Konsequenzen
Metagame
von Earl
Im Westen hinter dem großen Turm ging gerade die herbstliche Sonne unter und tauchte das Land ringsum in ein erhabenes Gold. Der Redanier kam näher. Mit der einen Hand führte er sein erschöpftes Pferd am Zügel, mit der anderen, bandagierten Hand hielt er sich die Seite. Dahin trottend, ausgezehrt, müde und hungrig, schob er sich den roten Hut mit den Rabenfedern in den Nacken. Unter seinen beschlagenen Schuhen mit den Sporen knirschte der Sand und das Hufgeklapper hallte von der Ringmauer Kaer Iwhaells wider. Hieronymus passierte das offene Tor, aus dem großen Marstall drangen Lärm und Stimmengewirr. Abendbrotzeit. Er seufzte und wandte sich nach rechts zu den Stallungen.
Drinnen war es stickig und nur ein dünner Strahl schummrigen Lichts drang durch die kleine Öffnung unterhalb des Giebels. Hieronymus „Vertigo“ Katz vom Aschenberg band seinen Fuchs Philipp zum Absatteln kurz neben „Opa“ Valerians Falben an und als er fertig war humpelte er noch einmal mit einem Eimer nach draußen und füllte diesen im großen Trog. Als er wieder herein kam band er sein Pferd los und führte Philipp weg von Valerians Franziska, wobei er bemerkte, dass sich Philipp offenbar nur ungern von Franziska weg in den hinteren Teil der Scheune bringen ließ. Vertigo füllte Philipps Tränke auf, holte einen Arm frisches Heu und eine Hand voll Mohrrüben aus dem Vorrat und fütterte sein Pferd liebevoll. Als der Fuchs endlich fertig war, streichelte Hieronymus noch einmal den starken Hals und flüsterte: „Gut gemacht, Philipp.“ Dann ging er nach draußen und schloss das Tor.
Gerade als er sich umdrehte lief ihm Logan über den Weg. „Vertigo! Du hier? Du warst doch mindestens einen Monat weg. Sag mal, was ist denn mit dir los? Du siehst gelinde gesagt beschissen aus. Dein Auge, dein Bein? Was hast du mit der Hand gemacht?“Hieronymus blickte finster drein. „Ja, ich freu mich auch dich zu sehen. Später ja? Sag Valerian und den anderen Bescheid. Greifenrat! In seinem Studierzimmer. Aber lass ihn ruhig fertig essen.“ Ohne Logan eines weiteren Blickes zu würdigen verschwand der Redanier hinüber zum Treppenhaus.
Hieronymus war hinauf ins Zwischengeschoss gestiegen, hatte die Kette mit dem Schlüssel vom Hals genommen und die Eichentür zum Kontor geöffnet, anschließend hatte er sich eine Flasche des leuchtend orangenen ylosianischen Zwergenschnapses geschnappt, ein passendes Kristallglas dazu und sich auf den Weg zu Valerians Büro gemacht. Nicht ohne vorher in aller Gründlichkeit die Türe wieder zu verschließen.
In Valerians geräumigem Zimmer angekommen, ließ er sich in dem gepolsterten Scherenstuhl hinter dem mit Pergamenten und Papieren überfüllten eichenen Schreibtisch nieder. Ein Seufzer. Und dann ein lautes Plopp als er die Flasche des starken Alkohols entkorkte. Während er sich zwei Finger breit Schnaps eingoss blickte er sich im Raum um. Seit er hier zusammen mit Bertram Groll während der Belagerung durch Redanien das letzte Mal gesessen hatte, hatte sich der Raum kaum verändert. Auf dem Alchemietisch waren einige Kolben hinzu gekommen. Es standen ein paar neue Bücher im Regal (Zerbrochene Träume: Wenn sich das Schicksal wendet, Grausige Wesen der Tiefe, Wanderungen mit Werwölfen) und ein oder zwei hässliche neue Monstertrophäen standen auf der Kommode.
Während er so seinen Blick schweifen, die Gedanken kreisen und den ylosianischen Rachenputzer die Kehle hinunter rinnen lies, vernahm er plötzlich Schritte auf dem Gang. Er sprang auf, flitzte zum runden Ratstisch und ließ sich schnell auf einem der harten Holzstühle nieder. Keine Minute zu früh, denn schon flog die Tür krachend auf und nacheinander kamen Valerian, Raaga, Heskor, sowie Atheris, Wim und Nella herein. Das große Stühle rücken begann und als es endlich wieder still wurde fragte Valerian: „ Also? Du bist wieder da. Aber was soll dieser riesige Aufriss? Greifenrat? Wozu? Und wie siehst du überhaupt aus?“ Dies war eine überaus berechtigte Frage, denn tatsächlich war Vertigos äußeres Erscheinungsbild mehr als dürftig. Die Hose war dreckig, verkrustet und nur unzureichend geflickt worden. Der Verband an der linken Hand war seit einigen Tagen nicht gewechselt worden. Das Gesicht war zerschunden und mit Blutergüssen in allen Farben des Regenbogens übersäht. Und als Krönung des ganzen konnte man wohl die schlecht verheilte Wunde bezeichnen, die sich quer über sein linkes Auge zog. Dieses sah in der Tat sehr ungesund aus, hatte doch die Iris ein helles weiß, umschlossen von einem unregelmäßigen Ring Rubinrot angenommen. Der junge Redanier war wirklich in einem erbärmlichen Zustand. „Ja pass auf. Die Sache war die… Also ich sollte ja nach Bogenwald reisen. Einerseits um nach >>ihr<< zu sehen, andererseits…“, weiter kam er nicht, denn Raaga unterbrach ihn: „Welches >>Andererseits<<? Du solltest nach ihr sehen. Fertig. Sie einige Tage beobachten. Wie sie mit dem Befall fertig wird. Nichts andererseits. Oder irre ich mich da?“ Vertigo nahm einen großen Schluck vom Schnaps. „Also, als wir diesen Fisstechschieber hops genommen haben, haben wir ja auch Fisstech sicher gestellt. Gestreckt wie Sau. Mit Asche und so. Als dieser Drogenhändler abgeurteilt war, hat Nella ja den Rest dieses Teufelszeugs verbrannt. Aber…“ Valerian schlug sich vor die Stirn. „Oh Vertigo!“ „Nein, Nein. Nicht wie du denkst. Also. Ich habe eine kleine Phiole zurück behalten. Um es genauer zu analysieren und eventuell Rückschlüsse über die Herkunft zu erlangen. Nun, Anna hat es untersucht. Dieses Fisstech enthält Bestandteile, die in dieser Zusammensetzung hauptsächlich in Redanien verwendet werden.“
Da staunte sogar der nilfgaarder Hexer Atheris über so viel Scharfsinn und Vertigo erntete einige anerkennende Blicke. Heskor fragte neugierig: „Sag mal Vertigo. Könntest du mir das Fläschchen mit dem Rest vielleicht geben, dann würde ich es auch noch mal eingehend untersuchen. Vielleicht fällt mir ja noch irgendwas auf.“ Mit einem Mal wurde es sehr warm unter Vertigos Hut und er musste ihn abnehmen. Die anderen mussten seine Nervosität gespürt haben, denn nun hakte Nella nach: „Du hast es doch noch oder?“ „Nein, also wisst ihr da war dieser Hexer und ähm wisst ihr also…. Tja also… Scheiße. Nein. Ich hab es nicht mehr. Da war dieser Wolfshexer Balthar. Wir haben einen Abend zusammen im „Torkelnden Schurken“ gezecht. Es sind einige gute Liter Alkohol geflossen und Balthar zog sich eine Prise Nasentrost nach der anderen rein. Bis der Tabaksbeutel leer war. Und tja, es war eben schon etwas später und wie gesagt, der eine oder andere Kräuterwodka war schon in unseren Kehlen verschwunden. Und da dachte ich irgendwie es wäre eine gute Idee, ihm eine Nase von dem Fisstech zu gönnen. Nur eine Nase. Also bin ich durch die Bruchengasse rüber in die Messergasse zu meiner Herberge. Hab das Fläschchen raus gekramt und als ich ihm dann die Phiole im „Schurken“ gegeben habe, da hat er doch glatt das Fisstech unter unserer Zecherrunde, die übrigens beträchtlich war, verteilt und irgendwie kam das eine zum anderen und es wurde eine wilde Fisstechfeier.“, erlahmte Vertigos Stimme. Er lauschte auf das große Donnerwetter. Die Vorhaltungen, die Flüche. Doch es kam nichts. Irgendwann sagte Valerian langsam: „ Schade drum. Naja wenigstens wissen wir jetzt ein bisschen mehr. Und ihr hattet irgendwie ´nen guten Abend in der Taverne. Is ja auch was wert. Irgendwie.“
„Was ist jetzt aber mit deinem Auge und mit deinem Finger passiert?“, lies sich Wim vernehmen.„Das hier“, sagte Vertigo und hob die bandagierte linke Hand hoch und deutete mit der gesunden rechten auf sein zugeschwollenes Gesicht, „habe ich ihr zu verdanken. Naja, eigentlich ihm. War einer dieser Anfälle, die sich übrigens häufen. Sie hatte fünf Stück während ich dort war.“ „Wirklich?“, fragte Nella und blickte Vertigo tief in die ungleichen Augen. „Wirklich“, antwortete dieser. „Naja, der Zeigefinger ist mittlerweile taub, aber das kann Mei sicher schnell richten“, sagte Vertigo leicht hin. Atheris lächelte unangenehm. „Die ist zurzeit außer Haus. Nella kann dir den Finger aber sicher braten oder pulverisieren, wenn du das möchtest. Alternativ könnte ich ihn dir mit meinem Schwert abschnei…“ „Am Arsch die Räuber! Sicher nicht! Ich warte lieber, bis Mei wieder da ist, bevor ich dich mit deinem schlecht gewetzten Schlachtermesser da ran lass.“ Schnell unterbrach Raaga die beiden, denn er sah bereits einen ihrer üblichen Streits herauf ziehen. „Dein Auge? War das auch sie?“ Vertigo seufzte: „Nee du. In Bogenwald gab es ein Turnier. Allerdings wurde scharf gefochten und so eine unsäglich bescheuerte Magierin hat nichts Besseres zu tun, als sich ein Schwert zu nehmen, gegen mich anzutreten und mir mit einem unbeholfenen Streich das scheiß Auge aus dem Schädel zu puhlen! Kaum hatten es die Heiler wieder drin und mich schön unter Opiate gesetzt, kommt sie doch einfach her und versucht, unfassbar blöd wie sie eben ist, ungefragt obendrein, das Auge magisch zu heilen! Ist es denn zu fassen? Und dann legt sie nicht genug Kraft in den Spruch um die magische Barriere rund um Bogenwald zu brechen. Das Auge ist also fast heil. Nur seh‘ ich plötzlich alles rot.“ „Tust du das nicht eh?“, lies sich Atheris hören. „Ich seh also alles rot. Ich geh zu ihr hin und sag >>He du. Erst machst du mein Auge kaputt und dann ruinierst du auch noch das Werk der Heiler<<. Sie entschuldigt sich, versucht es also abermals und dieses Mal scheint es zu klappen. Und dann schau ich am nächsten Morgen beim hmm..hmm… >>Verlassen<< des Dorfes in den Spiegel und hab da plötzlich diesen magischen Unfall im Gesicht!“
Nella prustete los. „Ein Redanier wird von einer Magierin aufgeschlitzt, geheilt und dann schrecklich entstellt. Hast du dir das nicht bloß im Fisstechrausch zusammen fantasiert?“ Vertigo brauste auf: „Pass mal auf Nella. Ich hab zwei beschissene Wochen auf See hinter mir und drei noch beschissenere Tage auf Siofra! Ich hab mir das nicht ausgedacht! Ich bin wahrlich kein Befürworter von Novigrader Praktiken, aber für sie würd‘ ich ein kleines Feuer anzünden. Darauf kannst du Gift nehmen.“
„Vertigo. Beruhig dich.“, bellte Raaga. Augenblicklich herrschte Stille. „Danke Raaga. Gift nehmen. Womit wir wieder beim Thema wären. Haben wir irgendwelche neuen Spuren, seit dem Giftanschlag in Alkalsa gefunden? Abgesehen von dem redanischen Militärausweis und der Erkenntnis, dass es sich um Henkersgift handelte?“ Heskor räusperte sich: „Ich habe meine Kontakte spielen lassen. Die haben aber nichts besonderes heraus gefunden. In der Unterwelt Solonias hat es in den letzten 2 Jahren schon einige Veränderungen gegeben. Hauptsächlich Zwerge aus Ylos, die hier ins bandenmäßige Schmugglergeschäft eingestiegen sind und damit die kleineren Banden aus dem Spiel gedrängt haben. Es gab einige Gerüchte über einen besonders brutalen Trupp. Aber bestätigt sind die nicht. Entweder es war nur dummes Gerede oder die Kerle halten zurzeit die Füße still.“ Wim hustete in die Stille hinein. „Meine Kontakte zum königlichen Geheimdienst haben in dieser Richtung auch wenig ergeben. Von Amerion her soll eine neue Familie ins Spiel gekommen sein und sich irgendwo in den zwölf Auen nieder gelassen haben. Aber die verwischen ihre Spuren zu gut. Tut mir echt leid.“ Er zuckte mit den Schultern. „Hmm. Dann sollten wir weiterhin vorsichtig sein. Zu den verbliebenen vier Flüchtlingen wissen wir auch nichts Neues oder Vertigo?“ Valerian blickte aus seinen Katzenaugen hinüber zum Redanier. Dieser schüttelte den Kopf. „Die Spur verläuft sich im Umland von Weißenborn. Aber offenbar sind sie immer noch hier im westlichen Solonia. Ich frage mich, wieso sie nicht in die nördlichen Königreiche zurück gekehrt sind.“
Während Hieronymus seine Gedanken ausgeführt hatte, war Valerian aufgestanden und hinüber zum Fenster gegangen. Er blickte hinaus, über das weite Land der Schwertau, welches nun von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne in ein samtiges Rot getaucht wurde. Was ging tatsächlich dort draußen vor? Die ganze Situation kam ihm mit einem Mal sehr bedrohlich vor. Giftanschläge aus der Unterwelt, Geheimagenten des Feindes in Solonia und dann auch noch der zusehends außer Kontrolle geratende Elf. Er wandte sich um und schaute in sechs fragende Gesichter. Sie alle erwarteten offenbar eine Entscheidung. „Nun gut. Ich schlage vor wir halten nach wie vor, wie Heskor so schön sagte, die Füße still. Aber wir erhöhen die Vorsichtsmaßnahmen. Nachts eine zusätzliche Wache am Zugang zum Vorratskeller. Ich will keinen zweiten Anschlag riskieren. Stichprobenartige Prüfung der Vorräte bei jeder Lieferung. Und weil wir gerade davon reden. Hinrick aus Weißenborn macht Probleme. Er will neue Vertragsbedingungen für seine Lieferungen aushandeln. Raaga, Nella und Vertigo, ihr macht euch nächste Woche auf den Weg und kümmert euch darum. Vielleicht findet ihr ja doch noch etwas raus, bezüglich der Flüchtlinge. Ich schlage vor wir gehen jetzt alle in die Schänke und genießen den Rest des Abends. Alle außer Vertigo! Tut mir leid, aber du brauchst erst mal ein Bad.“