Broken Sign

Metagame

Von Helena

Kaedwen, das kleine Städtchen Sturmbach, 28. Jenner des Jahres 1279

Es war ein eisiger Morgen, als sich Ida vom Hof ihres Vaters aufmachte. Sie hatte von ihrer Freundin den Rat bekommen, sich der örtlichen Heilkundigen mit ihrem Problem anzuvertrauen. „Sie urteilt nicht über dich, sie wird dir helfen“ hatte Hanna gesagt. Hoffentlich behältst du Recht dachte Ida, als sie ihren Mantel eng um den Körper schlang und los eilte. Es war noch so früh, die Wolken waren rosa von der aufgehenden Sonne, und vereinzelte Schneeflocken tänzelten durch die kalte Luft. Es waren wenige Minuten bis die ersten Häuser des Städtchens zu sehen waren, auf den Straßen war kaum jemand unterwegs. Vor ihr bog ein Ochsenkarren auf den Weg, der leere Kisten und Fässer transportierte. Der große Wagen holperte über die Spurrillen im gefrorenen Schlamm und durchbrach leise quietschend die morgendliche Stille. Ida erreichte den Marktplatz, und nur wenige Straßen weiter an einer Ecke erkannte sie das Aushängeschild nach dem sie Ausschau gehalten hatte: „Van Beldrias – Heilkunde und Apotheke“. Nervös blieb sie vor der Tür stehen. Ihr warmer Atem bildete weiße Wölkchen vor ihrem Gesicht, und sie griff an ihren Gürtel, wie um sich zu vergewissern, dass der Beutel mit den ersparten Münzen immer noch da war. Das raue Leder und das metallische Klimpern gaben ihr den nötigen Mut, die Tür auf zu stoßen und einzutreten.

Der Innenraum des kleinen, zweistöckigen Stadthäuschens schien sehr geräumig und gleichzeitig vollgestellt. Das Öffnen der Tür hatte kein Glöckchen ausgelöst, wie es häufig der Fall war bei den Geschäften in der Stadt, und trotzdem erschien sofort eine junge Frau aus einem Hinterzimmer, und kam an den Verkaufstisch. „Guten Morgen! Wie kann ich helfen?“ Ein leises Lächeln ermutigte Ida, näher zu treten. An dem hölzernen Tresen angekommen antwortete sie: „Guten Morgen. Sind Sie Frau van Beldrias?“ „Ja, die bin ich. Was brauchst du?“ „Ich bräuchte Ihre Hilfe. Ich… also ich hab…“ verunsichert stammelte Ida vor sich hin, und sah dabei auf ihre Füße. Sie spürte den durchdringenden Blick der Frau auf sich ruhen und wurde noch nervöser. „Wie heißt du, Mädchen?“ wurde sie gefragt. Verunsichert sah sie auf, und blickte dabei in auffällig hellbraune Augen. „Ida“, gab sie leise von sich. „Hallo Ida. Du kannst mich Malva nennen“, antwortete die ruhige, freundliche Stimme. Der Blick der Ärztin bohrte sich in den von Ida, und ihr war als würde ein Flüstern oder Rascheln durch den Raum ziehen. „Du brauchst keine Angst haben. Sag mir, wie ich dir helfen kann.“ Malva hatte sich leicht nach vorne gebeugt und die letzten Worte mit viel Nachdruck gesprochen.

„Ich… ich war vor etwa zwei oder drei Monden mit einem jungen Mann zusammen. Ich hatte ihn auf dem Markt kennen gelernt, und wir hatten uns am Abend in der Taverne wieder getroffen. Es führte eins zum anderen, nun habe ich seit dem keine Blutung mehr gehabt, und ich habe ihn nie wieder gesehen, er ist wie verschwunden. Mein Ruf ist ruiniert, und wenn ich jetzt ein Kind bekomme, ohne einen Ehemann, dann wird mein Vater mich rausschmeißen. Ich kann das Kind nicht bekommen. Ich.. ich kann nicht“, sprudelte es aus Ida heraus, ihre Scham schien verschwunden und ihr Angst vor einem Urteil gleich mit. Malva musste ein selbstzufriedenes Schmunzeln unterdrücken und fragte: „Du möchtest das Kind loswerden?“. Ida nickte. Malva hielt einen Moment inne, als würde sie irgendetwas versuchen zu hören. „Was ist?“ fragte Ida, und blickte sich verwirrt um. „Ach nichts. Gib mir einen Moment, ich hole etwas, das wird dir helfen.“ Sie verschwand im Nebenzimmer, aus dem sie zuvor gekommen war, man hörte, wie ein Korken aus einer Flasche gezogen wurde, sowie ein paar weitere Geräusche, die Ida allerdings nicht genau zuordnen konnte.

Stattdessen sah sie sich im Laden etwas um. Von der Decke hingen an einigen Holzbalken Kräuter, die zum Trocknen aufgehängt wurden, sowie Knoblauchketten und ein vereinzeltes Tierfell, wohl das eines Marders. Im hinteren Teil des Raums war ein gusseiserner Ofen, in dem ein Feuer prasselte und den ganzen Raum angenehm erwärmte. Darauf stand ein Topf mit einer dampfenden Flüssigkeit, daneben waren Regale mit Mörsern, Flaschen gefüllt mit eingelegten Kräutern, kleine Salbentöpfchen und viele Bücher. Gegenüber vom Ofen war ein großer, massiver Tisch aufgebaut, darauf lagen ein weißes Tuch und eine Art strohgefülltes Kopfkissen. Auf dem Tresen direkt vor sich sah Ida ein großes Glas, gefüllt mit kleinen Stoffsäckchen die prall gefüllt und mit einer Schleife zugebunden waren. Auf einem kleinen Schild daneben stand „Nächtliche Alpträume und Dämonen im Kopf halten Dich wach? Ein Säckchen friedlicher Schlaf für nur 6 Kopper“. Neugierig beugte sich Ida über das Glas, um sich die Säckchen genauer anzusehen. Ihr strömte ein angenehmer Lavendelduft entgegen, gemischt mit einem anderen, süßlichen Geruch, den sie aber nicht erkannte. „Die Säckchen brauchst du wohl kaum, wenn du das hier nimmst.“ Ida schreckte auf, Malva war lautlos wieder aufgetaucht und stand jetzt vor ihr, mit einem kleinen Fläschchen in der Hand.

„Das ist eine Tinktur aus Beifuss und Frauenmantel. Träufele davon 25 Tropfen in einen kleinen Becher Wein, und trinke den in einem Zug leer. Du wirst Schmerzen haben, aber wenn alles gut verläuft, wirst du das Kind kurz darauf tot gebären. Die Tage danach musst du dich schonen. Trink genug, iss tüchtig und überanstrenge dich nicht. Du wirst müde sein, aber auch entspannt. Wenn du am dritten Tag noch immer bluten solltest, oder vorher sehr viel, lass nach mir rufen.“ Malva reichte Ida das Fläschchen, doch als diese danach greifen wollte, hielt die Ärztin es für einen Moment noch fest. „Nimm das nur, wenn du dir ganz sicher bist.“ Ida nickte, und nahm das Fläschchen entgegen. Sie hielt es mit ihrer Hand fest umklammert, sah dann zu Malva auf und sagte sehr leise: „Danke! Ich glaube, niemand außer dir hätte mir geholfen!“

Malva schmunzelte. „Ich sehe keinen Sinn darin, dir Hilfe zu verwehren. Dafür verstehe ich wohl zu wenig von moralischen Dilemmas. Ich versteh auch nicht viel von Verzweiflung oder Angst, aber ich erkenne, dass du sie hast. Wenn ich dir dabei helfen kann, wieso sollte ich es nicht?“ Ida lächelte. Sie hatte nicht erwartet, dass ihr Ausflug so positiv für sie enden würde. Sie bezahlte die Tinktur, bedankte sich noch einmal und wollte gerade den Laden verlassen, als die Tür aufflog und vier Personen hastig in die kleine Apotheke traten. Eine der Gestalten wurde von zweien gestützt. „Bitte, helft ihm! Konrad hat sich das Bein gebrochen!“ rief eine Frau, die den offensichtlich verletzten Konrad stützte. Ida erkannte die Personen, es waren der Förster von Sturmbach, seine Ehefrau, sowie deren beiden Söhne. Sie blickte zu Malva, die tief durchatmete, sich sammelte und dann sagte: „Bringt ihn auf den Behandlungstisch. Aber vorsichtig, das Bein sollte er nicht mehr bewegen.“ Konrad wurde von seiner Frau und seinem jüngeren Sohn am Tresen vorbei zum massiven Holztisch geschleppt, wo er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht absetzte. Der ältere Sohn blickte sich skeptisch in dem Raum um, bevor er seiner Familie folgte. „Leg das Bein hoch, wenn‘s geht, ich bin sofort bei euch“, sagte Malva, und verschwand zügig im Hinterzimmer.

„Wir sollten zum alten Michel gehen, der hat Ahnung von dem was er tut“, raunte der ältere Sohn. „Sei still, Vince. Der alte Michel wohnt zu weit weg, und von ihr habe ich nichts Schlechtes gehört!“ zischte die Mutter. Vince schnaubte. „Aber auch nur, weil du dich nur mit unserer Ziege unterhältst! Diese Ärztin ist schon seit drei Jahren in Sturmbach, und niemand kennt sie so wirklich. Ich hab viele Gerüchte gehört. Sie würde alchemistische Experimente machen, sie scheint Dinge zu wissen, die kein normaler Medicus weiß… sie kommt mir komisch vor.“ „Wenn ich dir so suspekt bin, dann verlass mein Haus.“ Malva war wieder im Raum, und stand auf einmal sehr dicht vor Vince. „Keine Sorge, ich werde mich um deinen Vater kümmern, aber ich will niemanden der mich bei meiner Arbeit behindert hier drin haben.“ Sie klang sehr ruhig, aber bestimmt. „Das ist doch lächerlich!“ Vince wich ihrem Blick aus, und versuchte seine Anspannung mit einem Lachen zu überspielen. „Jetzt beeil dich, Vater verblutet sonst noch.“

Ida, die die ganze Szenerie bisher vom Tresen aus beobachtet hatte, blickte zum ersten Mal auf das Bein von Konrad, welches vor Blut triefte, und an dessen Unterschenkel ein Stück Knochen aus dem Fleisch hervor ragte. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck und sie musste weg sehen. Malva starrte Vince noch einen Augenblick lang an, dann ging sie zu Konrad. „Nimm hiervon einen Schluck. Das ist Mohn-Extrakt, das wird die Schmerzen lindern, und dich schläfrig machen, sodass ich mich besser um dein Bein kümmern kann.“ Sie hielt ihm eine kleine, braune Flasche an den Mund und ließ ihn trinken. „Was eine Spinnerin“, gab Vince kopfschüttelnd von sich, während er auf und ab lief. Seine Mutter hielt währenddessen Konrads Hand fest und strich ihm die Haare von der verschwitzten Stirn. „Lass doch einfach gut sein, Vince. Sie hilft Papa…“ meldete sich der jüngere zu Wort.

„Wenn helfen darin besteht ihn auf Drogen zu setz-„ weiter kam er nicht, den Malva hatte sich abrupt zu ihm umgedreht, ihm den Mörser aus der Hand genommen, welchen er aus Neugierde vom Regal genommen hatte, und erwiderte lautstark: „Wenn du ein Problem mit meinen Arbeitsmethoden hast, dann verschwinde aus meinem Haus. Ich werde das kein drittes Mal sagen, also verzieh dich.“

Vince war für einen Moment wie erstarrt, doch er schien Malva nicht ernst zu nehmen. Sein Fehler, denn einen Augenblick später hatte sie ihn am Kragen gepackt, zur Tür geschliffen und ihn raus geworfen, im wahrsten Sinne des Wortes. Ida war überrascht, denn so stark sah Malva nicht aus, und sie wusste das Konrad mit seinen Söhnen regelmäßig Holz hacken war. Die Tür schlug zu, Malva drehte sich zu den verbliebenen vier Personen im Raum um und versuchte ein Lächeln.

„Verzeiht mir, aber Störungen bei der Arbeit kann ich wirklich nicht gebrauchen.“ Sie eilte hinter den Tresen, krempelte die Ärmel ihres roten Wamses hoch, strich sich eine dunkelblonde Strähne aus dem Gesicht und legte verschiedene Werkzeuge parat. Konrad schien inzwischen etwas weggetreten zu sein, und seine Frau und der verbliebene Sohn wagten kein Wort mehr zu sagen, während Malva sich daran machte, die offene Wunde und das gebrochene Bein zu versorgen. Als ein lautes Knacken ertönte, und Konrad schmerzerfüllt aufstöhnte sah Ida das pulsartig austretende Blut und ihr wurde plötzlich speiübel. Sie lief zur Tür, das Fläschchen mit der Tinktur in ihrer Hand fest umschlungen, und verließ das Haus. Vor der Apotheke musste sie erst einmal tief durchatmen. Die kalte Luft stach in ihrer Lunge, aber langsam verzog sich die Übelkeit.

„Na, haste auch zu viel von der Irren?“ Vince stand an die Hauswand gelehnt, sein dreckiger Stiefel ruhte an der Fassade. „Ja, genau“, nervös lachte Ida. Sie wollte schnell nach Hause. „Wozu warst du überhaupt bei der?“ fragte er mit einer Mischung aus Neugierde und Skepsis in der Stimme. „Nur was gegen Bauchschmerzen“, murmelte sie, und hielt dabei das Fläschchen etwas hoch. Vince nickte.

„Die Schlampe wird es noch bereuen mich rausgeschmissen zu haben.“ Er spuckte aus, direkt vor die Eingangstür. Ida war die ganze Situation sehr unangenehm. Sie gab noch ein nervöses Lachen von sich, dann stammelte sie etwas von „muss jetzt los“, und machte sich hastig auf den Weg, zurück zum Marktplatz und über den matschigen Weg nach Hause.

Kaedwen, das kleine Städtchen Sturmbach, 12. Hornung des Jahres 1279

Nachdem Ida die letzten drei Tage schmerzerfüllt und zurückgezogen durchlebt hatte, ging es ihr endlich besser. Ihr ging es sogar richtig gut. Sie fühlte sich befreit, und nachdem sie ihre blutigen Laken gewaschen, selbst ein warmes Bad genommen und eine heiße Suppe gegessen hatte, machte sie sich auf nach Sturmbach. Sie wollte Malva danken. Dafür, dass sie ohne Sorge um ihre Zukunft weiter leben konnte. Es war nach wie vor bitterkalt draußen, und die letzten Tage schien es geschneit zu haben, doch mit ungetrübter Laune stapfte Ida durch den knirschenden Schnee. Nach einigen Minuten erreichte sie die ersten Häuser des Städtchens, in dem es genauso ruhig schien wie bei ihrem letzten Besuch. Als sie den Marktplatz und die Straßenecken danach erreichte, hielt sie vergeblich Ausschau nach dem Schild der Apotheke. Sie war in der richtigen Straße, doch als sie näher kam, sah sie, dass das Schild abgerissen war, und zertrümmert am Boden lag. Nur noch die Worte „Heilkunde und Apotheke“ waren lesbar, der Name war vollkommen zersplittert. Entsetzt blickte sich Ida um. Das sah nicht nach dem Ergebnis einer starken Windböe aus. Dann erst viel ihr das Ausmaß des Schadens auf. Sie taumelte einige Schritte zurück, und schlug vor Schreck die Hände vor den Mund.

Die Fenster des kleinen Stadthäuschens waren eingeschlagen, die Tür hing schief in der Angel und das Haus schien weitestgehend ausgeräumt zu sein. Vor dem Fenster lagen die noch leicht qualmenden, verkohlten Überreste einiger Möbelstücke. Von Malva war keine Spur mehr. „Was ist hier geschehen?“ fragte Ida einen Mann, der ein paar Häuser weiter ein paar Säcke Getreide von einem Karren schleppte.

„Die haben diese Ärztin verjagt, gestern Abend. Haben gesagt, sie sei eine Hexe oder sowas. Nicht ganz klar im Kopf. Eine Gefahr für die Allgemeinheit. Sie war aber schon gar nicht mehr zuhause. Hatte wohl ihre Habseligkeiten gepackt und war verschwunden. Sehr verdächtig, wenn du mich fragst“, murrte der Alte. Ida bedankte sich, ging ein paar Schritte zurück zum Haus, und sah sich noch einmal die Trümmer an. Ein noch glimmendes Stuhlbein brach zusammen und wirbelte dabei grau-weiße Asche auf, die den herunterfallenden Schneeflocken entgegen stieg. Es war ein kalter Tag.