rannte mit einer kleinen blutigen Axt auf ihn zu, aber da war noch etwas, ein großer Schatten war ihm auf den Fersen … es holte auf … es würde nicht reichen! Er formte mit seiner Hand das Igni-Zeichen, sammelte Energie – „Gabhan, runter!“ und Atheris entfachte aus seiner Handfläche einen Feuersturm unter dem der Bärenhexer im letzten Moment durchtauchte. Es war dem Greifenhexer klar, dass sein Zeichen den Gegner, was immer es auch war nicht aufhalten würde, dafür war er in der Magie zu schwach und die Entfernung zu groß – aber er konnte Zeit gewinnen, Zeit für seinen Zunftbruder das Fenster zu erreichen.

Gabhan sah den Feuerball auf sich zukommen, warf sich zu Boden und schlitterte über den morastigen Boden, dieses eine Mal froh darum, dass der Boden derart schlammig war. Ebenso froh war er darum, dass seine Kleidung feucht und seine Haare durchnässt waren. Nachdem sein Körper am heutigen Tag bereits unangenehme Bekanntschaft mit Ästen, Reißzähnen und anderen spitzen Gegenständen zweifelhafterer Natur gemacht hatte, konnte er darauf verzichten nun auch noch wie ein Stréimännchen in Brand gesteckt zu werden.

Kräftig erhob sich Gabhan wieder, ignorierte den Schlamm der in alles eingesogen war. In Kleidung, Ritzen, Haare, Schuhe. Das waren andere Probleme für einen anderen morgen, wenn er denn noch einen erleben würde. Dann war er da – er sprang und flog wie eine Schwalbe durchs Fenster. Eine sehr ungelenke, besudelte und viel zu schwere Schwalbe. Wie er aufkam, würde Atheris in Zukunft nur mit einem anderen Vogel beschreiben: Einer Blei-Ente.

„Schließ die Fenster!“ brüllte Gabhan, Blut spuckend, nachdem er sich auf die Zunge gebissen hatte. Atheris tat wie geheißen und dann… herrschte stille. Gabhans Muskeln waren angespannt. Er spuckte eine Mischung aus Blut und Schlamm aus, angespannt wie eine Feder und doch geschah nichts. „Ich will verdammt sein…“ flüsterte der Bärenhexer. „Der Scheiß funktioniert…“

Ruhe … nach Gabhans unsanfter Landung im Inneren des Hauses und dem Schließen der Fensterläden herrschte wieder eine unheimliche Ruhe. Atheris fühlte wie sein Medaillon noch vibrierte – der Waldgeist oder was auch immer da draußen sein Unwesen trieb, war noch da … aber es passierte nichts. Lange saßen die beiden Hexer jeweils unter einem der Fenster und wachten, während das kleine Mädchen Seelig zwischen den Decken schlief. Atheris wollte sich nicht mal vorstellen, was sie die letzten Tage durchgemacht haben musste – aber jetzt schlief sie fest und er hoffte, dass sie nichts von dem Horror mit in ihre Träume genommen hatte.

Als die Herbstsonne über dem Horizont aufging und die warmen Strahlen der Sonne den dichten Nebel vertrieben, hörte auch endlich das Medaillon auf zu vibrieren. Atheris blickte zu Gabhan und sah in den müden Augen des Hexers, dass er ebenfalls gemerkt hatte, dass die Gefahr für den Moment gebannt zu sein schien. Gerade als sich die beiden entschlossen auch die Augen für eine kurze Weile zu schließen, erwachte die Kleine und lächelte die Hexer an.

Guinevere

Gabhan wandte den Kopf, als er das Geräusch vernahm. Ein leises Geräusch. Das Geräusch eines erwachenden Kindes. Ein Geräusch, dass Gabhan mehr als alles andere auf der Welt schmerzte. Er zuckte beinahe zusammen, konnte sich nur mit Mühe zusammenreißen.

„Sie ist wach…“ sprach Gabhan das Offensichtliche aus und warf Atheris einen Blick aus von dunklen Ringen gezeichneten Augen zu. Alles schmerzte ihm. Der Waldschrat war vertrieben aber Gabhan hätte sich lieber einem weiteren Kampf mit dem Ungetüm gestellt, als sich nun um ein Kind zu kümmern. Er konnte den Anblick von Kindern nicht ertragen. Nicht mehr seit…

Er riss seine Gedanken los, als die helle Stimme des Mädchens sich beinahe überschlug, als es zu ihm sah. „Guinevere!“ Gabhan hob die Augenbrauen. Nein. Das war nicht sein Name. Erneut vernahm er den Namen ‚Guinevere‘ da stand das Mädchen auf und tapste auf ihn zu, deutete in Gabhans Richtig und wiederholte erneut. Da verstand er, schob das Bein bei Seite und gab die kleine Puppe frei, die dort unter seinem Knie gelegen hatte. Zumindest dieses Rätsel war gelöst. „Hör mal zu Rotznase,“ brummte Gabhan und hielt ihr die Puppe vor die Augen. „Du kriegst deine Guinevere. Dafür musst du aber auf uns hören. Hast du verstanden? Wenn wir was sagen, hörst du auf uns!“ und bei den Göttern, sie mussten die kleine schnellstmöglich in das nächste Dorf bekommen. „Hast du Verwandte, Rotznase? Irgendwo in der Nähe?“

Atheris sah, wie das kleine Mädchen zu Gabhan ging und ihre ‚Guinevere‘ in die kleinen, vor Schmutz starrenden, Arme schloss. Sie sprach nicht – sie weinte nicht! Atheris ging zu seiner Satteltasche und holte etwas Proviant heraus – naja trockenes Brot und Trockenfleisch – nicht unbedingt die Lieblingsspeise von Kindern. Der Greifenhexer ging zu der Kleinen rüber und gab ihr das Essen und sie nahm es gierig an sich. Dann setzte er sich neben Gabhan.

„Ein Waldschrat also, Gabhan!“ er schaute zu dem verschmutzten Bärenhexer neben sich.
Gabhan blieb eine Zeit lang ruhig und erst langsam, ganz langsam blickte er zu Atheris hinüber. Der Blick war teuflisch, ein düsteres Feuer brannte in diesen Augen, eines von jener Art, das warnte. So sehr warnte wie es ein Waldbrand vermochte, der einen so gut wie eingekreist hatte. „Dein Ernst?“ Gabhans Stimme grollte, nahm den ganzen Weg tief aus dem Brustkorb des Hexers, dann warf er dem Kind einen kurzen Blick zu, machte eine eindeutige Kopfbewegung in seine Richtung. „Nicht hier!“ er stand auf und ging, drehte sich nicht einmal in Richtung Atheris um. Er würde folgen, da war Gabhan sich sicher. Aber er würde nicht vor einem Kind über die Grausamkeiten des Leshen oder den Verbleib der übrigen Bewohner diskutieren.

Atheris blickte zu dem Kind – es schaute ihm direkt in die Augen – schien keine Furcht vor ihm zu haben – biss gierig noch ein Stück vom Brot ab. Der Greifenhexer folgte Gabhan raus auf den Dorfplatz. Er hatte sich bereits zum Brunnen begeben und fing gerade an, sich mit dem kühlen Wasser das Gesicht von Blut und Schlamm zu säubern, als Atheris eine Lichtreflektion am Boden sah. Er ging hinüber und fand die Klinge von Gabhan. Er beugte sich runter und hob die Waffe auf – es gab kaum Spuren im Schlamm … zu feucht. Dennoch konnte er tiefe Abdrücke erkennen groß und schwer musste das Wesen gewesen sein, dass hier mit Gabhan gekämpft hatte. Atheris wandte sich ab und ging hinüber zum Bärenhexer und reichte ihm sein Schwert. „Also Gabhan, was ist mit den Leshen? Ich kenne nur die Märchen über die Waldgeister!“
Gabhan griff nach dem Schwert, welches Atheris ihm reichte, während das Wasser aus seinem Bart lief und in langen Tropfen auf den Boden fiel. „Danke Atheris. Ich hatte schon fast befürchtet, dass es nicht mehr aufzufinden wäre…“ er nahm noch einen Schluck aus dem Brunnen, dessen Wasser rein und klar war und sehr gut schmeckte. Er reichte den Eimer an Atheris weiter.

„Ich nehme an, dass es ein Leshen ist. Auch Borovoi genannt. Gayevoil, Lesno Duk – er hat viele Namen je nachdem wen man Fragt. Der Herr des Waldes…“ er blickte sich in der kleinen Siedlung um. „Die meisten Geschichten sind wahr – auch, dass er nicht zu töten ist, solange sein Herz noch im Wald existiert. In alter Zeit haben die Leshen durchaus auch wohlwollend auf Menschen reagiert, die ihnen Respekt entgegengebracht haben. Was mich aber wirklich verwundert ist, wie dieser Leshen reagiert. Ja, es verschwinden Menschen im Wald. Reisende die den Weg verlieren – die Geschichten sind ebenso alt wie bekannt. Aber er kam ins Dorf. Hat die Grenze überschritten. Irgendwas muss ihn so sehr gereizt haben, dass er offensichtlich vergessen hat an welche Regeln er sich zu halten hat. Regeln die uns auch gerettet haben – zu meiner Überraschung. Schau nicht so. Nein, ich wusste nicht ob es funktioniert. Hatte nur Märchen gehört, aber es gibt ja immer ein Funken Wahrheit und einen besseren Plan hatte ich nicht.“

Atheris hörte sich an, was Gabhan erzählte und blickte zurück zu den tiefen Spuren im Schlamm und dann wieder zu seinem Zunftbruder. „Dann sollten wir hier im Dorf mit unserer Suche beginnen!“ dachte Atheris laut – „und wir sollten unsere Vorbereitungen treffen! Geben die Märchen noch weitere Hinweise, was wir machen können, außer rostige Nägel in die Wände zu schlagen?“

Gabhan hielt in der Bewegung inne und starrte sein Spiegelbild in dem Wassereimer an, welches ihm grimmig und nass entgegenblickte. „Schauermärchen vor allen Dingen. Es heißt er führt Bauern in die Irre, versteckt die Äxte von Holzfällern oder kitzelt Kinder zu Tode. Was schaust du so? Gibt wohl kaum eine bessere Möglichkeit Rotznasen davor zu bewahren zu tief in einen Wald zu rennen, der auch ohne Monster genug Gefahren bereithält. In einigen Geschichten heißt es, dass man ein Gebet sprechen sollte. Nutzlose Zudichtungen der Kirchen, ohne jeden Zweifel. Andere Legenden sagen man kann seine Pläne durchkreuzen, wenn man alle Kleider auf Links und seine Schuhe an den verkehrten Fuß anzieht. Wirkt auf mich auch nicht vielversprechend. Du hast noch nicht genug? Nun, dann kannst du gerne versuchen ihn zu vertreiben indem du das Lied ‚Schafskrug, Schafswolle‘ singst. Kennst du nicht? Ich auch nicht, also werden wir das wohl leider nicht ausprobieren können…“ er spuckte aus. „Eine Methode kenne ich. Die ist bestimmt narrensicher – man fackelt seinen ganzen Wald ab. Aber wenn das nicht richtig funktioniert. Wenn er den Wald löschen kann ehe wir hundert Meilen fort und über alle Berge sind, haben wir ein gewaltiges Problem…“ er zuckte mit den Schultern. „So wie ich das sehe, bleibt uns nur eine Methode. Eine gute. Eine ehrliche. Die Methode des Hexers. Wir werden die Gegend auskundschaften müssen. Seine Totems finden und sie zerstören. Wir brauchen Relikt Öl, wenn wir ihn bekämpfen wollen und am besten noch Lampen Öl. Für den Fall der Fälle. Du verstehst?“
„Ja!“ war die knappe Antwort die Atheris über die Lippen brachte.

Die Suche

Nach einem spärlichen Frühstück, versuchten die beiden Hexer mehr über das Schicksal des Dorfes von dem Mädchen zu erfahren – erfolglos. Atheris vermutete, dass es noch unter Schock stand und zudem den unbekannten Männern nicht vertraute – zumindest noch nicht. Somit blieb ihnen nichts weiter übrig, als sich selber ein Bild über die Ereignisse zu machen und gleichzeitig mit den Vorbereitungen für die Jagd nach dem Leshen zu beginnen.

Gabhan holte aus seiner Reisetasche ein altes, vergilbtes Buch hervor und drückte es Atheris in die Hand. „Während du dich um das Klingenöl kümmerst, schaue ich mich im Dorf um – vielleicht finde ich einen Hinweis, was den Waldschrat so erzürnt hat!“ knurrte er und schloss die Tür von außen. Atheris schaute zu dem Kind, dass ihn mit großen Augen anstarrte, während es sich noch ein Stück von dem trockenen Brot in den Mund stopfte, dann wendete er seine Aufmerksamkeit dem alten Buch in seinen Händen zu. Im Vergleich zu vielen Lehrbüchern die Valerian in der Bibliothek in Kaer Iwhaell für den Unterricht seiner Schüler angesammelt hatte, war dies hier kein gedrucktes Buch, sondern eine Ansammlung von wild zusammengewürfelten handschriftlichen Notizen zu Klingenölen und Tränken. Immer wieder gab es Passagen, die mit zusätzlichen Informationen nachträglich verfeinert worden waren oder komplett gestrichen worden waren. Die unterschiedlichen Handschriften deuteten darauf hin, dass dieses Buch durch viele verschiedene Hände gegangen war – was Atheris aber positiv sah, persönliche Erfahrungen im Umgang mit der Jagd nach Monstern war viel Wert – vor allem, wenn man den Unterschied zwischen Theorie und Praxis betrachtete – wann hatte man denn wirklich einmal alle Ingredienzien für den perfekten Trank zur Hand. Valerian war bei seinen Aufträgen auch immer wieder auf alternative Zutaten ausgewichen, in der Hoffnung sie würden einen ähnlichen Effekt erzielen.

Bald fand er die Stelle mit der Überschrift ‚Reliktöle‘ und begann zu lesen.
Gabhan hatte sich dazu entschlossen Schwertgurt, Kettenhemd, Gambeson und Rüstteile in dem soweit gesicherten Haus zu lassen. Sie würden ihn bei der kommenden Aufgabe vermutlich nur behindern. Zudem hatten sie den Leshen gestern Abend fürs erste zurückgeschlagen. Gabhan zweifelte nicht daran, dass er wiederkommen würde. Zweifelte nicht im Geringsten. Aber hier und jetzt hatten sie wertvolle Zeit gewonnen.

Die Vorsicht des Hexers ging jedoch nicht soweit, als dass er sich vollkommen ohne Schutz aufgemacht hätte. Über der Schulter lief ein deutlich dünnerer Schwertgurt, aus dessen Ende jenes große zweihändige Schwert aus Stahl hing, dass ihm bereits im Kampf gegen Maeven gute Dienste geleistet hatte. Es war ihr letztes Geschenk gewesen.
Die Schritte führten den Hexer über den schlammigen Boden, der noch immer die Spuren des Kampfes der vergangenen Nacht verzeichnete, der jedoch sonst erstaunlich wenig zu erzählen vermochte. Nachdem sie am Abend nicht mehr dazu gekommen waren den Boden einer genaueren Untersuchung zu unterziehen hatte Gabhan insgeheim gehofft, dass ihnen hier womöglich Spuren auffallen würden. Spuren der Flucht, von Wagenrädern, Eselskarren, festen Stiefeln und nackten Füßen. Doch nichts dergleichen war zu sehen und das beunruhigte ihn. Es beunruhigte ihn sogar sehr.

Das Dorf war nicht übermäßig groß, es zählte mit seinen guten Dutzenden Häusern, einer Schmiede und einer großen Scheune zu den eher kleineren seiner Art und dennoch fielen dem Hexer einige Kleinigkeiten ins Auge. Der Großteil der Häuser war aus Holz, was nicht ungewöhnlich für diese Gegend war, jedoch wirkten sie alle erstaunlich neuwertig. Das Holz war frisch gekalkt. Zum kalken, das wusste Gabhan, benötigte man am besten Eichenholz. Ulme und Esche waren auch möglich, doch das Holz, aus dem diese Häuser waren schien eher Ulme denn Eiche zu sein. Er wunderte sich. Er wunderte sich sogar sehr.

Auf dem Weg hierher waren sie immer wieder Mischwäldern aus Esche, Fichte, Kiefer, Lärche und Eiche begegnet, doch Ulmen waren selten gewesen. Ulmen waren seit Jahren selten. Und gerade hier bauten sich die Menschen Häuser aus diesem Holz? Gabhan entschied sich das Dorf zu verlassen und schritt etwas näher in Richtung des Waldes, wenngleich er auch in weiser Voraussicht großen Abstand zum dräuenden rot und gelb hielt, welches sich düster vor dem Horizont abzeichnete. Und wahrlich, überall hier wuchsen Ulmen. Das war nicht gut. Gabhan machte noch einen Schritt nach vorne, spürte unter seinem Stiefelabsatz etwas unangenehm knirschen. Er sah hinab. Dort, unter seinen Stiefeln hatten sich viele kleine Pilze im diesigen Herbstwetter ihren Platz erkämpft und umringten einen Setzling. Gabhan war kein Botaniker, konnte einige ausgewachsene Bäume unterscheiden, hatte jedoch keine Ahnung zu was dieser Setzling werden könnte. Doch er hatte eine dumpfe Ahnung. Eine Ahnung, die sich erhärtete, als er seinen Blick genauer auf den Boden richtete und sich langsam hinab kniete, den Torf bei Seite wischte. Ihm entgegen blickte etwas, das einst ein Gesicht gewesen sein musste, ehe Wurzelwerk sich in die noch vorhandenen organischen Schichten geschlagen hatte. Langsam, ganz langsam erhob sich Gabhan und sah sich um. Hier und da waren Baumstümpfe zu sehen, dazwischen immer wieder Pilzkulturen und Setzlinge. Und dort – war das nicht eine Hand die aus dem Boden hervorragte? Dort ein Zeh? Der Hexer nickte grimmig und zog sich langsam zurück.

Die Tür zu dem kleinen Haus wurde langsam aufgeschoben und Gabhan steckte seinen Kopf hinein, musterte den Innenraum, das kleine Mädchen und den Greifenhexer. „Atheris,“ der Bärenhexer räusperte sich. „Wir müssen reden. Draußen…“ er wartete bis der andere hinaustrat, zog ihn an die Seitenwand der Hütte. „Ich weiß was hier geschehen ist,“ knurrte Gabhan leise. „Das Dorf hier ist noch nicht sehr alt. Die Menschen haben den Wald hier abgeholzt um ihr Dorf zu errichten. Haben dafür die Ulmen im nahen Wald verwendet. Ulmen sind Schutzbäume Atheris und die alten Bauern hatten recht, wenn sie einen Ulmenbaum vor ihren Bauernhof pflanzten. Waldgeister leben oft in Ulmen. Sie müssen ihn geweckt haben. Keine Ahnung ob sie seinen Baum gefällt oder nur seinen Zorn geweckt haben, indem sie all die anderen Bäume für Holz genutzt haben. Aber ich weiß was mit den Dorfbewohnern geschehen ist. Der Leshen ist der Herr des Waldes. Er forstet auf. Und die Dorfbewohner sind hervorragender Dünger…“ blieb nur eine Frage – woher kam das Mädchen und wieso hatte es überlebt?

„Hast du sonst noch eine Spur gefunden … irgendetwas, dass Hoffnung auf weitere Überlebende macht?“ Atheris blickte zum Haus in dem das Mädchen saß und fuhr dann fort „Ich möchte hier keinen zurücklassen! Wir sind im Zweifel ihre letzte Hoffnung!“ Er schwieg einen Moment und schaute Gabhan an. „Sagen die Legenden etwas, ob die Leshen Gefangene nehmen oder einen besonderen Rückzugsort haben?“ Atheris blickte erneut zum Haus – es musste einen Grund geben, warum das Mädchen überlebt hatte.
Gabhan schnaubte. Überlebende. Die Chance war unfassbar gering und selbst wer jetzt noch lebte, der war womöglich tot, wenn sie ihn endlich gefunden hätten. Das hier war ein Glücksspiel und Gabhan wusste, dass die Bank am Ende immer gewann. Sie würden hier ihr Leben riskieren für eine unfassbar geringe Wahrscheinlichkeit. Dazu kam noch, dass die Menschen hier in Gabhans Augen schon fast selbst schuld gewesen waren. Er konnte sich vorstellen was geschah, wenn sie die Bauern retteten. Sie würden das Weite suchen, oder den Wald abfackeln. Wahrscheinlich beides. In dem einen wie dem anderen Fall würden sie keinen müden Heller für ihre Retter übrighaben. Auf der anderen Seite – hier war Atheris sein Auftraggeber. Er war derjenige der bezahlte. Das war der Handel gewesen. Und außerdem…

Gabhan spürte Atheris Blick auf sich, realisierte, dass er viel zu lange geschwiegen hatte und verzog das Gesicht, als habe er große Schmerzen. „Womöglich…“ das Wort zwang sich geradezu über seine Lippen. „Ich habe nur einige wenige Leichen gezählt. Im Dorf werden mehr als fünf Leute gelebt haben. Womöglich ist der Rest noch in den Wäldern und wird dort gefangen gehalten um dem Leshen als Nahrung zu dienen. Als Wintervorrat. Womöglich ist der Rest aber auch geflohen und wir kämpfen für nichts. Womöglich könnten wir dies herausfinden indem wir die nächsten Dörfer abklappern und nach Flüchtlingen fragen, womöglich raubt uns das aber auch die Zeit die gefangenen Dörfler zu befreien, die es nunmal womöglich gibt. Vielleicht hat der Leshen aber auch schon alle umgebracht und wir jagen Geistern nach. Atheris ich weiß es nicht. Schau nicht so. Ich kann es nicht leiden, wenn du so schaust. Ich weiß du wünschst dir von mir, dass ich ein alter und erfahrener Hexer bin der auf alles eine Antwort hat. Aber das habe ich nicht. Manchmal weil ich es nicht weiß, manchmal, weil ich es nicht sagen will und manchmal, weil es keine Antwort gibt. Was hätte Valerian denn gesagt? Ziehen wir doch die Worte des weisen alten Greifen zu Rate. Womöglich hat er ja mal selbst was zu so einer Begebenheit gesagt. Überrasch mich, ich bin für alles offen.“

Atheris verstand, dass es nur noch wenig Hoffnung gab, aber was immer hier sein Unwesen trieb, war in ein mehr oder weniger schutzloses Dorf gekommen und hatte deren Einwohner massakriert – zumindest einen Teil von ihnen. Selbst wenn sie den hiesigen Dorfbewohnern nicht mehr helfen konnten, so gab es auch in diesem abgelegenen Teil von Temerien noch einige andere Dörfer in der Nähe und deren Holzfäller, Jäger und Marktleute und viele andere, die durch diesen Wald mit diesem Unwesen kamen – weitere unschuldige Seelen, die nur ihre Familie ernähren wollten. „Gabhan, ich weiß du bist nicht sonderlich begeistert von all dem hier, aber wir können hier nicht den Leshen gewähren lassen, das Risiko ist zu groß!“ Atheris machte eine kurze Pause und schaute Gabhan in die Augen, er sah die Entschlossenheit des Bärenhexers – ob es die Orens waren, die Atheris ihm zahlen würde oder aber ob er in seinem tiefsten Inneren wusste, dass es richtig war, hier aufzuräumen, konnte Atheris nicht sagen. „Wir hatten einen Plan und an dem hat sich aus meiner Sicht nichts geändert! Das Klingenöl werde ich bald fertig haben und ich könnte mir vorstellen, dass die Totems nicht weit von der Stelle entfernt sein werden, wo der Leshen die Ulmen aufgeforstet hat – zumindest würde ich dort mit der Suche fortfahren – oder siehst du das anders?“
„Nein,“ Gabhan schüttelte den Kopf. „Ich sehe es genauso – so lange es auch nur den Funken einer Hoffnung gibt werden wir helfen,“ er warf einen Blick hinüber zu dem Haus, in dem das kleine Mädchen saß und wohl mit seiner Puppe spielte, dem einzigen Ding das der Kleinen in dieser Welt noch geblieben war. „Wenn es schlecht aussieht,“ hob Gabhan die Stimme. „Wenn es so aussieht, als würde es einer von uns nicht schaffen, dann lassen wir ihn zurück und kümmern uns um das Kind. Was soll denn jetzt schon wieder dieser Blick. Weich mir nicht aus. Wir wissen beide, dass es das Vernünftigste ist. Wenn einer von uns im Kampf gegen den Leshen sehr schwer verwundet wird, dann flieht der andere. Schnappt sich das Kind und läuft als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Wenn wir da draußen bei einem Kampf sterben, dann ist sie des Todes. Wenn es der Leshen und die Wölfe nicht tun, dann wird es der Hunger sein…“ und das konnte und wollte Gabhan nicht geschehen lassen. Er konnte und wollte nicht den Tod eines weiteren Kindes auf den Schultern tragen. Seine alten Augen sahen zu Atheris, dann nickte er. „Antworte mir nicht Atheris. Nicht jetzt. Ich will, dass du handelst, wenn es soweit ist. Was den Leshen angeht, geh du und mach das Klingenöl fertig, du bist darin besser als ich. Ich werde mich umsehen. Habe das ein oder andere entdeckt, das mich hat aufmerken lassen. Bolzen zum Beispiel. In den getünchten Wänden der Häuser am äußeren Rand des Dorfes…“ und das war seltsam. Denn ein Waldgeist nutzte keine Armbrüste und auch die einfachen Bauern besaßen sowas normalerweise nicht. Wer auf die Jagd ging, der tat das gewöhnlich mit Pfeil und Bogen. Nicht mit einer schweren Armbrust. Und eine solche hatte er bei keiner der Leichen gefunden. „Und Atheris – ich weiß, dass du auf dich aufpassen kannst. Aber verdammich, pass auf dich auf!“ er wandte sich zum Gehen.

„So machen wir es!“ stimmte Atheris zu und machte sich zurück zur Arbeit an dem Klingenöl. An der Tür drehte er sich nochmal zu Gabhan um „Gabhan! Keiner geht alleine in den Wald“ hole mich, bevor du das Dorf verlässt!“ rief er dem Bärenhexer hinterher, der sich bereits zielstrebig zu einem der Häuser aufgemacht hatte.
Atheris betrat das Haus, indem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten und sah, wie das Mädchen, dessen Namen sie immer noch nicht kannten, mit ihrer Puppe spielte – sie schien langsam aufzutauen, dachte sich der Hexer. Auf einem kleinen Tisch hatte Atheris sein kleines Alchemie-Labor aufgebaut. Es war nicht viel, aber für die meisten einfachen Tränke und Öle reichte die Ausrüstung aus. Für die einfachste Variante des Reliktöls waren die Hauptzutaten Hundetalk und Mistelzweige. Beides waren weit verbreitete Ingredienzien und die meisten Hexer hatten diese bei ihren Reisen immer dabei – so auch Atheris. Das Mädchen gesellte sich zu ihm, als er anfing die Zutaten zu verarbeiten. Gabhan hatte sowas von Unrecht gehabt! Er war mit Nichten besser in der Herstellung von Ölen – er war nicht untalentiert, wie Meister Valerian immer wieder betonte, aber es fehlte ihm die jahrelange Erfahrung, die der Bärenhexer hatte. Während die Mixtur auf einem kleinen Feuer köchelte, erzählte er dem Mädchen eine Geschichte über zwei Hexer, die ein Dorf von einem uralten Problem befreit hatten.

Der Schütze

Es war später Nachmittag als Gabhan wieder zurück ins Haus kehrte. Er wirkte müde und schien das diesige Wetter von draußen mit nach drinnen zu nehmen. Sowohl mit seiner Kleidung, die das feuchte Wetter bereits aufgesogen hatte, als auch mit seiner Laune die eher verregnet wirkte. Der Hexer schloss die Tür hinter sich, drehte sie ins Schloss und überprüfte noch einmal Fenster, Tür und Ausgänge auf Nägel, ehe er seinen Schultergurt ablegte und sich selbst in die Nähe des Feuers verzog, Knochen und Laune wieder aufwärmend.

Er warf einen Blick hinüber zu Atheris, der die letzten Tropfen Öl in zwei Flaschen abfüllte, während das Mädchen neben ihm mit der Puppe spielte und dabei auch Atheris Knie und Schultern als Spielfläche missbrauchte. Ein sanftes Lächeln weichte die Züge des Bärenhexers auf, während er sein Silberschwert aus dem große Schultergurt, den er zurückgelassen und an einen Nagel neben dem Kamin gehangen hatte und zog in beständige Regelmäßigkeit einen Schleifstein über die Klinge. Diese stetige Bewegung, der Klang auf dem Metall und das Prasseln des Feuers brachten ihn in eine beinahe meditative Stimmung und seine Schultern entspannten sich. „Acht Dörfler,“ hob er die Stimme. „Acht Dörfler wurden zum Aufforsten verwendet,“ er vertraute darauf, dass das stumme Mädchen diese Begriffe nicht verstand, wenn sie überhaupt ihre Sprache sprach. „Hier müssen mindestens zwanzig gelebt haben. Habe die Betten in den Häusern gezählt. Und hier hat ein Kampf gegen den Schrat stattgefunden. Derjenige, der gegen ihn gekämpft hat, verwendete Fernkampfwaffen. Kann noch nicht lange her gewesen sein, ich nehme an das.…“ er verstummte, als mit einem Mal das Kind vor ihm stand und ihm die Puppe entgegenstreckte. Stumm, wie immer. Gabhan betrachtete die Kleine. Die Puppe. Die Kleine. Dann, ganz langsam nahm er die Puppe, bewegte diese ein wenig hin und her und tat so, als würde er die Nase der Kleinen stehlen. Diese lachte kreischend auf, entriss ihm die Puppe wieder und rannte in eine Ecke, wo sie sich selbst wieder beschäftigte. Gabhan wurde leichter ums Herz und er atmete erleichtert aus. „Wie lief es bei dir?“

„Bei mir war es ziemlich ruhig, Gabhan. Das Relikt Öl ist fertig!“ Atheris überreichte eine der gerade frisch abgefüllten Fläschchen. „Und die Kleine ist auch etwas aufgetaut. Leider hat sie immer noch kein Wort gesprochen.“ Atheris schaute zu dem spielenden Kind. „Das mit dem Schützen ist interessant – vermutlich hat er den Auftrag angenommen und zu spät gemerkt, was hier vorgeht. … Was ist unser nächster Schritt?“
Gabhan betrachtete das Öl, welches ohne jeden Zweifel seinen Dienst tun würde. Es war solide hergestellt und er hatte kein Recht sich zu beschweren. Natürlich mit Bärenfett, Wasserweibzähnen und noch einigen anderen Ingredienzen wäre es besser geworden, aber was man nicht hatte, hatte man eben nicht. Es würde seinen Dienst tun, ohne jeden Zweifel. Er schwang die Flasche einmal in geübter Bewegung zwischen Daumen und Zeigefinger, ehe er sie neben sich stellte und etwas näher ans Feuer rutschte.
„Was den Schützen angeht gehe ich mit deiner Theorie. Wobei sich die Frage stellt, ob der Schütze denn nur den Leshen verfehlt hat oder der Leshen auch ihn…“ er knirschte mit den Zähnen, sein langer Oberlippenbart strich über seine Lippen, kitzelte am Mund und er wischte sich diesen fort, schob die Haare bei Seite, während er weiter nachdachte und eine wegwerfende Handbewegung machte. Unwichtig. Es änderte jetzt nichts. „Und was wir tun werden? Wir werden uns heute Abend noch einmal hier verbarrikadieren. Werden unsere Schwerter und unsere Sinne schärfen -und dann morgen früh auf die Jagd gehen. Hast du schon einmal einen Leshen gejagt Atheris? Dem Herrn des Waldes in die Augen geblickt?“ er zog die Nase hoch.

„Alles was ich von den Leshen weiß sind alte Märchen – gesehen habe ich bisher aber keinen!“ antwortete Atheris während er sich zu Gabhan setzte. Gerade als er weiterreden wollte, setzte sich das kleine Mädchen zwischen die beiden Hexer und zog sich eine Decke enger um die Schulter, lehnte sich mit dem Köpfchen an das Bein von Atheris und schloss die Augen. Leise fuhr der Nilfgaarder fort. „Wenn sich der Schütze auf den Fernkampf beschränkt hat, könnte er sich noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben. Vielleicht war es auch ein Waldläufer oder Jäger, in beiden Fällen würde er sich in den Wäldern und mit den Legenden vermutlich auskennen und somit gute Chancen haben, dem Waldgeist zu entkommen … ich meine uns haben nur drei rostige Nägel gerettet!“ Atheris blickte zur Tür, die Sonne ging unter und er war gespannt, was die Nacht bringen würde.

„Vorläufig,“ stimmte Gabhan zu. „In dieser Gegend gab es unter König Foltest einst königliche Jäger, die sich um wilde Wölfe, Bären und ab und an auch mal um einen Nekker gekümmert haben. Womöglich hat er wirklich überlebt, ich würde jedoch keinen müden Oren darauf verwetten,“ erwiderte Gabhan und zuckte mit den Schultern. „Ich selbst habe bislang zwei Mal gegen einen gekämpft und eigentlich gehofft, dass ich es kein drittes Mal machen müsste. Vor allem nicht für müde 240 Orens. Da habe ich echt ein Schei…“ er besah sich das Kind, schien widerwillig sein Wort zu verschlucken, „ein mieses Geschäft mit dir gemacht. Aber seis drum. Wir werden morgen früh nach ihm und jeder anderen armen Seele suchen können. Vielleicht finden wir ihn ja. Deinen Jäger. Vermutlich zwar als abgerissenes Stück Fl…. ziemlich angeschlagen. Nehm ich an. Wenn wir ihn überhaupt an einem Stück finden.“

Eine ganze Weile saßen die Drei noch so am Feuer und harrten der Dinge. Atheris wusste nicht genau wann er eingeschlafen war, aber das vibrieren seines Medaillons weckte ihn aus seinem traumlosen Schlaf. Er sah wie sich Gabhan ebenfalls leise erhob und nach seinem Schwert griff. Atheris zog seine Silberklinge und stellte sich an das Fenster. Durch ein kleines Astloch im Fensterladen lugte er nach draußen. Erneut war dichter Nebel aufgezogen – unnatürlich dicht. Er war da draußen, der Leshen … Atheris fühlte die unheimliche Präsenz, aber er sah und hörte nichts. Das Zittern des Medaillons wurde stärker – Atheris kniff die Augen zusammen und dann sah er ihn … den Geist des Waldes. Das Wesen stand keine zehn Schritt von ihm entfernt auf dem Dorfplatz in der Nähe des Brunnens. Groß war es, mindestens drei Schritt … Rinde – seine Haut erschien rindenartig. Anstatt Fingern besaß er lange Klauen, die wie Äste gebogen waren und anstelle eines Gesichtes war da nur der Schädel eines Hirsches mit samt seines einst mächtigen Geweihs. Zu seinen Füßen schlichen zwei große Wölfe umher. Die großen Augenhöhlen des Schädels blickten in seine Richtung – es war ein kalter grausiger Blick, als wenn er in Atheris Seele blicken konnte. „Ich kann ihn sehen, Gabhan! Er ist hier und beobachtet uns!“ flüsterte er leise.

„Seh‘ ich“, Gabhan beugte sich nach vorne und fuhr mit den Fingern über die Maserung des Holzes, während er durch eine Ritze zwischen den Fensterläden nach draußen starrte und den Leshen dort beobachtete. Eine Sache hatte er Atheris nicht gesagt. Es war kein Geheimnis, aber Gabhan hatte sich auch nicht die Mühe gemacht gesondert darauf hinzuweisen. Leshen waren nicht nachtaktiv. Nach allem was Gabhan wusste mussten sie genauso wenig schlafen wie Bäume oder Büsche schlafen mussten. Der Leshen mochte hier nicht hineinkommen können. Aber das musste er nicht. Er könnte sie auch einfach aushungern. Sie konnten jedoch Glück haben. Vielleicht hatte der Leshen kein so großes Interesse an ihnen. Oder aber er hatte woanders zu tun. Gabhan schnaubte. Was auch immer ein mordendes Monster das aus dem Überlebenswillen des Waldes und der Natur selbst bestand auch woanders zu tun haben konnte.

„Wir sollten leise sein,“ hauchte er mit einem seltenen Kratzen in der Stimme, das ihm selbst im Hals stach und dass er der Kälte und Nässe in diesem verfluchten Bauernhaus zu verdanken hatte. Krank konnten Hexer nicht werden, aber Unannehmlichkeiten, nein die hatte man natürlich nicht von ihnen abgehalten. „Und wenn du an irgendwas glaubst wäre jetzt der Zeitpunkt zu beten!“

Die ganze Nacht hielten die beiden abwechselnd Wache – ob es nötig war, hätte Atheris nicht sagen können, aber er fühlte sich zumindest sicherer. Es war ein seltsames Gefühl! So musste es wohl einer Maus ergehen, die von einer Katze in ein Loch getrieben wurde und nun belauert wurde. Zumindest das Kind schien nichts davon mitzubekommen, die Kleine schlief seelenruhig zwischen den Decken. Erst als die Sonne über dem herbstlichen Wald aufging und ihre warmen Strahlen den Nebel in nichts auflösten, verschwand der Leshen wieder in den Wald. Gabhan hatte es nicht ausgesprochen, aber sogenannte Relikte mussten in den seltensten Fällen ausruhen, also warum zog sich dieses Wesen erneut bei Anbruch des Tages in den Wald zurück? Er ging zum schlafenden Gabhan hinüber und weckte den Zunftbruder auf.
Gabhan schlug die Augen auf, schob den Mantel aus Fellresten, der ihm als Decke gedient hatte, bei Seite und stand ächzend auf. „Weg?“ Atheris nickte, was Gabhan ein erleichterndes Schnauben entlockte. „Kommst du?“ fragte er leise und trat zur Tür, durchmaß diese und stiefelte erneut zum großen Brunnen hin. Knattern. Ring um Ring schob sich nach oben. Ein lautes Knacken, als die Winde einrastete, ein Platschen. Gabhan gönnte sich einige Sekunden, ehe er den pitschnassen Kopf aus dem Bottich zog. „Besser! Viel besser. Die Klarheit des Wassers bedingt die Klarheit des Kopfes. „Atheris!“ er wischte sich den tropfnassen Bart mit dem Ärmel ab. „Sprechen wir Klartext. Im Dorf können wir nicht bleiben. Denn sonst verlassen wir es niemals. Wir müssen in den Wald. Müssen die Totems finden. Und die Dörfler. Und den Jägersmann. Einiges zu finden, wenn du mich fragst. Aber während wir all das suchen und hoffentlich auch finden, dürfen wir eines nicht verlieren. Das Mädchen. Wir können sie nicht hierlassen und wir können sie nicht mitnehmen. Was schaust du so? Ja. Nein, natürlich ist das Haus sicher, aber glaubst du die Rotznase würde sich daranhalten, wenn wir ihr sagen, sie soll die Türen und Fenster geschlossen halten? Da draußen wartet der Leshen und Wölfe und weiß der Deibel was noch alles!“ er formte aus seinen Händen einen Trichter, nahm Wasser auf und trank einige tiefen Schlucke Wasser und warf Atheris einen Blick zu, der ihn über die Vorteile aufklärte, die es haben würde, wenn sie das Kind hier in Sicherheit ließen. Gabhan war nicht überzeugt. War nicht überzeugt, dass er das Kind nicht dem Tod anheimfallen ließ, aber bei ihnen war es auch nicht sicher. Verflucht, kein Kind schien bei ihm sicher zu sein, zuletzt die Antherion… und andere. Er wollte diese Liste nicht noch weiter fortsetzen. „Wie bitte?“ er hob den Blick, als ihm bewusst wurde, dass Atheris weiterhin gesprochen, er aber nicht zugehört hatte. Verflucht, das geschah ihm öfter. Es war unhöflich und konnte tödlich enden. Er hatte auch Grazyna nicht zugehört. Hatte sie ihn damals vor dem Grab warnen wollen? Vor Maeven? Wohl eher nicht. Glaubte er. Musste er glauben. Oder wollte es zumindest. „Na gut. Lassen wir das Rotzgör hier. Passt schon“

Der Fuchs

Als sie kurz darauf den Waldrand erreicht hatten, schaute Atheris noch einmal zurück zur Hütte. Sie hatten das Kind und Ker’zaer zurückgelassen, in der Hoffnung, dass sie hinter den verschlossenen Türen sicherer sein würden. Dann wandte er sich wieder dem Wald zu und folgte Gabhan. Ihre Suche wollten sie bei der Stelle fortsetzten, an der Gabhan die sterblichen Überreste der Dorfbewohner entdeckt hatte.

Atheris gefiel der herbstliche Wald mit dem bunten Farbenspiel. Wenn hier nicht eine solch tödliche Gefahr lauern würde, hätte es eine schöne Wanderung werden können – so aber stapfte er angespannt hinter Gabhan her, der mit sicheren Schritten einem Wildpfad folgte.

Atheris wollte Gabhan gerade fragen, ob er eine Vorstellung hatte, wie die Totems eines Leshen aussehen, als der Bärenhexer plötzlich stehen blieb. „Was ist los, Gabhan?“ fragte er nach einigen Momenten. „Dahinten!“ Gabhan zeigte auf einen großen Baum, „Ich bin mir sicher da war jemand!“ fuhr er fort. Was auch immer sein Zunftbruder gesehen haben mochte, Atheris sah es nicht. Dennoch warteten sie, hockten sich zwischen den hochgewachsenen Waldfarn und beobachteten.
Da war etwas. Verflucht, er hatte etwas in dem Herbstlaub gesehen. Er hasste Wälder. Überall vor ihnen wuchs Farn, Heidekraut und Weißdorn. Der Herbstwind raschelte im Laub und Gabhan nutzte die Geräuschkulisse, um sein Silberschwert zu ziehen und hob einen Finger an die Lippen, blickte zu Atheris. Dann zuckte er zusammen. Alles verfiel in Zeitlupe. Das Rascheln aus dem Wald, das Aufblitzen von Stahl zwischen Heidekraut. Gabhan dachte nicht mehr darüber nach. Es war keine Zeit mehr für einen Gedanken. Er musste schneller sein als ein Gedanke. Und das war er. Sein Schwert umkreiste eine halbe Finte, drehte sich in seiner Hand entgegengesetzt zu seiner Fußbewegung. Ein stechender Schmerz zog sich über seinen Oberschenkel, dann erst vernahm er den Knall. Das Aufschlagen des Bolzens in einen Baumstumpf hinter ihm. Sein Oberschenkel blutete, seine Hose war zerrissen. Aber der Bolzen steckte nicht. Hatte nur eine Fleischwunde gerissen. Der Bolzen. Armbrust. Das Arschloch brauchte eine Ewigkeit diese erneut zu laden. Gabhan sprintete los, hörte hinter sich Atheris durch das Unterholz krachen, während er zuvor eine Schneise schlug und sich schließlich auf den Mann stürzte, der geschossen hatte. Geschossen haben musste. Sie beide stürzten, purzelten einen Hang hinab. Die Welt drehte sich, wand sich und Gabhan spürte, wie Hagebutte sein Gesicht zerkratzte, ehe der weiche Waldboden den Sturz des Schützen dämpfte. Der Schütze indes dämpfte Gabhans Sturz. Der Hexer hob die Faust mit den nietenbesetzten Handschuhen, ehe Atheris Ruf ihn innehalten ließ.

„Warte! … Warte. Gabhan!“ Atheris erkannte den Schützen, den der Bärenhexer unter sich begraben hatte. Zum Glück hörte sein Zunftbruder seinen Ruf und hielt mitten in der Schlagbewegung inne. „Reynek! Was machst du in dieser verlassenen Gegend und warum hast du uns angegriffen?“ Atheris lief zu dem am Boden liegenden Mann und half ihm auf die Beine. „Atheris! Bin ich froh dich zu sehen!“ begrüßte ihn der Jäger sichtlich erleichtert, als er den Nilfgaarder erkannte. Sie hatten sich beide vor einigen Jahren bei einer Expedition getroffen, bei der sie sich angefreundet hatten. Es war schon faszinierend, dass er den Mann gut leiden konnte, obwohl sie sich einst bei der Schlacht von Brenna als Feinde gegenüberstanden, aber Zeiten ändern sich und so auch die Menschen. Atheris schaute zu Gabhan, der angefangen hatte sein Bein zu verbinden. „Gabhan, du kennst doch Reynek! Er ist mit uns letzten Winter in das Lager der Kultisten geschlichen, um unsere Blutproben zurückzuholen!“

Gabhan klopfte sich Dreck und Blätter von seinem langen Gambeson und musterte Reynek. Der hochgewachsene Jäger trug ein langes blaues Hemd, darüber eine hübsch gesteppte braune Jacke mit den Lilien Temeriens und auf dem wettergegerbten Gesicht ein Hütchen, das Gabhan lächerlich fand. Er hatte es nicht lächerlich gefunden als sie sich das erste Mal begegnet waren und beim nächsten Mal würde er es auch nicht mehr lächerlich finden. Doch er war gereizt. Sein Bein schmerzte. Doch ja, er erkannte den Jägersmann. Er war ein teuflisch guter Schütze. Auf diese Präsentation seiner Künste hätte Gabhan jedoch verzichten können.

„Ich erinnere mich,“ erwiderte er, trat auf den anderen zu, musterte ihn von oben bis unten. Sein Bein Schmerzte. „Hast wohl gedacht wir wären dieses Drecksvieh in den Wäldern, hm? Tja falsch gedacht. Verflucht falsch…“ dann geschah alles blitzschnell. Der Jägersmann taumelte, hielt sich an einem Baum jedoch aufrecht und das Hütchen segelte zu Boden. Als Gabhan das Hütchen nun aufnahm und ihm reichte wirkte es weniger lächerlich. Deutlich weniger. „Jetzt, da wir wieder Freunde sind, magst du uns erklären was du allein im Wald machst? Und wieso du die Frechheit besitzt noch zu leben? Verflucht ich habe zwei Orens gegen den Langen gewettet, dass der Jäger aus dem Dorf tot ist.“

Atheris hörte sich die Schilderungen von Reynek gespannt an. Der ehemalige königliche Jäger am Hofe Temeriens war auf der Durchreise gewesen, als er von einem fliehenden Dorfbewohner von den seltsamen Ereignissen erfuhr. Er hatte eigentlich nur vorgehabt sich ein Bild von der Situation zu machen, um gegebenenfalls Hilfe zu organisieren, aber er traf schon in der ersten Nacht auf den Waldgeist, als dieser durch das Dorf wandelte. Seine Bolzenangriffe zeigten kaum eine Wirkung, aber zumindest verschaffte er einigen Bewohnern genug Zeit zu fliehen, bevor er selber von den Wölfen des Leshen gejagt wurde. In dieser mächtigen alten Ulme, unter der sie jetzt saßen, hatte er Schutz gefunden und er war nicht alleine. Die letzten Tage hatte er damit verbracht die im Wald verstreuten und vom Leshen gejagten Dörfler hierher in die vermeintliche Sicherheit zu bringen.

Auch Gabhan hatte zugehört und sich die Ausführungen des Jägers durch den Kopf gehen lassen. Die Ausführungen des anderen waren ungewöhnlich und weckten Zweifel in dem Bärenhexer. „Du hast also die letzten Tage in diesem Wald überlebt, hier auf dieser Lichtung?“ hakte Gabhan nach und Reynek nickte geflissentlich. Der wachsame Blick des Hexers wanderte über die Lichtung, vorbei an Farn und Heidekraut, welches sich in einem symmetrischen Kreis um die Lichtung erstreckte. Perfekte Formen waren in der Natur nichts Ungewöhnliches, auch wenn Menschen dies gerne glaubten. Die Menschen hatten ihren Drang nach Perfektion nur von der Natur übernommen und das auch noch deutlich weniger als die Elfen oder andere der Alten Völker; und dennoch. Dennoch war etwas seltsam. „Ich habe versucht den Wald zu verlassen,“ Reyneks Stimme riss Gabhan aus den Gedanken. „Aber es gelang mir nicht. Zumindest nicht wann immer ich die versprengten Dorfbewohner aus dem Wald herausführen wollte. Wenn ich allein auf der Jagd war, dann schien es kein Problem zu sein. Doch die Wege und Gebüsche, die ich zuvor so gut kannte scheinen undurchdringlich zu werden, wenn ich auch nur einen von ihnen mitnehme!“ er deutete hinter sich, wo einige verdreckte und verängstigte Menschen die Hexer betrachteten und um ein kleines und trauriges Feuer versammelt waren, das sie nur mit feuchten Blättern und Zweigen füttern konnten und das zum Gotterbarmen stank und rauchte. „Und ich konnte sie ja schlecht zurücklassen, daher bin ich noch immer hier,“ schloss Reynek seinen Bericht. „Nobel,“ kommentierte Gabhan ohne deutlich machen zu können, ob Sarkasmus oder Lob in seinen Worten mitschwang. „Der Leshen will Rache an den Bewohnern. Deswegen lässt er sie nicht gehen. Aber wieso greift er sie nicht hier an?“ dieses Geheimnis gab ihm Rätsel auf.
Er betrachtete mit Sorge die Bewohner des Dorfes, die sich unter seinem Blick nur noch tiefer in Richtung der Ulme drückten. Verflucht. Sogar in diesem Wald des Todes hatten sie noch Angst vor ihm. Er konnte es ihnen kaum verübeln, so wie er hier aufgeschlagen war. Wahrscheinlich hätten sie sich am liebsten in den hohlen Stamm der Ulme verdrückt. „Natürlich!“ Gabhan sprang auf und eilte in Richtung der Dorfbewohner, die erschrocken auseinanderwichen. „Reynek du weißt es wohl nicht, aber verteufelt noch eins du bist ein Genie!“ er winkte den Jäger und Atheris heran. „Der Leshen greift nicht an. Mitten im Wald. Die Frage ist warum. Die Antwort ist einfach. Weil er es nicht kann. Oder zumindest nicht riskieren kann!“ er deutete in den hohlen Stamm der Eiche, wo Stroh und Knochen lagen. „Hier. Das hier ist eines seiner Totems. Wenn er hier wütet, würde er riskieren es zu zerstören! Wir wissen nun wie seine Totems aussehen!“ grimmige Freude war es, die in Gabhans Gesicht aufflammte. Er wollte verdammt sein, hatte es nicht für möglich gehalten, aber Atheris hatte Recht behalten. Sowohl der Jägersmann, als auch die Dorfbewohner waren noch am Leben – und nicht nur das, sie hatten sie auch noch – wenn auch unwissentlich – direkt zum Herz dieses Ungeheuers geführt und damit die Waage wieder zu ihrer Seite ausschlagen lassen. Gabhan glaubte nicht an eine übergeordnete Gerechtigkeit oder daran, dass die Vorsehung ihnen irgendetwas schenkte. Noch immer erwartete er Unheil, denn Unheil kam immer. Und dennoch, entgegen seines eigenen Willens keimte etwas in ihm auf, dass er seit über einem halben Jahr nicht mehr gespürt hatte. Hoffnung. Eine falsche Hoffnung, da war er sich sicher. Das redete er sich ein. Musste es sich einreden, denn Hoffnungen mussten enttäuscht werden. Aber dennoch glomm sie. Wie ein Feuer in der Dunkelheit. „Vielleicht kommen wir hier tatsächlich alle Lebend raus…“ brummte er und besah sich Reynek und Atheris. „Aber dafür brauche ich eure Hilfe. Wir müssen hier zusammenarbeiten – ich habe keine Ahnung wie viele Totem dieser Leshen hat. Aber so alt wie er ist, würde ich vermuten, dass es drei oder vier sind. Wir müssen den Wald absuchen und diese Totem zerstören. Das Totem hier, selbstredend, als letztes. Wenn dieses Totem fällt werden die Bauern angegriffen werden können. Wir müssen diese Stätten seiner Macht vernichten und mit den Bauern aus dem Wald fliehen, ehe wir auch diese Ulme zerstören. Werden in Richtung des Dorfes fliehen müssen. Die Zeit ist dabei entscheidend. Kriegen wir das hin?“

Atheris schaute sich das Totem in der alten Ulme genau an, es war nicht sonderlich groß und trotzdem so entscheidend für ihr bevorstehendes Vorhaben. „Wenn wir dieses Totem als letztes zerstört haben, werden wir den Leshen stellen können und so den Bewohnern die Flucht ermöglichen … ja, ich denke wir bekommen das hin, Gabhan!“ antwortete Atheris zuversichtlich. „Die Frage ist nur, wo finden wir die anderen Totems, habt ihr eine Idee?“ fragte er in die Runde.

Nach einer kurzen Diskussion war klar, dass ihnen nichts Anderes übrigblieb, als die nähere Umgebung abzusuchen. Gabhan schätzte den Leshen als relativ alt ein und dem entsprechend hatte er vermutlich ein ziemlich großes Revier, in dem er sein Unwesen trieb. Die Hoffnung des Bärenhexers war aber, dass der Waldgeist seine Totems nicht zu weit voneinander entfernt aufbewahrte – sozusagen im Herzen seines Waldes. Allerdings bedeutete das auch, dass er sich vermutlich in ihrer Nähe rumtrieb und sie auf der Hut sein mussten.

Im Herzen des Waldes

Die Sonne stand hoch am Firmament, Atheris gönnte sich einen Schluck Wasser und beobachtete wie Reynek seinen Kopf passender Weise in einen Fuchsbau steckte. „Aen iarean nyald aep kroofeir!“ fluchte er, wie sollten sie die verdammten Totems nur finden. „Gabhan, es muss doch etwas geben, was uns bei der Suche weiterhelfen müsste!“ fragte er seinen Zunftbruder.

„Wir könnten den Wald anzünden,“ erwiderte Gabhan trockener als das Laub, dass den gesamten Waldboden bedeckte. „Dann schauen wir in welche Richtung der Leshen rennt um seine Totem zu beschützen. Der einzige Nachteil ist, dass wir dabei vermutlich selbst elendig verbrennen werden – und wenn nicht das, dann würde uns der Leshen an seinen Totems in Brennholz verwandeln…“ der Bärenhexer atmete tief ein und aus, nahm den frischen Herbstduft auf. „Die Totems müssen eine magische Eigenstrahlung haben. Aber nur eine sehr, sehr geringe…“ ob sie ihre Medaillons darauf einstimmen konnte? Schwierig. „Du hast nicht zufällig De’Vries Extrakt bei dir? Nein, dachte ich mir schon…“ Gabhan legte den Kopf in den Nacken und hielt inne. „Er wird sie schützen…“ dämmerte es ihm langsam. „Er konnte sein Totem bei dem wir die Dorfbewohner zurückgelassen haben nicht schützen, weil er uns sonst damit darauf aufmerksam gemacht hatte. Aber die anderen? Die sollte er unter Beobachtung stellen…“ er deutete nach oben. „Vögel. Wir müssen den Vögeln folgen. Den Raben vor allen anderen!“

„Die Vögel!“ Atheris schaute in die Baumwipfel – was Gabhan gesagt hatte, konnte tatsächlich der Wahrheit entsprechen. Die wenigen alten Kindermärchen, die Atheris kannte, erzählten immer von Raben, die den Waldgeist begleiteten und oftmals als seine Augen dienten. Es war Reynek, der alles mit angehört hatte und nun das Wort ergriff. „Es gibt hier in der Nähe einen kleinen Teich, dort habe ich gestern drei Raben gesehen!“ sagte er und zeigte mit seiner Rechten in Richtung Norden. „Ich würde das eine erste Spur nennen!“ lächelte Atheris und Gabhan nickte zustimmend als sie sich daran machten dem Jäger zu folgen.

Der Teich befand sich auf einer kleinen, fast wie aus einem Märchen wirkenden Lichtung. Lediglich eine alte Trauerweide ließ ihre langen Äste in den See ragen. Der längliche Teich war umsäumt mit dickem Schilf. Lediglich an der Stirnseite des Teiches fiel Atheris ein großer viereckiger Stein auf, der fast zur Gänze im Boden eingelassen war. Dort saß ein großer pechschwarzer Raabe, der sie aus seinen dunklen Augen zu beobachten schien. „Intelligente Tiere!“ flüsterte Reynek und schaute sich weiter um. Atheris starrte immer noch das Tier an – er war sich sicher, dass der Leshen in der Nähe war. Als er sich dem Stein näherte, auf dem der Vogel saß, quittierte es dieser mit einem lauten Krächzen und flog dann auf einen dicken Ast der Trauerweide. Er stellte sich auf den Stein und dann war da, ein ganz leichtes vibrieren an seinem Hals. Der Teich selber … er starrte auf das Wasser, es war kristallklar und da war was. Vorsichtig stieg er in das Wasser und watete hinein. „Ich habe es!“ rief er seinen Gefährten zu.

Auch Gabhans Medaillon ruckte. Silberne Kettenglieder klirrten auf dem gehärteten Lederkragen seiner Rüstung, vibrierten bis in die Knochen. Atheris hielt etwas in der Hand, das aussah als hätte es eine gigantische Katze hervorgewürgt, nachdem diese Gräser und Vögel gegessen hatten. Er glaubte beinahe es pulsieren zu sehen. Das war nicht gut. Gabhan sah sich um, sah den Raben aber keinen Leshen. Auch Reynek hob die Armbrust, beide drehten sich um sich selbst. Das Rascheln wurde lauter, das Ruckeln des Amuletts stärker. „Atheris, raus aus dem Wasser, sofort!“ brüllte Gabhan, doch in dieser Sekunde sah er nur noch wie Atheris verschwand, eine Fontäne dort wo er gestanden hatte, während das Wasser über ihm zusammenschlug.

Atheris hörte noch die Warnung von Gabhan, als sich etwas Schlangenartiges blitzartig durch das Wasser bewegte und sich um seine Beine schlang. Mit unerwarteter Kraft wurden ihm die Beine unter dem Körper weggerissen und er stürzte ins Wasser. Die Wasseroberfläche schloss sich vor seinem Gesicht. Atheris wusste das der Teich nicht sonderlich tief war und sein erster Impuls war es sich sofort wieder aus dem Wasser zu erheben, aber gerade als er sich auf den Bauch gewendet hatte und sich mit den Armen abstoßen wollte, wickelte sich etwas um seinen Brustkorb und zog ihn mit gnadenloser Kraft auf den Teichgrund. Panik stieg in ihm auf. Luft! Er brauchte Luft zum Atmen! Seine rechte Hand tastete nach dem Messer in seiner linken Armschiene … und fanden die scharfe Klinge. Er tastete nach dem Ding, was sich um seinen Rumpf geschlungen hatte und fing an zu schneiden.

Reynek hatte bereits seine Armbrust abgelegt, und war drauf und dran ebenfalls in den Tümpel zu waten um Atheris zu retten, doch Gabhan griff nach dem Arm des Schützen und schüttelte den Kopf. „Nicht. Noch nicht,“ brummte er und ließ seinen Blick dann wieder auf den Teich wandern. Der Teufel wusste welche Grausamkeit dort in diesem Gewässer lauerte, welches nun spritzte und brodelte wie ein dreimal verfluchter Hexenkessel. Schlick wurde aufgewirbelt und man sah einen Scheiß. Wenn Reynek nun auch noch hineinsprang, dann waren sie im schlimmsten Fall beide fort. „Warte… er hat noch Luft…“ presste Gabhan hervor, wenngleich er auch nicht wusste, ob er nun Reynek oder sich von dem Wahrheitsgehalt überzeugen wollte. Dreißig Sekunden gab er ihm noch. 29 Sekunden. 28 Sekunden.

Erneut schoss ein Schwall seltsam stinkender Brühe auf und ging auf Gabhan und Reynek nieder, da tauchte Atheris wieder auf – Schlickverschmiert, prustend und nass wie ein Otter, aber am Leben.
So schnell er konnte, sprang Atheris mit drei Sätzen aus dem verfluchten Teich. Reynek und Gabhan waren sofort bei ihm und nahmen ihn schützend in die Mitte, während er noch nach Atem rang und das letzte Wasser ausspuckte. Eine ganze Weile warteten die Drei auf das Ding aus dem Teich … aber es kam nichts. Atheris näherte sich vorsichtig dem Stein am Ufer und schaute auf die inzwischen wieder spiegelglatte Fläche. Er suchte nach dem Totem, er hatte es bei dem Angriff fallen lassen, was ihn mächtig ärgerte. Ein weißer Schimmer im Schilf ließ ihn auf einmal lächeln. „Was ist, Atheris?“ fragte Reynek mit inzwischen angelegter Armbrust. Atheris angelte sich den Schädel mit dem merkwürdigen Gras und zeigte es seinen Gefährten. Dann legte er es auf den Stein … formte das Igni-Zeichen und nachdem er genügen Energie gesammelt hatte, ließ er den Flammenstrahl auf das Totem nieder, dass sofort in grünlichen Flammen aufging … der Rabe schrie wütend, bis ihn Reyneks Bolzen zum Schweigen brachte.
Gabhan stierte dem Totenschädel tief in die leeren Augenhöhlen, bis die grünen Flammen fauchend verglühten. Der Geruch biss in der Nase, das helle Feuer brannte in den Augen, doch er wollte sicher sein. Sicherheit war das, was sie brauchten. Erst als er sich sicher war, dass das Totem endgültig all seiner Macht beraubt worden war, sah Gabhan den Größeren an. Betrachtete ihn knapp. Nickte. „Gut gemacht“ brummte er, blinzelte dann gegen das Licht der im Zenit stehenden Sonne. „Einer hin, zwei im Sinn – ich glaube im Norden sind noch einige andere Rabenschwärme…“ überlegte er laut und auch Reynek nickte. „Nordosten von unserer Position aus – sie drehen dort bereits seit Tagen ihre Runden. Wir sollten jedoch achtsam sein, der Waldweg in diese Gegend ist steil und voller gemeiner Wurzeln!“ Gabhan nickte. „Kannst du vorangehen? Du klingst, als kennst du den Weg gut. Besser als ich zumindest auf jeden Fall und ich kann mir schöneres vorstellen als mir die verfluchten Haxen zu brechen!“ Reynek nickte und ging voraus. Gabhan wartete kurz bis der andere aus direkter Hörweite war, ehe er das verbesserte Gehör der Hexer ausnutzte. „Bist du verletzt“ eine einfach, knappe Frage. Er musste es wissen. Blut würde Feinde anlocken und er konnte nicht gebrauchen, dass Atheris nicht in Topform war. Purer Überlebensinstinkt. Es war ganz sicher purer Überlebensinstinkt.

Atheris blickte auf und schaute zu seinem Zunftbruder, „mir geht es gut, Gabhan! … lass uns Reynek folgen!“ Als der Bärenhexer sich abgewendet hatte glitt seine Aufmerksamkeit noch einmal zum verfluchten Teich – das war verdammt knapp.
Das dunkle paar Augen, dass die Drei aus dem Schilf beobachtete, bemerkte er nicht.

Gegenwart – Das Rabennest

Die beiden Hexer folgten bereits eine ganze Weile dem temerischen Jägersmann, der sie sicher durch das Unterholz des Waldes lotste. Es war inzwischen später Mittag und die Sonne, die durch das bunte Blätterdach brach, lies Atheris Kleidung zwar nur langsam trocknen, aber sie spendete zumindest genügend Wärme, um nicht zu frieren. Der Nilfgaarder konnte nicht mehr sagen, wann es ihm aufgefallen war, aber der Wald wurde auf einmal still … unheimlich still. Reynek schien es auch zu bemerken und hielt inne, ging auf die Knie und spannte die Armbrust. Atheris Griff schloss sich fester um seine Klinge und er schloss zu dem Jäger auf. „Siehst du was, Reynek?“ flüsterte der Greifenhexer, während sich Gabhan zu ihnen gesellte.

„Ich hätte es zumindest schwören können…“ antwortete Reynek und ließ damit Gabhan schnauben. „Wenn du es hättest schwören können wird da was gewesen sein. Denn auch ich spüre es. Diese Augen im Nacken. Reynek, sag, ist dir noch was aufgefallen?“ – „Ist es. Und so wie du schaust, dir auch, nicht wahr?“ – „Wahr“ – „Das habe ich befürchtet. Zum vierten Mal?“ – „Ich hätte gesagt zum dritten, aber vielleicht habe ich auch nicht so gut aufgepasst wie du. Ganz gleich wie oft, es ist zu Oft“ – „Stimmt.“
Gabhan beugte sich hinab und wischte mit einem Handschuh die Blätter vom Waldboden. „Hundsfott,“ fluchte Reynek und Gabhan konnte sich eines anerkennenden Grinsens nicht erwehren, welches ihm erneut im Gesicht schmerzte. Dort, unter den Blättern waren die Fußspuren von drei Männern zu erkennen, die sich mehrfach kreuzten. „Es hat uns irgendwie im Kreis geführt,“ schlussfolgerte der temerische Jägersmann und Gabhan nickte. „Hat es. Und nicht irgendwie. Es hat den Wald um uns verändert. Aber das ist gut. Sehr gut sogar. Solch eine Macht kann es nur haben, wenn es einen Fokus in der Nähe hat. Das bedeutet…“ Reynek nickte, „Das das Totem in der Nähe sein muss!“ der Bärenhexer richtete sich langsam auf. „Das Totem und noch etwas Anderes…“
„… etwas Unnatürliches, ich spüre es auch!“ stimmte Atheris zu, seine linke Hand war zu seinem Medaillon gewandert, es vibrierte … wenn auch nur leicht. Er ging einige Schritte vorsichtig nach vorne – es wurde schwächer. Vier Schritte nach links – das Medaillon in Form eines Greifenkopfes hörte auf an der Kette zu ziehen. Atheris wendete sich nach rechts und ging los – da war es wieder, das vibrieren. Vorsichtig schritten die drei Gefährten durch das Unterholz, wohl wissend, dass jeden Moment die grüne Hölle über sie hereinbrechen konnte.

Jeder Schritt konnte Tod oder Gewinn bedeuten. Die Luft prickelte vor Anspannung und Gabhan genoss diesen Geruch. Ein Teil von ihm wünschte sich geradezu, dass sich der Klimax nährte. Dass jemand sie Angriff. Das Blut floss. Aber der weitaus größere, vernünftigere Anteil von ihm, wollte dies lieber nicht riskieren. „Ruhig. Ruhig…“ knurrte Gabhan. „Dann sei auch ruhig!“ zischte flüsternd Reynek und Gabhan musste anerkennen, dass er Recht hatte. Er folgte den andren beiden, während sie über braune Blätter und knisternde Äste stiefelten. „Dort!“ Gabhan hätte bei Reyneks Ruf beinahe sein Schwert gezogen, doch er folgte zuvorderst dem Fingerdeut des Jägers. Und wahrlich – dort, in der Baumkrone, hing ihr gemeinsames Anliegen. Es hing unschuldig, beinahe unauffällig dort. In den Ästen einer großen Ulme, deren knorriger Stamm sie aus tausend bösartigen Augen anzustarren schien.

„Ziemlich hoch!“ stellte Atheris leise fest, als sie den Fuß der Ulme erreicht hatten. Er schaute fragend zu seinen beiden Gefährten. „Ich bin raus!“ schüttelte Gabhan nur leicht den Kopf, während er an sich runter schaute – er hatte recht, mit seiner schweren Rüstung würde er nicht hochklettern können und die Rüstung abzulegen war eine deutliche Schwächung in ihrer jetzigen Situation. Atheris schaute an sich runter, er war immer noch nass von seinem ungewollten Tauchgang im Teich und selbst wenn er trocken gewesen wäre, war er mit seiner muskulösen Statur zwar durchaus in der Lage auch mit seiner Rüstung zu klettern, jedoch würde er bei der Höhe seinen Kragen nur ungerne riskieren. So blieb nur noch einer im Bunde übrig.

Reynek merkte sofort, dass die beiden Hexer ihn anblickten und er sah ein, dass er wohl diese heldenhafte Aufgabe in Angriff nehmen würde. Er legte seine Armbrust, den Bolzenköcher und sein Schwert ab und behielt lediglich seinen langen Dolch am Gürtel. Atheris stellte sich noch als Leiter zur Verfügung, so dass der Jäger den dicksten unteren Ast des Baumes ergreifen und sich hochziehen konnte. Reynek war schon oft in seinem Leben auf einen Baum geklettert und so kam er gut voran. Nach einigen Augenblicken hatte er so an Höhe gewonnen, dass er einen guten Blick auf das Totem werfen konnte, es befand sich in einer Art großem Nest – ein Rabenschädel … einen verdammt großen Rabenschädel zusammen mit diesem komischen Gras-Zeug, dass auch bei den anderen beiden Totems anzufinden gewesen war. Gerade als er sich der Astgabel näherte um nach dem Nest zu greifen, nahm er eine schnelle Bewegung in der Peripherie seines Blickfeldes wahr.
Auch Gabhan sah es. Sah dieses Ding, welches sich aus dem Baum selbst zu schälen schien. Sich aus der Rinde Wand, aus den Blätter tropfte und sich zu einem Konstrukt formte, dass jeder Beschreibung spottete. Reynek war tot. Gabhan war sich sicher, dass der Jäger des Todes war. Sie würden nicht rechtzeitig nach oben kommen und der Jäger war niemals schnell genug. Konnte es nicht sein.

Das Wesen sprang auf Reynek zu. Die kleinen Klauen, dornenreich nach vorne gestreckt. Die Augen wie große Beeren, die Haare aus Moos und Blattwerk. Es gab einen Knall, ein Zischen und Reynek überraschte Gabhan. Er hatte das Totem noch immer in der Hand und mit einem Tritt auf den ein Maulesel stolz gewesen wäre pflückte er das Wesen aus der Luft, welches mit einem hohen Schrei aus dem Baum stürzte und direkt vor Gabhan und Atheris krachte. Zuckend blieb es liegen, röchelte. Gabhan warf Atheris einen kurzen Blick zu und zuckte mit den Schultern.

Atheris zog seine Klinge aus dem kleinen aber furchterregenden Relikt, welches vor ihre Füße gestürzt war. Sicher war sicher. Gabhan zeigte mit einem kurzen Nicken seine Zustimmung und richtete seinen Blick wieder auf Reynek, der hoch oben im Baum gerade dabei war das Totem an sich zu nehmen. Atheris Augen weiteten sich, als er eine weitere Bewegung im Baum wahrnahm…und noch eine. „Dein Umhang Gabhan … schnell!“ rief Atheris und der Bärenhexer schien sofort zu verstehen. In einer flüssigen Bewegung warf er den Umhang von seinen Schultern und die beiden Hexer spannten ihn zwischen sich auf. Es war vielleicht nicht die beste Idee … aber sie schrien nach oben „spring!“

Gabhan machte einen halben Schritt nach hinten und spannte die Muskeln im selben Maße an wie seinen Mantel. Dann kam Reynek. Nicht sehr elegant, aber auf geradem Weg und schnell nach unten. Gabhan spürte den Ruck und sah auch wie Atheris die Backen aufplusterte, als Reynek in den streng riechenden, aus hunderten Fellen zusammengestückelten Mantel von Gabhan fiel. Kaum das der Jäger auf dem improvisierten Spannlaken gelandet war ließ Gabhan diesen auch schon los. Der letzte halbe Schritt würde Reynek schon nicht umbringen und sie brauchten beide Hände gegen die Wesenheiten, die sich nun auf sie stürzten. „Scheiße…“ es waren dutzende und unangenehme Erinnerungen an Nekkernester keimten in ihm auf. Doch das hier waren keine Nekker, das hier war etwas Anderes. Etwas Kleineres. Etwas von deutlich größerer Zahl. Mit spitzen Zähnen. Spitzen Klauen. Verfluchte scheiße alles an diesen Wesen war spitz oder scharf oder brannte wie Nesseln.

Immer wieder zuckte die Silberklinge durch die Luft, aber für jedes Relikt, das Atheris niederstreckte folgten zwei neue … der ganze Baum schien aus diesen Viechern zu bestehen. „Wir müssen hier weg!“ schrie Atheris über die grellen Geräusche der Wesen hinweg. Gabhan hatte vermutlich den selben Gedanken gehabt und löste mit dem Zeichen Aard eine Druckwelle um sie herum aus, welche die kleinen Wesen zu Boden schickte. „Los jetzt!“

Sie rannten. Gabhan hatte seinen Umhang in letzter Sekunde noch mitgezogen, da er nichts was ihm gehörte in diesem verfluchten Wald zurücklassen wollte. Die Gefahr war zu groß. Er sah vor sich Reynek, der das Totem noch immer an sich presste. Sah Atheris, dessen lange Beine ihn weit trugen. Gabhan war kleiner als die Beiden. Sein schweres Kettenhemd klapperte und raschelte bei jedem Schritt. Seine schweren Knieplatten schnitten ihm in die Kniebeugen. Er konnte rennen, wenn es sein musste. Vor allem auf kurze Distanz. Aber sie hetzten wie die Wahnsinnigen durch den Wald, hinter ihnen das irre Sirren der Wesen, wie von tausenden hungrigen Wespen. Der Oberschenkel, der durch Reyneks Bolzen veletzt worden war schmerzte höllisch und Gabhan glaubte beinahe zu spüren, wie das Fleisch bei jeder Bewegung weiter aufklaffte. Er fiel zurück. Die Schmerzen wurden heftiger, seine Rüstung schwerer. Atheris und Reynek bogen ab, auch Gabhan versuchte zu folgen, doch da war eine Wurzel und er fiel. Stürzte. Die Wesen waren über ihm, zerkratzten ihm das Gesicht, versuchten sich unter seine Rüstung zu schieben, doch diese widerstand ihnen. Gabhan knurrte, griff eines der Wesen und zerdrückte es zwischen den Fingern, spürte die Dornen die hier und da sogar durch das weiche Leder der Handschuhe stachen. Er tastete an seine Seite, zog dort das Seil von seiner Hüfte und schlug mit diesem nach links und rechts, fegte wie mit einer Peitsche die Wesen zur Seite und er stemmte sich auf. Verflucht. Wo waren der Greifenhexer und der Jäger? Er hatte keine Zeit darüber nachzudenken, da waren wieder die Dornenwesen. Er ließ sein Schwert kreisen. Weglaufen war keine Lösung. Nicht so früh. Er musste sich Zeit verschaffen. Diese Wesen loswerden. Wo waren Atheris und Reynek? Nicht nachdenken. Kämpfen. Überleben.

„A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris, als er sah, wie Gabhan stürzte und sich diese kleinen Monster sofort über ihn hermachten. Als er gerade kehrt machten wollte um seinem Zunftbruder zur Hilfe zu eilen, hielt ihn Reynek am Arm fest. „Warte Atheris … wenn wir ihm helfen wollen müssen wir das Totem zerstören!“ erklärte er hektisch als er sah, wie sich die Meute der kleinen Biester aufteilte und auf sie zustürmte. „Du könntest Recht haben!“ antwortete Atheris, als er dem Jäger das Totem aus der Hand nahm, auf den Waldboden legte, sich konzentrierte, die Energie aus seiner Umgebung sammelte um sie dann in einem Feuerstrahl auf das Totem durch das Igni-Zeichen zu entfesseln. Auch diesmal brannte es in einem grünlichen Feuer … aber nicht schnell genug. Im letzten Augenblick schaffte es Atheris mit dem Schutzzeichen Quen einen magischen Schild um sie herum aufzubauen, der die erste Woge der angreifenden Dornenwesen abwehrte, bevor er unter der Belastung zusammenbrach. Dornen überall waren Dornen und die Gegner wuselten überall zwischen ihm und Reynek umher. Mit kurzen letalen Hieben, verschaffte sich der Greifenhexer etwas Platz um sich … wo war das Totem … verdammt! Er schaute sich um und sah einen besonders hässlichen Artgenossen, der mit seiner Beute triumphierend über dem Kopf in Richtung alter Ulme losrannte. Atheris ging in die Knie, baute die Spannung in seinen Muskeln auf, stieß sich ab und vollführte einen Hechtsprung nach vorne. Mit seiner Linken bekam er das Totem zu fassen und wurde sogleich von den kleinen Monstern begraben. Die Rüstung schützte ihn vor den Dornen, aber er verfluchte die Tradition, dass Hexer keine Helme trugen. Endlich schaffte er es sich aus dem Gewühle zu erheben und begann mit dem Totem auf die Schädel seiner Feinde einzuschlagen. Immer wieder und wieder senkte sich der verkohlte Schädel auf die Wesen herab, die ihn beschützen wollten. Wie lange es so ging hätte Atheris nicht mehr sagen können, aber als er wieder einen wuchtigen Schlag ausführte, gab das Totem in seiner Hand nach und zerbrach. Augenblicklich herrschte Ruhe unter den kleinen Wesen und sie blickten ihn mit ihren kleinen Augen an … dann auf einmal, wie auf einen unsichtbaren Befehl hin, wendeten sie sich ab und gingen zurück zu ihrer Ulme. Ihre zahlreichen Toten nahmen sie – fast wie bei einer Prozession – mit.
Überall waren Dornen und Klauen und Zähne gewesen. Überall Schmerz und Reize und Wald. Verdammt viel Wald. Dann war es fort gewesen. Die Zähne, die Klauen und Dornen. Alles tat ihm weh. Und noch zerkratzter als sein Gesicht war nur noch sein Ego als er sich wieder aufrappelte und schwer atmend gegen einen Baumstamm lehnte. Die Rinde war hart und bot damit einen angenehmen Kontrast zum viel zu weichen Waldboden, der ihn vor wenigen Augenblicken beinahe verschlungen hatte. Der Hexer stieß sich vom Baum ab und begab sich auf die Suche nach Atheris und Reynek, welche er beide recht schnell fand. „Da seid ihr ja…“ befand Gabhan und spuckte Blut und Galle aus, wischte sich durch das zerschlissene Gesicht. Er betrachtete die verkohlten Überreste in der Nähe und nickte langsam. „Danke…“

Aller guten Dinge sind drei

Mühsam schleppten sich die drei Gefährten zurück zu den Dorfbewohnern und somit zu ihrem Ziel – dem Totem. Wie mächtig diese Dinger waren, hatten sie leidlich erfahren. Schmerz … Müdigkeit … Erschöpfung, all das las Atheris in den Gesichtern seiner Gefährten, und ihm selber ging es nicht besser. Das vermeintlich letzte Totem wartete auf sie und wider die äußeren Umstände empfand Atheris eine aufkeimende Euphorie, dem Waldschrat endlich direkt entgegenzutreten. Sollte Gabhan Recht behalten und mit der Zerstörung des letzten Totems, ein Großteil der Macht dieses Unwesens gebrochen sein, würden sie es gemeinsam zur Strecke bringen. Zuversichtlich betrat Atheris als erster die kleine Lichtung mit den Dorfbewohnern.

Gabhan war müde. So unendlich müde. Sie hatten seine Beinwunde provisorisch mit einigen Stofffetzen verbunden in der frommen Hoffnung, dass es halten würde. Keine raffinierte Methode, doch eine die wirkte. Zumindest für den Moment.

Doch nicht nur sie waren am Ende ihrer Kräfte. Auch die Dorfbewohner waren ausgelaugt – und sie hatten Angst. Angst, die aus purem Überlebenswillen geboren war und die – jenem Überlebenswillen folgend – nicht weniger wurde, als sie ihre vermeintlichen Retter zerschunden aus dem Wald kommen sahen. Nicht weniger werden konnte. „Reynek, sprich du mit ihnen. Beruhig sie. Auf dich hören sie am ehesten,“ bat Gabhan den Jäger, welcher nickend zustimmte. Reynek musste für sie alle ein wahrer Held sein. Ein königlicher Jäger, angetan mit den Wappen alter Zeit beschützte sie seit Tagen vor dem Bösen das dort draußen lauerte. So musste es sein. Die Angst der Menschen galt nicht nur dem Wesen des Waldes, sondern auch den beiden Hexern, die ebenso widernatürlich anmuteten wie Waldschrate und Sumpfweiber. Reynek sprach mit den Dorfbewohnern und versprach ihnen, dass sie alle wohlbehalten hier herauskommen würden. Gabhan hoffte, dass Reynek hierbei nicht zu viel versprach.

„Atheris, wir müssen reden…“ flüsterte Gabhan und hielt Atheris am Arm fest, verhinderte, dass er Reynek folgte. „Du wirst dir die Dorfbewohner und Reynek schnappen und ins Dorf abziehen. Sobald wir dieses Totem zerstören wird der Leshen mit Sicherheit angreifen – und dann sollten sich die Dorfbewohner nicht mehr im Wald aufhalten. Alles hier im Wald ist auf seiner Seite. Er ist der Herr dieser Wälder, vergiss das nicht. Er mag geschwächt sein, aber wenn wir ihn besiegen wollen, dann müssen wir ihn aus dem Wald herauslocken. Die Dorfbewohner müssen weit fort sein – am besten in dem Haus das wir geschützt haben, es dürften alle hineinpassen. Ich werde abwarten und wenn ihr weit genug entfernt sein solltet das Totem zerstören.“

„Du hast Recht, Gabhan!“ antwortete Atheris und schaute sich seinen übel zugerichteten Zunftbruder an. „Aber ich habe einen Gegenvorschlag … ich hole Ker’zaer aus dem Haus und dann ziehst du mit den Bewohnern los zum Dorf … schau mich nicht so an, du mit deinem Bein wirst den Gefahren zu Fuß nicht entkommen können … bist du vorhin auch nicht … und falls der Leshen direkt die Bewohner angreift, brauchen sie dich an ihrer Seite!“ fuhr der Greifenhexer fort.

Gabhans Raubtieraugen begegneten Atheris Schlangenaugen und er stockte für einen winzigen, kaum wahrnehmbaren Moment. Der Leshen würde – sobald sie das Totem entzündeten – nicht die Dorfbewohner angreifen, sondern denjenigen der das nunmehr bereits dritte Totem zerstört hatte. Gabhan plante gar nicht fortzulaufen. Er wusste wie diese Sache hier enden würde. Wusste es seit dem Moment, als er diesen Auftrag für 240 Oren von Atheris angenommen hatte.

„Wir haben keine Zeit,“ versuchte er zu intervenieren. „Der Leshen wird bereits jetzt so ungehalten sein wie ein Bär mit Dünnschiss…“ er verzog den Mund, warf einen kurzen Blick zu Reynek dem es tatsächlich zu gelingen schien den Dorfbewohnern etwas von jenem Mut zurück zu geben, den sie zwischen dichtem Gestrüpp und feuchten Nächten verloren hatten. Gabhan bewunderte ihn hierfür. „Du wirst niemals rechtzeitig mit Ker’zaer wieder da sein. Wir müssen jetzt aufbrechen. Jetzt die Dorfbewohner fortbringen – und sie werden nur aus dem Wald entkommen, wenn die größte Macht der Totems gebrochen ist…“ er wollte nicht, dass Atheris alleine gegen den Herrn des Waldes kämpfte. Wollte nicht, dass der andere sein Leben wegwarf. Denn er war sich beinahe sicher, dass es so enden würde. Wie sollte es auch nicht? Gabhan wusste, dass er auch selbst wenn überhaupt nur eine verteufelt geringe Chance hatte alleine gegen diesen Waldschrat zu bestehen. „Was schaust du so?“

Was plant Gabhan? Diese Frage schoss Atheris durch den Kopf. Der Bärenhexer musste doch auch die Fakten richtig zuordnen können. Wenn er das Totem vernichten würde und nicht schnell genug das Dorf erreichen konnte … müsste er sich allein dem Waldschrat stellen. „GABHAN, sei vernünftig, ich werde nicht lange brauchen und schnell wieder zurück sein und wenn du darauf beharrst, dass es jetzt sein muss, werde ich derjenige sein, der hierbleibt!“ versuchte Atheris seinen Zunftbruder zu überzeugen.
Der Bärenhexer starrte Atheris für einen kurzen Moment an. Das Gesicht zu einer wächsernen Maske verzerrt. „Du bist ein Narr, wenn du glaubst, dass das gut ausgeht!“ knurrte Gabhan nur und schüttelte den Kopf. „Ein Kopfloser Irrer der sich selbst überschätzt!“ er stieß ihn vor die Brust. „Du hast es echt dringend nötig hier drauf zu gehen was? Brauchst noch meine verdammte Hilfe beim Schuhe zubinden, glaubst aber, dass du allein gegen den Leshen ankommst?“ erneut stieß Gabhan Atheris vor die Brust. Wollte ihn provozieren. Ihn dazu bringen das zu tun was klug war – wollte ihn dazu bringen Gabhan zum Teufel zu wünschen, die Bewohner zu schnappen und zu gehen. Aber Atheris sah ihn nur an. Mit dieser Entschlossenheit in den Augen, die Gabhan an guten Tagen im Spiegel sehen konnte. „Vollidiot…“ diesmal klangen die Worte versöhnlicher. „Gut. Ich halte dich nicht auf – aber passt verflucht noch mal auf dich auf! Mach mir kein schlechtes Gewissen indem du es wagst den Löffel abzugeben!“

Erleichtert, dass Gabhan endlich eingelenkt hatte, machte sich Atheris auf den Weg zurück ins Dorf um Ker’zaer zu holen. Als er das Dorf endlich erreichte, war es bereits später Nachmittag … er hatte nicht mehr viel Zeit. Die Bewohner im Dunkeln durch den Wald zu führen würde noch schwerer werden, als es jetzt schon war. Die Tür zu dem Haus war geschlossen … gut! Im inneren fand er das Mädchen vor, dass in Seelen Ruhe mit ihrer Puppe spielte. Sein treues Streitross stand in der anderen Ecke des Raumes und begrüßte ihn mit einem freundlichen wiehern. Zügig sattelte er das Tier und versuchte dem Mädchen zu erklären, dass er gleich wieder mit den anderen Dorfbewohnern zurückkehren würde – sie schien zu verstehen. Dann gab er dem Streitross die Sporen und jagte zurück zu seinem Zunftbruder.
Reynek hatte die Dorfbewohner organisiert. Hatte ihnen gut zugesprochen und alles dafür getan, dass sich die Überlebenden weniger ängstlich fühlen mussten. Gabhan bewunderte eine solche Fähigkeit, die er sich selbst nur zu gerne attestiert hätte, doch er wusste es besser. Also hatte er das getan was am klügsten gewesen war. Er hatte es sich auf einem Baumstumpf gemütlich gemacht und auf Atheris Wiederkehr gewartet. Als Pferd und Reiter wie der Stolz der nilfgaardischen Kavallerie angesprengt kamen richtete sich Gabhan wieder auf und nickte dem anderen zu. „Hast dir ganz schön Zeit gelassen…“ befand er und stieß einen kurzen Pfiff in Reyneks Richtung aus. „Zusammenpacken die Damen! Es geht los!“

Der Zug setzte sich lärmend in Bewegung, angeführt von Reynek, der den Weg zum Dorf noch immer kannte. Gabhan plante die Nachhut zu werden und betrachtete daher die vorbeiziehenden. Viele waren es nicht mehr. Aber jeder einzelne Überlebende war ein gutes Zeichen. Vorausgesetzt sie führten sie nicht alle in den Tod. „Gib uns zehn Minuten!“ Gabhan wandte sich an Atheris. „Dann sollten wir nahe genug am Rand des Waldes sein. Wenn du das Totem zerstörst hört hoffentlich der Zauber des Leshen auf und die Bewohner können den Wald verlassen. Wenn du das Totem zerstört hast, dann reite zu uns – so schnell als würde der Kaiser persönlich die Peitsche hinter dir schwingen! Reynek und ich werden die Dorfbewohner ins Haus bringen. Dort dürften sie sicher sein. Und wenn du den Leshen auf den Dorfplatz gelockt hast. Ja… dann beten wir wohl, nehme ich an.“

Atheris schaute den abziehenden Tross nach. Gabhan blickte sich als Letzter noch einmal kurz um, bevor er ebenfalls hinter den Bäumen verschwand … die Zeit lief. Atheris platzierte das Totem vor sich auf den Waldboden … bildete mit einigen Faustgroßen Steinen einen Kreis um das Totem und kniete sich hin, holte seine Silberklinge aus der Rückenscheide hervor und aus seiner Gürteltasche das Fläschchen mit dem Relikt Öl. Mit einem sauberen Leinentuch fing er an, dass Öl auf der Klinge zu verteilen. Nachdem er das Gefühl hatte, den Dorfbewohnern genügend Vorsprung gelassen zu haben, sammelte er erneut aus der Umgebung die Energie, ließ diese durch seinen Körper in seine linke Hand wandern, konzentrierte diese dort … und ließ das kleine Inferno mit dem Igni-Zeichen auf das Totem nieder. Mit einem lauten Zischen fing es Feuer und ging in den gleichen grünen Flammen auf, wie die Male zuvor. Zufrieden schwang sich Atheris zurück in den Sattel und wartete. Außer dem zischen des Feuers war nichts mehr zu hören … der Wald, so erschien es ihm, hatte seinen Blick auf ihn geworfen. Das Feuer brannte noch, als Atheris das Laub in den Bäumen rascheln hörte … sein Blick fiel auf das Totem, die Flamme tanzte nicht … es war … windstill. Die Äste in den angrenzenden Bäumen bewegten sich und das Rascheln wurde lauter. Ker’zaer wurde zunehmend unruhig und begann auf der Stelle zu treten, er wollte genauso wie Atheris das Weite suchen … aber noch nicht, noch brannte das Feuer. Dann sah er Bewegungen … graue Schatten, die sich zwischen den Bäumen hin und her bewegten und langsam näher kamen … ein Heulen … noch eins … Wölfe! Mindestens zwei. Es wurde langsam Zeit, aber er konnte noch nicht weg, das Totem war noch nicht vollständig verbrannt. Dann war da ein großer Schatten … dort zwischen den beiden alten Bäumen. „A d’yaebl aép arse!“ entfuhr es Atheris, als der Leshen aus dem Schatten trat. Der Kopf hinter dem Schädel eines Hirsches versteckt, so wie ihn die Legenden beschrieben und so wie Atheris ihn nachts durch das Fenster erblickt hatte. Ihn jetzt in voller Größe zu sehen … als ein Wesen, dass Irgendetwas zwischen Baum und … er kam nicht mehr dazu den Gedanken zu Ende zu bringen, der Waldschrat hatte seine Hand gehoben und irgendeine Art Laut von sich gegeben. Der Boden unter Atheris fing an sich zu bewegen, die alten Wurzeln der Ulme schossen hervor und suchten nach den Fesseln seines Pferdes … es war höchste Zeit! Der Greifenhexer lies Ker’zaer steigen und dabei leicht drehen, so dass die Hufe des Pferdes auf das brennende Totem niedergingen und den Schädel laut knackend in tausend Stücke zermalmten. Er brauchte dem Streitross nicht die Sporen zu geben, ein leichtes Zucken seiner Schenkel reichten dem Tier, um mit wenigen kräftigen Sätzen in einen gestreckten Galopp zu verfallen. Ein lauter, wütender Schrei erklang in seinem Rücken und er hörte, wie sich gefühlt der ganze Wald hinter ihm in Bewegung setzte um ihn zu verfolgen. Mit dem Kopf dicht an den Hals des schwarzen Hengstes gelegt rasten die beiden mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den Wald. Immer wieder schien es dem Hexer, dass die Bäume vor ihm mit ihren alten knorrigen Ästen und Wurzeln versuchten ihn zu ergreifen … zu Fall zu bringen! Atheris vertraute den Instinkten des Tieres … es blieb ihm aber auch wenig Anderes übrig. Ein Schatten brach aus dem Unterholz neben ihm hervor … einer der Wölfe … oder ein Dritter? Atheris wusste es nicht … musste es auch nicht wissen. Er zog seine Klinge nach oben. Er spürte, wie sich die scharfe Schneide ihren Weg durch das dicke Fell, die Haut und die Sehnen suchte. Mit einem jaulen brach der Wolf seinen Angriff ab und nur wenige Augenblicke später durchbrach er den Waldrand. Hier im Freien konnte Ker’zaer noch mehr Tempo zulegen und Atheris hielt, wie mit Gabhan vereinbart, auf den zentralen Dorfplatz zu. Ein Rudel von vier großen Wölfen schoss ebenfalls wenige Sekunden nach Atheris aus dem Wald und folgten ihm ins Dorf. Als er das Ende des Platzes erreichte, wendete er sein Streitross und stellte sich dem Rudel entgegen … „A d’yaebl aép arse!“ fluchte der Greifenhexer erneut … wo verdammt nochmal war Gabhan?

„Gabhan wir müssen reagieren!“ flüsterte Reynek, während er und Gabhan sich auf dem Vorsprung eines der Dächer versteckt hielten. Unter ihnen, in dem Haus hielten sich die Dorfbewohner versteckt, beschützt durch eiserne Nägel und viel guter Hoffnung. „Nein,“ Gabhans Stimme war ruhig, während er sich tiefer auf das Dach presste. „Er wird Atheris zerfleischen!“ fluchte Reynek und war kurz davor aufzustehen. „Nein. Ich sagte noch nicht!“ knurrte er und schüttelte den Kopf. „Erst wenn er die besprochene Linie überquert hat!“ – „Der Waldschrat wird ihn vorher in Stücke reißen!“ – „Er kannte das Risiko Reynek! Wenn wir zu früh handeln ist der ganze Plan verloren! Er wird es schaffen. Er muss es schaffen!“ die Sekunden vergingen. Reynek neben ihm wurde ganz offensichtlich unruhig, spannte sich an, dann sprang Gabhan vom Dach und gab damit das Signal.

Gabhan landete schwer auf dem Boden und fluchte – egal wie gut sowas immer aussah, es ging furchtbar auf die Knie. Keine Zeit darüber nachzudenken – er musste los. Über ihm hörte er das surren eines Bolzen. Atheris rauschte an ihm vorbei und der brennende Bolzen über sie beide Hinweg. Der Waldschrat sprang ihnen hinterher, landete mitten unter ihnen. Dann landete der Brandbolzen am geplanten Ort – und entfachte das Öl und Fett, welches Gabhan und Reynek zuvor im Kreis um die Dorfmitte ausgestreut hatten und welches nun ein flammendes Rondell bildete. Eine Arena, in der sie mit dem Waldschrat eingeschlossen waren.

In der Arena aus Feuer

Der Leshen hatte zum Rudel aufgeschlossen und näherte sich Atheris. „Se’ege na tuvean!“ schrie er, als er sich aus dem Sattel gleiten lies und Ker’zaer mit einem Klaps fortjagte. Keinen Moment zu früh, denn von einem der Dächer schoss ein brennender Bolzen in Richtung Dorfplatz und steckte den Boden in Brand. Ein Feuerkreis bildete sich und schloss Atheris mit dem Leshen und dem Rudel ein – wie passend, dachte sich Atheris und sein Griff schloss sich fester um die Silberklinge in seiner Hand. Bevor sich der Feuerkreis schloss, traten Gabhan und Reynek an seine Seite. Die Zeit war reif, dem Spuk ein Ende zu bereiten.

Gabhan rollte sich noch einmal kurz ab, als er mit einem Hechtsprung in den flammenden Kreis kam. Der Bärenhexer erhob sich langsam, das kurze Silberschwert in einer flotten Drehung in Stellung bringend, auf dem sich der rötliche Schein spiegelte. „Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt wir ließen dich im Stich?“
Gabhan brachte sich in Stellung, kontrollierte den Atem und verengte seine Augen um nicht durch die Flammen geblendet zu werden. Die Wölfe heulte, schossen in ihre Richtung, doch Gabhan und Atheris drehten sich Rücken an Rücken gegeneinander, ließen die Schwerter blitzen – das lange von Atheris, das kurze von Gabhan, während hinter Ihnen das Sirren eines weiteren Bolzen simultan zu ihren Klingen erklang. Die ersten beiden Fellbündel fielen – dann kam der Waldschrat auf sie zu und der wahre Kampf begann.

Der erschlagene Wolf hatte noch nicht einmal den Boden berührt, als der Waldschrat zum Angriff ansetzte. Er kam mit großen Schritten auf ihn zu … holte mit seinen langen Klauenbewerten Händen aus und schlug zu. Im letzten Moment wicht Atheris dem Hieb aus und dort wo er soeben noch gewesen war, hatte sich ein beachtlicher Krater gebildet … den Treffer hätte er mit Sicherheit nicht überlebt. Nun war er aber an der Reihe, bevor sich das Monster zu ihm orientieren konnte, führte er drei schnelle Streiche auf dessen entblößte Seite aus. Seine mit dem Relikt Öl behandelte Klinge zerschnitt einiges an organischen Materials, von dem Atheris aber nicht wusste, was es war. Zumindest machte ihm der Leshen die Freude und quittierte die Treffer mit einem böse klingenden Schrei. Tänzelnd brachte sich der Greifenhexer aus der Schlagdistanz und schaute sich nach seinen Gefährten um.

Gabhan griff sein Schwert fester, wartete stets bis zur letzten Sekunde um mit kräftigen und wenig eleganten Hieben die Wölfe zur Strecke zu bringen. Da waren sie wieder. Geifernde Bestien. Zähne wie Dolche. Fell und Klauen. Erneut stieß Gabhan nach vorne, erwehrte sich des nächsten Angriffes. Stich; Schlag; Ausweichschritt. Zur Seite. Zur Seite! Puh, gerade noch geschafft. Von Links, ein Schrei. Nein, kein Schrei – ein Brüllen. Blut pulsierte in seinen Adern, schmerzte im selben Impuls in seinem verletzten Bein. Neben ihm schnarrte es, doch es war ein freundliches schnarren. Das einer Armbrust. Der Leshen brüllte, als der Bolzen ihn traf. Wandte sich zu ihm um. Gabhan spannte seine Muskeln an. Spannte alles an. Er musste Reynek davor bewahren zerfleischt zu werden. Dann sprang er – schoss mit dem Schwert in der Hand nach vorne und drang tief in den Brustkorb des Feindes ein. Spürte wie der Widerstand brach und sein Schwert bis zum Heft in die Brust eindrang. Das Relikt Öl auf der Klinge zischte als es die Brust durchschlug. Doch da war er nun. Auge in Auge mit dem Leshen. Seine Klinge im Körper des Feindes. „Atheris! Einen Hieb hier! Ich brauche mein Schwert!“ brüllte er, duckte sich unter einer Klaue hinweg.

Atheris sah, wie sich Gabhan auf den Leshen stürzte und sein Schwert in dessen Brust eindrang … und stecken blieb. Mit vier schnellen Schritten überwand er die Distanz zwischen ihm und dem Monster, wobei er einem wilden Klauenhieb ausweichen musste, in dem er Richtung Boden abtauchte. Er legte alle Kraft in einen Hieb, der so hoffte er, die Klinge seines Zunftbruders befreien würde. Wie drang die behandelte Silberklinge in den Körper des Waldschrates ein. Laut schrie das Wesen auf … dann wurde es Atheris kurz schwarz vor Augen … nicht, weil er getroffen worden war, sondern weil sich das verdammte Viech in Rauch aufgelöst hatte … ein Schwarm schwarzer Krähen schoss aus der Wolke hervor und griffen Atheris an.

Gabhan hatte auf solch einen Augenblick gewartet. Der Nebel entließ sein Schwert aus der Umklammerung, welches er in einem schnellen Wirbel wieder in die richtige Position brachte. Er sah die Krähen, die Atheris angriffen und die drohten ihm die Augen auszuhacken. Dann tat Gabhan das einzige, was er in diesem Moment tun konnte. Das Zeichen Yrden flammte auf und zwang den Leshen wieder in seine natürliche Form. Noch immer zuckend – und für wenige Sekunden an Ort und Stelle gefesselt. Wichtige Sekunden, die sie zum Angriff nutzen konnten.

Die spitzen Schnäbel der Raben hämmerten auf seine Rüstung und auf seinen schutzlosen Kopf und versuchten zu seinen Augen zu kommen. Er wollte ein Igni-Zeichen wirken, um diese verdammten Krähen zu verbrennen, aber er hatte keine Gelegenheit die Hand von seinem Gesicht zu nehmen. Er bemerkte das lilane Schimmern aus dem Augenwinkel und so schnell wie die Raben gekommen waren, so schnell waren sie wieder verschwunden. Er erkannte, was Gabhan getan hatte – er hatte das Zeichen Yrden gewirkt! Es ging verdammt schnell, die Raben verschwanden, der schwarze Nebel verdichtete sich … Atheris erhob seine Klinge und spannte sich an, wie ein Raubtier vor dem Sprung wartete er darauf, dass sich der Leshen erneut materialisierte … und dann war es soweit … Atheris zögerte keine Sekunde, schnellte nach vorne und ließ seine Klinge in einem weiten Schwung auf den Schädel des Monsters niederfahren. Er traf das Wesen genau im richtigen Moment und er spürte wie die scharfe Schneide sich ihren Weg durch den Knochen suchte und diesen sauber spaltete.

Gabhan sah, wie das Schwert seines Freundes tief in das Wesen eindrang. Spürte die Welle, die über sie hinwegfegte. Die dafür sorgte, dass die Wölfe davonstoben, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her. Erschöpft ließ Gabhan das Schwert sinken, warf Reynek einen knappen Blick und ein anerkennendes Nicken zu. Es war vorbei. Atheris richtete sich auf, zog sein Schwert aus dem Kopf des Leshen und schulterte dieses wieder. „Verflucht…“ der Bärenhexer schüttelte den Kopf. „Wir hatten verdammt viel Glück!“ und das hatten sie wahrhaft gehabt, denn das Öl war mittlerweile vollends heruntergebrannt, der Kreis erloschen. Hinter ihnen öffnete sich die Tür des Hauses wieder und die Dorfbewohner strömten hervor. Wollten sich den Leichnam ihres Peinigers ansehen. Vorne mit dabei war das kleine Mädchen, dass seine Puppe noch immer ganz fest umklammert hielt, welche einen knappen Riss über dem Bauch aufwies, aus dem die Füllung ragte. Gras und Stroh. Gabhans Lächeln erstarrte. „Oh…. ich bin so ein Idiot…“ seine Augen wurden größer, während er sich umdrehte. Da stand Atheris, beugte sich hinab um seine Trophäe zu erbeuten. „Atheris! NEIN!“ er streckte die Hand nach vorne aus und Aard erfasste den Freund, schleuderte ihn fort, nahm dabei Schlamm und Steinchen mit. Atheris richtete sich schwankend auf und starrte Gabhan wie von allen guten Geistern verlassen an. „Das Kind! Wieso kam der Leshen in das Dorf Atheris?“ fragte Gabhan und hob beide Hände. „Verstehst du es denn nicht! Oh ich war so ein Dummkopf! Es war so klar – die ganze Zeit vor meinen Augen! Unter meiner Nase!“ er griff sein Schwert fester. „Dem Leshen ging es nicht einfach darum, dass man seinen Wald abgeholzt hat. Dann hätte er viel früher eingegriffen. Nein. Sie haben ihm eines seiner Totems abgenommen…“ er hatte es nicht gesehen. Nicht sehen wollen. Er musste nicht hinsehen um zu wissen was geschah. Er hörte es. Hörte, wie der Schädel sich wieder zusammensetzte. „Atheris. Verschaff mir Zeit…“ bat er den Anderen und rannte zu den Dorfbewohnern, die erschrocken zurückwichen.

„A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris als sich der Leshen erneut vor ihm anfing aufzubauen. Kein Zögern, dachte er sich nur, noch ist er womöglich geschwächt! Atheris sprang nach vorne und zielte mit einem Stich zischen die Augen des Unwesens … zu spät! Die Knochenplatte schloss sich just in dem Moment, als die Spitze sein Ziel fand. Trotz der Wucht glitt sie nach oben ab, rutschte über den Schädel und hinterließ lediglich eine ziemlich tiefe Kerbe. Atheris hatte sein ganzes Gewicht in den Angriff gelegt und verlor für einen kurzen Augenblick das Gleichgewicht … und dennoch zu lange. Der schlag des Leshen raubte Atheris den Atem und ließ ihn mehrere Meter hoch in die Luft wirbeln und dann einige Meter weiter unsanft auf dem Boden wiederaufkommen. Er musste für einen Moment das Bewusstsein verloren haben … als er die Augen öffnete, sah er nur den riesigen Fuß des Leshen, der ihn zermalmen würde. Atheris rollte sich zur Seite und entkam nur knapp dem Aufprall. In einer fließenden Bewegung brachte er sich hinter den Leshen und sprang. Atheris bekam eine Art hervorstehenden Ast an der linken Schulter des Wesens zu greifen, zog sich hoch und fing an seine Klinge immer wieder auf das Genick seines Widersachers einprasseln zu lassen. Wie wild schüttelte sich das Wesen … warf sich zu Boden und fing an sich hin und her zu rollen … der Hexer hielt sich fest … „Verschaff mir Zeit…!“ hatte Gabhan gefordert … hoffentlich ließ er sich nicht Zuviel Zeit!

Er hörte hinter sich den Kampf zwischen Monster und Hexer toben, hörte Reynek fluchen, der die wenigen zurückgekehrten Wölfe mit Bolzen weiterhin auf Abstand hielt. Schlitternd kam Gabhan vor dem Mädchen zum Stehen. „Hör mal Kleine! Ich weiß, das dir Guinevere wirklich viel bedeutet, aber ich muss hier ein Dorf retten. Und den Idioten da drüben!“ er deutete hinter sich. „Bitte. Gib sie mir!“ er betete darum, dass sie ihm die Puppe gab, denn er wollte kein kleines Mädchen prügeln müssen. Das Kind zögerte. Hinter sich hörte er Atheris schreien. Dafür hatten sie wirklich keine Zeit. Er hatte sich bereits damit abgefunden dem Rotzgör die Lichter auszublasen, da streckte sie ihm die Puppe entgegen. „Danke!“ er küsste sie auf die Stirn, griff nach der Puppe und wandte sich um.

„Hey Kumpel!“ er verstärkte den Griff um die Puppe und der Leshen hielt mitten in der Bewegung inne. „Weißt du, was das hier ist?“ er wackelte mit Armen und Beinen des Püppleins und bereitete sich im Inneren auf starke Schmerzen vor. „Komm und hols dir Arschloch…“ Gabhan griff noch fester zu und entzündete Igni. Grüne Flammen loderten aus der Puppe hervor. Der Schrei des Waldschrates überschlug sich, während er den Kopf senkte und wie ein wütender Hirsch auf ihn zustürmte. Gabhan sah, wie Atheris abgeschüttelte wurde und im Schlamm landete. Er selbst sprang zur Seite, wurde jedoch noch vom Fuß an der Seite erwischt. Alles um ihn herum drehte sich. Er spürte, wie er auf Widerstand prallte, der unter ihm brach. Hustend erhob er sich aus einem Haufen zerstörter Fester, während der Leshen sich vor ihm aufbaute, brüllte – und dann in der Bewegung stehen blieb. Erstarrt. Schwankend. Aus der leeren Augenhöhle ragte ein blauweiß gefiederter Bolzen. Der Leshen sackte in die Knie, während ihn Wurzeln langsam umschlossen, ihm das Leben auspresste.

Epilog

Die Wunden, die sich die Hexer im Kampf gegen den Leshen zugezogen hatten, verhinderten eine schnelle Weiterreise und so verbrachten sie noch eine Woche als Gäste im Dorf. Ein wenig Normalität zog relativ schnell wieder ein, das lag aber, wie Atheris beobachtete weniger daran, dass die Leute das vergangene vergaßen, sondern vielmehr daran, dass das Leben in dieser Wildnis hart und entbehrlich war und nur wenig Zeit blieb um zu trauern. Traurig stimmte Atheris auch, als sich ihre Befürchtung bestätigte und die Eltern des kleinen Mädchens tatsächlich dem Waldschrat zum Opfer gefallen waren. Von einer Frau erfuhr er, dass die Tante des Mädchens in der Provinzhauptstadt Wyzima lebte. Atheris war überrascht, dass er Gabhan nicht erst sonderlich überreden musste, als er den Vorschlag machte, dass Mädchen zu ihrer Tante zu bringen.
Es war ein sonniger Herbsttag, als die Gefährten endlich aufbrachen. Ihr Weg führte sie durch den friedlich wirkenden Wald, nichts war mehr von dem Schrecken zu spüren, der hier noch vor einigen Tagen geherrscht hatte. Obwohl Gabhan mit seiner brummeligen Grundstimmung nicht gerade für die größte Unterhaltung auf dem Marsch sorgte, taute das kleine Mädchen immer mehr auf und am dritten Tag war es ein Ding der Unmöglichkeit den Redeschwall zu stoppen … aber Atheris wollte das auch nicht, es tat gut zu sehen, dass trotz des harten Schicksaals, das Kind Freude fand, vor allem, wenn es auf den Rücken von Ker’zaer reiten durfte.

Am Abend des dritten Tages erreichten sie ein stattliches Gasthaus, in dem es sich die Gefährten für die Nacht gemütlich machen wollten. Reynek, der sich aus Gewohnheit die Anschlagtafel durchlas, entdeckte ein Schreiben, dass er sogleich Atheris unter die Nase hielt.

„Schütze gesucht!“ stand in dicken Lettern über dem Bild eines Bogenschützen. „Die Hexer der Greifenschule sind auf der Suche nach einem erfahrenen Schützen, welcher bereit ist, sich in der gefährlichen Ungeheuer Jagd zu verdienen. Wer sich dazu berufen fühlt und unseren Spuren folgen kann, wird uns finden!“ gezeichnet war das Schreiben von Meister Valerian von Novigrad. Atheris kannte es, hatte er doch auf seinem Weg nach Cintra die Flugblätter verteilt gehabt, dass sie ihren Weg bis nach Temerien gefunden hatten, wunderte Atheris zwar, aber warum auch nicht, er hatte genug Kleingeld für Botenjungen ausgegeben, die sich um die Verteilung kümmern sollten. Nachdem Reynek Interesse äußerte, erklärte Atheris ihm in einem Gespräch die Hintergründe und was er bei den Hexern zu erwarten hatte … und der ehemalige königliche Jäger war begeistert und besiegelte per Handschlag sein Interesse.

Einige Stunden fanden sich die drei Gefährten im Baderaum des Gasthauses wieder. In drei mit warmen Wasser gefüllten Zubern genossen sie ausgelassen das Ergebnis der örtlichen Ernte in ihrer reinsten Form. Die weiße Möwe, die Gabhan in den Schnaps gegeben hatte, zeigte auch langsam Wirkung, so dass auch der sonst so mies gelaunte Gabhan in die wundervollen Balladen von Reynek und Atheris einfiel. So kam es, dass keiner von ihnen bemerkte, wie sich das kleine Fenster in der Dachschräge öffnete. Ein zischen gefolgt von einem dumpfen Aufschlag ließ Gabhan aus dem Zuber fahren.

Atheris blickte an sich runter und sah den blauweiß gefiederten Schaft aus seiner nackten Brust ragen … das rote Blut lief in Strömen seine feuchte Brust hinunter und färbte das Wasser rot … er konnte sich nicht bewegen … der Pfeil musste ihn an den Zuber genagelt haben. „Gabhan!“ war das letzte, was er von sich geben konnte, bevor sein Blick brach und er in eine bodenlose Dunkelheit stürzte.