Von Fängen, Klauen und braunen Schmuddelbildchen

Metagame

Von Matthias

„Der Sturm des Wolfes bricht an, das Zeitalter von Schwert und Axt. Die Zeit der Weißen Kälte und des Weißen Lichts nahet. Die Zeit von Wahnsinn und die Zeit von Verachtung, Tedd Deireádh, die Endzeit. Die Welt wird im Frost vergehen und mit der neuen Sonne wiedergeboren werden.“

Aen Ithlinnespeath, die Prophezeiung Ithlinnes.

Bildquelle: Zeichnung von David R. (SC von Volmar von Brugge)

Kapitel 1: Alarm im Darm

Wenige Tage nach dem Untergang von Kaer Iwhaell, Rittmarshausen in der Schattenau

Der alte Mann dachte an den Feuerschein und Rauch in der Ferne, die stummen Zeugen der Vernichtung alles, wofür er die letzten Jahre kämpfte. Er dachte daran, wie er mit seinen beiden Begleitern davonritt, das brennende Kaer Iwhaell im Rücken, und sorgte sich wieder einmal um seine Schüler. „Es wird Zeit, in freundlichere Gesichter zu blicken, Valerian – ich dachte ihr seid recht gut mit jedem Freund… man möchte sagen – „Familie“?!“ Volmar lächelte milde, Charlotte grinste verstohlen. Der grauhaarige Alte nickte mit einem leichten Grummeln. Valerian saß auf einem Baumstumpf am Straßenrand und Charlotte stand vor ihm mit ihrem braunen, offen getragenem Wams, unter dem etliche kleine Beutelchen und Taschen umherbaumelten, mit ihrem breiten, braunen Schal der das lyrische Abzeichen auf ihrer Brust beinahe verdeckte und dem olivfarbenen Jägershütchen auf dem Kopf, unter dem ihre langen Haare fast gut versteckt waren. Sie wickelte einen weißen Leinenverband von seinem Kopf und spülte die Platzwunde an der Schläfe noch einmal ab. Valerian sinnierte über ihre eigentliche Haarfarbe, ihm ist bisher nie so recht aufgefallen, ob das ein blond oder ein braun ist – wohl irgendetwas dazwischen. Aber im Zuge seiner Lebensweisheit wusste er, dass man Frauen so etwas nur mit gewissem Risiko fragen konnte, genauso wie wenn man nach ihrem Gewicht in Pfund fragen würde. „Das wars. Wir haben keine Verbände mehr. Aber die Wunde heilt gut Valerian… Nichts, was ich nicht von Hexern gewohnt wäre.“ Sagte Charlotte und bedachte den Wolfshexer Volmar von Brugge mit einem Seitenblick. Der saß ebenfalls auf einem Baumstumpf, aber auf der gegenüberliegenden Straßenseite, und trank etwas aus einem ledernen Trinkschlauch. Danach ruckelte er an seiner braunen Lederrüstung über dem Kettenhemd und dem breiten ledernen Schwertgurt, der über seine linke Schulter ging, um den Sitz seiner beiden Schwerter auf dem Rücken zu ändern. Seine braunen, lockigen Haare und der Vollbart wurden verdeckt von einem mitgenommenen braunen Schal, den er als Kapuze um den Kopf geschlagen hatte. Hinter ihm grasten die Schimmelstute Brunhild, Volmars Rappe Vargheist und Charlottes Fuchs Spalla.

„Wir ändern unsere Route. Wir reiten nicht nach Nordwesten weiter über die Waldau, sondern ziehen westwärts durch die Elfenau und dann erst nach Norden. Mindestens ein freundliches Gesicht erwartet uns – wenngleich es eine typisch elfische Unterkühltheit besitzt… also genau deins Volmar.“ Charlotte kam aus dem Grinsen nicht mehr raus. Zum ersten Mal seit dem Fall von Kaer Iwhaell hob sich die Stimmung des Trios. „Mein lieber Bekannter wird uns sicherlich gut bewirten – und gute Betten haben wir auch mal wieder nötig… außerdem ist der Umweg überschaubar. Ihr kennt ihn: Wir reisen zu Baron Nuriel von der Elfenau, und dann weiter nach Norden zur Elfenküste.“ Volmar betrachtete Valerian: Auch wenn er es ihm nie sagen würde, der etwas kleine alte, grauhaarige Mann besitzt eine natürliche Autorität, ein angeborenes Talent zum Anführer und Lehrmeister – und er kann es noch so sehr leugnen. Sein aubergine-farbener Rüstmantel mit den weißen Runen, seine Lederrüstungsteile mit den Nieten und die runenverzierten Schwerter auf dem Rücken gaben Valerian ein besonderes, passendes Erscheinungsbild zu seiner einzigartigen Persönlichkeit… und dennoch gab es viele Marotten an Valerian, die Volmar unsäglich nervten.

Sie ritten weiter den Weg entlang bis kurz vor die Auengrenze und folgten sodann einer kleinen Straße, die irgendwann von der Haupthandelsstraße abbog. Diese führte sie mitten durch einen dichten Wald, der durch die tiefstehende Nachmittagssonne in mystische, obskure Schattenspiele getaucht wurde. Valerians alte Schimmelstute „Brunhild“ schnaubte. „Willkommen in der Elfenau!“ moderierte Valerian geübt altklug. Volmar spürte, dass dieser Wald voller Geschichte war, voller Zorn und rastloser Seelen. „Der Herr dieser Au, Baron Nuriel, ist seit Beginn unserer Zeit in Solonia ein enger Vertrauter von uns… Er war der erste Auenherr, der eine tiefe Freundschaft zu uns, der Greifenschule aufbaute. Er war es, der uns regelmäßig mit Aufträgen versah…“ „Kann ich mir vorstellen, bei dem scheußlichen Wald.“, warf Charlotte ein. „… zwei gegen einen ist ungerecht.“, grummelte Valerian und zwinkerte Charlotte zu. Plötzlich blieb er stehen und seine beiden Begleiter folgten seinem Beispiel. Die Pferde scheuten und beschwerten sich lauthals. „… du hast nicht zufällig auch diesen Wald intensiv gesäubert, Valerian?“ „Nur die Zonen in der Nähe des waldnahen Anwesens Nuriels, auf der gegenüberliegenden Seite… dieser Wald ist ein Fass ohne Boden, was Geisterwesen betrifft. Auch einige fiese Feenwesen find…“ „VAAAALEEEERIIAAAAAN!“ zwei große bernsteinfarbene, leuchtende Kugelaugen in einer kleinen Silhouette rannte frontal auf die drei Berittenen zu. Charlottes Hand wanderte erschrocken zu ihrem Kurzschwert. Im ersten Reflex ging Volmars linke Hand zum Silberschwertgriff an der linken Schulter – dann lächelte er mild und wies mit einer sanften Handbewegung Charlotte an, sich zu entspannen. Valerian seufzte: „… der Fluch Solonias. Wo man auch hinkommt, immer wieder wird Valerian geschrie…“ „OOPAAAAACHEN!“ Vor den drei Pferden stand eine kleine Gestalt, vielleicht von der Größe eines Gnoms, doch von der Statur eines Kindes. Sie war gehüllt in Sackleinenlumpen, auf dem Rücken lag eine zerrissene alte blaue Pferdedecke wie ein Mäntelchen, und auf dem Kopf thronte ein Reisig Hütchen. An der Spitze aus der Hutmitte blühte ein einzelnes Gänseblümchen – nichtsdestotrotz kam den Hexern ein herber Gestank entgegen. „Hallo Firi. Es ist schön dich zu sehen. Das hier sind meine Freunde Charlotte und Volmar.“ „Hallo Volle Lotte und hallo Voll der Arsch… Was glotzt du so? Du Miesepeter!“ Die kleine Firi streckte Volmar die Zunge raus. „Ein Göttling, Valerian? Hier?“ „Der ist aber süß!“, sagte Charlotte mit geröteten Wangen. „Ich bin Firi! Und bin eine ‚sie‘, wenn schon – ist mein Kleid nicht ein eindeutiger Hinweis?“ Sie machte eine kecke Drehung in der Hoffnung, ihr „Kleid“ würde prinzessinnenhaft wehen – tatsächlich war der schmutzverkrustete Leinenklumpen aber so starr wie Baumrinde, und hing straff an der dürren Gestalt. „Wunderschön Firi. Und es ist schön dich nach den Jahren wiederzusehen. Wir wollen zu Nuriel – erlaubst du uns deinen Wald zu durchqueren?“ Charlotte kicherte über Valerians Förmlichkeit. Firi nahm Haltung an, und sprach stolz: „Gewiss! Ich gewähre euch sogar mein persönliches Geleit! Folgt mir – und wehe der Miesepeter guckt weiter so doof!“ Valerian grinste Volmar an.

„Sag mal, ‚Firi‘…“ begann Volmar, „woher kennst du den alten Mann hier?“ „Er war vor einigen Jahren hier im Wald, und hat dem Elfen, dem neuen Herrn der Elfenau geholfen die Leichenfresser zu verhauen. Ich habe ihn damals zu einigen der Monsternester geführt – muss aber sagen, einige hat er übersehen, vor allem hier im Firiwald! Schäm dich Opachen!“ „Gewiss, wie konnte ich das übersehen…“ Valerian räusperte sich, lehnte sich zu Volmar rüber und flüsterte etwas von ‚Bezahlung Nuriels‘. Volmar nickte bedächtig und lächelte.

„Bekommst du uns sicher hier durch Firi? Ohne Schwierigkeiten?“, fragte Valerian „Klaaaaaar! Es kann nichts passieren. Naja, abgesehen von den zwanzig Leichenfressern hier auf dem Weg!“, entgegnete das kleine Wesen. Alle drei Reiter hielten sofort. „Wie bitte?“, fragte der alte Hexer. „Najaaaa, also ich könnte euch ja eine Abkürzung zeigen – aber dafür müsstet ihr mir einen Gefallen tun…“ Firi drehte sich mit ihren leuchtenden Augen gespenstisch-langsam um, und sah das Trio mit breitem Grinsen an.

„Es ist nicht mehr weit zu meinem Haus. Hopp hopp!“, rief der Göttling fröhlich. Das Trio war inzwischen abgestiegen und führte die Pferde am Halfter durchs Unterholz des Waldes vorbei an dicken Farnen und vorbei an den mächtigen knorrigen Stämmen uralter Bäume. Charlotte und Firi hatten sich inzwischen angefreundet, Charlotte durfte sogar einmal für ein paar Minuten Firis heiligen Reisighut aufziehen – gab diesen Firi aber wegen eines befremdlich unangenehmen Geruches der Kopfbedeckung zügig zurück. Nach einer halben Stunde kamen Sie zu einem riesigen alten toten Baum, dessen massiver Stamm vorne ein kleines Loch aufwies. „So – liebe Hexerchens, hier mein Auftrag.“ Firi räusperte sich würdevoll: „Befreit mein stilles Örtchen von dem dort ansässigen Monsterproblem, und ich zeige euch einen Geheimpfad der sicher zu dem Elfenmann führt.“ Alle drei zogen eine Augenbraue hoch. Charlotte fragte zuerst: „Warum betonst du ansässig so?“ „Ganz einfach Lottilein -weil das Monster wortwörtlich da-sitzt!“, sie zeigte auf das Unterholz weiter hinter den toten Riesenbaum, in das ein kleiner Trampelpfad durch Farne führte. „Hat es dich angegriffen Firi? Bist du verletzt?“ „Nein, nein…“ antwortete sie Valerian. „Eigentlich ist sie ganz lustig. Aber sie weigert sich von meinem Lieblingsplatz runterzukommen – und damit ist meine… Logistik behindert. Ihr sollt sie also nicht totschlagen, nur irgendwie da wegbekommen.“, fuhr Firi fort. Aus drei fragend hochgezogenen Augenbrauen, wurden sechs. „Aaaaach jetzt macht schon. Ihr werdet es sehen, wenn ihr da seid – und tschüss ich warte hier daheim!“ „Und was für ein Mon…“, wollte Volmar gerade ansetzen – aber Firi war bereits im Baum verschwunden.

Die drei Gefährten ließen ihre Pferde angebunden bei Firis Heim zurück und folgten dem Pfad zu Fuß. Trotz der Nacht versuchten sie ihr Glück und suchten nach Spuren und Hinweisen. Der silberne Mondschein war eine leichte Hilfe dabei. Der Pfad war rege gepflastert von jungen wie alten Fußspuren Firis. Sonst war nichts zu sehen – doch stieg mit fortschreitendem Pfad den Hexernasen ein übler Latrinengestank entgegen. „Trollscheiße!“, stellte der alte Hexer überrascht fest. „Wie bitte? Du kannst die Monsterspezies am Gestank der Scheiße erkennen Valerian?“, fragte Volmar ungläubig. „Nur, wenn es sich um miese Diarrhöe handelt… den Geruch kenn ich von unserem ‚Hof-Troll‘ Effenberg und Talbot. Mein Schüler Atheris hatte sich mal den Spaß erlaubt und Effenberg und Talbot etwas weiße Möwe gegeben… wir mussten wegen des Gestanks in der Nacht die Burg evakuieren und im Wald die Nacht verbringen…“, fuhr der Alte fort. Charlotte und Volmar sparten sich lieber die Rückfragen und schlichen weiter voran. Nach einigen Metern offenbarte sich hinter dem Gestrüpp eine kleine, runde Lichtung. In deren Mitte befand sich ein flacher, hohler Baumstumpf, auf dessen Wurzeln ein romantischer Lichtstrahl vom Mond herabschien. Auf dem Stumpf selbst saß eine große dunkle Gestalt. Sie klammerte sich am Stumpf mit ihren riesigen Pranken fest und jaulte unsäglich – wobei ihr ein donnernder Furz entfloh. Dann gleich noch einer – der Wald bebte. Während die drei Helden diesen bizarren Anblick erst verdauen mussten, ließ sie eine dritte gigantische Flatulenz zusammenzucken: Auf diesem Baumstumpf saß eine Trolldame, offenkundig geplagt von ihrem Gedärm – und fäkalierte in die natürliche Latrine inmitten der idyllischen Waldlichtung. „Ich gesagt‘ hab, in Ruhe sch… Oh, ihr nicht Firi? Verschwindet!“, grollte die Dame. Valerian trat vor: „Wir kommen gerade von Firi – wir… wollen dir helfen. Lass mich raten… du hast Firis Eintopf gekostet?“ „Ja! Zwar wenig Fleisch – aber gut lecker. Jetzt ich sitzen drei Tage auf Hintern. Kann Stumpf nicht verlassen.“, erwiderte der Troll. „Moment – woher hast du das mit der dünnschiss-verursachenden Göttlingssuppe gewusst?“, fragte Volmar. Valerian schwieg betreten, und verzog keine Miene – er war zu sehr damit beschäftigt die Erinnerung an jene Suppe vor einigen Jahren zu vergessen. Damals haben seine Jagdgefährten ihm alle mitgeführten wollenen Wundverbände aus ihren Taschen geben müssen für seinen… „Ich kenne dein Leiden. Aber ich kenne auch die Lösung. Warte hier – Volmar und ich werden dir Kräuter bringen, die dir helfen.“, beendete Valerian seine Ausführung. Die Hexer nickten sich kurz zu, und verschwanden dann ins raschelnde Gestrüpp. Die Trolldame wandte sich Charlotte zu, die etwas verloren auf der Lichtung vor dem furzenden Monster stand, im schönsten Mondenschein. „Aaaargh – diese Schmerzen… Was machen Menschleins auf Baumstumpf, um bei Kacka abzulenken?“, fragte das Ungetüm. Charlotte überlegte kurz, lächelte und zog ihren Rucksack vom Rücken.

Wenige Augenblicke später kamen die beiden Hexer zurück. Valerian hatte einiges an Schöllkraut gefunden und hatte nun beide Arme voll davon. Volmar hat ein heilendes Moos gefunden, Wundfuß, das als Allheilmittel der Priesterinnen der Melitele in Ellander genutzt wird. Den Beiden bot sich bei ihrer Rückkehr ein verstörender Anblick: Schräglinks vor der Trolldame kniete Charlotte, aus ihrer Nase ragte ein, in die Nasenlöcher gestopftes Taschentuch, womit sie im Mondenschein aussah wie ein Stier mit stählernem Nasenring, und die kleinen Fasanenfedern an ihrem Hütchen bildeten die Hörner. In Ihren Händen hielt sie kleine und große Pergamentkärtchen. Mit verstopfter Nase klang sie, als ob sie einen üblen Schnupfen hätte: „… und das hier ist Königin Meve von Lyrien. Meine neuste Handelsware! Der mir bekannte Zeichner hat sich bei der Oberweite etwas künstlerische Freiheit gelassen…“, erklärte sie. „Die hat Narbe im Gesicht! Gut Kämpferin?“, fragte die Trolldame. „Oh ja! Während des zweiten Nilfgaard-Krieges verlor unsere geliebte Königin ihre Armee im Kampf gegen das verfickte Nilfgaard. Sie erhielt jedoch Verstärkung durch viele Freiwillige, angeblich auch Zwergen-Söldner aus Mahakam. Sie wurde dann als Anführerin der Rebellen wegen ihrer hellen Haare die ‚Weiße Königin‘ genannt. Es gelang ihnen bis nach Angren vorzudringen und dann zerschlug sie…“ „Ist der da auch weißer König?“, wurde Charlotte von der Trolldame unterbrochen, diese zeigte auf Valerian, der neben Volmar auf die obskure Geschichtsstunde zuschritt. Volmar zuckte zwar kurz als das Wort ‚Angren‘ fiel, antwortete aber dennoch zuerst auf die Trollfrage: „Nein – aber das wäre er bestimmt gern. Er wird ja von allen immer ‚hoher Herr Valerian‘ gena…“ „Wir haben dein Kraut. Kau‘ das hier, in rund einer Stunde wird’s dir besser gehen.“, schnitt Valerian ihn gelassen ab. „So, wir sind hier fertig. Trolldame – hat uns gefreut. Besuch doch mal unseren Burgtroll Effenberg und Tal…“ „Moment – ohne Arschpapier ich hier nicht weg gehen!“ Schweigen legte sich über die drei. Kurz darauf wurde seufzend in den Rucksäcken gekramt: Verbände waren keine mehr da. Zuerst musste also das gute Schreibpergament von Charlotte dran glauben. „Mehr!“ sagte die Dame auf dem Abort. Als nächstes lieferte Volmar aus seinen Taschen eine alte Karte vom Kaiserreich Nilfgaard: „Die ist erstens eh nicht mehr aktuell bei der nilfgaardischen Außenpolitik – und zweitens… wer will schon eine Nilfgaardkarte bei sich haben?“ Charlotte, als Lyrierin erklärte Feindin Nilfgaards, warf Volmar einen belohnenden Blick zu. Valerian meinte sogar ein romantisches Zwinkern zu sehen. „Brauch mehr. Da ist noch…“, beschwerte sich die Trolldame. Valerian kramte weiter in seinem Rucksack, und warf ihr die Karte des Kontinents Solonia zu. „Hast du dem Troll gerade unsere Landkarte für unsere Reise als Arschpapier gereicht, Valerian?“ Valerian räusperte sich „Erstens, kenne ich das Land sehr gut – und zweitens, sind wir gerade dabei zu emigrieren…“, er deutete bedächtig auf den zersplitterten Mond über ihren Köpfen, dessen Teile seit letztem Jahr stetig dem Kontinent entgegenstürzten. „MEHR!“ sagte die Trolldame. „Hab nichts mehr.“, sagten Volmar und Charlotte im Chor. Sie blickten gespannt Valerian an, der seufzte. Er fischte aus seiner Tasche ein Pergament, das kunstvoll in Leder gehüllt war und reichte es den gierigen Trollpranken. „Was war das… Valerian?“, fragte Volmar. „Die Lehensurkunde von Kaer Iwhaell.“ Das Geräusch einer Zikade ertönte. Dann das eines Uhus. „Naja… ist ja jetzt nicht mehr mein Lehen – hab es ja dem Herrn Hartmut von Munzlar übertragen. Der wird’s bestimmt eh umbenennen…“, erklärte der alte Mann. „MEEEEHR!“, schrie das Monster vom Baumstamm herüber. Die drei überlegten kurz, bis schließlich Volmars und Valerians Blicke auf dem Beutelchen vor Charlottes Knien verharrten. „Oooooh neeeein! Nein nein nein! Denkt nicht mal im Traum daran…!“, sagte sie, mit einem Anflug von Panik in ihrem Gesicht.

Das Trio kehrte zum großen toten Baum zurück. „Und, hat alles geklappt?“ „Ja…“, grummelte Charlotte und malte sich aus, wie eine Spur aus braun-besudelten Motivationsbildchen in den Wald führte, eine Spur aus lyrischer Erotik und Trollscheiße. „Sag mal Firi… warum gehst du eigentlich nicht woanders in den Wald zum… fäkalieren?“, fragte Volmar. „Aaaach – fääääääääkaliiiiieren kann ich überall! Aber ich gehe immer da auf meinen Lieblingsstumpf: Seit mir ein Bauer sagte, Kacke sei toll, um Blumen wachsen zu lassen – nehme ich jeden Tag eine frische Handvoll aus dem Baumstumpf für Olivia.“, führte der Göttling aus. „Wer ist Olivia?“, Charlotte bereute die Frage sofort. „Na Olivia ist meine Pflanze im Hut! Die kriegt jeden Tag eine Handvoll aus dem Baumstumpf!“, erklärte Firi. Die Stute Brunhild wieherte laut auf.

Charlotte hat sich im Folgenden stark dafür ausgesprochen Firis Angebot abzulehnen, vor ihrem Baumstumpf die Nacht zu verbringen. Der Göttling hielt sein Wort, und brachte innerhalb von drei Stunden die müde Reisegruppe zum Waldrand. „Sooo – wir sind da Freunde. Grüßt den Elfenmann von mir!“ Sie verabschiedeten sich von dem munteren Göttling mit fehlendem Geruchssinn und wandten den Blick nach vorn: Als sie den dunklen Wald verließen, zeigte sich vor Ihnen weites, offenes Land mit sanften Hügeln, Tälern und Flüssen. In der Senke direkt vor Ihnen stand eine Herrenhaus, das jetzt von dem Licht der aufkeimenden Morgendämmerung kitschig angestrahlt wurde. Die drei lächelten, nickten sich zu, und saßen auf.

Kapitel 2: Träume sanft

Eine Stunde später, in den Gemächern des Herrenhauses

„…Firi kocht also immer noch Suppe – und hat schon wieder jemanden vergiftet…“ Baron Nuriel nickte bedächtig. Der Elf saß in einem silberseidenen Morgengewand mit den drei Gefährten im Kaminzimmer des Hauses, in seiner rechten Hand ein kunstvoll verzierter Tonbecher mit Henkel. Um seinen Hals trug er wie immer die Rune Arhain. Seine spitzen Ohren lugten unter den geflochtenen Strähnen an den Schläfen hervor. ‚Nur ein Elf bringt es fertig früh morgens wie ein gestriegeltes Paradepferd auszusehen‘, dachte Charlotte so bei sich. Nuriel hingegen versuchte Volmar und Charlotte einzuordnen. Er hatte sie zwar an jenen Tagen vor einigen Monden getroffen, jenen schicksalshaften Tagen – an dem König Gernot von den zwölf Auen starb. Doch hatte er sie damals nicht so im Fokus, und allein, weil sie nun die Gesellschaft Valerians teilten, erregten sie seine Neugierde – und Neugier war eine seiner größten Schwächen. „Valerian, so sprich doch endlich – welcher Umstand schickte euch auf die Reise?“ „Auf die Reise hierher, nun… unsere Freundschaft würde ich sagen. Wir wollten nach den letzten unschönen Ereignissen mal wieder ein vertrautes und sympathisches Gesicht sehen.“ Nuriel lächelte kühl und milde – das konnte er seiner Großmutter erzählen. Er hatte den Alten inzwischen allerdings sehr liebgewonnen, und ein loses Band des Vertrauens verknüpfte beide Männer. Valerian fuhr fort: „Ansonsten nun ja, du weißt es ja: Wir verlassen diese Gestade. Kaer Iwhaell wurde vor einigen Tagen verwüstet von hetzenden Fanatikern, und Silberschwerter können sich nicht mit berstenden Himmelskörpern und göttergleichen Lichtelfen aus anderen Sphären messen… Ich meine, wenn es nur popelige Standardelfen wären.“ Nuriel lachte verlegen über den Scherz und verbarg seine tiefe Verbitterung. Einmal hatte er mit anderen diese Welt gerettet, und nun ging sie das zweite mal unter und würde ein Wesen, das so etwas wie einen Tochter für ihn war, wahrscheinlich mit sich reissen, doch behielt er diese Gedanken für sich. „Aber jetzt mal ehrlich, Nuriel. Die Schule wurde vor einigen Tagen zerstört,“ Nuriels Gesicht zuckte einen Bruchteil einer Sekunde bei dieser Nachricht, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle „Ich reise mit Volmar und Charlotte in unsere Heimat… wir machen uns auf die Suche nach Wissen: Um die Spezies der Hexer vor dem Aussterben zu bewahren brauchen wir nicht nur eine neue Heimat – sondern auch Antworten auf die Frage unseres Erschaffungsprozesses. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, wenn du es gestattest, mein Freund.“ Nuriel nickte bedächtig – wenn jemand Verständnis dafür hatte, Dinge vor anderen zu verbergen, dann er. Er strich flüchtig über die kaum noch sichtbare Narbe an seinem Hals. „Du weißt mein lieber Valerian, dass meine Bibliothek dir offensteht?“ „Ja, aber dieses spezielle Wissen wird sich in keiner Bibliothek Solonias befinden – Leider. Ungern lasse ich meine Familie…“ Volmar verschluckte sich bei dem Wort an seinem dampfenden Kräutertee „… ohne mich zur Leuenmark aufbrechen, doch habe ich es Volmar versprochen – und außerdem…“ „…bist du ein verklärter, moralischer, alter Ehrenmann Valerian.“ Die beiden Männer lächelten sich zu. Charlotte rollte mit den Augen bei diesem geschwollenen Geschwafel.

Nuriel erwies Ihnen seine vollumfängliche Gastfreundschaft, und die Reisenden nahmen diese dankbar an. Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht, führten diese unzählige geschwollene und zusehends-nicht-geschwollene Gespräche. Zusehens gewannen auch Nuriel, Volmar und Charlotte leichte Sympathie füreinander. Sie tranken morgens und nachmittags köstlichen Tee und abends sagenhafte Weine, die sich fast mit den besten Toussaints messen konnten. Bis auf Volmar – der sich eher an den Schnäpsen des Hauses erfreute. Der Wolfshexer wollte Nuriel zum Würfelspiel überreden – und zog dem Elfen nach einer Runde derart das Kupfer aus der Geldkatze, dass sich dieser worttrocken aus dem Spiel verabschiedete und Valerian und Charlotte stattdessen den Vortritt zum begnadeten Glücksspieler ließ. Sie tauschten abwechselnd Geschichten und Anekdoten aus, bis die Gefährten sich schließlich zur Nachtruhe in ihre Schlafgemächer zurückzogen.

Doch Nuriel konnte nicht schlafen. Gedankenverloren saß er vor dem Kaminfeuer. Er wischte sich über das Gesicht, als wäre es ein Zeichen für sich selbst, die Maske der Fröhlichkeit abgelegt zu haben. Sicher hatten sie nichts gemerkt, wie aufgewühlt sein Inneres war. Seine Masken waren viele. Unbedarftheit, Naivität, Harmlosigkeit, emotionslose Kühle und viele mehr. Sie verbargen die dünne Schicht, die über dem schlummernden Wahnsinn lag. Er hatte zu viel gesehen. Sogar den Tod selbst.

Er wischte seine Melancholie zur Seite und begann zu meditieren – sein Weg, seinen Geist stabil zu halten, so gut es ging. Nach einiger erhob er sich – er grübelte, und heute wollte seine Konzentration nicht bleiben. Nach einiger Zeit fasste er einen Entschluss: Es war zwar nicht rechtens was er im Sinn hatte, aber er würde sie vielleicht nie wiedersehen – er wollte die letzten Momente mit Ihnen auskosten. Aus einer Truhe holte er seine Glaskugel hervor – er hatte sie Jahre nicht benutzt. Dann setzte er sich mit Blick auf die Kugel vor das Kaminfeuer, öffnete seinen Geist, sein zweites Gesicht und den Blick auf die Astralebenen. Fast liebevoll begann er, seine schlafenden Gäste zu betrachten, als wären es seine Kinder.

„Varin… Varin nein…!“ unruhig wälzte sich Volmar in seinem Bett umher, neben ihm lag Charlotte. Auch Valerian träumte sehr rege diese Nacht. Während die Hexer sich in der Traumwelt bewegten, saß der Baron noch vor dem prasselnden Kaminfeuer. In seinen Händen hielt er eine leuchtende Kugel, von der ein violetter Schein ausging. Nuriel konzentrierte sich, und lenkte seinen Fokus auf Volmar:

Nuriel sah durch Volmars Augen erst eine Stadt, eine große, in deren Mitte eine hohe Burg thronte. Die Burg sah aus wie eine Schule, oder Akademie. Vielleicht eine Universität oder Magierakademie aus Volmars Heimat? Er sah eine Gruppe von Zauberern durch eine Straße flanieren, sie passierten den Laden eines Schmieds… dann sah Nuriel ein Schmiedefeuer, und kunstvolles Elfenschmiedewerkzeug hämmerte auf glühenden Stahl, auf einen Schwertrohling. Das Bild verschwamm, der Ort wechselte und die Szene wandelte sich in Feuersschein am Horizont… Männer, und etliche Kinder schrien, es ertönte Kampfeslärm. Nuriel spürte überwältigende Gefühle. Hass, Wut, Furcht, Entsetzen, Trauer… nun sah er einen sehr jungen Volmar inmitten einer zerstörten Burg, vor ihm ein sehr alter Mann mit langen ergrauten Haaren. Um ihn herum lagen Trümmer, glühende Balken und Leichen. Volmar schrie ihn lauthals an und dem jungen Hexer schienen sogar Tränen über seine Wangen zu laufen. Nuriel verstand leider keine Worte, dafür war der Traum zu undeutlich. Der Streit eskalierte in einem starken Handgemenge, der alte Mann war sichtlich dem jungen Hexer überlegen und so brachte er Volmar schnell zu fall, der Traum löste sich im Nebel und dem lauten Aufschrei Volmars auf, und wurde von einem weiteren Traum abgelöst: Nun sah Nuriel einen Sumpf, und darin ein Lagerfeuer. Am Lagerfeuer saßen zerlumpte Gestalten, wahre Hurensöhne mit Narben, Pocken und Tätowierungen. Nuriel erkannte Volmar unter den Gestalten erst sehr spät, da dieser nur in Lumpen und Fetzen gekleidet war, auch seine Schwerter, das wohl markanteste Merkmal eines Hexers, hatte er nicht bei sich. Auf den ersten Blick erinnerte das Szenario den Elfen an eine Art Gefangenenlager, doch schienen die Gestalten keine Gefangenen zu sein, sondern Holzfäller – so folgerte der Baron aus den zahlreichen Äxten, die bei den Gestalten am Lagerfeuer lagen. Plötzlich verschwamm der Traum durch Scharen krächzender Krähen, die durch die Vision flogen und Nuriel die Sicht nahmen. Dann ein schmerzerfüllter Schrei – Blutfontänen spritzten zum Sternenhimmel, die Gestalten vom Lagerfeuer lagen nun mit schmerzverzerrten Gesichtern aufgespießt von Wurzeln im modrigen Matsch. Vor Volmar, der inmitten des Massakers im Dreck kniete stand eine riesenhafte Silhouette, deren Kopf von einem gigantischen Hirschgeweih gekrönt wurde. Mit einem weiteren Schrei… zerfiel der Traum. Volmar musste aufgewacht sein. Nuriel seufzte bedächtig löschte das Licht der Zauberkugel – und schenkte sich gelassen Wein nach. Er wusste, dass Volmar als Hexer gewiss sein Amulett beobachten könnte, den Magiesensor. Also wartete er einige Zeit ab, bevor er sich erneut mit der Kugel im Schoß seinen Fokus auf Charlotte lenkte, die Begleiterin Volmars, von der er immer noch nicht so recht wusste, womit sie eigentlich ihren Lebensunterhalt verdiente. Er wußte nur – ihre Gestalt löste bei ihm Emotionen aus, die er sonst immer verbannt hatte. Einen kurzen Moment grinste er.

Eine große Stadt bei Nacht, Nuriel sieht Charlotte, wie sie an einer Wand lehnt, neben ihr zwei riesige Kartoffelsäcke. Fünf Zwerge kommen zu ihr, blicken sich vorsichtig um. Sie unterhalten sich, doch ist der Traum zu verschwommen, um etwas zu verstehen. Einer der Zwerge wirft ihr mit einem Grinsen einen prallen Münzbeutel zu. Die Jungs packen sich jeweils zu zweit einen der Kartoffelsäcke, da reißt eine Seite an einem Sack auf und mehre Schwerter, Äxte und Dolche fallen klirrend auf das dreckige Straßenpflaster. Wieder verschwimmt die Szene komplett – Der Elf sieht immer noch eine große Stadt, wenn gar nicht sogar dieselbe? Doch diesmal steht Charlotte unter einem großen Torbogen vor einem riesigen Marktplatz. In dessen Mitte steht ein großer Frühlingsfest-Baum, und leicht bekleidete Mädchen laufen im Reigen bei Gesang und Tanz um den Baum und halten lange Stoffbänder an den Händen, die mit der Mastspitze des Festbaums verbunden sind. Nuriel verspürte bei diesem Anblick eine Woge der Erregung – die Nachwirkungen der verfluchten Kette, die man ihm gegen seinen Willen in der Burg der Hexer angelegt und letztes Jahr unter großen Schmerzen entfernt hatte. Das Artefakt hatte seine Emotionen, die er jahrelang durch Meditation so gut unter Kontrolle gebracht hatte, ins Unermessliche übersteigert, etwas, was eine tiefe Krise in ihm ausgelöst hatte, weil emotionale Kontrolle immer das gewesen war, woran er tief geglaubt hatte. Es hatte etwas in ihm verändert, das er noch nicht abschließend einschätzen konnte. Auf eine verbotene Art und Weise gefiel ihm dieser neue Zug an sich. Er konzentrierte sich wieder. Händler, Gaukler, Musikanten, Spielleute, Barden, Dichter und unzählige Feiernde und Betrunkene verstopfen den Platz. Plötzlich blickt Charlotte über ihre rechte Schulter, und sieht noch wie drei Männer sich am anderen Ende des langen Torbogens hinter der Ecke verstecken. Sie hatten Tätowierungen am Hals die Spielkarten zeigten. Nuriel sieht erstmalig wie Charlotte in Panik verfällt: Sie rennt in die Menschenmenge, verlangsamt dort stetig ihr Tempo, um unterzutauchen, und landet irgendwann an einem Ausschank für Schnäpse. Dort sieht sie Volmar und mustert ihn. Wieder verschwimmt die Szenerie, und Nuriel steht in einer einfachen Herberge in einem spartanisch eingerichteten Gästezimmer. Sein Blick wandert von der einsamen, noch tapfer leuchtenden Kerze am Nachttisch auf das Bett – auf dem sich gerade Volmar und Charlotte heftig liebten. Trotz der verringerten Emotionen der Hexer, konnte der Baron bei ihm rege Freude und tiefe Gefühle ablesen – abgesehen von den hormonellen Explosionen, die der Mann sowieso gerade erlebte. Der Elf verzog das Gesicht, erst leicht angewidert, von dem heftigen menschlichen Koitus, der der Ästhetik von liebenden Elfen in Einigem nachstand, dann blickte er äußerst angetan. Er nahm einen tiefen Schluck aus dem Weinglas. Als das nichts half, griff er zur ganzen Flasche. Derselbe Raum, scheinbar etwas später, da sich nun die Morgensonne durch das schmutzverkrustete, mickrige Fenster zwängte. Charlotte und Volmar lagen in voller Nacktheit auf dem Bett, Arm in Arm. Die Tür zum Zimmer flog schlagartig auf, die drei Männer mit der Tätowierung stürmten in den Raum – Volmar rollte, noch splitterfasernackt, seitwärts vom Bett auf die Männer zu. Noch im Aufstehen zog er sein Stahlschwert aus der neben dem Bett aufgestellten Schwertscheide. Nuriel zwinkerte kurz überrascht, als ihm in der Traumwelt eine enorme Blutfontäne entgegensprühte – genervt wischte er erneut mit der Hand zur Seite.

„Die Frau hat wohl auch schon einiges hinters sich. Und ihr Berufsbild ist mir jetzt immerhin klar. Sowie die ‚Kreise‘, in denen sie verkehrte. Hm, … Nun gut. So wollen wir doch noch einmal einen abschließenden Blick in den Geist des alten Haudegens werfen…“, dachte sich Nuriel. Ein paar Zimmer weiter seufzte Valerian im Schlaf, und wälzte sich unruhig umher. Das Amulett an seinem Hals begann zu zucken, bis es aus der weiten Öffnung seines Leibhemdes rausrutschte und auf dem Kissen neben Valerians Hals zum Liegen kam. Das Zucken wurde stärker…

Nuriel sah Wim, den Lehrling Valerians. Sofort zogen sich Sorgenfalten durch die Stirn des Elfen. Er erinnerte sich an den grausamen Traum, den er gesehen hatte, damals. Der Bursche sprintete über den Burghof, auf seinem Rücken ein Rucksack und ein Schwert geschultert – und in der Hand einen großen Schlüssel zwergischer Machart aus einem dunklen Metall. Valerian stand in einem Burgfenster, und erspähte Wim bei der Flucht. Der alte Hexer rief seinem Schüler etwas nach… Nuriel hielt kurz inne: Also ist Wim geflohen? Zu welcher Truhe könnte dieser Schlüssel passen? Könnte es sein, dass sich die Vision von damals erfüllen wird…? Nuriel rief sich die Vision in Erinnerung, die er selbst vor zwei Jahren auf Kaer Iwhaell gesehen hatte: Wim, vom Blutmagier Isador korrumpiert und voller Wahnsinn, tötete erst seine Hexerlehrlingskollegen, und schließlich nach einem spektakulären Klingentanz Valerian. Sollte diese Vision doch wahr werden? Blickt Wim vielleicht in einen dunklen Abgrund, der in ihn zurückblickt und tiefe Schatten hinterlässt? Dies wäre bei einem Herz voller Schatten und Leere, wie es bei dem Hexerlehrling der Fall ist, nicht verwunderlich.

Der Elf setzte seine Erkundung in Valerians Geist fort. *Er sah nun einen jungen Valerian, das Haar nur an den Schläfen leicht ergraut – ihm gegenüber, ein Mann mit braunem Haar, jünger als Valerian, mit athletischer Statur. Sein Rüstzeug schwarz, auf der Brust ein zuckendes Hexeramulett, im Gesicht zwei leuchtende Katzenaugen, aber nicht von jener ruhigen Klarheit Valerians, sondern Augen mit fehlerhafter Mutation, mit geplatzten Äderchen und irrem Blick. Sie standen sich auf einem Bergplateau gegenüber. Beide hielten ein Schwert in Ihrer Hand, doch war das des Fremden merkwürdig gekrümmt – wie ein Säbel oder ein langes Messer, nur zeigte die leichte Krümmung der schlanken Klinge verkehrtherum nach vorne, fast wie bei einer angedeuteten Kralle. Der Schnee lag eine Elle hoch, und frische Flocken flogen sanft und geräuschlos zu Boden. „Aguire – Schon wieder? Reicht nicht eine Schule? Derselbe Fehler erneut? Nach allem, was wir dir gaben? Keiner sonst gab dir eine zweite Chance. Wie konntest du ihn nur umbringen?“, schimpfte Valerian. Der junge Mann schrie wie irre– und griff an: Er webte einen Zauber, und Nuriel nahm durch Valerian die Hitze eines aufkeimenden Feuerzaubers wahr. Valerian webte den Schutzzauber ‚Heliotrop‘, einen magischen Schild, der frontale magische Angriffe abwehren kann – doch schwenkte der aufkeimende Feuerzauber Aguires chaotisch im Elementfluss um, und der Angreifer änderte seine Fingergestik überraschend: Eine magische Druckwelle ‚Aard‘ schoss in den Schneehang rechts von Valerian, und ein Grollen machte sich bemerkbar. Sofort rollten einige Felsen über die Schneedecke auf Valerian zu. Der Greifenhexer machte erst einen großen Satz nach vorne, aber um der breiten Steinfront zu entkommen, setzte er eine Sprungrolle nach – auf Aguire zu: Dieser hatte schon ein krallenförmiges Wurfmesser gezückt und schleuderte es mit einer knappen Bewegung präzise auf Valerian während seiner Rolle zu – und verfehlte knapp dessen Scheitel. Valerian rollte weiter und stand flüssig aus dem Manöver auf, um mit einem diagonalen Streich von links unten das Klingenspiel zu eröffnen – doch dazu kam es nicht. Aguire trat mit der Fußspitze locker in den Pulverschnee und erzeugte eine kleine Schneewolke, die Valerian blenden sollte. Valerian brach seinen Angriff ab, schlug mit dem Schwert von links nach rechts eine abwehrende Mühle und machte eine Pirouette nach links hinten. Er wollte direkt daraus mit einem Hieb von links oben fortfahren, doch war sein Gegner schon im Gegenangriff mit einem starken Streich von links oben. Valerian brach seinen Angriff erneut ab und blockte den Angriff mit seinem schräg erhobenen Schwert in der Parade ab, und machte einen Ausfallschritt unter dem Angriff Aguires hinweg. Er wollte sich Neu-Positionieren… Aguire jedoch schien jeden Streich Valerians zu kennen und im vornherein zu vereiteln. Valerian setzte immer wieder zu Schnitten und Stichen mit dem Hexerschwert an, musste diese aber immer wieder mit einer Pirouette oder Meidbewegung abbrechen. Aguire steht Valerian in nichts nach – im Gegenteil: Deren tanzender Stil ist sehr ähnlich, wenngleich der jüngere Hexer eindeutig heimtückischer und dreckiger kämpfte. In einer kurzen Pause stehen sich beide gegenüber, das Schwert in horizontaler Fechtstellung neben dem Ohr mit der Spitze zum Feind, der ‚Fensterstellung‘. Da greift Aguire in das Revers seiner schwarzen Lederrüstung und wirft Valerian mit einem bösen Lächeln etwas entgegen: In Zeitlupe sieht Valerian, wie ein blutverkrustetes Menschenohr auf ihn zufliegt – im Reflex schlägt er eine Mühle und wehrt das fliegende Körperteil mit der Klingenbreitseite ab. Nuriel spürt, dass Valerian weiß, wem das Ohr gehörte, und der Elf fühlt das Entsetzen des Greifenhexers. Aguire ging wieder zum Angriff über: Mit einem Hagel aus Schlägen und Stichen brachte er Valerian in starke Bedrängnis. Unzählige Drehungen und Finten machten eine Vorhersage der Angriffe fast unmöglich, dazu kam die fremdartige Mechanik der gekrümmten Klinge, die förmlich um die Paraden Valerians herumstechen wollte und Valerian mit weiten Paraden aus der Deckung lockte. Aguire führte nun einen Schnitt von rechts außen auf die Beine Valerians – welchen der Greifenhexer parierte. Doch plötzlich änderte Aguire die Schlagrichtung, und die geschliffene gebogene Rückschneide des Schwertes schnitt zurück – und traf Valerians Oberschenkelinnenseite. Noch bevor die klaffende Wunde der Oberschenkelarterie mit ihrem Spektakel begann, führte er einen Stich zum Herzen Valerians aus. Der Greif parierte diesen kreisförmig von unten nach oben in einer Wischbewegung, doch Aguire nahm den kreisförmigen Impuls auf und schnitt von links in Valerians rechte Körperseite, er nahm daraufhin mit seiner linken Hand Valerians Schwertarm und verdrehte diesen zur Körpermitte hin – auf sein Krummschwert zu. Er zog dieses aus der blutenden Körperseite Valerians und mit der schneidenden Rückbewegung durchtrennte er Adern, Sehnen und Fleisch an Valerians Arminnenseite. Valerians Schwert fiel zu Boden, kurz darauf gefolgt von Blutstropfen. Der Greifenhexer fiel auf die Knie und um ihn herum bildete sich ein schauriges rotes Muster im weißen Schnee. Nuriel wollte schreien, so sehr belastete ihn das Bild. Doch er beherrschte sich. Die Szenerie kam zum Stillstand – als ob die Zeit selbst innehielt, und alles um Valerian herum verschwand. Langsam blickte Valerian auf – und lächelte Nuriel direkt an. Seine rechte Hand hatte das Hexermedaillon in der Hand. *Nuriel war für einen Moment verwirrt. Opachen überraschte ihn immer wieder.

„Sehr interessant.“, dachte der Elf „Nicht nur, dass Valerian schon mal im Schwertkampf besiegt wurde – er scheint auch schon damals so leichtgläubig anderen gegenüber gewesen zu sein wie er es heute ist. Und so ein Wim-Fiasko scheint er ebenfalls schon einmal erlebt zu haben.“ Nuriel blickte aus dem Fenster. „Und, der Alte hat mich wieder einmal mit seinen magischen Fertigkeiten überrascht. Er hat anscheinend das ‚Ankern‘ als Fertigkeit erlernt. Unser Abschied scheint wie unser Kennenlernen – mit einem Moment der freudigen Verblüffung.“ „Überraschen werde ich ihn auch noch ein letztes Mal…“ murmelte er vor sich hin. Er ging zu seinem Schreibtisch, auf dem ein Tannenzapfen lag, und nahm ihn in die Hand. Gedankenverloren blickte er aus dem Fenster in die Nacht, der Mond stand über dem Herrenhaus. Ein paar Minuten später lächelte er zufrieden und ging zu Bett.

Einige Tage später, an der Elfenküste

„Aaaach – das Gekreische von Möwen, das Läuten von Schiffsglocken und wütende Vorarbeiter, die ihre Ladung-löschenden Hafenarbeiter anbrüllen – das klingt so vertraut nach…“ „Novigrad.“ unterbrach Valerian lächelnd die schwärmende Charlotte. Die drei saßen an der Hafenpromenade auf einem Mauervorsprung, und betrachteten gelassen die wuselnden Arbeiter beim Schaffen und Treiben. „… Ich wollte sagen ‚Arbeit‘, Valerian.“, verbesserte Charlotte. „Arbeit… ach du meinst deine ‚Sonderdienstleistungen im Logistik-Nischengeschäft‘?“, fragte Valerian. „Exakt.“ Die drei lachten. Trotz der alptraumhaften Nacht in Nuriels Anwesen, hatten sie einen freundschaftlichen Abschied, und verließen Nuriels Herrenhaus mit frischen Vorräten – vor allem ein paar Fläschlein von Wein und Schnaps machte das Trio sehr glücklich.

Eine große Möwe kreiste über ihnen. Etwas Weißes platschte auf Valerians Rüstung. Angewidert blickte er zur lachenden Möwe über sich. Für einen Moment glaubte er, etwas aus ihren Füßen fallen zu sehen, dann traf ihn etwas am Kopf. „Au! Blödes Vieh!“ entfuhr es ihm. Ein Tannenzapfen kullerte vor seinen Füßen herum. Charlotte wollte den Tannenzapfen wütend wegwerfen, aber Volmar hielt sie davon ab. „Sieh“ sagte er. Auf dem Tannenzapfen war eine grüne Rune aufgemalt.

Valerian ergriff den Tannzapfen und hielt ihn sich vors Gesicht. „Arhain, Nuriels Rune“, murmelte er nachdenklich. Als wäre es das Stichwort gewesen, flackerte ein Licht über dem Zapfen auf, dass sich blitzschnell zu einer schimmerigen Silhouette Nuriels veränderte, der in der üblich theatralischen Art und Weise anfing zu sprechen, die er immer an den Tag legte, wenn ihm danach war. „Alter Angeber.“ Dachte Valerian, das wäre auch weniger theatralisch gegangen. Der Elf musste immer eine gewisse Dramatik erzeugen, ohne ging es wohl nicht bei ihm. Nuriel bedankte sich für die gute Zeit mit Valerian die vergangenen Jahre und den Abend mit Volmar und Charlotte. Und er hatte auch einige Bitten an Valerian gerichtet…

Nachdem sie alle Drei die Abschieds-Botschaft Nuriels gesehen hatten, lächelte Valerian. Er hoffte, dass sie sich wiedersehen würden. Sollte er wieder eine Burg sein Eigen nennen, so würde er dem Wunsch des Elfen entsprechen ein Zimmer für ihn freihalten – gute Dozenten würde er immer brauchen können. Eines nur ärgerte ihn: Arghal. Dass er die elende Möwe des Elfen über sich füttern sollte, bis er sie zu Nuriel zurücksenden wollte, passte ihm gar nicht. Arghal lachte in der Luft und ließ neben Volmar etwas Weißes auf den Boden platschen. Volmar blickte Charlotte angewidert an, aber die grinste nur und zuckte mit den Schultern. Die Möwe landete auf ihrer Schulter und fing liebevoll an, an ihrem Haar zu knabbern. Charlotte grinste: „Also ich mag sie“. Valerian lächelte, und ging in Gedanken noch einmal die Ereignisse der letzten Stunde durch:

Kurz nach ihrer Ankunft in der zentralen Hafenstadt an der Elfenküste steuerte Valerian selbstbewusst auf eine Filiale des vertrauten Handelskontors ‚Benno Stab‘ zu. Am Tresen stand kein bekanntes Gesicht, sondern ein pockennarbiger Kaufmannsgehilfe. „Benno Stab Handelskontor – ‚Wenn‘s der Stab nicht hat, hat’s keiner‘, wie kann ich Ihnen helfen der Herr?“, begrüßte sie der Gehilfe. „Mein Name ist Valerian, und mir gehört die Funkenflug. Seit Wochen schifft ihr unseren Hausstand in die Leuenmark. Vereinbart war, dass wir erst in einer Woche die letzte Ladung überführen sollen – doch der Plan hat sich geändert: Die Schule wurde angegriffen und die Funkenflug muss dringend jetzt schon ablegen, bevor unsere Angreifer das Schiff…“ „Hoher Herr Valerian… “, fiel ihm der Kaufmann ins Wort. Bei der Betitelung musste Volmar Prusten vor Lachen. „Euer Lehrling war bereits vor einigen Tagen hier und hat sich bereits um alles gekümmert.“, fuhr der Gehilfe fort. „… Welcher Lehrling?“, fragte Valerian mit hochgezogenen Augenbrauen. „Na, Wim Delvoye. Er hat sich vergewissert, dass die Ladung, insbesondere die schwere Steintruhe an Bord ist und hat das sofortige Ablegen in Eurem Namen befohlen. Er hatte sogar einen Brief mit einem Greifensiegel mit Instruktionen dazu dabei…“ Valerian schwieg ob der Antwort des Kaufmannes. Volmar stichelte „… du solltest etwas mehr Sorgfalt walten lassen im Verschluss deines Schulsiegels hoher Herr Valerian.“ Der Gehilfe schaute betreten, und fuhr fort: „… ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten… aber falls es den Herrn Valerian tröstet – Wim wollte ebenfalls den Kurs zur Leuenmark beibehalten, er hat also im weitesten Sinne in Ihrem Interesse gehandelt mein Herr.“, versuchte der Angestellte des Handelskontors zu beschwichtigen. „Wohl kaum. Ich weiß, was er in der Steintruhe sucht… nur gut, dass es sich nicht dort befindet.“, antwortete Valerian mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck.

Valerian konnte beim Kaufmannslehrling trotz Verhandlungsgeschick und ‚Axii‘-Trickkiste keine Überfahrt zur Heimat ermöglichen, da alle Schiffe des Handelskontors bereits ausgebucht oder zu See waren. Charlotte nahm das Ruder in die Hand, und in der erstbesten Hafenkneipe konnte sie einen Kapitän auftreiben, der gegen klingende Münze eine Überfahrt für die drei inklusive Pferden und Möwe in die ferne Heimatwelt des Trios anbot. Später am Abend, nach ein paar Humpen Bier fragte Charlotte leicht angetrunken „Sagt mal ihr beiden – wir machen ja jetzt eine Schiffsfahrt rüber in die Heimat… aber das ist doch mehr als nur ein anderes Land! Also müsste man das eigentlich nicht via Portal machen, so wie ursprünglich geplant? Ich meine, hier ist der Mond in drei Teile gebrochen – in der Heimat ja aber zum Glück nicht… also muss das doch eine ganz andere Welt oder so sein, korrekt? Wie funktionieren diese Schiffsreisen zwischen den Welten denn – ich habe diese Überfahrten zwar wiederholt… ‚arrangiert‘, aber nie so recht verstanden…“ Valerian antwortete unbewusst im Lehrmeisterton: „Gut beobachtet – zumindest das mit dem Mond. Den Rest solltest du eigentlich wissen, weil Nuriel das gestern Nacht erzählt hat. Aber vielleicht warst du auch zu sehr mit dem Rotwein beschäftigt, … oder schmachtenden Blicken zu…“ Volmar räusperte sich geräuschvoll und setzte fort: „Reisen zu fremden Welten sind durchaus via Schiff möglich. Ich meine, schau dich doch mal in den ganzen Welten bei den hunderten von Möchtegern-Abenteurern um: Jeder Hinz und Kunz reist‘ Kreuz und Quer durch die Sphären, nicht nur via Schiff, sondern auch via Portal! Manche Nautiker haben vor langer Zeit durchaus Nadelöhre in andere Welten gefunden, verschlungene Kurse durch mystische Nebel, durch Tore in andere Weltmeere…“, bevor Volmar wieder in einen seiner langen gefürchteten Monologe verfiel, unterbrach ihn Charlotte elegant mit einer beiläufigen Berührung seines Handrückens und sagte: „Danke Volmar, danke Valerian. Ich erinnere mich düster an Nuriels Ausführungen – besonders an den weinerlichen Passus, indem er ausgiebigst beschrieb, dass er zu seiner Welt bisher nicht zurückgefunden hat. Und ja, ich erinnere mich auch an eure Debatte zu ‚Valerians magietheoretischem Wissenschaftspodium mit der Kernhypothese ~steht eine neue Sphärenkonjunktion an? ~‘… da tatsächlich jeder Hinz und Kunz mit Portalen zwischen Welten hin- und herreist… das muss ich zugeben.“ Es gab noch einige Lacher, bevor sich die Sonne langsam dem Meer näherte, und die drei Gefährten das Schiff ‚Iliki‘ bestiegen – was die drei nicht ahnten: Ein neugieriger schwarzer Kater namens Parzival hatte sich bereits an Bord des Schiffes begeben und sollte den Tag verfluchen, an dem er wieder auf ein Schiff mit Valerian gelandet war – wie damals schon in Novigrad. Wie der Burgkater Kaer Iwhaell’s auf das Schiff Iliki kam? Das ist eine andere Geschichte. „Nun, auf zum Festland, auf zur Heimat, auf zur Schatzsuche – gemeinsam werden wir Erfolg haben, zusammen. Auf nach Lan Exeter! Dort…“ „Jaja. Ist schon gut Volmar. Schnapsrunde?“, Charlotte unterbrach Volmar elegant und die drei ließen ihre Zeit in Solonia ein letztes Mal feierlich ausklingen, mit einem klirrenden Anstoßen von Schnaps- und Weinflaschen auf die guten, wie düsteren Tage Solonias und der nunmehr vergangenen Greifenhexerschule Kaer Iwhaell auf dem Kontinent Solonia.

Kapitel 3: Lan Exeter

Mit der Einfahrt in die Praxeda Bucht, rieselten große Schneeflocken sanft zur glatten See hinab, angestrahlt von der roten Morgensonne. Valerian war früh auf. Er konnte schlecht schlafen. Zu viele Gedanken und Erinnerungen kreisten in seinem Kopf umher. Während die Morgenschicht der Deckmannschaft langsam den Dienst übernahm, und begann, die Iliki zum Anlegen klar zu machen, stand Valerian an der Bugreling, faltete seine Hände und stützte die Unterarme auf dem Holz ab und blickte aufs Meer. Einige Meter neben ihm, im gebührenden Abstand, lag der Kater Parzival, und blickte neugierig durch ein Loch in der hölzernen Balustrade der Kogge aufs Meer und die fliegenden Fische darin. Der Kater bemerkte Valerian, fauchte herzhaft und hoppelte davon übers Deck – und versuchte die Möwe Arghal zu fangen, die gerade einen gefangenen Fisch an Deck verzehren wollte. Valerian interessierte die Tiere unwesentlich. Er ordnete seine Gedanken, doch das war schwer. Er fühlte, als hätte er versagt, in der einzigen Aufgabe, die ihm anvertraut war als Ältester der Greifen: Die Schule beisammen zu halten, und das Erbe der Hexerzunft fortzuführen. Kaer Iwhaell in Solonia ist Vergangenheit, und das Schicksal seiner Schüler ist vielfach ungewiss. Ob die Gruppe Atheris, Nella, Logan, Heskor, Egon und Raaga es durch Lennox‘ Portal geschafft haben? Ob sie nun schon in der Mark sind? War es richtig, die Nekromantenmaske heimlich Atheris zu geben, einem Lehrling? Kurz lächelte er, als er an Nella dachte, und den Duft ihrer langen blonden Haare. Doch dann verfinsterte sich seine Miene wieder – Wim. Er hat versucht die Maske aus der Koschbasalttruhe Bruenors auf der Funkenflug zu stehlen… gut, dass er ihm zuvorgekommen ist. Doch was, wenn er mit seinem Vorhaben Erfolg hat? „Warum konnte ich ihn nicht retten…“, seufzte er. Seine Gedanken wanderten zu Mei, seiner Ziehtochter, die in den dunkelsten Stunden der Greifenschule mit irgendwelchen Privatangelegenheiten auf Skellige oder sonst wo beschäftigt war, anstatt bei ihrer Familie, die sie dringender brauchte, denn je, zu sein. Ob sie vielleicht bei diesem adretten Baron aus Orgulistan war – zugegeben, er freute sich für sie, eine so gute Partie gemacht zu haben… Dennoch nahm er eine Distanzierung von Mei zu der Greifenfamilie wahr. Seine Gedanken kreisten weiter: Um Freunde und Bekannte wie Viktor aus Königswald, Tjaske, Vladim, Konrad von Tannhauser, Saleha, Eiwa Al Razina, Hartmut von Munzlar… aber auch um Feinde wie Silven, Isador, Tichondron oder den Lichtelfen… hoffentlich haben die Greifen zumindest vor Letzterem ab nun ihre Ruhe.

Er wischte sich mit beiden Händen deprimiert durch das Gesicht und beruhigte seine rasenden Gedanken. Er musste nach vorne schauen, nach Lan Exeter. Er blickt wortwörtlich auf, und sah nun langsam, durch den Schneefall hindurch, die Silhouette der Drachenberge über der Landmasse aufragen. Er erinnerte sich an diesen Anblick, als er ein junger Mann war. Er hatte sich eine Überfahrt von Novigrad nach Lan Exeter mühsam zusammengeklaut und -gespart, und war gerade dabei das Deck zu schrubben und Taue aufzuschießen, als sich ihm erstmalig der Anblick von Kovir und Poviss anbot, mit seiner wunderschönen Winterhauptstadt Lan Exeter, einer Stadt wie aus dem Märchen.

Moment… wollte Valerian nicht eigentlich den Blick gen Zukunft richten? Er lachte kurz. „Ich bin alt geworden.“ „Nein – das bist du schon lange.“ Mit einem Lächeln gesellten sich Charlotte und Volmar zu ihm, und lehnten sich ebenfalls auf die Reling. Dann begann Volmar mit seiner gefürchteten Erzählerstimme: „Aaaaah – Lan Exeter voraus. Die Winterhauptstadt von Kovir und Poviss. In der großen Tangomündung gelegen ist diese Stadt auf einmalige Art und Weise komplett im Wasser gebaut worden. Eine Stadt ohne Straßen, nur Kanäle, auf denen schlanke Boote mit Rudern und hohem Bug hin und herfahren zwischen steinernen Kais.

Wir werden gewiss den Großen Kanal entlangfahren, die Admiralitätsresidenz, den Sitz der Kaufmannsgilden, und den ‚Kleinen Palast der Kultur und Kunst‘ bestaunen – und alle stattlichen Häuser werden schmale, hohe verzierte Häuserfronten haben, da die Stadtsteuer der Lan Exeter‘ Hausbesitzer an der Breite der Häuserfront progressiv bemessen wird. Sehen werden wir auch den Ensenada Palast König Esterad Thyssens, wo er jetzt gerade noch gewiss im Schlafgemach neben Königin Suleyka von Talgar liegt. Übrigens eine der wenigen Ehen der Edlen, bei denen man sich sicher sein kann, dass beide sich inniglich lieben – so spricht zumindest das Volk und die Palastdienerschaft. Vermutlich liegt neben der Königin ein abgegriffenes, zerlesenes „gutes Buch“ vom Prophet Majoran. Sie ist bekannt für ihre Gläubigkeit.

Kovir ist noch für viele andere Dinge bekannt: Für seine Gelehrten, Händler, Techniker und Magier. Einen der besten Geheimdienste der Welt. Eine der effizientesten Berufsarmeen der nördlichen Welt, mit seinen attraktiven Renten und Prämien für seine Kriegsknechte und Söldner, und allen voran ist es bekannt für seinen unendlichen Reichtum, das war aber nicht immer so:

Erst war Kovir nur für sein Meersalz, und seine Glashüttenarbeiten bekannt, aber auch nicht mehr. Aus dieser Zeit stammen die redanischen oder kaedwenischen Sprichworte ‘jemanden nach Poviss jagen’, ‘dann geh doch nach Kovir!’, ‘ich dulde hier keine kovirischen Zustände!’ oder ‘in Poviss kannst du Schlaumeier spielen!’. Besagte ‚Schlaumeier‘ kamen tatsächlich nach Kovir, so auch einige Geologen. Diese fanden dort reiche Bodenschätze, frei nach dem Motto ‚ist das Land karg, liegen die Schätze der Natur unter dem Lande – denn die Natur liebt das Gleichgewicht.‘ Der Stand heute: Nur Mahakam fördert mehr Eisenerz. Ein Viertel der Kontinent weiten Förderung von Silber, Nickel, Blei, Zinn und Zink findet hier statt. Die Hälfte der Kupfererz Förderung. Ein Dreiviertel von allen seltenen Erzen, die übrigens auch in unseren vorzüglichen Schwertstählen stecken, wie Mangan, Chrom, Titan, Wolfram, Platin oder Ferrosaurum, Kryobelit und Dimeritium – von manchen übrigens auch Dwimerit genannt. Und Gold, Valerian: Man sagt 80 Prozent des weltweit gewonnenen Goldes stammt aus Kovir und Poviss. Fährt man so in Kovir ein, wie wir gleich, so begrüßen einen auf den Molen imposante Mauern und Festu…“ „Volmar…“ Valerian seufzte: „Ich habe hier einen Großteil meiner Jugendzeit verbracht – respektive in Kovir. Du weißt doch, wo die erste Greifenschule Kaer y Seren liegt… oder besser lag, nicht wahr? …Ach Charlotte, warum musste ich ihn diesmal unterbrechen bei seinem Monolog?“ „Ach – ich war dran?“, Charlotte blinzelte unschuldig. „Tut mir leid, ich dachte das letzte Mal war ich dran?!“ Volmar grunzte „Ich such mir was zum Frühstücken…“ und verließ die beiden an der Reling kichernden Kameraden.

Gut gestärkt nach einem gemeinsamen Frühstück und frohen Mutes, standen die drei erneut an der Reling mitsamt Reisegepäck, und bestaunten die von Volmar ausgiebig beschriebenen Mole und Dämme mit seinen Mauern, Türmen und Festungen. Nach den äußeren Hafenmauern überwältigte die drei ein Meer aus Masten und Segeln in dem riesigen Hafen der Stadt. Die Iliki steuerte souverän auf einen der Steinkais im Wasser zu, und nach einem kurzen Händeschütteln mit dem Kapitän verließen die drei über eine knarzende Holzplanke die Kogge. Ein Hafenbeamter mit Holzbrett und Pergament in der einen, und Schreibfeder in der anderen Hand, begrüßte die Ankömmlinge. Er nickte ihnen hektisch zu, sodass beinahe seine große Pelzmütze und seine Hornbrille herunterfiel. „Ihr drei gehört nicht zur Besatzung. Name, Grund des Besuches, Dauer des Verbleibs in Lan Exeter?“ Charlotte sprach mit einem charmanten Lächeln vor: „Grüße von Valentin. Wir gehören zur Handelsgesellschaft.“ Unverhohlen legte sie dem Beamten ein kleines klirrendes Beutelchen aufs Schreibbrett. „So so, Valentin also. Grüß ihn zurück. Na, dann passt auf – ich habe einen Rat für euch. Kehrt direkt wieder auf das Schiff um: Die Stadt ist abgeriegelt. Quarantäne. Seit vorgestern wütet eine Krankheit in der Stadt… man sagt, es sei die Rückkehr der Catriona Seuche. Keiner darf die Stadt verlassen. Ich mach bei euch eine Ausnahme, wenn ihr jetzt gleich wieder zurückwollt…“ Charlotte schüttelte den Kopf: „Kommt nicht in Frage. Aber danke dir, Ansgar.“ Der Schreiberling verbeugte sich, und wollte sich sodann umdrehen, um die gelöschte Fracht zu protokollieren – und stolperte dabei über einen schwarzen Kater der unglücklich hinter ihm saß und sich putzte. Arghal saß auf einem Fass daneben und lachte kreischend.

„Und was nun?“ fragte Volmar die anderen. Sie saßen auf einem der beschriebenen Ruderboote, dass gerade den Hafenkai verließ und auf die Kanäle der Innenstadt zusteuerte, aus der Luft verfolgt von einer weißen Möwe. „Ich kenne da jemanden von früher. Den können wir um Rat fragen, wie wir aus der Stadt kommen.“ Valerian lehnte sich zum Bootsführer rüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr, und gab ihm eine Münze. Der Bootsführer nickte, und das Boot hielt weiter auf den Großen Kanal von Lan Exeter zu. Schon nach einigen der prachtvollen Häuser von Edlen und Kaufleuten, steuerte das Boot in einen kleineren Kanal nach rechts, an dem es anlegte. Das Trio folgte einer kleinen Treppe von der steinernen Anlegestelle aus hoch auf das Plateau des schmalen Gehweges entlang des Kanals. Nachdem ein zweites größeres Boot mit ihren Pferden folgte, gingen sie an der beeindruckenden Häuserreihe den großen Kanal entlang – bis Valerian irgendwann vor einem sehr schmuckvollen Haus stehenblieb. Seine schmale hohe Fassade bildete ab dem ersten Obergeschoss einen Überstand, der vor der Haustür mit gravierten und bemalten Holzsäulen schmuckvoll gestützt wurde. Volmar las ein goldenes Schild über dem Gehweg mit der Inschrift „Carduin von Lan Exeter“. Sie banden ihre Pferde an einem Pfosten an.

Valerian klopfte und wartete einen Moment, dann klopfte er erneut, aber wieder nichts. Valerian wollte sich gerade umdrehen zu Volmar und Charlotte, um betreten mit der Schulter zu zucken, da hörte man ein genervtes „Jaaa jaaa doch…“, von drinnen. Ein Poltern die Treppe hinunter, ein Schemen hinter dem bunten Glasfenster – und dann öffnete sich die Tür: Vor Ihnen stand ein Mann in Nachtgewand und Schlafmütze. Seine Gesichtszüge wirkten erhaben, er hatte eine dominante Nase und starke Nasolabialfalten. Feine Bartstoppeln schattierten sein Gesicht. Im Kontrast dazu standen helle, bernsteinfarbene Augen. „Valerian? Du hier? Jetzt?… muss das so früh sein? Komm doch bi…“ „Carduin. Es ist wichtig!“, unterbrach ihn der alte Hexer. Carduin seufzte, und winkte die drei hinein in einen Raum, der wohl ein Wohnzimmer gewesen sein musste – bis ungeordnete Büchertürme und Staubschichten verschiedener Generationen das Zimmer erobert hatten. Sie gingen zu einem Tisch, der über und über mit Pergamenten voll war. Gelassen aber zügig, sammelte Carduin die Pergamente ein, um Platz zu schaffen für eine Unterredung. „Mach doch bitte ein Kaminfeuer an, Valerian… Ei‘ grau bist du geworden Bursch!“ Valerian gehorchte mit einem Nicken wie ein Schuljunge, und machte ein wärmendes Feuer im kalten Zimmer an. Sie setzten sich an den Tisch. „Viel ist passiert Valerian, und mich dünkt, es müsste nun gut dreißig Jahre her sein… nicht wahr? Möchtest du mir nicht deine Begleitung vorstellen?“, fragte Carduin. Volmar kam ihm zuvor „Volmar von Brugge, Hexer der Wolfsschule. Und das ist Charlotte.“, sie nickte. „Hocherfreut Charlotte von…?“ Nach einem kurzen Schweigen Volmars und Charlottes, fuhr Valerian fort: „Wir sind gerade angekommen in Lan Exeter und haben von der Quarantäne gehört. Wir wollen die Stadt verlassen. Kannst du uns helfen?“ Der Zauberer Carduin seufzte: „Schwierig. Ich sitze ebenfalls hier fest.“ „…möchtest du denn ebenfalls fort, Carduin von Lan Exeter?“ Carduin blickte Valerian an und versucht zu ergründen, was der Greifenhexer von seinen politischen Verstrickungen in die Angelegenheiten des neuen Rats der Zauberer und König Radowids von Redanien der letzten Jahre mitbekommen hatte. „Du hast recht, Valerian, dies ist mein Name. Doch habe ich seit einiger Zeit ‚Verpflichtungen‘ in Redanien… und dort sollte ich mich eigentlich auch die ganze Zeit befinden, wenn ihr versteht, was ich meine.“ Er schwieg bedeutungsvoll, und fuhrt fort: „Ich habe mich also von meiner derzeitigen Funktion zum Wohle des Großen und Ganzen abgewandt und bin für eine kurze ‚Stippvisite‘ vor drei Tagen hier in meine Heimat gekommen – dann wurde die Stadt abgeriegelt, wegen dieser grassierenden Seuche. Ich habe versucht, mittels Portal die Stadt zu verlassen – doch verhindert die Hofzauberin im Ensenada Palast, dass ich dem Unsinn hier entfliehen kann, mit einem potenten Gegenzauber, der Portalreisen unterdrückt. Kein Wunder: Weder will Thyssen aus altruistischen Gründen eine Seuche verbreiten, wie zuletzt den großen Catriona Ausbruch 1272 in den nördlichen Königreichen – noch möchte man die Gerüchte von infrastruktureller Schwäche in Lan Exeter als Handelszentrum der Meere oder von einem geschwächten Poviss streuen. Stellt euch mal den Einbruch von Devisenmärkten oder Handelskursen vor? Auch politisch, alles sehr verständlich…“, führte der Magier aus. „Mag sein Carduin – aber wir sind keine Magier, und unsere Affinität zu Politik hält sich in Grenzen. Kannst du uns hier rausbringen?“, fragte Valerian etwas ungeduldig. „Das weiß ich nicht – aber vielleicht könnt ihr es selbst, beziehungsweise ihr gemeinsam?“ Das Trio blickte sich fragend an, bevor der Magier fortfuhr. „Ich habe auf den Ebenen der Logik und der Informationswirtschaft in Lan Exeter nach einem Ausweg gesucht. Vergeblich, trotz meiner mannigfaltigen Kontakte hier. Eine Option gibt es noch: Gewiss seid ihr mit der Kunst der Wahrsagerei als magische Disziplin vertraut – die Wahrsagerei hat die unschöne Eigenschaft, dass man sie allein nicht derart gut praktizieren kann, wie mit einem Probanden zusammen. Es ist zwar nicht mein magisches Kerngebiet, aber alles nötige Wissen hat mir die Schule Ban Ard mitgegeben – und alles Weitere steht hier in den Büchern zur Oneiromantie…“ „Ungern Carduin. Die Traumdeutung ist ein sehr vages Feld, und offenbart auch viel Persönliches von den Träumenden…“, stellte Valerian fest. „Valerian, ich kenne dich seitdem du als Bursche nach Lan Exeter gekommen bist. Was fürchtest du, das ich sehen könnte?“, entgegnete der alte Magier. Der Greifenhexer schwieg. Charlotte und Volmar stimmten in das Schweigen mit ein. Eine bessere Idee hatten sie nicht.

Schließlich erklärte sich Valerian wider seiner Bedenken bereit. Er wollte Volmar und Charlotte, die Carduin sowieso schon offenkundig misstrauten, nicht persönlichen Offenbarungen aussetzen. „So, ich bin fertig. Lege dich bitte auf das Canapé, Valerian.“ Carduin hatte das Sofa von verschiedenem Krimskrams seiner Unordnung befreit, und zeigte nun mit offener Hand auf das Möbelstück. Valerian sattelte seinen Schwertgurt vom Rücken ab und drückte ihn mit einem vertrauensvollen Nicken Volmar in die Hand. Dann legte er sich auf die bequeme, wenngleich staubige Liege. „Ich werde dir erst einige Fragen stellen, um mich in einen geistigen Einklang mit dir zu begeben. Mein Ziel ist es, dass unsere mentalen Schwingungen zwischen Träumenden und Führenden sich harmonisieren – so vermag ich es dir als Magier den Traum zu induzieren und diesem Traum dann detailliert im Ablauf zu folgen.“, sprach der Magier und begann mit seinem Vorhaben. „Großartig!“, kommentierte Valerian trocken. „Nun gut mein lieber Hexer. Warum möchtest du Lan Exeter verlassen? Was suchst du außerhalb der Stadt mit deiner Begleitung.“ Valerian dachte nach, und schwieg. Carduin räusperte sich höflich ungeduldig. „Wir sind auf der Reise zur Schule der Wolfshexer. Da die Greifenschule sich erneut im Niedergang befindet, haben Volmar und Charlotte eingewilligt mir in der Suche nach Wissen zu helfen, um die Schule zu retten.“, beantwortete Valerian die Frage. „Fabelhaft Valerian. Was empfindest du dabei? So ein Hexer diese Frage beantworten kann…“, fuhr Carduin mit seinen Fragen fort. „Ganz ehrlich, erschreckend viel Carduin. Furcht, Neugierde, Angst, Zaudern, aber überwiegend Sorge.“, zählte Valerian auf. „…um wen?“, fragte der Magier. „Meine Familie.“ Valerian zwinkerte Volmar zu, der genervt seufzte. Carduin wahrte die Professionalität: „Gut Valerian. Du kennst Lan Exeter. Ich möchte, dass du dir nun vorstellst, wie du den großen Kanal entlangfährst. Ab dem Bernsteinviertel wirst du viele Kranke sehen auf den Promenaden, gehetzte Wachen die Ordnung halten wollen, protestierende Kaufleute wegen der Quarantäne und huschende Pestdoktoren… schließ deine Augen. Entspanne dich…“ In der Stimme Carduins lag eine sonderbare Beruhigung, und Valerian schlief, zu seinem Erstaunen, simultan ein.

Valerian sah den Kanal, die prächtigen Häuserfronten. Er saß allein auf einem Ruderboot, er steuerte dieses selbst auf das Tor von Lan Exeter zu. ‚Valerian! ‘ Hört er eine vertraute Stimme rufen. Er blickte zur Seite, und sah Nella, die ihm aufgeregt zuwinkte. ‚Valeeeriaaaan!‘ Diesmal von der anderen Seite des Kanals – wo Meidwynn stand, sie rief verzweifelt, und der orgulistanische Baron zerrte diese in die Dunkelheit einer Gasse zwischen den Häusern. ‚Valerian! …Valerian! Vaaaleeeeriaaaan!‘ Immer wieder ertönten Stimmen seiner geliebten und geschätzten Menschen. Immer wieder erschienen sie über ihm an den Promenaden des sonst menschenleeren Kais. Sie winkten, sie riefen, sie weinten, sie schrien. Sie bedeutetem ihm schneller zu machen! Schneller zu rudern! Genervt schrie Valerian, und eine Aard-Druckwelle, geboren aus seiner Wut, sprengte in einem Kugelförmigen Ausstoß das Boot. Plötzlich sah Valerian schwere Ketten an seinen Füßen, die ihn tiefer zogen, immer tiefer, in das dunkle-türkisblau des Kanals. Gerade als die Ohnmacht drohte, spürte er eine Hand, die die seine ergriff – und ihn mit einem starken Ruck hochzog: Valerian sprang aus dem Wasser, und stand neben seinem Freund, Konrad von Tannhauser. Valerian erkennt die Hafenstadt Novigrad, wie sie in seiner Kindheit aussah. Da lief ein Kaufmann an ihm vorbei, eilends, hinter ihm her eine verzweifelte Dame, offenkundig aus prekärem sozialem Umfeld und mit zweifelhaftem Beruf. Sie zeigte auf ihren Bauch, und gestikulierte wild – der Mann hörte nicht, und lief auf ein Schiff zu. Er ging auf die Brigg, warf die Ladeplanke von Bord – und schaute plötzlich Valerian an. Das Gesicht des Kaufmanns änderte sich – seine Wangen hoben sich, die Lachfalten, die Nasenfalte… und Valerian sah plötzlich in sein eigenes Gesicht, das ihn anlächelte – und wieder änderte sich das Gesicht, diesmal zum Gesicht Konrads.

Valerian schreckte auf. Er befand sich wieder auf dem edlen Sofa. Carduin sah ihn durchdringend an, Charlotte und Volmar hatten inzwischen auf Stühlen Platz genommen und blickten Valerian fragend an. „Was hast du gesehen Valerian?“, fragte Volmar. Der Greifenhexer war noch nicht in der Lage zu antworten. Carduin übernahm die Erklärung: „Valerians Geist ist voller Sorge um seine Engsten und Liebsten. In dem Gewirr seiner Gedanken aber, sind wir auf eine Goldader der Wahrheit gestoßen, einem verblüffendem Quant Schicksal: Valerian scheint einen lebenden Verwandten zu besitzen, den er bisher wohl nur als Freund kannte, und erfuhr etwas über seine Herkunft.“ Valerian schwieg. „Wollen wir weitermachen, Bursche?“ Er antwortete noch immer nicht. Volmar sprang ein: „Ich übernehme ab hier. Ich denke, Valerian hat genügend Dinge im Geist, die er nun zerdenken muss – mein Geist ist frei von den Ketten an Verwandte und… Familie.“ Valerian und Volmar nickten sich einander zu.

Volmar begrüßte den Komfort des Canapé, im Vergleich zum Stuhl. Noch während der Fragen Carduins, schlief er ein und bestätigte dies mit einem herzhaften Schnarchen. Auch er fuhr im Traume auf dem Großen Kanal, und hielt auf das Stadttor zu. Hinter ihm stand Varin, sein geliebter Ausbilder aus Kaer Morhen. Varin flüsterte ihm ins Ohr: „Sieh genau hin.“ Volmar war irritiert. Er blickte sich um, sah die Kranken, die Doktoren, die Wachen, die Kaufleute, die Proteste vor den Toren… doch dann bemerkte er ein Zucken an seinem Amulett. „Sieh genau hin Volmar.“ Er blinzelte. Über den Kranken sah er ein dunkles, ätherisches Band aus Magie. Es reichte hoch in den Himmel. Volmars blickte geradewegs nach oben, und über ihm und ganz Lan Exeter schwebte die Erscheinung einer toten Frau. Ihr Gewand in Fetzen, ihre Haut warf Eiter- und Pestbeulen, die aufplatzten, und das freigewordene Sekret floss aus den Wunden hinab und wandelte sich im Flug zu grünen Schneeflocken, die auf Lan Exeter schneiten. Das Bild veränderte sich – es stellte sich komplett auf dem Kopf, sodass Lan Exeter im Himmel lag und die Erscheinung mit gefalteten Händen auf dem Boden. Vom Himmel fiel wie ein Blitz das Silberschwert eines Hexers hinab, und durchbohrte die Zunge im Rachen der Frau. Volmar erkannte, dass es sein Silberschwert war. „Eine Pesta!“, Volmar setzte sich ruckartig auf. Carduin runzelte die Stirn: „Eine Pestmaid, eine Erscheinung die Krankheit und Seuche verursachen kann… hmmm…“ Ohne weiteren Kommentar stürmte Carduin aus dem Zimmer, und kam wieder mit einem Pergament. Er las murmelnd einen Krankenbericht, und folgerte dann laut: „Die hier grassierende Seuche kann gar keine Catriona sein. Es findet sich bei den umhin beschriebenen Symptomen kein blutiger Auswurf. Lediglich andere Symptome. Ich stimme deiner Theorie zu, Volmar von Brugge.“ Volmar strahlte – so sehr, was ein Wolfshexer in Sachen Mimik vermochte. „Hört zu, ich habe eine Theorie…“

Es war Mitternacht, die vier Gefährten standen auf dem zentralen Friedhofsplatz. Volmar und Valerian hielten ihr Silberschwert in der Hand, dessen Klinge fahl im Mondlicht glänzten. Auf Valerians Schwert, leuchteten blaue, mythische Runen auf. „Hier ist es.“, Carduin zeigte auf ein Grab. „Galita von Hengfors.“ Diese Wissenschaftlerin wurde vor einer Woche hier in Lan Exeter… zu Tode gefoltert. Sie vertrat einige makabre Theorien zur Catriona Seuche von 1268 und 1272, die nicht in Übereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Kanon waren – was erstmal nicht schlimm war. Aber sie ging so weit, dass sie Portale und interdimensionale Reisen untersagen wollte, da sie diese für die Quelle der Catriona hielt. Sie fing an die Portalreisen von anderen Magiern in Lan Exeter zu sabotieren, wobei ein angesehener Stadtzauberer zu Tode kam… das ist gelinde ausgedrückt dafür, dass seine Körperteile an einem Dutzend verschiedener Stellen in der Stadt gefunden wurden…“ Charlotte grunzte. Er fuhr fort: „Die Hofzauberin konnte belegen, dass es Galitas Sabotage war. Nach ihrer Festnahme wurde sie gefoltert und aufgefordert ihre Theorien zu widerrufen. Sie weigerte sich schreiend, bis sie durch den Folterknecht in den Kerkern Lan Exeters den Tod fand…“ „Volmar, hilf mir ein großes Yrden zu ziehen.“ Valerian und Volmar beschworen einen magischen Kreis aus violettem Licht mit einem Durchmesser von rund acht Schritt. Charlotte zündete ein Räucherwerk aus Kräutern an, dass die beiden Hexer vorbereitet hatten, und verteilte den aromatischen Rauch mit wedelnder Hand. Carduin zog ein Pergament aus seiner Tasche und begann: „Nun denn, versuchen wir es wie besprochen. ‚Galita von Hengfors, ich rufe euch zum wissenschaftlichen Kolloquium – um eure These zu verteidigen!‘ …Ean vaín né élle ibháin na larvash!“ Carduins Hände leuchteten grünlich beim Skandieren der elfischen Beschwörungsformel. Nach einer Zeit des Wartens, fuhr aus der Erde eine ätherische Gestalt auf, und manifestierte sich im Kreis des Yrden-Zaubers. Es war die einer Frau, und sie glich der Beschreibung Volmars aus dessen Traum – von fahler ungesunder Haut, in Fetzen einer Gelehrtenrobe gekleidet und voller eitriger Beulen und Pusteln. Ihre Augenhöhlen waren leer und eine lange Zunge lugte aus Ihrem Kopf, dem der Unterkiefer gänzlich fehlte. Sie fauchte, und stöhnte. Carduin räusperte sich: „Verteidige deine Thesen im wissenschaftlichen Disput!“ Die Pestmaid fauchte nun ärgerlicher, und hielt auf Carduin zu. Volmar sprang vom Kreisrand auf die Pesta zu. „So wird das nichts!“ „Verdammt Volmar!“, fluchte Valerian – und sprang von der anderen Seite, weiter entfernt dazu. Carduin stürzte beim Zurückweichen, und fiel rücklings auf den Boden. Die Erscheinung raste jetzt auf ihn zu, und eine meterlange Zunge schoss auf den am Boden liegenden Magier zu. „Vael elan my elyenthain g’lan faray!“ Carduin erhob seine Hände und um ihn herum baute sich eine wabernde goldene Schutzsphäre auf, ein höherer Zauber, an dem die spitze Zunge abprallte. Volmar drosch mit einem horizontalen Hieb von hinten auf die Pesta ein – er spürte den Widerstand von Materie, er hatte sie also getroffen. Galita schrie schrill auf – und alle Vögel und Insekten der Nacht verstummten plötzlich komplett. Charlotte sah es zuerst: „Seht!“ Ein Kreis aus Rattenschwärmen schloss sich um die Gruppe, am Himmel über ihnen flogen Schwärme aus Insekten. „In den Yrden-Kreis!“, schrie Valerian, und zog Charlotte hinein. Die Tiere schwärmten um den Yrden-Kreis herum, aber drangen nicht hinein. Das violette Leuchten der Kreislinien wurde schwächer. Valerian fluchte laut auf, viel mit einer komplexen Handgestik auf die Knie und streckte seine Hände zum Kreisrand hin: „Ich halte das Yrden aufrecht. Volmar halte du die Pesta auf!“ Da war Volmar sowieso schon dabei: In diesem Moment schoss ein Strahl grüner Kotze in einem giftigen Schwall auf Volmar zu – dieser zauberte ein Quen-Schutzzeichen und drehte sich in einer Pirouette zur Seite weg. „Achtung!“, rief Charlotte: Zwei illusionäre Ebenbilder Galitas griffen von den Seiten Volmar an. Der Wolfshexer nutzte den Schwung der Pirouette und schlug in die eine Illusion einen sauberen Schnitt – wodurch sich diese in Rauch auflöste. Charlotte warf ein Wurfmesser auf Galita zu – doch diese löste sich ebenfalls in dunklen Schwaden auf. Plötzlich erschien hinter Charlotte die Pestmaid, um sie von hinten zu umarmen, Charlotte schrie. Volmar nahm sein Silberschwert in die Haltung des ‚Schützen‘, indem er es wie ein Speerwerfer schräg unten hinter sich bereithielt, und dann wie eine Balliste beschleunigte: Das Silberschwert traf genau in den Rachen der Pesta, durchstoß die Zunge und penetrierte die Schädelrückwand des Geistes. Galita sank zu Boden, Volmar nahm Charlotte schützend in den Arm, den Blick auf die Pesta gerichtet. Die Ratten- und Insektenmasse lichtete sich. Valerian erhob sich, und stellte sich schützend neben Volmar und Charlotte. Die Pesta röchelte. Valerian sprach: „Ich bin der Leiter der Schule und Akademie Kaer Iwhaell, und ich habe deine wissenschaftliche Arbeit zu den Hypothesen der Catriona Seuche für wegweisend und deduktorisch korrekt befunden. Ich entlaste deine Arbeit von allen weltlichen Vorwürfen und erkenne diese als Gelehrter an.“ Galitas Röcheln und Fauchen schwand, und ihre Augen weiteten sich. „Wir werden alle weiteren Folgeschritte befolgen, die auf deinen logischen Schlussfolgerungen basieren. Bette dich nun zur Ruhe in dem Wissen, dass du der Menschheit und Wissenschaft ein wichtiges Andenken hinterlassen hast, Galita von Hengfors.“ Der runzlige Körper von Galita wandelte sich kurz in den einer älteren Frau mit einer abgetragenen Professorenrobe, wonach dieser sich sofort in Staub auflöste. Valerian folgerte: „Wissenschaftler wollen nur eines: Anerkennung und Respekt für ihre Arbeit, und ihrem Publikum ein Erbe und Andenken mitsamt ihrem Namen hinterlassen, und den Pfaden ihrer Zunft der Gelehrten dienen und Tore öffnen für die aufkommenden scholarae und studiosi der nächsten Generation…“ Valerian schüttelte den Kopf, und steckte sein Silberschwert routiniert in die Schwertscheide auf dem Rücken. „Also ich würde ja sagen…“, sagte Volmar „… du hast sie greifentypisch totgeplappert.“ „… das kommt gerade von dir Volmar?!“, kommentierte Charlotte. Alle drei lächelten. Carduin nicht – der beschwerte sich über Graberde und Unrat auf seiner orange-roten Magierrobe. Dann hoppelte ein schwarzer Kater aus dem Schatten eines Grabsteins zu Carduin und rieb sich schnurrend an den Beinen des Zauberers.

Kapitel 4: Höhle der Qualen

Die Reisenden blieben noch drei Tage bei Carduin, bis die Beamten der Stadt die Quarantäne aufhoben, da die Seuche wie von Zauberhand verschwunden war. Nach einer intensiven Verkostung der Lan Exeter‘ Weine und Schnäpse bei Carduin in der dritten Nacht, verabschiedete sich das Trio von dem Gastgeber bei Sonnenaufgang. Sie verließen sein Haus, nur um auch ihn durch den Knall eines Portals in seinem Haus verschwinden zu hören. Valerian drehte sich von der Tür des Hauses um, und blickte auf dem Kanal. Vor ihm auf einem stählernen Poller saß eine weiße Möwe – neben einem schwarzen Kater. Der alte Hexer seufzte. „Es kommt nicht in Frage, dass ich euch mitnehme – ‚Kaer Iwhaell ist kein Zoo‘, verdammt! Aber, damit Nuriel oder die tierliebe Mei mir nicht zürnen…“ er räusperte sich, „…lieber Arghal. Bitte bleib bei Parzival bis zu unserer Rückkehr. Diese Reise kann länger dauern, aber wenn wir zurückkommen – dann gewiss über Lan Exeter. Sollten wir in drei Monden nicht zurückkehren – geh zurück zu Nuriel. Ähm… verstanden?“ Arghal kreischte. Parzival gähnte. Volmar schüttelte ungläubig den Kopf. Charlotte nicht: Die hatte angefangen die Szene mit einem Kohlestift flüchtig zu skizzieren, in der der Großmeisterhexer Valerian sich herabbeugte und mit einer Möwe neben einem Kater parlierte – die Skizze wollte sie ihrem Zeichner geben und das fertige Bild „Valerian in Lan Exeter“ taufen. Der Alte war sich irgendwie sicher, dass er die Möwe nicht so schnell loswerden würde – leider. Wieder hatte er einen Zoo an der Backe. Er betrachtete das Federvieh, den Kater und die Pferde, und Brunhild wieherte laut schallend auf.

Sie verließen die Stadt durch das prächtige bannerumwehte Stadttor und ritten zuerst an der Praxeda Bucht ostwärts entlang nach Yspaden in Creyden. Ursprünglich war es Charlottes Plan, ab hier weiter südwärts nach Novigrad zu reisen, doch entschied sie sich freiwillig einen Umweg in Kauf zu nehmen bis zum Kestrelgebirge.

Sie folgten also zu dritt dem Fluss Braa entlang weiter nach Osten bis zur Stadt Jamurlak. Dann gelangten sie weiter über das prächtige Hengfors über die Braa nach Braafeld in das Land Caingorn. Vor ihnen ragte das weiße Kestrelgebirge auf, dass sie von der nächsten Station in Aed Gynvael trennte. Sie beschlossen vor der Passage des Gebirgspasses noch eine Nacht in ordentlichen Betten zu verbringen, und kehrten in eine Taverne an der Hauptstraße ein. Das eingeschneite Gasthausschild zeigte einen steppenden Bären mit der Inschrift: „Zum Tanzenden Bär“. Valerian schmunzelte über den Wortwitzvorrat, den er mit zu seinem befreundeten Bärenhexer Tjaske nehmen würde. Nach dem Absatteln und der Übergabe der Pferde an den pickligen Stallknecht, betraten die drei die geheizte Stube. Es war insgesamt sehr wenig los, sie hatten also freie Platzwahl, und entschieden sich für einen Ecktisch im hinteren Bereich der Wirtsstube, mit guter Sicht über die Taverne. Eine vollbusige Schankmaid empfing sie reizvoll: „Hallo die Herre… Oh! Hallo Volmar. Tut mir leid dich enttäuschen zu müssen, aber deine Stammrunde ist heute nicht zum Würfeln und Kartenspiel da. Ich habe vorhin einen Topf Met heißgemacht, wollt ihr was davon?“

Mit dampfenden Metbechern vertrieben sie die Kälte aus ihren Gliedern. Valerian begann die Konversation: „Sag mal Volmar. Ich gehe davon aus, dass die Schwertlehre der Greifen sich nicht um Welten um die der Wölfe unterscheidet – mein Fechtmeister lehrte mich, dass man sein Schwert im Kampf gegen Monster auf gar keinen Fall in den Schützengriff nehmen und als Speer werfen sollte… ‚sowas tun nur verliebte Narren und Selbstüberschätzer‘. Wie ein Selbstüberschätzer wirkst du mir nicht…“ Er lächelte abwechselnd Volmar und Charlotte zu. Mit etwas Fantasie konnte man den Anflug einer Errötung auf Volmars Wangen erkennen. Charlotte übernahm das Reden: „Er redet nicht so gern über… uns.“ Valerian brach wieder das Schweigen: „Sagt mal, was macht ihr eigentlich, wenn wir in Kaer Morhen fündig geworden sein sollten? Ich werde nach unserer Unternehmung in die Leuenmark reisen und meine Zöglinge suchen.“ Volmar überlegte. Charlotte antwortete zuerst: „Ich werde wie gesagt, morgen abreisen nach Novigrad. Ich habe da noch eine Angelegenheit mit einem gewissen Zwerg namens Hacker zu klären, meine geliebte Arbaleste betreffend…“, Charlotte grummelte etwas in sich rein. Volmar fuhr fort: „Nun Valerian, ich sagte dir damals schon in Solonia – ich möchte dich und die Greifen beobachten. Ich wollte feststellen, worin sich die Wolfsschule von der Greifenschule unterscheidet, und sehen ob und wie wir zusammenarbeiten können. Du siehst, hier an unserer Mission – das Urteil ist vorläufig positiv ausgefallen. Dennoch werde ich mir etwas Zeit auf Kaer Morhen nehmen, um meine weiteren Aktionen in der großen Mission zu planen, die Hexerzunft auf meine Art und Weise zu unterstützen. Du musst wissen Valerian: Ich beäuge deinen Plan zur Kräuterprobe auch sehr Teil kritisch. Ich unterstütze ihn, ja natürlich, das weißt du. Ich habe wortwörtlich mein Blut dafür gegeben. Aber dennoch habe ich Angst vor… fehlgeschlagenen Experimenten, oder fehlgeleiteten Alchemisten oder Magiern, die jenes Wissen missbrauchen könnten, an denen Saleha, Eiwa, Nella und du forschen. Dennoch denke ich, dass es besser ist, dass die Greifen und du, dieses schwierige und notwendige Thema angehen und dabei lieber von mir bewacht und begutachtet werdet, als von irgendwelchen irren Zauberern oder Spinnern. Ich muss gestehen – ich glaube ihr als Greifen könnt das sogar besser ergründen als die paar übrigen einsamen Wölfe.“ Valerian nickte. „Ich verstehe deine Ressentiments. Mehr als manch anderer. Und deswegen freue ich mich so sehr über deine Unterstützung.“, antwortete Valerian. „Doch Valerian, bitte versprich mir, sobald wir in Kaer Morhen sind – kein Wort über unsere Pläne zu meinen Brüdern. Ich möchte nicht, dass sie Probleme bereiten könnten oder sich Sorgen machen, so gerne ich sie auch… teilweise… habe.“, sprach der Wolfshexer weiter. „Einverstanden. Dafür versprich du mir auch etwas Volmar: Ich habe nachgedacht. Wenn das hier vorbei ist, möchte ich im Laufe der nächsten Monate eine Expedition nach Kaer y Seren vorbereiten in den Drachenbergen. Dort liegt zu viel kostbares, als auch gefährliches Wissen, das ich als Ältester der Greifen bergen muss, und zur neuen Greifenschule bringen möchte – so ich diese denn hoffentlich, mit der Zustimmung des Rates der Leuenmark in selbiger errichten darf, versteht sich… aber wenn es soweit ist, versprichst du mir mich zu begleiten, nach Kaer y Seren?“ Theatralisch schlug Volmar in Valerians gereichte Hand ein. „Ach Greif, wenn wir eines gemeinsam haben, dann ist es unsere Einstellung: Wir beide wollen unseren Schulen gerecht werden, unsere Zunft voranbringen und unseren Brüdern helfen. Wir beide sind stolz Hexer zu sein, und das zu tun, was wir tun.“ „Ach Wolf. Der Stolz darauf ist schon lange dahin. Das wird dir in 80 Jahren gewiss auch so gehen.“, antwortete der alte Hexer.

Am nächsten Tag, standen die drei vor der Taverne an der Wegscheidung. Ein Weg kam von Westen, einer führt nach Süden, und einer nach Osten, auf das Kestrelgebirge zu. „Der Zeitpunkt der Verabschiedung, meine lieben Herren.“ Die Schmugglerin wollte südwärts reisen, gen Novigrad. Charlotte und Valerian umarmten sich freundschaftlich. „Ich habe noch was für dich Opa…“, sie kniete sich hin, und fummelte in dem Schaft ihres Stiefels – und zog ein Schmuddelbildchen heraus, dass sie behände in Valerians Gürteltasche steckte. „Hier – mein letztes seit dem Firi-Vorfall… war eigentlich für schlechte Zeiten gedacht – oder schwierige Bestechungen…“ Valerian lachte. „Danke dir Charlotte, ich nehme diese Bestechung von dir gerne an – und beim Wiedersehen sagst du mir, womit ich mich für diese Bestechung dann revanchieren muss.“ Valerian trat zurück, und ließ Volmar nun Raum für die Verabschiedung. Er und Charlotte schauten Valerian aber nur erwartungsvoll an, und etwas betreten. „Achso… ich nun ja, gehe ein paar Schritte vor.“ Valerian räusperte sich, nickte Charlotte zu und schritt gemütlich voran auf die Oststraße zu, wo ihre Pferde schon bereitstanden. Hätte Valerian seine übermenschlichen Hexersinne genutzt, hätte er gewiss gesehen, wie sich Charlotte und Volmar inniglich küssten, bevor sie sich mit einer Umarmung verabschiedeten – aber so etwas hätte Valerian gewiss nie getan, so wie wir ihn kennen, nicht wahr? Er zog stattdessen lieber die Motivationskarte aus seiner Tasche, die Charlotte ihm zusteckte: Sie zeigte einen fetten, betrunkenen Zwerg in unerotischer Pose, der herzhaft rülpste. Er lächelte und stieg in den Sattel auf die treue Brunhild.

So begannen die beiden Hexer mit der letzten Etappe ihrer Reise. Ihr Weg führte über das Kestrelgebirge und seinen Gebirgspass bei Caingorn aus bis nach Kaedwen und die Stadt Aed Gynvael. Auch dort rasteten Sie eine Nacht in einem ordentlichen Wirtshaus, um sich dann weiter ostwärts aufzumachen und der Zielgeraden zu folgen – dem Fluss Gwenllech.

„Ich habe vergessen, wie schön euer Tal ist, Wolf.“, sagte Valerian auf seiner Schimmelstute und bestaunte die Kulisse von Kaer Morhen: In der Talmitte schlängelte sich der türkise Fluss Gwenllech zu dessen rechter Uferseite sie auf einem breiten, erdigen Trampelpfad ritten. Der Fluss war umgeben von grünen Gräsern mit Schneeresten im Schatten, in einem Tal, das von saftig grünen Nadelwäldern gesäumt war, die mit steigender Höhe immer mehr und mehr Schneeweiß zeigten. Eingerahmt wurde das Tal von zwei Gebirgsausläufern der Blauen Berge, des Bergmassivs, auf das sie zuritten. Vor selbigem, in die Gebirgsflanke eines Berges gebaut, lag die Höhenburg Kaer Morhen, gerade rund tausend Schritt entfernt. Volmar auf seinem Rappen hingegen antwortete nicht keck oder stolz auf Valerians Satz – er sah vor dem geistigen Auge die Kulisse in dunkler Silhouette, gekrönt von Rauchsäulen und Feuersschein am Horizont, und hörte die Schreie von… „Volmar?“, Valerian stupste ihn an. Vargheist wieherte besorgt. Der Wolfshexer blinzelte kurz, und nickte. „Ja… gewiss, gewiss Valerian. Jetzt folg mir.“ Er gab dem Rappen die Sporen und wechselte in einen leichten Galopp. Sie ritten den Pfad weiter flussabwärts, bis sie zu einem kleinen Wasserfall kamen. Kurz danach wurde das Flusswasser seichter. Volmar ritt voran und preschte durch das knöchelhohe Wasser der Furt. Die vorher breite Straße wurde nun ein schmaler Trampelpfad, durch hohe Gräser und scharfkantige Felsen. Rechts von Ihnen wurde der Gwenllech breiter, und bildete sogar einige kleine Felsinseln, mit Fichten besetzt, optisch gekrönt von der Ruine der einst stolzen Wolfshexerburg. Sie folgten dem Pfad durch die Idylle weiter, bis direkt neben ihnen eine Holzkonstruktion im Boden begann sich nach vorne hin auszudehnen. „Das hier ist der Damm. Vor hunderten Jahren war hier eine Eisenmine. Der Damm machte die Zeche erst bewirtschaftbar. In jüngerer Historie hatten wir hier eine der Schmieden für die Hexer. Ich weiß, dass dort noch einige Bücher liegen – die können wir inspizieren.“ Volmar nickte nach links, einen steinigen schmalen Weg entlang, der in eine schattige Kluft eines Bergausläufers führte.

Der Pfad führte schlängelnd an den scharfkantigen Flanken der Kluft vorbei, bis zu einem alten Stolleneingang. Die Hexer traten in die allumfassende Dunkelheit und ihre Katzenaugen weiteten sich. „Rechts entlang.“ Volmar schritt voran. Sie durchquerten zwei Abbiegungen und kamen an einem eingestürzten Schacht vorbei zu einer großen Höhle mit Stalagmiten und Stalaktiten. „Hey Volmar, wie kann man sich Stalagmiten und Stalaktiten merken? Mieten steigen – Titten hängen…“, plauderte Valerian. „Valerian… jetzt nicht bitte.“ Valerian räusperte und besann sich. Dieser Ort könnte genauso wie die Höhle der Kräuterprobe ein Platz unschöner Erinnerungen sein, und kein passender für Scherze. „Verzeih.“ Valerian nahm eine feine magische Schwingung wahr. Ihm fielen einige unförmige Steinklumpen am Boden auf. „Volmar schau: Ein Golem stand hier. Wenn du dich konzentrierst, nimmst du noch die Schwingungen des Konstruktes oder seines Befehlszaubers wahr…“ Der Wolf nickte. „Tatsächlich. Einer meiner Brüder erwähnte, dass hier bis vor kurzem einer noch wache gehalten hatte. Komm mal her Valerian.“ Sie gingen weiter durch die Höhle in einen zweiten großen Raum. Dieser war versehen mit einem großen Ofen in der Mitte, Schwertständern an der rechten Seite und Arbeitstischen an der linken, daneben noch einigen Regalen. Wenngleich einige Bücher in den Regalen standen, befand sich in diesen nichts, was für die Kräuterprobe relevant wäre – dort ging es hingegen mehr um Geheimnisse der Metallurgie und der Schmiedekunst. „Die nehme ich mit.“, sagte Volmar.

Sie verließen die Mine am Nachmittag und ritten weiter über den löchrigen Damm, zurück zur Hauptstraße. Diese passierte den Fluss an einer flachen Furt und gabelte sich dann kurz vor der Burg Kaer Morhen. Sie bogen links ab und ritten weiter den Weg entlang nordwärts, und durchquerten die Felsenschlucht zwischen der Hauptburg und einer Turmruine auf einem einsamen Felsvorsprung neben der Burganlage. Nachdem sie die Burgmauern über sich passierten, öffnete sich vor ihnen das Tal erneut und wurde breiter. Jetzt zeigte sich ein kleiner Blick durch weitere Talschlängelungen nordwärts auf den glänzenden See von Kaer Morhen. Sie hielten aber nicht weiter darauf zu, sondern ritten nordwestlich in das Hügelgebiet vor dem See einen schmalen Pfad entlang, vorbei an den abgebrannten Ruinen ehemaliger Holzbehausungen. Der Weg führte direkt in das Gebirge, mehrere hundert Meter steil bergauf. Mit jedem Schritt schloss sich die Schneedecke mehr um das aufstrebende Gras. Irgendwann führte die Serpentine auf einen Felsvorsprung, auf dem sich den Hexern eine Höhle auftat. „Wir sind da. Hier ist es… passiert.“ Sie stiegen von den Pferden ab, schritten durch den knarzenden Schnee und betraten schweigend die Höhle, die aus einem schlauchartigen Höhlengang voller Stalag… zapfen bestand. Das Echo ihrer Schritte war gewaltig – ‚so mussten auch die Schreie der Burschen gewesen sein‘ dachte Valerian sich dabei, aber sagte nichts. Die Höhle selbst öffnete sich nach kurzer Zeit etwas in ihrer Breite. Valerian machte an der linken und rechten Wand alte Fackeln in rostigen, eisernen Fassungen aus, und entzündete diese mit einer magischen ‚Igni‘-Geste. Der Fackelschein gab die Details der Höhle frei: An den Wänden zwischen den knorrigen Steinsäulen der Stalagmiten waren Höhlenmalereien, oder eher Skizzen mit weißer Farbe an der Wand. Hier war der Boden teilweise mit Pflastersteinen geebnet worden. In drei Ausbuchtungen der großen Höhle am Ende des Durchgangs, waren gitterartige Tische aus gebogenen Metallstreben platziert, einige Bücherregale, Tische, Urnen und Bottiche. Valerian und Volmar sahen sich schweigend um. Volmars Blick war auf einen der Metalltische geheftet. Es dauerte, bis er sich von dem Anblick und den üblen Gedanken daran losreißen konnte. Valerian hob ein Blatt vom Boden auf, eine herausgerissene Seite aus einem tabellarischen Register: „… Manfred von Verden, 8, Tod nach Verabreichen des zweiten Kräuterabsuds, Leberversagen. Gisbert von Daevon, 10, Tod nach Verabreichen von Aristida, multiples Organversagen…“ Valerian sparte es sich, den Rest vorzulesen. Ohne dass Volmar es kommentierte, spürte Valerian, dass es so besser sei. Er sah weitere Pergamente auf dem Boden liegen, sammelte wie bei einer Schnitzeljagd die Seiten ein und sortierte die gefundenen Ablaufberichte. Volmar trug eine kleine Urne in der Hand: „Hier. Nimm die mit. Man kann bis heute noch die Mutagenmatsche da drin riechen. Vielleicht hilft es euch ja bei der Entschlüsselung der Formel.“ Valerian sah alle Bücher, Hefte, Kataster und Berichte im Schein alter Fackeln durch. Bei jedem Werk schaute er Volmar mit einem fragenden Blick an, und dieser nickte zustimmend – dann stapelte Valerian die relevanten Dokumente geordnet auf einen Haufen in der Höhlenmitte, neben der Urne mit der stinkenden Mutagenpampe. Mehrere Stunden verlief das so. Sie fanden etliche Versuchsprotokolle, Beschreibungen von Autopsien an den ersten missglückten „Versuchsobjekten“, die Aufschlüsselungen von Versuchsreihen verschiedener erster Mischungen… aber niemals die finale Mixtur der Kräuterprobe, die die Wolfsschule zuletzt nutzte. Immerhin ließen sich einige Inhaltsstoffe und Reagenzien klar bestätigen, wie Germer, Haargerste, Nachtschatten oder Wolfsbann, oder einige Stoffe auch dementieren. „Saleha und Eiwa werden Luftsprünge machen. Ich denke, das wird ihre Forschung immens beschleunigen. Danke Volmar…“, sagte Valerian. Volmar grummelte in Zustimmung. Er inspizierte konzentriert die vermeintlichen Foltertische, diverse Kräuterstößelapparaturen, Bottiche für Kräutertees und, so wie Valerian auch, Bücher – viele Bücher. Plötzlich spürten die Hexer ein Zucken ihrer Medaillons, und die Stimme eines Kindes rief in schwachem Echo: „Ich fühle mich nicht gut Meister… macht mich los! Bitte!“ Die Hexer schwiegen eine Weile. Dann sagte Volmar „Bitte… lass uns hier fertig werden.“

Sie beschleunigten ihr Vorhaben und packten einige Dokumente ungelesen zu dem Stapel in der Höhlenmitte. Auch zwei weitere Urnen haben sich zu den Fundsachen dazugesellt. Alles wurde in mehrere kleine Transportbeutel aufgeteilt, und draußen den wartenden Brunhild und Vargheist an den Sattel geschnürt. Ihr Atem dampfte in der Kälte, denn die wärmende Sonne war längst untergegangen und das Mondlicht untermalte die gespenstische Stimmung des tragischen Ortes. „Es gibt in Kaer Morhen noch einige Bücher die relevant sein könnten… dort reiten wir nun hin, und natürlich, um dort die Nacht zu verbringen. Ich bitte dich, das Reden nach Möglichkeit mir zu überlassen. Und denk an unsere Abmachung: Kein Wort über unsere Unternehmung, Valerian… und alle Dokumente kommen nach dem Abschluss eurer Forschung wieder zu mir zurück.“ Der Alte nickte: „Ich schwöre.“ Sie sprangen auf die Pferde, welche freudig wieherten darob die windige Klippe verlassen zu dürfen und so ritten sie bei hellem Vollmond gemächlich Richtung Tal.

In der Talsohle angekommen ritten sie im langsamen Schritt die Serpentine hoch bis zur Zugbrücke, die über den Burggraben reichte. Vor den beiden erhob sich in der Nacht die Außenmauer und das Tor von Kaer Morhen, voller Löcher und Makel im Mauerwerk. Die Spuren des Angriffs auf die Burg vor etlichen Dekaden, waren immer noch im hellen Mondlicht gut zu sehen. „Komm schon!“, rief Volmar. Sie ritten durch das hohe, schlanke Burgtor durch eine zugige Vorhalle in den ersten Burghof. Valerian hielt inne: Die Burg war auch von dieser Perspektive aus in einem desolaten Zustand. Löcher im Mauerwerk, teilweise dilettantisch geflickt. Morsche Gerüste standen planlos herum und einsame Balken und Bretter verteilten sich über Wände und Böden. Wild wucherndes Unkraut aus jeder Ritze. Er wollte es gerade kommentieren, da hielt er sich doch mit seiner Äußerung zurück: Jemand, dessen Burg gerade erneut zerstört wurde und der gar kein Zuhause mehr besaß, hat sich kritische Kommentare zu der Wolfshexerresidenz zu verkneifen. Außerdem stand es um die Geldgeber der Wolfshexer bestimmt schlechter, als um die der Greifenschule. So hatten sie doch viel Ähnlichkeit miteinander, die Burg der Wölfe und die der Greifen: Beide angegriffen und verwüstet durch wütende Meuten.

Valerian löste sich von den Gedankenspielen. Sie sattelten ab, kümmerten sich um die Pferde und durchschritten die drei verwüsteten Burghöfe der Außenburg, bis sie vor einem großen Portal aus massiver Eiche standen, das in die Innenburg führte. Sie traten ein, und die Hexer rochen den einladenden Duft von Fichtenholzrauch und gekochtem Gulasch. Sie schritten durch die beiden Vorzimmer in die große Haupthalle. Während Valerian die hohen gotischen Deckenbögen und Fensterformen bestaunte, rief Volmar mit einem Echo: „Jemand Zuhause?“ „…Volmar?“ Von rechts hinten her, wo das Kaminfeuer loderte, stand ein Mann auf und kam den beiden Hexern entgegen: Er hatte glatte dunkle Haare und eine verheerende Narbe auf der rechten Wange. „Eskel! Es ist sehr schön dich zu sehen. Bist du alleine hier?“ „Nein. Die anderen schlafen schon, ich bin noch als einziger wach. Wer ist dein Begleiter?“ „Ich möchte dir jemanden vorstellen: Valerian. Er ist ein alter Hexer der Greifenschule.“ Valerian nickte Eskel freundlich zu. Dieser antwortete mit einem Lächeln: „Sehr erfreut, Valerian. Ich bin Eskel. Kaer Morhen hatte immer wieder in seiner Geschichte Angehörige anderer Schulen zu Gast. Sei also willkommen. Bist du ein Freund Volmars, bist du auch mein Freund… Wildgulasch?“

Im Laufe einer ausgiebigen Mahlzeit am Tisch vor dem Kaminfeuer, kamen die drei ins Gespräch. Erst tauschten sich Volmar und Eskel ausgiebig über deren letzte Reisen und Aktionen aus – abgesehen natürlich von dem tatsächlichen Vorhaben, das Volmar und Valerian hier verfolgten. Eskel hakte zum Glück nicht näher nach, weswegen genau die beiden „hier zufällig auf der Durchreise“ waren. Dann irgendwann, nach einer Zeit des respektvollen Zuhörens, klinkte sich der alte Hexer in das Gespräch ein: Valerian berichtete, dass er noch vor der Verwüstung der alten Greifenschule Kaer y Seren und vor dem großen Angriff auf Kaer Morhen einmal die Wolfsschule besuchte. Er war damals noch ein junger Grünschnabel, so erzählte er, und berichtete, wie er einige Bücher aus der berühmten Bibliothek Kaer y Serens nach Kaer Morhen zum Großmeister der Wölfe brachte. Die Drei unterhielten sich ausgelassen über diesen oder jenen Hexer, die sie kennen und kannten und schwelgten in amüsanten Erinnerungen an ihre Ausbildung oder die harte Schule des alltäglichen Hexerdaseins. Die Stimmung war gelockert, also traute sich Valerian: „Welches Vieh hat dir das verpasst?“ und deutete mit seinem Holzlöffel, von dem rote Gulaschsoße tropfte, auf Eskels rechte Gesichtshälfte. Der Narbengesichtige schwieg einen Moment, Volmar blickte betreten in seine Holzschüssel. „Das schlimmste Monster von allen, Valerian. Das Schicksal… Mein Kind der Überraschung hat mich damit überrascht. Ich möchte nicht darüber reden.“ Der Alte nickte verständnisvoll. Eskel wechselte das Thema: „Die Greifenschule… erzähl mir doch mal ein bisschen: Wo treibt ihr euch jetzt herum? Wie viele gibt es noch von euch? Und sag mal… kanntest du eigentlich Coën?“ Valerian hob die Augenbrauen: „Ja, natürlich. Aber was heißt ‚kanntest‘?“ Volmar und Eskel warfen sich einen eindeutigen Blick zu. Eskel berichtete sachlich: „Coën hielt es nicht so mit der üblichen politischen Neutralität der Hexer. Er kämpfte für die nördlichen Königreiche in Brenna. Die Schwarzen haben ihn niedergestreckt in der Schlacht…“ „Verdammt. Er war ein feiner Kerl. Doch wenigstens gehört er zu den wenigen Hexern, dessen Todesumstände seiner Zunft bekannt sind – ein seltenes Phänomen in unserem Berufsstand.“ Eskel sparte sich die pikante Geschichte, dass der Tod Coëns in diesen Hallen, in denen Sie Wildgulasch aßen, von einem Medium vorausgesagt wurde.

Wieder wurde das Thema gewechselt: Valerian ging auf Eskels weitere Fragen ein und erzählte von den vielen Schicksalsschlägen der Greifenschule, erst in den Drachenbergen bei Kaer y Seren, dann in den Amellbergen bei Haern Cadwch und schließlich von Kaer Iwhaell und seiner jüngeren Geschichte. Danach fiel Valerian in bedrückende Gedanken, und eine sorgenvolle Miene breitete sich auf seinem Gesicht aus. Volmar wusste Rat: „Mein lieber Valerian – ich glaube es wird Zeit für eine Fortsetzung unseres Lieblingstrinkspiels aus Ylos: ‚Ich Hexer hab‘ noch nie…‘…“ Eskel lachte laut auf: „Ich hol drei Flaschen weiße Möwe!“ Und so verbrachten die drei ungleichen Monsterjäger einen sagenhaften Abend mit drei Flaschen ungemein starkem, halluzinogenem Hexerschnaps und einem Trinkspiel, bei dem man dann trinken muss, wenn man auf die Frage des Gegenübers hin zu einer Monsterspezies in der Vergangenheit einen Hexerauftrag zu dem Monster versaut hat – und diese amüsanten Geschichten dazu wurden von den Dreien bei schallendem Gelächter in der Halle von Kaer Morhen vor dem Kaminfeuer erzählt, bis tief in die Nacht hinein.

Die strahlende Morgensonne traute sich endlich über die Bergspitzen der Blauen Berge und wärmte den Rücken von Volmar und Valerian und begann den Frost der alten Welt zu schmelzen. Mit gefüllten Taschen ritten sie schweigend und herb verkatert die Straße neben dem kalten Gwenllech entlang. Vargheist und Brunhild schnaubten, und Dampfschwaden verließen ihre Nüstern. Volmar brach die kopfschmerzbedingte Stille: „Sag mal Valerian… einen Platz weiß ich noch, der interessant sein könnte für unsere Reise. Die Wolfshexer hatten vor wenigen Jahren Bekanntschaft gemacht mit einer Bande namens Salamandra, die Wissen um die Kräuterprobe gestohlen haben soll vor einigen Jahren. Diese Geheimnisse wurden zwar weitestgehend von meinen Brüdern zurückerobert – doch existiert da angeblich bei Wyzima ein Labor oder Unterschlupf der Salamandra, dass wir noch inspizieren könnten… was meinst du?“ „Worauf warten wir? Wir werden nicht jünger. Reiten wir los, durch eisige Bergpässe, bevor du deinen jungen Stolz aufs Hexerdasein verlierst, lieber Volmar. Aber selbst, wenn es soweit ist, keine Sorge: Du gehörst jetzt zur Familie.“, Valerian gab seinem Rappen die Sporen und galoppierte voran. Volmar lachte kurz, dann schmunzelte er. „… möge unsere Welt unter einer neuen Sonne wiedergeboren werden.“ Sagte er bei sich und galoppierte dem alten Hexer hinterher. Er meinte noch das Kreischen einer Möwe zu hören, doch ist dies gewiss unmöglich bei der unendlichen Distanz zur Meeresküste.