Verfluchte Zeiten

Metagame von Yannic und Peter

Spätsommer

Kapitel 1 – Spätsommer

Im Jahre 1280 – in der nördlichen Provinz Cintra des Kaiserreichs Nilfgaard

„Die Sonne – in der Älteren Rede auch feainn genannt, war schon immer ein Sinnbild für Wachstum und Leben. Die Sonne ermöglicht mit Ihrer Wärme das Leben auf dieser Welt. Dies ist nur sinnig, braucht doch alles die Sonne, um zu gedeihen. Kein Wunder also, dass viele Religionen die Sonne zu einem wichtigen Teil ihrer mythischen Auseinandersetzung gewählt haben. Angefangen bei den zuvor erwähnten Elfen – denn auch der sechste Saveaed im elfischen Kalender wird feainn genannt und beginnt mit der Midaëte – der Sommersonnenwende. Und von den Elfen haben auch die Menschen diesen Brauch mit dem Johannisfeuer übernommen. Die Sonne ist ein Geschenk – und so ist es auch Nilfgaard“

– Aus dem Tagebuch des Atheris von Toussaint

Die Sonne schien über Cintra. Wie ein Brennglas schien sie vom Himmel und versengte die versprengten Grasbüschel am Wegesrand. Und sie schien von dem geteilten Wappen, dass immer wieder am Wegesrand der großen Straße aufgestellt worden war: Eine goldene Sonne auf schwarzem Grund auf der einen, drei goldene Löwen auf Blau auf der anderen Seite. Die Flaggen, Fähnlein und Wimpel waren ausgebleicht, die Hellebarden und Stöcke brüchig – doch sie hielten weiterhin die Fahne hoch. Niemand hatte in einem Anflug von Trotz oder fehlgelenktem Patriotismus gewagt die neuen Fahnen abzureißen.

Der Hexer wusste nicht, seit wann die Fahnen dort hingen – er konnte nur Vermutungen anstellen. Seit dem offiziellen Friedensvertrag? Seit der Heirat Emhyr var Emreis mit Cirilla von Cintra? Oder womöglich später bei irgendeinem anderen großen Fest, dass es notwendig machte eine der größten Straßen in einen Anschein von Einigkeit zu tauchen? Der Hexer wusste es nicht und es war ihm ehrlich gesagt auch egal. Seine Füße schmerzten, sein Magen knurrte und seine Geldkatze fühlte sich zu leicht an, um effektiv gegen das eine oder das andere vorgehen zu können.

Der Schultergurt drückte auf die verspannten Schultern, das dunkle Fuchsfell hatte er bereits in einem Beutel verstaut, die Riemen der Lederrüstung geöffnet. Doch diese minimalen Maßnahmen halfen nur wenig gegen die pralle Sonne, die unbarmherzig auf ihn niederbrannte und die Ringe seines Kettenhemdes aufheizte. Gabhan ließ sich auf einem Stein am Wegesrand nieder und genoss für einen kurzen Moment den Schatten, den eine der Fahnen-Sonnen warf. Er verfluchte in diesem Moment seine eigenen Mutationen und fuhr geistesabwesend über die feinen Rillen und Linien des Medaillons mit dem aufgerissenen Bärenmaul. Er war für derart heiße Temperaturen nicht geschaffen.

Wie lange er im Schatten gesessen hatte wusste der Hexer nicht, er musste eingedöst sein und erwachte nun von dem Ruck seines Medaillons. Schlagartig öffnete Gabhan die Augen – die Sonne war ein gutes Stück tiefer gesunken, verschwand nun hinter dem Horizont und hüllte die Straße, die er hinaufgekommen war, in blutrotes Licht. Blutrot war auch der Wagen, der ihm mit halsbrecherischem Tempo entgegenkam. Blutrot war der Mann, der den Wagen lenkte und bei dem er das Weiß in den Augen erkennen konnte. Blutrot war die Flanke des Pferdes, dessen Schweiß Gabhan bis hierher riechen konnte. Blutrot war das Blut.

Ein erneuter Ruck seines Hexer-Medaillons und Gabhan war auf den Füßen, das Silberschwert schnell wie ein Gedanken gezogen. Er lief dem Wagen nicht entgegen, sondern grub seine Füße fester in die Erde, kontrollierte seinen Atem – verengte die Augen zu Schlitzen, um gegen das Sonnenlicht blicken zu können.

Dann war das Ding schon bei ihm – die Sonne spiegelte sich golden auf dem schwarzen Chitin-Panzer, aus dem an allen möglichen und unmöglichen Stellen Gelenke und spitze, bewegliche Dornen ragten. Gabhan zog in einem schnellen Ruck die Silberklinge nach oben, spürte den erwarteten Widerstand und stemmte sich mit ganzer Kraft dagegen. Doch die Wucht, welche das Monster in seinen Sprung gesetzt hatte riss Gabhan mit. Er schlug hart auf dem Boden auf, spürte wie die Luft drohte aus seinen Lungen gepresst zu werden, doch er hielt dem Drang des plötzlichen Ausatmens stand. Ehe er wieder auf den Beinen war sah er das hintere Ende seines Feindes an ihm vorbeiziehen und griff nach einen der aus dem Ende ragenden gegabelten Dornen, vergrub seine Füße gegen den Schotter der Straße und zog. Ein Kreischen – ein Fipsen entrang dem Ungetüm, ehe es von dem Wagen abließ und sich nun Gabhan zuwandte, mit klackerndem Kieferwerkzeug auf ihn niederstieß. Der Hexer formte mit einer Hand das Zeichen Quen, um sich unter dem tosenden Knallen des Wesens gegen seine Barriere wieder aufrichten zu können. Er wartete einen weiteren Angriff ab, löste das Zeichen auf und sprang zur Seite. Mit einem berstenden Geräusch kollidierte der Kopf des Ungetüms mit dem Boden. Gabhan griff nach seinem Silberschwert, dass noch immer zwischen einigen Segmenten der insektoiden Bestie steckte und riss dieses mit einem Ruck nach rechts, tauchte unter den wild zuckenden Beinchen hinweg und zerteilte die Bestie knapp Oberhalb dessen, was er als Rumpfmitte auszumachen glaubte. Die Bestie erschlaffte und auch Gabhan stolperte von dem Schwung nach hinten, hielt sich jedoch auf den Beinen und betrachtete den Riesentausendfüßler vor sich, dessen Kopfhälfte sich zusammengekringelt hatte wie die Zimtschnecken in den Auslagen der Zuckerbäcker.

„He, Meister!“ Gabhan erschrak über seine eigene Stimme, die noch rauer und ausgetrockneter Klang als normalerweise. „Geht es euch und den Pferden gut?“ er machte einen Schritt auf den Wagen zu, der Abseits des Weges zum Stehen gekommen war. Sein rechter Arm schmerzte, sandte ein dumpfes Pochen aus, dass der Bärenhexer noch nicht ganz einordnen konnte. Als er schließlich den Wagen erreicht hatte, saß dort der Kutscher zusammengesunken auf dem Bock. Gabhan roch das Blut, noch ehe er es sah: Eine dunkle Pfütze, die aus dem Fußtritt der Kutsche lief und im staubigen Sand des Wegrandes versickerte. Der Mann selbst war bleich wie Schnee. Seine Haut grenzte sich so nur umso stärker von dem schwarzen Rock und dem schwarzen Hemd ab, an dessen Ärmel goldene Sonnen genäht worden waren. Seine Kleidung und die Bauweise seines Wagens wiesen ihn als nilfgaardischen Boten aus – nur die groben und blutigen Striemen an Hals und an der Seite seines Brustkorbes nahmen ihm jeglichen Ausdruck edler Bestimmung. Gabhan tastete wider besseren Wissens nach einem Puls. Die Rasiermesserscharfen Füße des Monsters hatten ihn aufgeschlitzt wie eine Mandarine. „Scheiße…“ murmelte der Hexer als ihm bewusstwurde, dass kaum ein Laie diese Wunden von normalen Schwertstreichen würde unterscheiden können. Das Pferd selbst war deutlich besser weggekommen als sein Halter, das war zumindest ein kleiner Trost. Doch was nun? Weit und breit war auf der Straße niemand zu sehen, doch wenn man ihn so aufgriff würde er wohl einiges zu erklären haben. Es ergaben sich nun drei Möglichkeiten – er konnte weiterziehen und mit etwas Glück erreichte er bevor die finsterste Nacht einbrach irgendein Gasthaus, wo er sich frisch machen und seinen Arm anschauen konnte – dann war jedoch die Gefahr groß, dass jemand am Morgen des Weges kam und den aufgeschlitzten Schwarzen fand. Die zweite Möglichkeit wäre gewesen nach einer passenden Stelle im Wald zu suchen und den Nilfgaarder zu verscharren – doch was mit Pferd und Karren anstellen?

Gabhan seufzte schwer, als er den Nilfgaarder vom Bock hievte und hinten auf den Karren verfrachtete. Dann lief er zu dem zerteilten Tausendfüßler, warf sich dessen vielgliedrigen Leib über die Schulter und hievte auch diesen auf den hinteren Teil des Karrens. Er musste sein Glück versuchen. Womöglich glaubte man ihm zur Abwechslung mal die Wahrheit. Der Hexer schnaubte – er glaube selbst noch nicht ganz dran, aber das Pferd musste genauso versorgt werden wie er. Er hatte also keine Wahl. Zumindest redete er sich dies ein, während er den Wagen wieder zurück auf die Straße lenkte und den Weg in Richtung des nächsten Dorfes einschlug.

Kapitel 2 – Bären

Ein kalter Windhauch blies Atheris ins Gesicht und sein ruhiger, stetiger Atem bildete kleine Wölkchen in der Luft. Der Greifenhexer stand am Rande der gut vier Schritt hohen Mauer und starrte auf die große weiße Fläche, die sich auf der Ebene unterhalb der Mauer ausbreitete. Die kleinen Schneeflocken, die tanzend aus dem Himmel fielen, ließen die Szenerie friedlich erscheinen. Dieser schöne Moment des Friedens wurde abrupt durch ein lautes Knacken unterbrochen. Die weiße Fläche barst auseinander, und zwischen den sich bildenden Eisschollen begann sich etwas Riesiges zu erheben. Zunächst waren da nur zwei weiße, pelzige Ohren zu sehen – dann folgte der Rest des gigantischen Bärenkopfes. Der Blick des Bären war nach unten gerichtet, so dass er den Hexer auf der Mauer nicht sehen konnte. Während sich der Oberkörper des Tieres aus dem Eis schälte, wurde Atheris das gewohnte Gewicht seines silbernen Schwertes in der rechten Hand bewusst. Seine Faust umschloss die Klinge noch fester, als der weiße Bär sich fast vollständig erhoben hatte und sein markerschütterndes Brüllen ihm das Adrenalin im Blut kochen ließ. Das Wesen ragte gut zwanzig Schritt hoch in den Himmel und der Hexer bemerkte, wie er sich rückwärts von der Mauer wegbewegt hatte, auf der er noch einige Momente vorher gestanden hatte. Atheris blickte sich zum ersten Mal um und sah einen Bergfried hinter sich aufragen. Ein großer steinerner Adler mit gespreizten Flügeln stand über dem Eingang und blickte in seine Richtung … „A d’yaebl aép arse! – Redanien!“ fluchte der Nilfgaarder-Hexer laut. Verzweifelt schaute er zurück zu dem Bären, dessen schwarze, emotionslose Augen ihn nun fixiert hatten. Wie angewurzelt blieb Atheris in der Mitte stehen und wartete. Der Moment zog sich eine gefühlte Ewigkeit hin, bis schließlich der Bär sein Maul weit aufriss und eine Reihe von mannshohen scharfen Zähnen entblößte. In seinem Rücken erschall gleichzeitig ein lautstarkes „Gaude Mater Redania!“ und in dem vermeintlich rettenden Eingang waren rote Schilde mit einem weißen Adler darauf erschienen und blockierten diesen. Es gab keinen Ausweg aus dieser Zwickmühle, das wurde dem Hexer klar. Langsam hob Atheris seine Klinge und umfasste mit der linken Hand den Knauf. Egal was passieren würde, kampflos würde er nicht untergehen. Es war wieder der Bär, der die Ruhe durchbrach und mit nur einem Satz über die Mauer hinwegsetzte. Das riesige, weit aufgerissene Maul senkte sich über dem Hexer nieder, der wiederum sein Schwert zum Hieb bereit fest umklammert hatte. „Se’ege na tuvean – Sieg oder Tod!“ schrie Atheris noch, bevor ihn absolute Dunkelheit umhüllte.

Sein Puls raste … sein Körper war in Schweiß gebadet … die Laken seines Bettes waren zerwühlt. Ein helles kreischen von einer Frau riss den Hexer aus seinem Alptraum, und er öffnete seine schlangenartigen Augen. Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, wo er sich befand und er schaute neben sich aufs Bett…es war leer. Erst als die Hand von Kathrin, der hübschen Schankmaid des Gasthofes, sich auf dem Laken zeigte, wurde ihm bewusst, dass die Gute sich ziemlich erschreckt haben musste, denn sie war aus dem Bett geflogen. Galant erhob sich Atheris und half ihr wieder auf die Beine. „Verzeih mir…meine Gute! Die Erlebnisse eines Hexers sorgen des Nachts manchmal für unangenehme Träume!“ sagte er, was ihm ein versöhnliches Lächeln von Kathrin einbrachte und dazu führte, dass die beiden wieder im Bett landeten.

Einige Zeit später, die Schankmaid hatte das Zimmer längst verlassen, war Atheris dabei, seine Ausrüstung anzulegen, als ein Tumult von draußen seine Aufmerksamkeit erregte. Er schritt zum Fenster und öffnete die Läden seines Zimmers und blickte hinunter auf den Weg, der durch das Dorf führte. Dort saß ein schwer bewaffneter Mann auf einem Pferdekarren und hatte einen toten nilfgaarder Boten neben sich auf dem Bock sitzen, während hinter ihm auf der Pritsche die Überreste eines großen, zerstückelten Tausendfüßlers lagen. eine Patrouille Soldaten des Kaiserreiches hatten ihn beim Betreten des Dorfes sofort angehalten. „Gabhan?“ entfuhr es Atheris, er hatte den Bärenhexer im Laufe des heutigen Tages wie geplant erwartet gehabt, aber nicht unter diesen Umständen. Er beeilte sich die Treppe hinunter in den Schankraum zu kommen und unter den überraschten Blick von Kathrin aus der Taverne zu stürmen. „E’er y glòir – Que aen suecc’s?“, grüßte der nilfgaarder Hexer seine Landsleute, die sich überrascht umblickten und für einen Moment verdutzt dastanden, als sich ihnen ein zweiter Vatt’ghern näherte, der auch noch die goldenen Insignien des Kaiserreiches auf seiner Kleidung trug. Der Gruppenführer fasste sich zuerst wieder und grüßte Atheris höflich zurück. Bevor der Mann mit einer Erklärung ansetzten konnte, drückte der Hexer ihm ein kleines Stück Pergament in die Hand und sagte: „Visse gead’tocht gaedeen – va vort!“ Es dauerte einen Moment, bis sich der Soldat durch das Schreiben gearbeitet hatte – obwohl da nicht viel Stand – und befahl dann seinen Männern, den Toten vom Wagen zu holen, um dann anschließend zu gehen.

Gabhan beobachtete das Geschehen schlecht gelaunt von seinem Sitzplatz aus und erst als die Patrouille abgezogen war, konnte er sich zu einem kurzen Lächeln hinreißen – „Atheris, schön dich zu sehen!“

Kapitel 3 – Tavernen Geschichten

Die Schwarzen, wie die Nilfgaarder landauf, landab genannt wurden hatten sich entfernt. Waren die lange Straße entlanggelaufen, um irgendwo – wussten die Götter was – zu tun. Fortgetragen von guten Stiefeln, die das kaiserliche Heer jedem Soldaten stellte und fort getrieben von einem kaiserlichen Erlass. Einem Erlass, der sich in der Hand des befreundeten Hexers befunden hatte. Gabhan wunderte sich. Er wunderte sich sogar sehr. Und er hatte allen Grund sich zu wundern, wo doch die meisten anderen seiner Zunft um jegliche Art an Neutralität bemüht waren. Doch die meisten anderen seiner Zunft trugen auch nicht die Sonne des Kaiserreiches auf der alten, benutzten Plattenrüstung. Ja die meisten seiner Zunft trugen noch nicht einmal eine solche Plattenrüstung. Zu schwer war sie für die meisten Hexergeschäfte, auch wenn sie von seiner Schuler, der Schule des Bären gerne getragen wurde. Doch nicht in der Machart, wie sie Atheris trug. Eine Machart, wie sie in den kaiserlichen Schmieden anzutreffen sein mochte. Bei ihrem letzten und bisher ersten Treffen war dieser Umstand Gabhan nicht bewusst aufgefallen, doch nun fiel es ihm auf – und es missfiel ihm, wenn auch nicht sehr. Großes Missfallen konnte er sich nicht leisten. Nicht hier und nicht in solchen Zeiten.

Also brachte er ein Lächeln auf seine Züge, das seine Augen sogar fast erreichte – wenngleich auch die alte Narbe auf seiner rechten Wange teuflisch weh tat, wenn er so lächelte. Weshalb er es selten tat. Dass es ihm schmerzen bereitete, wenn er glücklich war, schien ein grausamer Scherz des Schicksals zu sein, an den er sich jedoch gewöhnt und den er auf seine eigene Art und Weise selbst als amüsant befunden hatte. Wenn auch nicht so sehr, dass man hätte darüber lächeln müssen – aus bekannten Gründen. „Atheris, schön dich zu sehen!“ begrüßte er den nilfgaarder Hexer.

Der Hexer schwang sich vom Kutschbock hinab, kam schwer auf dem staubigen Boden auf und blinzelte gegen das Licht der Sonne an, das um den größeren Zunftbruder einen hellen Kranz bildete. Atheris musste sich vorwerfen lassen, sich mit voller Absicht ins Licht gestellt zu haben. Doch Gabhan ignorierte es geflissentlich und warf noch einmal einen letzten Blick in Richtung der Nilfgaarder, die nur noch als schwarze Schemen in der Ferne zu erkennen waren, und überlegte einen Augenblick, ob er Atheris auf die Depesche ansprechen sollte, mit der er auf so wundersame Art und Weise die Soldaten vertrieben hatte … doch er entschied sich dagegen. Seine Kehle war zu ausgedörrt für lange Gespräche und er hatte in letzter Zeit schon zu viele hohe Meinungen aufgrund zu langer Gespräche revidieren müssen. Er konnte auf eine erneute Darbietung seines knirschenden moralischen Kompasses für den heutigen Tag durchaus verzichten. „Du stinkst nach Sex,“ knurrte er daher nur, umrundete den Wagen und warf selbst noch einmal einen Blick auf das, was er von dem Tausendfüßler übriggelassen hatte und legte dann eine Decke darüber. Der Anblick konnte einem armen Tavernen Besucher den Morgen verderben und Gabhan war zu Rücksichtsvoll, um so etwas zu riskieren.

„Na komm“, wandte sich der Bärenhexer an Atheris und stemmte sich gegen die schwere Tür der Taverne um diese aufzustemmen. Im Inneren roch es angenehm nach Kraut, Bier und Würsten. Eine Kombination die Gabhan schätzen konnte und die eine willkommene Abwechslung zu den Gerüchen war, die ihn sonst umgaben und von denen viel zu viele von jener Art waren, deren Aroma sich in Kleidungen festsetzte und dortblieben, bis man sie verbrannte. „Du bezahlst,“ befand er in Atheris Richtung, nachdem er den Blick der Schankmaid gesehen hatte, der definitiv nicht ihm galt. „Mir scheint, du bist bereits in Vorkasse gegangen…“ er humpelte in eine Ecke der Schenke und achtete dabei penibel darauf, dass es nicht die hinterste war. Denn die hinterste Ecke einer Schenke war, wie jeder wusste, immer Verbrechern, Halsabschneidern oder Pfeife rauchenden Waldläufern vorbehalten und Gabhan sortierte sich in keine dieser Überkategorien ein.

Seufzend ließ sich Gabhan auf den Stuhl sinken, der mehr knarrte als er sollte und massierte sich den noch immer schmerzenden Arm. „Tut mir leid für die Verspätung. Ich… war eine Weile lang unpässlich. Habe länger gebraucht als angenommen … Umwege … Du kennst das…“ er blickte auf und der Blick seiner raubtierhaften Augen wanderte an Atheris entlang, neben dem er sich wie das fühlte, was die Tavernen Katze am Kamin gerade hervorgewürgt hatte. „Wie ist es dir ergangen? Wir haben uns seit Solonia nicht mehr gesehen…“, fragte er den Greifenhexer. Solonia – keine guten Erinnerungen. Eine Welt am Abgrund, dunkle Magie, Konspirationen und ein Warg, dem Gabhan die entstellende Narbe an der Schläfe verdankte. Und das waren noch die schönsten Erinnerungen, die er an das verfluchte Land hatte.

Atheris musterte Gabhan, ihm war das Humpeln beim Absteigen vom Wagen bereits aufgefallen und auch ansonsten schien der Bärenhexer nicht gut drauf zu sein, aber er kannte die Arbeit eines Hexers selber und auch er hatte die letzten Monate einiges erleiden müssen, nur trug er dies nicht zur schau, wie die meisten seiner Zunftbrüder. Als Gabhan das Thema auf Solonia lenkte, musste Atheris kurz schlucken … viel war seit dem letzten Winter geschehen … und der Bärenhexer sollte es wissen, wie es um Kaer Iwhaell, der Greifenhexerschule stand. „Kathrin, ein Kelch vom Hauswein für mich und für meinen Freund … ein Krug Wasser!“ rief Atheris durch den Raum, wobei er während seiner kurzen Pause ein wenig lächeln musste. Er hatte beim letzten Treffen bereits mitbekommen, dass der Bärenhexer fast nur Wasser zu sich nahm, damit ein zu hoher Alkoholkonsum die Wirkung der Hexer-Tränke nicht beeinträchtigte. Nach dem sie ihre Getränke bekommen hatten und Atheris einen großen Schluck aus seinem Gefäß genommen hatte, räusperte er sich, blickte Gabhan aus seinen schlangenhaften Augen an und begann zu erzählen, was in Solonia in den letzten Monaten passiert war.

„Gabhan…bei unserem letzten Treffen hatte Großmeister Valerian bereits angedeutet, dass wir Kaer Iwhaell aufgeben werden müssen. In einer Welt, die dem Untergang geweiht ist, in dem sich gottgleiche Kreaturen bekriegen und der Mond in drei Teile zerbrochen ist und diese hinabstürzen zur Erde … in dieser Welt können wir nichts mehr ausrichten.“ Atheris machte eine kurze Pause, nahm einen weiteren Schluck aus seinem Kelch, während Gabhan zustimmend nickte. „Die Evakuierung lief wie geplant, bis uns die Nachricht ereilte, dass eine größere Gruppe an Fanatikern auf den Weg nach Kaer Iwhaell war, um uns zu vernichten. Seit wir Hexer in ihr Land kamen, hat dieses schreckliche Schicksal begonnen und wir seien an allem Schuld … dass wir alles versucht haben, dieses Schicksal von Solonia abzuwenden, schienen sie nicht begreifen zu wollen … aber so sind Fanatiker nun mal, in Redanien ist es auch nicht anders! Denk nur mal daran, dass sie ihre Magier verbrennen, obwohl diese damals in Sodden den Arsch gerettet haben!“ fuhr Atheris fort. Der Bärenhexer nahm derweil knurrend ein kleines silbernes Kästchen hervor, streute sich etwas von dem Inhalt auf seinen Handrücken und zog den Schnupftabak mit einem lauten Geräusch ein. „Es sind immer die Vorurteile und Pogrome, die uns Vatt’ghern das Leben schwergemacht haben!“ knurrte Gabhan schlecht gelaunt, während Atheris erneut das Wort ergriff: „Während der Schlacht wurden wir Schüler von unserem Großmeister Valerian getrennt und konnten uns gegen die Übermacht der Angreifer nicht lange halten. Nachdem die Fanatiker die Mauern überwunden hatten, konnten wir uns nur noch durch ein Portal retten … und wenn ich dir erzähle, wer das Portal mit den magischen Steinen errichten musste, weil Nella ihr Bewusstsein verloren hatte…richtig…ich, der nachweislich keine Ahnung von derlei Dingen hat!“ Gabhan machte erst große Augen und konnte dann ein kurzes Lächeln nicht unterdrücken „Du lässt auch nichts aus oder? Ich möchte mir nicht mal ansatzweise ausmalen, was alles bei einer unkontrollierten Nutzung eines Portals schiefgehen kann – auch wenn ihr nicht gerade eine Wahl hattet!“ sagte er kopfschüttelnd. „Und Recht hast du Gabhan! Die Flucht klappte zwar, aber der Sprung ins Irgendwo brachte und ziemlich weit weg von unserem eigentlichen Evakuierungsziel der Leuenmark … mitten in eine verlassene Stadt in der ofirischen Wüste! Ob Valerian die Flucht überlebt hatte, konnten wir zu diesem Zeitpunkt nicht sagen, da er sich vor den Mauern Kaer Iwhaells befand. Nach einer Wochenlangen Odyssee durch die verfluchte Wüste, kamen wir in Miklagard an und weißt du, wen wir da getroffen haben?“ Gabhan überlegte kurz und erinnerte sich an die beiden Wissenschaftlerinnen, die er in Solonia getroffen hatte…aber wie hießen die beiden nochmal? „Die beiden Schwestern, diese… Sala und Eva?“ war seine Antwort. „Richtig!“ antwortete Atheris „Die Cousinen SALEHA und EIWA! Nicht nur, dass sie uns in ihrem Stadtpalais aufgenommen und versorgt haben, wir konnten sogar an der Verbesserung der Kräuterprobe arbeiten und ich habe einiges über den Forschungsstand erfahren … aber dazu später mehr! Nachdem die Forschungseinrichtung auch noch überfallen worden war und dabei einige Experimente entlaufen sind … und nein diesmal waren wir Hexer sicher nicht schuld! Haben wir nach einigen Wochen eine Überfahrt nach Nilfgaard und von dort in die Leuenmark klarmachen können. Bei unserem Reiseziel, einer Fischräucheranlage, haben wir dann zu unserer Freude auch Großmeister Valerian antreffen können, der bereits ungeduldig auf uns gewartet hat. Vor zwei Wochen habe ich mich schließlich auf den Weg zu unserem Treffpunkt begeben … wie ist es dir ergangen? Ich habe bemerkt, dass du humpelst? War das der Tausendfüßler?“ beendete Atheris seinen Bericht.

Es war wahrlich viel geschehen seitdem sich die beiden Zunftbrüder getrennt hatten. Sehr viel sogar. Deutlich mehr als Gabhan überblicken und noch mehr als er bereit war preiszugeben. Doch der andere hatte seine Geschichte erzählt. Eine Geschichte, zu der es viele Fragen gab, die jedoch zu einem anderen Zeitpunkt gestellt werden sollten. An einem Ort mit weniger Betrunken und weniger Ohren. Doch Atheris hatte seine Geschichte geteilt und uralte Gepflogenheiten verlangten, dass er nun auch seine eigene Geschichte teilte. Zumindest in Ansätzen. Denn Erklärungen waren nötig, hatte sich doch viel verändert. Und weitere Veränderungen dräuten am Horizont. Es waren wahrlich verfluchte Zeiten.

Gabhan rückte seinen Gurt auf der schmerzenden Schulter zurecht und nickte dann langsam. „Genau. Den Arm habe ich der Myriopoda Maxima zu verdanken,“ erwiderte er leise und blickte auf, als die Schankmaid mit einem Wasser für Gabhan und einem Lächeln inklusive einem Glas Wein für Atheris wiederkam. Der Bärenhexer nahm es hin und der Maid den Krug ab, trank gierig einige große Schlucke, bei denen ihm ein Teil des Wassers in den Bart sickerte und zu Boden tropfte, doch es scherte ihn wenig. „Eigentlich war ich nur auf dem Weg hierher, ehe das Drecksvieh mir den Tag verdorben hat. Andererseits, wenn man sich ansieht was es mit dem armen Boten angerichtet hat, dann bin ich ja noch vergleichsweise gut weggekommen…“ er schnaubte und stellte den Krug auf dem Tisch ab. „Ansonsten habe ich einen kleinen Umweg über Bogenwald gemacht. Hatte da ein paar Probleme mit Sklavenhändlern,“ er blieb einen Moment stumm, spürte Atheris blick auf sich und machte dann eine wegwerfende Handbewegung. „Nicht der Rede wert. Und reden werde ich auch nicht darüber…“

Kapitel 4 – Weitere Tavernen Geschichten

Gabhan nahm noch einen Schluck aus dem Krug. „Und wie waren deine letzten Tage? Angenehme will ich meinen“ er warf einen Blick zu der Schankmaid.

Atheris folgte dem Blick des Bärenhexers zu Kathrin und nickte zustimmend. Seine letzten Tage waren durch aus angenehm gewesen. Die Überfahrt von der Leuenmark nach Cintra war mit günstigen Winden viel kürzer ausgefallen wie ursprünglich veranschlagt. Es blieb ihm sogar genügend Zeit, um die Stadt Cintra zu besuchen und einige seiner ehemaligen Kameraden aus der Armee aufzusuchen und gemeinsam, wie in alten Zeiten, die Tavernen der Stadt unsicher zu machen. Das letzte Mal, wo er in Cintra war, kam er als einer der Eroberer und nun, viele Jahre nach der Eroberung, musste er sagen, dass unter der Herrschaft Nilfgaards die Provinz förmlich aufblühte, aber das interessierte die Nordländer nicht, sie verschlossen in der Regel ihre Augen vor dem Fortschritt, der Wirtschaftsmöglichkeiten und der Kultur des Kaiserreichs. Sie trauerten lieber ihren alten Königen nach, die bei weitem keine moralisch guten Männer gewesen waren … Atheris merkte, wie er mit den Gedanken woanders war und konzentrierte sich wieder auf sein Gegenüber. „Gloir aen Ard Feainn! Ich hatte so gute Winde, dass ich drei Tage früher hier am Treffpunkt ankam und ja, ich habe die Zeit für Studien und … zur Erholung gut genutzt!“ schmunzelte Atheris, bevor er fortfuhr. „Jetzt wo wir beide hier sind, Gabhan – was sind unsere weiteren Pläne für den Herbst?“

„Studien und Erholung. Soso. Deine Erholungen bringen uns hoffentlich nicht in baldige Schwierigkeiten, auf solche könnte ich nämlich verzichten. Nicht verzichten kann ich hingegen auf deine Hilfe!“ er beugte sich über den Tisch, zog eine Kerze heran, deren Duft ihre Herkunft verriet und die etwa eine Meile entfernt lag – auf einem kleinen Bienenhof, der bereits in fünfzehnter Generation geführt von der Familie Rainfarner geführt wurde. All das konnte Gabhan jedoch nicht am Geruch erkennen, sondern an dem Stempel, der in das Bienenwachs gedrückt worden war. Details. Sie machten ihn wahnsinnig. Alles nahm man wahr, wenn man darauf getrimmt worden war.

Er leerte seine Gürteltasche aus, förderte einige Würfel, eine silberne Eichel und zwei Blätter Pergament zu Tage, von denen eines deutlich abgegriffen wirkte. Schnell schob er Eichel und das abgegriffene Pergament zurück, räumte die Würfel wieder ein und strich das übrig gebliebene Papier glatt, welches eine Art Karte zu zeigen schien, wenngleich auch vergilbt, mit Flecken bedeckt und mit Runen beschmiert. Irgendwer schien das Papier sogar mal als Einkaufszettel benutzt zu haben, man hatte Teile der Tinte abgekratzt um neues Papier zu gewinnen und insgesamt war das Papier in keinem guten Zustand. Doch die geübten Augen, denen eben Details mehr als alles andere auffielen, erkannten die Karte darunter. Die elfischen Runen. „Das hier,“ erklärte er schließlich leise und deutete mit den dreckigen Fingern auf das Papier. „Ich suche Runen. Und ich habe Grund zur Annahme, dass der Ort, der auf dieser Karte verzeichnet ist, irgendwo hier in der Nähe ist. Alte elfische Ruinen will ich meinen. Schließlich hat man ganz Cintra auf elfischen Ruinen aufgebaut. Genauso, wie Nilfgaard große Teile dieses Landes auf den Ruinen des alten Cintras aufgebaut hat. So ist der Lauf der Dinge. Und wie es beim Laufen nun mal ist, fallen Dinge zu Boden. Werden festgetreten. Ich hoffe, dass auch diese Runen festgetreten wurden. Ich habe ein paar neue Schwerter und ich brauche Runen um sie zu verbessern“ er sah auf. „Und du? Was versprichst du dir hiervon?“

Atheris hatte die Ausführungen des Bärenhexers interessiert verfolgt. „Meister Valerian hat mich zu dir gesendet, um etwas zu lernen. An eine Schatzsuche habe ich zwar dabei nicht gedacht … aber es hört sich spannend an! Gib mir mal bitte die Karte, Gabhan!“ antwortete der Nilfgaarder auf die ihm gestellte Frage. Gabhan reichte ihm die Karte und er begann sie genauer zu studieren. Er fand es faszinierend, dass der Bärenhexer auf diesem alten Pergament etwas entdeckt hatte, dass von so großem Wert war. Er selber hätte vermutlich diesem Stück Pergament keinen zweiten Blick gewidmet, aber er hatte in seinem Leben auch wenig mit Schatzsuchen oder dergleichen verbracht. Das Schlachtfeld war die meiste Zeit seines Lebens der Mittelpunkt gewesen, um das sich sein Handeln gedreht hatte. Er überlegte kurz, ob er Gabhan von der alten Elfenruine in den grünen Wäldern Temeriens erzählen sollte, in der er vor etwa fünf Jahren unglücklich durch ein Portal gestürzt war und wie die anschließenden Ereignisse sein Leben grundlegend verändert hatten … aber ein Blick auf den übelgelaunten Zunftbruder ließ ihn diesen Gedanken verwerfen, es war nicht die Zeit für Geschichten. „Wie um alles in der Welt, bist du an das gute Stück gelangt und wie wollen wir weiter vorgehen?“ durchbrach Atheris das Schweigen.

„Ich habe gute Verbindungen,“ erwiderte Gabhan schlicht und knapp. Er hatte die Karte von Grazyna von Strept erhalten, doch das wollte er nicht sagen. Er wollte nur so wenig wie möglich mit der Zauberin in Verbindung gebracht werden, hatte er doch mitbekommen was eine Verbindung mit der Frau Zauberin bedeutete. Sie diente den Grolls und der Name Groll war genauso klang, wie unheilvoll. Zumindest wenn er den Reaktionen in Bogenwald glauben durfte. Die Familie war Umtriebig und Umtriebigkeit konnte Gabhan nicht gebrauchen. „Und was wir nun machen? Erst einmal etwas trinken. Dann brauche ich vor allem Dingen eins: Eine verdammte Mütze Schlaf. Ich habe seit fast eineinhalb Tagen nicht geschlafen und ich werde unleidlich, wenn ich nicht gut geschlafen habe. Wir beide wollen nicht, dass ich unleidlich werde“ er grinste schief. Seine Narbe schmerzte nicht nur, sondern verzog sein Grinsen auch stets zu einer Grimasse. Keiner freundlichen.

„Morgen früh brechen wir dann auf, Richtung Süden. Die Richtung gefällt dir sicherlich. Und gefallen wir dir auch das, was du in der Höhle wirst lernen können. Denn was uns erwartet wird verteufelt schwer. Diese Ruine soll einst der Palast der Elfenstreiterin Maeven gewesen sein. Eine große Kriegerin. Große Kriegerinnen wollen große Paläste. Große Paläste bedeuten große Räume. Große Räume werden mit den Jahrhunderten unter der Erde große Stollen. Ich rechne mit Nekkern, mit viel Pech hat auch ein Ekkima dort sein Nest. Verteufelt, wie gesagt. Du solltest den Abend nutzen um einige Tränke herzustellen. Und vielleicht nochmal Spaß zu haben. wer weiß wann du wieder dazu kommst!“ sagte Gabhan.

Die beiden Hexer genossen noch ein reichhaltiges Frühstück, bevor sich Gabhan auf sein Zimmer zurückzog. Atheris stand auf und wanderte zum Tresen, an dem Kathrin ihn bereits mit einem freudigen Strahlen im Gesicht erwartete. Der Nilfgaarder lächelte charmant und beglich ihre Schulden. Mit einem Augenzwinkern verabschiedete sich Atheris von der Schankmaid, verließ das Gasthaus und schlenderte über den Innenhof zu den Stallungen. Ker’zaer, sein treues Streitross begrüßte ihn mit einem Wieren. Er hatte das edle Tier vor zehn Jahren von einem adligen Nilfgaarder Kommandeur als Geschenk erhalten, mit dem er nach dem katastrophalen Ausgang der Schlacht von Brenna, durch die Sümpfe zur Jaruga geflohen war. Nun holte er den Sattle und das Zaumzeug und machte den schwarzen Hengst bereit für den Ausritt. Das Wetter war schön und der Hexer liebte es alleine durch die Wälder zu reiten. Beim Verlassen des Stalles warf er dem Stallknecht noch einige Münzen zu und preschte dann durch das geöffnete Hoftor hinaus auf die Straße.

Kapitel 5 – Allein im Wald

Eine ganze Weile folgte Atheris dem Weg in Richtung Süden. Zunächst tat er das unbewusst und erst nach einiger Zeit wurde im klar, dass er dem möglichen Weg auf der Karte folgte, die er vor seinem inneren Auge sah. Er zuckte mit den Achseln und ließ sein Pferd angaloppieren. Letztlich war es egal, wohin er ritt, der Weg war sein Ziel! Gegen Mittag erreichte er eine kleine steinerne Brücke, die sich über einen gut drei Schritt weiten Fluss spannte. Er lenkte Ker’zaer neben die Brücke zum Wasser und stieg ab. Während das Pferd trank und anschließend anfing das dicke Gras am Fuße der Brücke zu fressen, setzte sich Atheris auf einen Stein, zog aus seiner Tasche das kleine Tagebuch, dass er immer bei sich trug und eine Feder heraus und fing an sich Notizen zu machen. Als er etwas Müdigkeit verspürte, ließ er sich hinab ins Gras gleiten und schloss die Augen für einen Moment.

Aus dem Moment wurden Stunden und als der Hexer wiedererwachte, hatte die Dämmerung bereits eingesetzt. „Nun ja, die letzten Nächte waren nicht gerade die ruhigsten gewesen!“ sprach er mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht zu Ker’zaer, der das mit einem Schnauben kommentierte. In einer fließenden Bewegung schwang er sich auf dessen Rücken und machte sich auf den Weg zurück zum Gasthaus. Er war nicht weit gekommen, als sein Hexer-Medaillon anschlug. „Was zum…!“ wunderte er sich, war er doch erst vor kurzem die gleiche Strecke gekommen. Er stieg vom Pferd ab, nahm das Tier beim Zügel und nutzte das Medaillon wie eine Wünschelrute. Die magische Fährte oder wie man das auch immer nennen mochte, führte ihn vom Weg ins Unterholz. Immer drang er in die Wildnis ein und Atheris wurde unruhig, es musste etwas ziemlich Mächtiges sein, wenn das Medaillon die Magie auf so eine große Distanz aufspüren konnte. Dunkel kamen in ihm die Erinnerungen hoch, als er das Letzte mal auf so eine mächtige Magie gestoßen war, und die Begegnung mit dem Kobold hatte er nur mit viel Glück überlebt. Leise zog er seine silberne Klinge aus der Scheide, die er am Sattel befestigt hatte, und machte sich bereit für das, was ihn erwarten konnte. Inzwischen war es im Wald vollkommen finster, was ihn aber aufgrund seiner mutierten Augen nur bedingt störte. Vielleicht sollte er lieber umkehren, es war auch für einen Hexer nicht ungefährlich, sich unvorbereitet einem Risiko auszusetzen, aber dank seiner großen Neugier verwarf er den Gedanken schnell wieder. Nach einer guten Weile erreichte er eine kleine Lichtung im Wald. Zunächst erschien sie für Atheris unauffällig und erst als er sie überquert hatte, merkte er, wie das Signal vom Medaillon schwächer wurde. Also trat der Hexer zurück auf die Lichtung und schaute sich genauer um. „Gabhan hätte sicherlich schon erkannt, was hier vor sich geht … hmmm!“ dachte sich Atheris, während er die Bäume am Rand und den Boden genauer musterte. „Ein Hexenring … interessant!“ entfuhr es dem Nilfgaarder, als er die Reihe von kleinen, dunklen Pilzen bemerkte, welche die Lichtung komplett umschlossen. So ein Hexenring war eigentlich nichts außergewöhnliches, lediglich der Volksmund sah in diesen natürlichen Kreisen etwas Mystisches, das mit Feen und Hexen im direkten Zusammenhang stand. In Wirklichkeit hatte es meisten nur etwas mit den Nährstoffen im Boden zu tun … aber dieser Kreis war anders, warum war hier in der Mitte die Magie am stärksten und warum hatte er die Magie nicht schon beim Hinweg bemerkt? Suchend schritt Atheris über die Lichtung … er konnte die Quelle der Magie einfach nicht ausfindig machen. Gerade als Atheris sich zu seinem Pferd umdrehte und die Suche aufgeben wollte, gab die Erde unter seinen Füßen nach und er begann zu stürzen. Geistesgegenwärtig umschloss er die Zügel in seiner Hand fester. Den kräftigen Ruck, der über den Zügel an Ker’zaer weitergegeben wurde, quittierte dieser mit einem kräftigen Wieren, aber der kräftige Hengst hatte einen guten Stand und konnte somit den Sturz seines Reiters verhindern. Nun hing der Hexer mit einer Hand am Zügel und der anderen Hand am Rande des Loches, in das er soeben gefallen war. Unter seinen in der Luft hängenden Füßen, öffnete sich ein großes schwarzes Loch. Vorsichtig zog sich der Hexer wieder nach oben und kroch bäuchlings weg von der Stelle an der er eingebrochen war. Nachdem Ker’zaer keine Probleme mit dem Untergrund gehabt zu haben schien, war das Loch vermutlich nur begrenzt groß, aber um kein Risiko einzugehen, führte er das Tier weg von der Lichtung. Zwischen den Bäumen angekommen, löste er das Seil am Sattel, befestigte das eine Ende an seinem Sattelknauf und das andere knüpfte er sich mit einem Knoten um seine Taille. Anschließend zog er eine kleine Sturmlaterne aus der Satteltasche und ein Stück Schnur, dass er zum Fallen stellen dabeihatte. Sein Freund Raaga hatte es ihm vor einem guten Jahr gegeben, nachdem er ihn in dieser Form der Jagd unterwiesen hatte – „Was für eine Verschwendung von Zeit“, dachte sich Atheris, der keinerlei Geduld für sowas hatte und deswegen das Garn immer noch unbenutzt war – bis jetzt zumindest. Auf allen Vieren näherte sich der Hexer erneut dem Loch, befestigte die Schnur an der Laterne und entzündete diese mit dem Hexerzeichen „Igni“ … Atheris lächelte. Es war noch nicht so lange her, dass er die Zeichen von Valerian gelernt hatte und inzwischen klappten sie doch immer besser und erwiesen sich der weilen als äußerst nützlich. Langsam ließ er die brennende Lampe in den Abgrund hinab. Von der Öffnung aus sah Atheris, wie das Licht der Lampe ein kuppelförmiges Gewölbe ausleuchtete. „Definitiv elfisch!“ stellte der Hexer fest, als er die Zeichen an den Säulen des Raumes betrachtete. Dann ging auf einmal alles ganz schnell, etwas bewegte sich am Boden entlang … schnellte nach oben … und riss die Laterne aus der Luft und verschwand darauf hin wieder in der Dunkelheit. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris und rollte sich zur Seite – und das keinen Moment zu früh, denn nur einen Wimpernschlag später zerfetzten scharfe, behaarte Krallen den Rasen an der Stelle, wo er eben noch gelegen hatte. Der Hexer umschloss den Griff seines Silberschwertes fest und Hieb mit aller Kraft auf die Klaue. Die scharfe Klinge zerschnitt Fleisch, Sehnen und Knochen … das Wesen verlor den Halt und stürzte mit einem widerlichen Heulen in die Tiefe. Für einen Moment herrschte Stille, und Atheris konnte nur seinen eigenen Atem wahrnehmen. Er merkte, wie das Adrenalin in seinen Adern kochte und seine Muskeln zum Zerreißen gespannt waren. Dann vernahm er das Wehklagen des Monsters, dass er soeben auf den Boden des Gewölbes zurückgeschickt hatte, und nur wenige Augenblicke später vielen weitere Stimmen in das Wehklagen ein. „Sheyss!“ entfuhr es dem Hexer, der die Laute mit weit aufgerissenen Augen vernahm. Alle Vorsicht vergessend, sprang er vom Boden auf, rannte zu dem schwarzen Hengst, der die immer lauter werdenden Rufe ebenfalls vernahm und nervös anfing auf der Stelle zu treten. Mit einem Streich durchtrennte Atheris das Seil, schwang sich auf das Tier und gab ihm die Sporen. Er brauchte sich im Sattel nicht umzudrehen – was immer auch aus der Ruine an die Oberfläche gelangt war, verfolgte ihn durch das Unterholz. Seine feinen Ohren hörten, wie die Verfolger aufschlossen. Kurz bevor er den Weg erreichte, holte ihn eine der Bestien ein und setzte sich Links neben ihn. Ein unerfahrener Reiter wäre vielleicht in Panik geraten, aber Atheris hatte den Großteil seiner militärischen Laufbahn auf den Rücken eines Pferdes verbracht, und nun tat er das, was er immer in so einer Situation unternahm. Mit dem rechten Schenkel gab er Ker’zaer das Zeichen, nach Links auszubrechen, direkt in den Angreifer hinein. Das Wesen war von dem Manöver überrascht und wich zu spät aus. Der mächtige Körper des Hengstes drückte die Bestie gegen einen Baum, gefolgt von einem Streich der Hexerklinge, der das Wesen für immer zum Verstummen brachte. Kurz darauf erreichte Atheris endlich den Weg und das keinen Moment zu früh. Drei weitere dieser Wesen folgten ihm auf den Weg und setzten weiter nach. Doch ohne das Unterholz konnte Ker’zaer endlich in den gestreckten Galopp wechseln. Die Wesen konnten die Geschwindigkeit für einige Zeit noch mitgehen, aber nach und nach fielen sie weiter ab, bis sie endlich die Verfolgung einstellten. Der Hexer ging kein Risiko ein und ließ den Hengst noch eine Weil im gestreckten Galopp Distanz zwischen sich und die Angreifer bringen. Erst nachdem er sich ziemlich sicher war, dass er nicht mehr eingeholt werden würde, ließ er das Pferd zunächst im versammelten Galopp wechseln, bevor er dann die Zügel lang lies und sich das Tier erholen konnte. Um eine mögliche Verfolgung seiner Fährte zu verhindern, ritt er einen Umweg, der ihn eine Weile durch ein Flussbett führte.

Gegen Mitternacht erreichte der Nilfgaarder schließlich wieder den Gasthof. Als er durch das Hoftor ritt, fiel ihm das im Wind wackelnde, alte Schild in die Augen – ‚Zum treuen Freund‘ stand dort unter dem Kopf eines Hundes in großen Lettern geschrieben. Die dicken Mauern und das schwere Holztor versprachen Sicherheit für die Nacht, die Atheris nach dem erlebten gerne in Anspruch nahm. Nachdem Atheris seinen treuen Begleiter versorgt und mit einer extra Portion Hafer belohnt hatte, machte er sich auf zum Haupthaus. Der Schankraum war leer und so ging er weiter die Treppe hinauf zu den Zimmern. An seiner Tür angelangt, öffnete er diese, zog seine Ausrüstung aus, wusch sich in der kleinen Wasserschüssel, die auf einer Kommode neben dem Bett stand, den Dreck aus dem Gesicht und von den Händen, setzte sich aufs Bett und zog die Silberklinge aus der Scheide. Er reinigte sie gründlich von dem Blut, dass sie vergossen hatte. Jenes Blut sammelte er in einer kleinen Schüssel, vielleicht konnte Gabhan damit etwas anfangen. Gerade als er dabei war, die nun sauberer Klinge wieder weg zu stecken, hörte er, wie sich die Tür hinter ihm öffnete. Er brauchte sich nicht umzudrehen, seine feine Nase verriet ihm, wer ihn da besuchen kam und als sich das hübsche Gesicht in der blanken Klinge spiegelte und die sanften Arme sich um den muskulösen Oberkörper des Hexers schlossen, ließ er sich zurück ins Bett sinken und … nur der Geruch nach Hund verfolgte ihn bis in seine Träume.

Kapitel 6 – Nachtigall

Die Nachtigall trällerte. Gabhan erwachte.

Die wenigen Stunden Schlaf die er bekommen hatte waren mehr als nötig gewesen. Die Tage auf der Straße, die Geschehnisse in Bogenwald und der Kampf gegen den Riesentausendfüßler waren nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Er stöhnte leise, während er sich in dem viel zu weichen Bett umwandte. Sein Hals schmerzte leicht, war noch immer ausgedörrt und seine Mundwinkel waren leicht eingerissen, da er seit Tagen zu wenig getrunken hatte. Mit einem Ächzen erhob sich Gabhan in eine sitzende Position und rieb sich den Schlaf aus den Augen, der sich dort festgesetzt und es für Gabhans Geschmack zu gemütlich gemacht hatte. Er rieb sich noch einmal über die Augen, spürte das schwere Gewicht des Bärenkopfamuletts auf seiner bloßen Brust und beschloss, dass es Zeit war aufzustehen. Mit wankenden Schritten, die jeden Skelliger Seekapitän stolz gemacht hätten nährte er sich dem kleinen Schrank mit eingelassenem Spiegel und Waschschüssel. Er beugte sich über die Messingschüssel und betrachtete sein Gesicht in der polierten Messingscheibe. Er benötigte langsam wieder eine Rasur, sein Schnurr- und Kinnbart waren unordentlich, seine Seiten zu deutlich sichtbar. Aber das war ein Problem, dem er sich nach diesem Abenteuer stellen konnte.

Gabhan spritzte sich Wasser ins Gesicht. Es war kalt, belebend und weckte Erinnerungen an Skellige. Die dumpfen Schritte des Bärenhexers führten ihn zu seinem Seesack, den er in eine Ecke des Raumes gepfeffert hatte. Auf Momente des Suchens folgten Sekunden des Findens und Gabhan zog eine alte, mehrfach geflickte blaue Tunika, sowie gemütliche und weit geschnittene Hosen hervor und zog sich wieder an, rückte danach das Bärenamulett zurecht, welches seine Umgebung mindestens so grimmig betrachtete wie sein Herr und verließ das Zimmer.

Es war später Abend. Der Tag hatte sich selbst überlebt. Die Luft war drückend, die letzten Ausläufer des Sommers beschwerten eine seltsam stehende Hitze, die sich in dem Gastraum festgesetzt hatte wie eine unangenehme Schwiegermutter zu Kaffee und Kuchen. Es waren nur wenige Leute hier im Gasthaus und Gabhan trat zum Tresen, wo der Wirt damit beschäftigt war Krüge aus Messing und Zink zu säubern. „Habt ihr meinen Begleiter gesehen?“ fragte Gabhan dunkel, denn in seinem Zimmer war er nicht gewesen und aus dem Teil des Hauses, in dem der Bärenhexer das Zimmer der Schankmaid vermutete waren keine verdächtigen Laute auszumachen gewesen. Der Wirt blickte auf, warf erst Gabhan, danach seinem Amulett einen düsteren Blick zu. „Er hat das Gasthaus heute recht früh verlassen,“ erwiderte der Wirt dann schließlich doch und Gabhan nickte. Er hatte sich vermutlich ein wenig in der Gegend umgesehen. „Sei‘s drum,“ knurrte Gabhan. Sie würden morgen aufbrechen.

Der Mutant löste sich vom Tresen und verließ das Gasthaus, um sich selbst noch ein wenig die Beine zu vertreten. Die Nachtigall sang.

Auch die umliegenden Gehöfte rund um das Gasthaus zeigten keinerlei Besonderheiten. Allgemein wirkte das ganze Dorf so, als habe jemand in einem alten Lexikon das Wort Dorf nachgeschlagen und den dort zu sehenden Kupferstich mit viel Liebe zum Detail nachgebaut. Der Hexer ließ sich auf einer nahen Bank nieder und betrachtete einige Bauern dabei wie sie Heu mit bronzenen Sensen ernteten. Die Nachtigall sang.

Gabhan hatte sich von der Bank verabschiedet, hatte sich auch von dem Gefühl der Sicherheit verabschiedet, welches er zuvor noch an diesem Ort empfunden hatte. Er durchstreifte das Dorf weiter, spürte die Blicke der Bewohner auf ihm, so wie man allerorten auf ihn blickte. Gabhan schritt vorbei an kleinen, weiß getünchten Häuslein mit Türgriffen aus Messing, Bronzenen Nägeln und Beschlägen aus Zink. Die Nachtigall sang.

Gabhans Blick fiel durch die große Scheune und die dort aufgereihten Werkzeuge zur Feldarbeit. Sensen, Flegel, Harken, Beile, Äxte, Wagenräder. Auch große Bierfässer. Wohin sein Blick auch fiel, alle Werkzeuge waren aus Holz oder, verbunden mit metallenen Teilen aus Messing oder Zink. Eisen, wie es üblich und billig war, fand er nicht. Die Nachtigall sang. Gabhan schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. Verflucht. In was war er da reingeraten? Die Nachtigall sang. Das Licht des Mondes fiel durch die engen Bretter des Daches. Gabhan hörte die sich nährenden Schritte, wandte sich jedoch nicht um. „Wir wollen nichts Böses,“ sprach er leise in die Dunkelheit. Sein Gegenüber antwortete nicht. Er atmete nur. Die Nachtigall sang. „Wieso sollten wir dir das Glauben, Vatt’ghern?“ – „Würden wir etwas Böses im Schilde führen hätten wir euch doch längst angegriffen,“ lautete Gabhans bedachte Antwort, während er seine Arme langsam aus der Verschränkung sinken ließ. „Die Taten deines Freundes lassen anderes vermuten. Wir haben euch durchschaut. Ihr hättet niemals hierherkommen sollen!“ Gabhan antwortete nicht. Eine Antwort war auch nicht nötig. Die Stimme des anderen war lauter geworden, sein Gegenüber nähergekommen und was auch immer Atheris getan hatte, es hatte Geister geweckt, die besser in Ruhe gelassen worden wären. Gabhan spürte im Boden unter seinen Füßen die Vibration, den Absprung des anderen. Schnell wie ein Gedanke zog Gabhan den Hodendolch aus der Scheide an seinem rechten Bein und wirbelte herum. Ein Sprung zurück. Pirouette und zurück in die Ausgangsposition. Der Dolch aus Stahl wirkte wie eine Verlängerung seines Arms und die benötigte er dringend, denn der Arm des Anderen war deutlich länger. Klauen zischten auf ihn zu, Gabhan duckte sich. Beinarbeit, Beinarbeit. Atmung. Immer atmen. Niemals vergessen. Ausweichmanöver. Den anderen näher herankommen lassen. Näher. Näher. Der Feind hatte einen Längenvorteil. Gabhan keine Möglichkeit ihn auszugleichen. Jeder Schritt brachte ihn nur näher an die Wand. Nicht in die Ecke drängen lassen. Ausfallschritt. Pirouette. Nur eine Möglichkeit. Distanz überwinden. Atmen. Einatmen. Die Luft anhalten. Sich wappnen.

Der Schmerz war schlimmer als Gabhan es erwartet hatte, er stach nicht. Er riss. Riss an ihm. An seinem Brustkorb. Gabhan spürte, wie Klauen über Knochen schabten. Keine Panik. Keine Angst. Gewissheit. Nur ein Kratzer. Kaum der Rede wert. Er würde leben. Er. Nicht sein Gegenüber. Der Dolch steckte tief in der Kehle. Ein billiger Dolch. Ein hoher Eisenanteil im Stahl. Er ließ den Dolch stecken. Er musste zu Atheris. Gabhan blutete. Das Monster starb. Die Nachtigall verstummte.

Kapitel 7 – Antherion

Sanfte Finger krochen über Atheris Rücken, krallten sich verlangend in seinen Rücken. Wollten eine zweite Runde. Verlangen. Animalisches Verlangen. Lange Finger krallten. Lange Krallen. Animalisches Verlangen. Welches verlangen sich hier stillen sollte erfuhr Atheris niemals. Zumindest nicht mehr aus dem Mund der Schankmaid. Die Tür zu seinem Raum krachte derart gewaltig, als schwere Stiefel mit einem Tritt gegen das Schloss diese aus den Angeln brachen.

Der Mond beschien die Gestalt Gabhans, gekleidet in etwas was nur entfernt seinem langen Gambeson ähnelte. In den Händen hielt er einen langen Zweihänder. Eine andere Waffe als jene, die er normalerweise trug. Gabhan hatte in Solonia mit Einhändern gekämpft. Und mit Einhändern kämpfte er noch immer gerne. Doch die jetzige Waffe in seiner Hand war länger. Eine einfache Klinge. Nicht sehr elegant. Aber tödlich. Ein schneller Hieb, geführt durch die Hand am unteren Knauf, gelenkt durch eine Leichte Drehung nahe der Parier Stange. Stahl zischte durch die Luft, ehe die Flache Seite der Klinge mit solch einer Gewalt gegen die Schankmaid traf, dass diese von Atheris gerissen wurde und schreiend auf dem Boden aufschlug. Oder das, was einst die Schankmaid gewesen war. Denn hier, im Schein des Halbmondes kauerte eine haarige Gestalt mit ausgeprägten animalischen Zügen. Auch sonst schien alles, was das Mädchen einst ausgezeichnet hatte ausgeprägter und animalischer zu sein. Gabhan warf Atheris keinen Blick zu, ließ das Mädchen nicht aus den Augen, während er das Schwert hob, die Spitze auf das Mädchen gerichtet. Es hieß Hexer hätten zwei Schwerter. Silber für Monster. Stahl für Menschen. Es war ein Ammenmärchen. Beide waren für Monster, gab es doch auch jene, die Stahl und Eisen mehr fürchteten als Silber. Solche, die Messing und Zink benutzten, wenn sie unter Menschen leben wollten.

„A d’yaebl aép arse!“ schrie Atheris, rollte sich vom Bett und hatte innerhalb eines Wimpernschlages ebenfalls seine Silberklinge gezogen. „Kathrin? … Gabhan … was ist los?“ fragte er sichtlich irritiert. Der Bärenhexer, der das Wesen, dass sich Kathrin nannte nicht aus den Augen lies antwortete in einem dunklen, leisen Tonfall: „Antherion, Atheris. Das ganze Dorf…“ Atheris bekam große Augen und sein Blick fiel wieder auf Kathrin, die sich in der Ecke zusammengekauerte hatte und sie aus großen gelben Augen anblickte … diese treuen Augen, wie sie nur ein Hund hatte. „Antherion … Formwandler! Das Gegenstück zum Werwolf, wenn ich mich an Valerian’s Unterricht richtig erinnere! Woher wusstest du …“ Atheris hielt im Satz inne, als er die Blutpfütze bemerkte, in der Gabhan stand und erst jetzt sag er, dass die alte, blaue Tunika, die der Bärenhexer trug an der Brust zerfetzt war und sich drei böse klaffende Wunden zeigten. Er war also auf unliebsame Weise auf das Geheimnis des Dorfes gekommen. Atheris setzte über sein Bett, blickte raus auf den Flur und sah einen erschlagenen Formwandler am Boden liegenden. Er schloss das was von der Tür übrig geblieben war hinter sich, rannte zu seiner Ausrüstung und öffnete eine kleine Holzkiste. Er suchte den Trank mit der Aufschrift ‚Schwalbe‘ und warf sie Gabhan zu. Ohne zu zögern, zog dieser mit den Zähnen den Korken aus der Flasche und leerte den Inhalt in einem Zug. Sogleich fingen seine Adern an zu pulsieren und die Farbe wich aus seinem Gesicht, was denn sonst schon so hellhäutigen Skelliger fast gespensterhaft aussehen ließ. Nachdem Gabhan für den Moment versorgt schien, näherte er sich langsam dem Antherion, den er als Kathrin kannte. „Geht es dir soweit gut?“ fragte er mit ruhiger Stimme und kniete sich vor sie auf den Boden. Atheris konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihm etwas Böses wollte, sie hatte in den letzten Tagen und Nächten genug Möglichkeiten gehabt, ihn zu töten. Das Wesen musterte Gabhan ängstlich und sie brachte nur ein Winseln hervor, dass durch einen kläglichen Laut unterbrochen wurde, als Atheris ihren Arm berührte … er war gebrochen. „Was nun?“ fragte Atheris und schaute zum Bärenhexer auf. „Wir müssen hier verschwinden, solange wir noch die Möglichkeit dazu haben…“ knurrte dieser als Antwort. Recht hatte er, es war keine gute Idee es mit einem ganzen Dorf dieser Wesen aufzunehmen. Was den Greifenhexer allerdings stutzig machte war die Tatsache, dass bisher kein weiteres dieser Wesen bei ihren Zimmern aufgetaucht war! In aller Eile zog sich Atheris das notdürftigste an und holte anschließend aus seinem Holzkästchen eine Flasche mit einer grünlich-kristallinen Flüssigkeit. „Eisensulfat!“ stellte Gabhan fest, nachdem er daran gerochen hatte. „Richtig! Das Klingen-Öl hat Valerian vor einiger Zeit in der Leuenmark hergestellt um eine Bande von Blutkappen zu jagen.“ bestätigte Atheris die Annahme. Beide behandelten ihre Schwerter mit dem Öl, und packten dann ihr Hab und Gut zusammen – zum Glück reisten Hexer in der Regel mit leichten Gepäck.

Als sie an der Leiche des zweiten erstochenen Antherions vorbeikamen, gab Kathrin, die sie mitgenommen hatten, eine Art leises Winseln von sich. Wortlos schritten sie die Treppe hinunter und durchquerten den immer noch leeren Schankraum. So leise wie möglich überquerten sie den Innenhof zum Stall. Der schwarze Hengst begrüßte sie mit einem nervösen Schnauben, auch das Tier merkte offensichtlich, dass etwas nicht stimmte. „Er kann uns für eine Weile beide tragen, Gabhan!“ flüsterte Atheris, als er das gesattelte Pferd beim Zügel nahm und hinausführte. An der Tür wendete sich der Nilfgaarder zu Kathrin um und flüsterte:“ Was auch immer du von uns glauben magst, es war nie unsere Absicht jemanden zu schaden! Unsere Wege trennen sich nun hier, lebe wohl!“

Elegant schwang sich Atheris in den Sattel und reichte Gabhan die Hand um ihn ebenfalls aufs Pferd zu ziehen. Mit einem tiefen brummen nahm dieser die ihm ausgestreckte Hand entgegen und lies sich helfen. Die raubtierhaften Augen des Zunftbruders konnte er deutlich erkennen, dass dieser nur widerwillig Hilfe annahm. Leis schritt der Hengst mit den beiden Hexern auf dem Rücken durch das Hoftor, wobei das Schild mit dem Hund darauf leise im Wind quietschte. Kaum hatten sie das Tor passiert, schlugen ihre Amulette an und wie aus dem Nichts heraus waren sie von den Dörflern umzingelt. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris und Gabhan hinter ihm knurrte“ Die Bastarde haben sich hinter einer Illusion versteckt … diese … Hunde!“ Es war nicht das erste Mal, dass Atheris zu Ross auf eine Schar blickte, die sich mit Sensen, Heugabeln und einfachen Spießen auflehnten. Bei Brenna war es vor allem der Mut dieser einfachen Menschen gewesen, die bereit waren für ihr Land ohne jeden Schutz zu kämpfen … auch wenn sie dies aus falschen Motiven taten. Hier und jetzt war es ähnlich, die Dorfbewohner in ihrer natürlichen Wolfsgestalt hatten sich bewaffnet und stellten sich den Hexern entgegen. „Seltsam … sie bräuchten doch eigentlich keine Waffen!“ stellte Atheris trocken fest. „Sie sind keine Krieger! Es sind Bauern und Handwerker. Man kann ihre Angst riechen“ antwortete Gabhan, der inzwischen in der einen Hand sein Schwert hielt und in der anderen einen Trank mit der Aufschrift ‚Donner‘. Die Zeit schien still zu stehen … Atheris war sich ziemlich sicher, dass sie einen Durchbruch und damit die Flucht schaffen konnten, lediglich die magischen Fähigkeiten konnte er nicht einschätzen. Es war die Stimme von Kathrin, welche die Stille durchbrach. In einer den beiden unbekannten Sprache redete sie auf die versammelte Dorfgemeinschaft ein, was ein paar besonders aggressiven Artgenossen mit einem lauten Knurren quittierten. Immer wieder flogen die Worte hin und her. Ein besonders alter Antherion trat schließlich hervor, was die anderen verstummen lies.

Gabhan hielt sich nur mit Mühe auf dem Rücken des Pferdes. Er war kein geübter Reiter, die Anwesenheit der Ungeheuer machte ihn unruhig und das beständige Zucken seines Amuletts sorgte nicht dafür, dass sich seine Anspannung beruhigte. Viel mehr verstärkte es sie noch, da er befürchten musste, dass er sich in allzu naher Zeit ein für alle Mal beruhigen würde.

Noch dazu war die Schwalbe, die Atheris ihm gegeben hatte nicht sonderlich gut bekommen. Der Schmerz, statt beinahe augenblicklich aufzuhören ebbte nur langsam ab, das Gebräu brannte im Rachen und er spürte, wie sein Organismus Probleme damit hatte den Trank nützlich zu verarbeiten. Er erinnerte sich an Grazynas Kommentar zu diesem Thema. Dass die Tränke der verschiedenen Schulen auf die vorherrschende Mutation angepasst worden und alles, aber nicht identisch waren und er verfluchte sich selbst. Wenn er hier ins Gras beißen würde – und ins Gras beißen musst er, das war so gut wie sicher, dann sollten seine letzten Gedanken nicht der Zauberin gelten.

Ihm gefiel nicht in welche Richtung das hier ging. Gefiel nicht die Mordlust in den Bestienaugen. Gefiel nicht wie sich ihre Lefzen verzogen – und ganz und gar nicht gefiel ihm, dass sie ihnen ausgeliefert waren und das verdammte Tier unter ihm verwehrte ihm jedwedes Körpergefühl, während er kalte Schweiß auf seiner Stirn stand. Seine Tunika konnte das Blut schon lange nicht mehr aufsaugen und er tropfte das Pferd voll, dessen Ausbildung als Schlachtross alleine wohl verhinderte, dass es durchging. Gabhan fluchte.

„Hört mir gut zu…“ begann er leise und seine raubtierhaften Augen glitten über die anwesenden Monster, während er vom Rücken des Pferdes rutschte. Er stieß seinen Anderhalbhänder vor sich in den Boden. „Wir wollten euch nichts. Euer kleines Leben interessiert mich einen Scheiß. Wir wollten hier nur durchziehen. Mehr nicht. Und ich habe keine Ahnung was der große Idiot da entdeckt hat. Und es interessiert mich auch nicht. Ihr habt mich angegriffen. Fein. Euer gutes Recht. Ich habe einen von euch getötet. Und noch einen auf dem Weg zu ihm!“ er deutete mit dem Daumen zu Atheris, verkrampfte die Hand. „Denn ihr lasst eure Finger besser von dem Kerl da. Hey! Schau mich an. Ich bin es, den ihr wollt. Ich bin der Mann mit dem Schwert. Der Mann, der bereits das Blut von zwei von euren Leuten vergossen hat, die geglaubt haben die Helden spielen zu müssen. Ihr wisst ganz genau was ich bin. Und ihr wisst ganz genau was er ist. Ihr kennt uns. Kennt das Medaillon. Wisst, wer euch in die Wildnis getrieben hat, vor all den Jahrhunderten. Ich sehe es in euren Augen. Ihr wisst wozu wir fähig sind. Wir wollen es nicht. Wollen euch nichts antun. Nicht mehr. Nicht heute. Heute ist genug Blut vergossen worden. Aber wenn ihr glaubt – wenn ihr wirklich glaubt, dass Rache nun angemessen ist und wenn eure Eltern euch auch nur eine einzige Geschichte über uns Hexer erzählt haben. Dann tut das einzig vernünftige – und lasst es einen anderen zuerst versuchen.“

Atheris sah mit an, wie Gabhan vom Pferd stieg und mit knurriger Stimme die Wesen einzuschüchtern versuchte … und bei vielen von ihnen sah er tatsächlich die Angst vor den Hexern in den Augen. Einzig die kleinere Gruppe, die immer wieder aggressiv dazwischen Fauchte, bildete eine Ausnahme. Er zählte etwa sieben von ihnen vielleicht auch acht, das war immer noch gefährlich … aber besser wie das ganze Dorf. Drei dumpfe Schläge ließen die Antherion verstummen und Atheris lenkte seine Aufmerksamkeit ebenfalls zu der Quelle des Geräusches. Der Alte hatte mit seinem stützenden Stab gegen ein Fass getrommelt, um endlich für Ruhe zu sorgen. Das Wesen wartete einen Moment und musterte die beiden Hexer. „Vatt’ghern … wir kennen die Geschichten über euch und was ihr seit Jahrhunderten unseres gleichen antut!“ er machte eine kurze Pause und musterte seine Artgenossen, bevor er fortfuhr. „Wir haben uns hier in eine abgelegene Region zurückgezogen und leben friedlich zusammen, Reisenden bieten wir in unserer Taverne eine sichere Unterkunft für die Nacht an und mit den Nachbargemeinden treiben wir Handel! … “ wieder machte der Alte eine Pause und Atheris registrierte, wie die meisten Dorfbewohner zustimmend nickten. „Selbst dich … Atheris … haben wir tagelang in unseren Reihen als Gast aufgenommen und behandelt, obwohl viele große Bedenken bezüglich eurer Anwesenheit in unserem Dorf hatten. Warst du auf der Jagd nach uns? Hast du uns studiert? Wir wissen es nicht, aber es war friedlich und die Frucht legte sich ein wenig …!“ wieder machte der Dorfälteste eine Pause. Atheris lies seinen Blick schweifen, der Alte hatte mit seinem Gerede und seiner ruhigen Stimme dafür gesorgt, dass der Großteil der Bewohner ihre Mistgabeln und Sensen gesenkt hatten … jetzt wäre der optimal Moment für eine Flucht gewesen, aber Gabhan hatte das Pferd verlassen und war bereit sein Leben für den Nilfgaarder zu lassen und zudem glaubte er, dass sie hier durchaus eine Möglichkeit hatten, friedlich aus der Sacher heraus zu kommen … also hieß es abwarten und bereit bleiben. „Warum hast du unsere Leute angegriffen Atheris … was wollt ihr von uns?“ stellte der Alte die wohl entscheidende Frage, wie es weitergehen würde.

Kapitel 8 – Zeit der Wahrheiten

Atheris spürte wie die Blicke des gesamten Dorfes auf ihm ruhten, lediglich Gabhan lies sich nicht beirren und stand breitbeinig vor seinem Schwert und beobachtete die Wesen mit seinen raubtierhaften Augen. Der Nilfgaarder bemerkte, wie sich langsam eine kleine Pfütze unter dem Zunftbruder bildete … Valerian hatte ihm erzählt, dass die Mutationen der Schulen unterschiedlich ausfielen und somit die spezifischen Tränke trotz der Ähnlichkeit zum Teil einen anderen Wirkungsgrad erzielten. Er hatte es am eigenen Leib im Unterricht erfahren, da er seine Mutation bei der damals im Kaiserreich ansässigen Vipernschule die Kräuterprobe durchgemacht hatte. Atheris wendete seinen Blick ab von Gabhan und ließ ihn über die Reihen der Wesen schweifen. In solchen Fällen half erfahrungsgemäß nur die Wahrheit … und er hatte ja auch in der Tat nichts zu verbergen. „Gabhan und ich haben uns vor fast einem Jahr, als wir uns das letzte Mal getroffen hatten, verabredet. Den Treffpunkt haben wir damals mehr oder weniger per Zufall gewählt. Aufträge für unsere Zunft gibt es eher in weniger dicht besiedelten Regionen … wie eurer.“ Jetzt war es an Atheris eine kurze Pause zu machen und die Reaktion der Wesen zu beobachten, bevor er fortfuhr: „Gestern Vormittag haben wir uns dann schließlich getroffen und mein Zunftbruder hier zeigte mir eine alte, verwitterte Karte, die den Weg zu einer alten elfischen Ruine hier in der Gegend beschreibt … wir sind auf einer Schatzsuche … wir suchen nach alten Runen für unsere Silberklingen!“ Atheris zeigte langsam mit seinem Finger auf sein Schwert und die goldenen Runden, die dort eingearbeitet waren, bevor er mit ruhiger Stimme weitererzählte: „Was heute passiert ist, war zu keinem Zeitpunkt eine Absicht von uns. Ich bin heute Morgen zu einem Ausritt aufgebrochen und habe dabei an einer alten Brücke südlich von hier eine Pause eingelegt … beim Rückweg schlug mein Medaillon an … es erkennt gewirkte Magie … ihr kennt vermutlich die Geschichten … ich folgte der Fährte zu einer kleinen Lichtung und dort brach ich in ein Gewölbe ein … ein elfisches Gewölbe.“ Atheris machte eine Pause, weil etwas wie ein Raunen durch die Reihen der Wesen ging. „Ich wollte wissen, was ich gefunden habe und lies eine Laterne in die Dunkelheit herab … und dann folgte der Angriff durch einen von Euch!“ Ein wildes Knurren war nun zu vernehmen, die Gruppe der aggressiven Antherion schien langsam die Kontrolle zu verlieren, lediglich einer von den vorher gezählten blieb ruhig und starrte Atheris geradewegs in die Augen. Erst jetzt bemerkte der Hexer, wie dieser eine seine Klaue unter einem Tuch versteckte. „Ich trennte einem von den Angreifern die Klaue ab, mit der ich angegriffen wurde … und die dadurch gewonnene Zeit nutzte ich zur Flucht, bei der ich wiederum verfolgt und angegriffen wurde!“ Die Unruhe unter den Antherion wurde größer und er fuhr fort. „Nach meiner gelungenen Flucht und der Rückkehr des Gasthauses wurde mein Zunftbruder Gabhan hinterrücks von einem weiteren Antherion angegriffen … und nun sind wir hier!“ Die letzten Worte von Atheris verursachten ein noch größeres Wirrwarr und der Alte schaffte es trotz mehrfacher Schläge gegen das Fass keine Ruhe mehr zu schaffen. Das aggressive Rudel schien sich verbal gegen die übrigen Dorfbewohner zu rechtfertigen müssen … die Aggressionen lagen nun spürbar in der Luft und Atheris schloss seine Hand fester um den Griff seiner Klinge. Der Alte schritt zwischen die sich bildenden Fronten und konfrontierte die auffällige Gruppe in seiner Sprache. Es war der ruhige, zurückhaltende, der auf einmal nach vorne schoss, die eine Klaue die er noch hatte gekrümmt zum Angriff auf den Dorfältesten. Eine im Halbmondlicht aufblitzende Klinge schnitt nicht nur die Luft in Zwei, sondern ließ den einhändigen Angreifer zerteilt zu Boden sinken. Nun brachen alle Dämme, die übrigen der aggressiven Gruppe gingen ebenfalls auf die umstehenden Artgenossen los und das Blutbad, das Atheris und Gabhan vermeiden wollten nahm seinen Lauf.

Es war immer dasselbe. Seit Anbeginn der Zeit schlugen sich vernunftbegabte Wesen aus nichtigen Gründen die Köpfe ein. Jene Wesen ohne Vernunft aber zeigten wenigstens noch den Respekt voreinander sich nur aus guten Gründen zu töten, wenn es solche denn gab: Überleben und Hunger. Und auch die Antherion, so wenig sie auch Menschen sein mochten, ähnelten in dieser Hinsicht den Menschen und allen anderen Vernunftbegabten Wesen: Sie waren klug genug um Waffen herzustellen und dumm genug sie zu benutzen.

Was immer hier gerade geschah, das geschah nicht ihretwegen. Zumindest nicht vorrangig. Sie mochten Auslöser, aber niemals Grund gewesen sein. Das Blutbad, dass sich hier anrichtete war von solcher Art, wie es nur aus lang sitzendem und tiefliegenden Hass erstehen konnte. Ein Hass, der sich tiefer Fraß als die geschlagenen Wunden reichten. So tief, dass selbst das vergossene Blut ihn nicht aus den so vernunftbegabten Wesen herausspülen konnte.

Gabhan sah aus dem Augenwinkel, wie Atheris schon im Begriff war das Schwert zu nutzen um an Seite jener Antherion zu kämpfen, die sich hier nicht gegen sie ausgesprochen hatten. Doch das wiederum war eine ausgesprochen dumme Idee. Gabhan scheute keine Sekunde und schlug dem Hengst seines Zunftbruders auf die Flanke, so dass dieser mit einigen Sprüngen aus der unmittelbaren Front preschte. Gabhan selbst machte eine halbe Pirouette, riss sein Schwert aus dem Boden und war klug genug es in einer flüssigen Bewegung selbst wieder in die Scheide zu stecken um nicht als unmittelbares Ziel zu gelten, während sich hinter ihnen die Antherion gegeneinander bekämpften und mit Fleiß zur der Ausrottung der eigenen Rasse beitrugen.

„Es ist nicht unser Problem Atheris!“ knurrte Gabhan, der sich konzentrierte und mit einer Hand das Zeichen Quen formte, während er Atheris und seinen Gaul an die Seite einer Hauswand zurückdrängte. Ein goldenes Licht ergoss sich aus seiner Hand, formte undeutlich einen Schild um sie beide herum. „Und ich werde nicht zulassen, dass du es zu unserem machst. Töte wer immer sich uns nährt, wenn du musst – aber wir mischen uns hier nicht ein. Viel zu gefährlich. Schau nicht so, steig lieber von dem Scheißgaul, bevor dich irgendwas am Kopf trifft!“ er beobachtete nervös die kämpfenden Wesenheiten, deren Kraft selbst ihm Furcht einflößte. Er erkannte keine Lücke in den sich balgenden Reihen aus Zähnen und Klauen, keine Möglichkeit wie sie entkommen konnten, ohne selbst Gefahr zu laufen in einen Nebel aus Blut verwandelt zu werden. Immer wieder knallten zwei Kämpfende Antherion gegen sein Schild, dass Funken stieben. Er spürte den Druck, als würde ein Rammbock gegen seinen Arm krachen, doch er hielt stand, Schweißperlen auf der Stirn und mit genug Hoffnung im Herzen, dass – sobald sich der Nebel des Krieges lichtete – sich eine Möglichkeit zur Flucht ergab. Doch er spürte, wie er im selben Maß schwächer wurde, wie sich der Boden unter ihm durch sein eigenes Blut aufweichte.

Atheris hasste es neutral zu bleiben, aber Gabhan hatte Recht, dieser Kampf ging sie tatsächlich nichts an. An die Hauswand zurückgezogen beobachtete er an der Seite des Bärenhexers das Gemetzel … und er war froh nicht mitten drin zu stecken. Die animalische Wildheit, mit der die beiden Parteien aufeinander losgingen, hatte er in dieser Form noch nicht gesehen. Gabhans Schild schützte sie vor ungewollten Angriffen. Auf einmal fing der magische Schild an zu flackern, nur um kurz darauf im Nichts zu verschwinden. Atheris wirkte seinerseits das Hexerzeichen ‚Quen‘ – und stellte sich über den inzwischen zusammengeklappten Bärenhexer. „A d’yaebl aép arse!“ schimpfte der Nilfgaarder, als sich das Zentrum des Kampfes immer mehr zu ihnen verlagerte und sie kurz darauf mitten drin waren. Immer wieder prallten die Kombattanten gegen den Energieschild und Atheris, der weit davon entfernt war, das Zeichen wie Gabhan zu wirken, erkannte die Aussichtslosigkeit ihrer Taktik. „Tut mir leid Gabhan!“ stöhnte er und lies das Zeichen zusammenbrechen. Er packte den in seiner eigenen Blutlache liegenden Hexer unter den Armen und stemmte ihn hoch und legte ihn dann über den Sattel seines Pferdes, das verdammt unruhig hinter ihnen auf der Stelle trampelte. Ein Knäul aus zwei ineinander verbissenen Antherion begrub Atheris unter sich. Tritte … Schläge … und Klauen trafen ihn und es dauerte einen Moment, bis er sich von den Beiden wieder trennen konnte. Schnell rappelte er sich wieder auf, griff sich die Zügel und zog seine Silberklinge … Neutralität konnte er sich nicht mehr leisten, er musste Gabhan hier so schnell wie möglich rausbringen. Es fühlte sich unreal an, als er das Pferd mitten durch die kämpfenden Antherion führte und mehr als einmal hatte er Glück, dass ein Angriff ihn verfehlte oder der Hieb von einem anderen Antherion abgefangen wurde. Selbst wenn er gewollt hätte, er konnte die unterschiedlichen Parteien nicht mehr auseinanderhalten. Endlich schafften sie es wie durch ein Wunder zum Tor des Gasthauses mit dem im Wind quietschenden Schild. Er führte das Pferd mit dem Bären auf dem Rücken zum Stall und öffnete die Tore zum Stall. Als er sich wieder zum Pferd umdrehte scheute dieses und wich zurück. Atheris Hand umschloss die Klinge in seiner Hand fester und drehte sich langsam um. Sein Blick wanderte nach oben und dort erkannte er die Ursache für das Verhalten seines Schlachtrosses. Es war ein ziemlich großer, weißer Antherion, der auf dem Vordach sprungbereit kauerte und ihn mit seinen blutroten Augen fixierte. „Se’ege na tuvean“ schrie der Nilfgaarder und machte sich bereit, für das was da kommen mochte.

Das Adrenalin im Blut erreichte seinen Höhepunkt … seine Sinne waren komplett fokussiert auf seinen Gegner … die massiven Muskeln waren wie Drahtseile angespannt und die scharfe Klinge mit den goldenen Runen leuchtete im Mondlicht. Er sah das Zucken der Muskeln unter dem weißen Fell … die roten Augen musterten ihn … seine oberen Lefzen waren gebleckt, um das kräftig Gebiss voll und ganz zur Schau zu stellen, die Ohren als Zeichen der Aggression nach hinten gelegt und der Schwanz steif nach oben gereckt, um Dominanz zu markieren. „Aâ’anval…bleidd!“ flüsterte Atheris laut genug, dass ihn der Antherion gerade so hören musste. Dann ohne Vorwarnung richtete sich der Weiße auf, gab ein ohrenbetäubendes Brüllen von sich und machte sich dann über das Dach des Stalles davon. „Was bei der großen Sonne war das jetzt!“ wunderte sich der überraschte Atheris und bemerkte erst jetzt die Ansammlung der Wesen um ihn herum. Die Schlacht schien entschieden zu sein … und Kathrin trat an ihn heran. „Atheris, wenn du es wünschst, darfst du deinen Freund in die Gaststätte bringen, ich denke er braucht Hilfe!“

Kapitel 9 – Der Fluss der Zeit (Eine Woche später)

Es war hell als Gabhan die Augen aufschlug.

Aber alles mochte ihn in diesem Moment hell vorgekommen sein in diesem, jenem Moment. Seine Augen, die während seines unruhigen Schlafes noch unruhiger als der Rest seines Körpers gewesen waren, hatten sich in ihren Pupillen geweitet – und als nun das klamme Licht durch die schmalen Ritzen der geschlossenen Fensterläden fiel, stach es in die Augen wie tausend glühende Kohlen.

Sein Körper krampfte noch immer leicht nach, doch seine Muskeln waren zu schlaff und zu erschöpft um ihn wirklich noch zu beuteln. Er roch nach kaltem Schweiß. Er kannte den Geruch. Er hasste diesen Geruch. Ein Geruch nach Krankheit. Nach Siechtum. Nach Kräutern und Pilzen. Er kannte den Geruch. Es war der Geruch des Schicksals. Seines Schicksals. Tief in den Katakomben einer alten Höhle.

Der Blick seiner raubtierhaften Augen wanderte nach links, wo neben seinem Bett Atheris saß. Er streckte eine Hand aus. „Wasser…“ keuchte er, nahm die Karaffe, die der Größere ihm reichte, riss sie ihm mit derartiger Wucht aus den Händen, dass seine geschwächten Arme den Krug beinahe nicht halten konnten und Atheris doch helfen musste. Er schämte sich. Schämte sich ob seiner eigenen Schwäche. Der Unbeholfenheit. Der Fehler. Er hasste dieses Gefühl. Hasste sich selbst. Hass.

Mühsam nur richtete Gabhan sich im Bett auf, dankbar um das kühle Holz der geschnitzten Rückenlehne mit den Messingbeschlägen. Messing. Antherion. Noch immer roch der Bärenhexer die Monster. Sie waren nicht fort. Und wenn sie es waren, dann noch nicht lange. Gabhan betrachtete seine Seite, den dicken Verband der dort herumgeschlungen war und der noch mehr nach Kräutern roch wie er. Hagebutte. Knoblauch. Weinraute. Eine seltsame Mischung. Mit Sicherheit keine, die Atheris verwendet hätte. Andererseits…

„Was hast du mir da gegeben?“ Gabhans Stimme war rau, fühlte sich an wie über ein Schmirgeleisen gezogen. Mehrfach. Von einem gewalttätigen Kleinkind. „Ich meine die Flasche auf der Schwalbe stand. Verfluchtes Teufelszeug. Hat die Blutung kein bisschen gestillt!“ er blinzelte, während sein Körper sich erst langsam wieder seinem Willen unterwarf. Es benötigte wahrer Anstrengung seine Pupillen wieder auf ein gesundes Maß zu verkleinern, damit er Atheris auch wirklich erkennen, statt nur erahnen konnte.

„Eine Schwalbe, Gabhan, es war eine Schwalbe die bisher noch immer geholfen hat …und ja mir ist durchaus bekannt, dass die Mutationen der verschiedenen Schulen, unterschiedlich auf die Tränke reagieren, aber dass er keine Wirkung zeigt, habe ich noch nie gehört oder erlebt“

„Eine Schwalbe. Eine Schwalbe. Eine Plörre war das, kaum mehr wert als das Pfützenwasser, dass du ohne jeden Zweifel als Grundlage dafür genommen hast. Verteufeltes Zeug. Schau es dir an!“ Gabhan zog den Verband herunter, in Erwartung der Schmerzen, die ihn diese Geste kosten würde. Eine beinahe freudige Erwartung. Körperlicher Schmerz machte es leichter den seelischen zu vergessen. Doch da kam kein Schmerz. Keine kurze Erlösung. Das Fleisch unter dem Verband war noch gerötet, aber verheilt. „Leck mich doch…“ knurrte er und besah sich seine Bauchdecke. „Gut. Es wirkt. Verzögert.“

Atheris wirkte zufrieden „Siehst du Gabhan, sieht doch schon wieder ganz gut aus … aber ich gebe dir Recht, du hast ungewöhnlich lange gebraucht, um wieder zu Bewusstsein zu gelangen!“

Ungewöhnlich lange. Gabhan knirschte mit den Zähnen, schien eine Erwiderung auf der Zunge zu tragen, schluckte sie jedoch unter. Ein bitterer Geschmack auf der Zunge, ob Gedanke oder Galle konnte er nicht sagen. „Wie lange?“

Atheris sah, wie Gabhan mit seiner schlechten Laune rang … so war er ihm aber deutlich lieber, als im fiebrigen Koma. „sieben Tage Gabhan, es war eine Woche!“

Eine Woche. Eine verdammte Woche. Sie hatten Zeit verloren verdammt viel Zeit. Dass er nicht sein Leben verloren hatte war nur seiner Mutation zu verdanken. Bärenhexer heilten nicht schnell, dafür aber fast alles. „Scheiße.“ Nicht gerade sprachlich geschliffen. Aber passend. Gabhan schloss die Augen, atmete tief ein und aus. Konzentrierte sich nur darauf. Atmen. „Was ist geschehen?“

Da war er wieder, Gabhan wie er ihn kannte und schätzte. Es war ein gutes Zeichen, dass er sich bereits wieder ärgern konnte und das war zunächst die Hauptsache. „Die ersten zwei Tage haben ich und der alte Heiler der Antherion um dein Leben gekämpft! Du hattest verdammt viel Blut verloren und eine deiner Rippen war gebrochen und ein Splitter hatte sich in deine Lunge verirrt! … Nachdem du zumindest wieder stabil warst, habe ich viel Zeit mit dem Dorfältesten geredet … und dabei viel erfahren können!“

„Du verbringst zu viel Zeit mit Valerian…“ knurrte Gabhan, noch immer mit geschlossenen Augen, wenngleich sich auch ein alter Bekannter auf sein Gesicht schlich: Das schmerzhafte Lächeln. „Viel zu viel. Immer nur reden, reden, reden ohne viel zu sagen. Wenn du etwas sagst, dann sag auch etwas aus. Komm zum Punkt mein Großer – was hast du herausgefunden. Nutze die Gelegenheit, ich habe kaum die Kraft aus dem Bett aufzuspringen und dir verstand einzuprügeln. Wir hätten nicht hierbleiben dürfen. Haben uns da in eine Sache reinziehen lassen. Jetzt stecken wir drin. Tief drin. Bis zum Hals in der Scheiße. Also erklär sie mir. Erklär mir die Scheiße. Ich will wissen wie sie riecht. Wie sie schmeckt und wer den verdammten Haufen gelegt hat.“

Valerian … richtig … von seinem Meister hatte sich Atheris viel abgeschaut in den letzten Jahren, vor allem nicht vorschnell zu Urteilen. Nur weil etwas aussieht wie ein Monster, musste es keines sein. „Das Gerede mit dem alten Antherion hat mir zwei Erkenntnisse gebracht. Die Elfenruine, die ich in der Nacht entdeckt hatte, ist ein Teilabschnitt, von dem auf deiner Karte, wir wissen also zumindest einen möglichen Eingang … die zweite Erkenntnis ist, dass einige der Antherion aus dem Dorf einen alten Kult wiedererweckt haben, der eben jene Maeven verehrt. Der Kult wurde von den Altvorderen schon vor Dekaden verboten, denn er verhindert das friedliche Leben unter den Antherion. Durch meine zufällige Entdeckung und ihre fehlgeschlagenen Verschleierungsversuche, ist der Kult aufgeflogen und hat zu den Kämpfen geführt …“ Atheris machte eine Pause um Gabhan’s Reaktion abzuwarten.

„So groß also,“ erwiderte der Hexer der Bärenschule und öffnete langsam die Augen. „Ich nehme nicht an, dass der Kult komplett vernichtet wurde und nun wieder Frieden herrscht? Ja. Das dachte ich mir. Wir haben also deinen Bruderkrieg verursacht. Warum auch nicht. Das hat auf meiner Liste noch gefehlt…“ er atmete tief ein und aus. „Das heißt in den Ruinen wird ein Teil des Kultes auf uns warten. Gut…“ ein bitterer Zug umspielte seinen Mund. „Wollen die hier lebenden Antherion womöglich ein paar Monster loswerden? Könnte ein paar Münzen gebrauchen.“

„Ja … die Elfen waren wahre Baumeister in jener Zeit. Ich bin jedes Mal von neuem Beeindruckt, wenn ich in meine Heimatstadt Beauclair komme … aber ich weiche ab. Der Weiße und vier weitere sind geflohen und die Dorfbewohner gehen davon aus, dass sie sich in die Ruinen zurückgezogen haben. Der Dorfälteste hat mir versichert, dass die hier lebenden Antherion kein Interesse an den Ruinen haben und wir machen können, was wir wollen. Der Alte hat mich aber ausdrücklich gewarnt. Der Kult wurde verboten, weil noch nie etwas Gutes aus diesen Ruinen hervorgekommen ist. Tod und Missgunst sind die Begleiter des Namen Maeven. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ein Kopfgeld verhandelt werden kann, die Antherion reagieren überraschend emotional, wenn es zu den Kultisten kommt … viele erschlagene waren jüngere Bewohner, keine zwanzig Jahre alt … der Weiße … er war der Lehrer des Dorfes!“

Gabhans Miene wurde weicher, verlor jene Härte die er sich in den letzten 80 Jahren angeeignet hatte und die seit Ihrem verschwinden wie in Stein geschlagen dort stand. Kinder. Es waren Kinder gewesen. Jugendliche. Verführt von den Verlockungen alter Größe. Noch naiv genug um zu glauben, dass etwas was einst war jemals wieder sein konnte. So war es schon bei den Elfen gewesen. Die Scoia’tael waren dem gleichen Irrtum erlegen. Auch hier waren es die Jungen gewesen. Die Fruchtbaren, die in den Krieg gezogen waren und damit ihr eigenes Todesurteil unterschrieben hatten. Und das ihres ganzen Volkes gleich mit. „Nein,“ erwiderte er schließlich kopfschüttelnd. „Kein Kopfgeld. Nicht diesmal. Das was wir in der Ruine finden wird uns als Bezahlung ausreichen müssen.“ Kinder. Es waren schon wieder Kinder gewesen. „Wie alt war der, den ich in der Scheune erschlagen habe?“ fragte er, beinahe zu leise um ihn noch zu verstehen.

Atheris war verwundert, er hatte Gabhan noch nie so … so menschlich gesehen. Ja, der Volksmund sagte, dass die Hexer ihre Emotionen durch die Mutationen eingebüßt hatten, das stimmte aber nicht … es war das Leben, dass sie führten, die oftmals die Vatt’ghern zu emotionalen Wracks werden ließ. Das der Bärenhexer kein Kopfgeld mehr verlangen wollte, kam Atheris entgegen, die Antherion in dem Dorf waren schon gebeutelt genug durch die letzten Tage. „Zwanzig!“ war die kurze Antwort.

Zwanzig. Zu jung um zu sterben. Aber das war man eigentlich immer. Noch nie hatte es jemanden gegeben, der zu alt zum Sterben gewesen wäre. Was hätte der Antherion noch alles erleben können? Was hätte er noch tun, wen lieben können? Doch diese Gedanken änderten nichts. Sie änderten nie etwas, denn der Fluss der Zeit kannte nur eine Richtung. Etwas was verloren war kehrte nicht mehr wieder. Gabhan betrachtete Atheris eine Zeit lang. „Wie alt bist du Atheris?“ fragte er schließlich. Er hatte sich diese Frage nie gestellt. Hexer lebten lange, alterten langsam. Aber hier und jetzt erschien es ihm wichtig.

„Sechzig! … Warum fragst du?“

„Nur so“ antwortete Gabhan. „Es kam mir immer seltsam vor, dass du ein Lehrling bei den Greifen bist. Mit sechzig war ich…“ er war auf Skellige gewesen. Glaubte er. Hatte dort Monster gejagt, ein Geschenk das Eist Tuirseach Königin Calante schenken wollte. Die folgenden Jahre…

„Aber auch das ist schon wieder eine halbe Ewigkeit her. Gut Atheris. Du willst etwas lernen. Ich will wieder Bewegung in die steifen Knochen bringen. Ich sehe keinen Sinn darin auch nur eine Stunde mit dem Aufbruch zu warten…“ er richtete sich schwankend auf.

Atheris beobachtete, wie sich Gabhan in den Stand quälte … er half nicht … Gabhan würde es hassen. Während sein Zunftbruder sich anzog und seine Ausrüstung anlegte, musste Atheris über sich selbst nachdenken. Sechzig … er hatte viel erlebt … der Großteil seines Lebens hatte er in der kaiserlichen Armee gedient … es war nie seine Vorsehung gewesen, den Pfad eines Hexers einzuschlagen … aber dennoch war er hier … Zwei Jahre war es nun her, dass er nach der ersten Schlacht um Kaer Iwhaell vom Großmeister der Greifenhexer als Lehrling angenommen worden war … und seitdem hatte sein Schicksal eine Wendung genommen.

Einige Zeit später sah man zwei Hexer, die ungleicher nicht hätten sein können, durch das Tor mit dem quietschenden Schild schreiten. Ihr Ziel war klar, die Ruine.

Gegenwart – Spuren

Die Sonne, die vor einer Woche noch so erbarmungslos auf Cintra gebrannt hatte, lag nunmehr hinter dichten Wolken verdeckt. Sie war noch da, ganz ohne Zweifel, aber ihre Allmacht war bei weitem nicht mehr so deutlich, wie es noch zuvor der Fall gewesen war. Man spürte ihre Wärme, doch der Herbst stritt sich bereits mit ihr um die Vorherrschaft. Der Wind war kälter geworden. Die Sonne war noch da. Doch hinter Wolken verdeckt. Die Sonne. Nilfgaard.

Gabhan betrachtete seinen Zunftbruder, der neben ihm dem Waldweg folgte und sich zu erinnern suchte, wo die Ruine gewesen war. Seine eignen Spuren und die des Feindes waren längst kalt geworden. So kalt wie die Kettenrüstung, die leise raschelnd die meisten Bewegungen Gabhans kommentierte. „Atheris,“ durchbrach Gabhan die Stille, die aus ihrer monotonen Schrittfolge bestand und die, da war sich der Hexer sicher, zu nicht geringen Teilen seine Schuld gewesen war. Und um Schuld sollte es nun ebenfalls gehen. Eine alte Schuld. Die sie beide trugen.

„Solonia ist untergegangen,“ begann Gabhan das leidliche Thema, das so oder so angeschnitten werden musste. Dann konnte er es genauso gut jetzt tun. Es machte nichts schlimmer und nichts besser es nicht zu tun. „Es ist untergegangen obwohl wir die Möglichkeit gehabt hätten es zu retten. Eine Möglichkeit von der wir beide wissen und die – auch so wussten wir, auch eine Möglichkeit für vieles andere gewesen wäre. Schreckliche Dinge vor alledem. Grausige Dinge. Und es grauste uns allen davor die Möglichkeit zu ergreifen, die doch so viele andere Möglichkeiten ermöglichte. Wir entschlossen uns dazu die Möglichkeit verstreichen zu lassen. Sie nicht zu ergreifen. Und doch haben die Greifen nach dieser Möglichkeit gegriffen. Ich habe euch davor gewarnt das zu tun. Habe Valerian ausdrücklich gewarnt. Man entschied sich nicht auf mich zu hören. Die Möglichkeit weiterhin im Bereich des Möglichen zu lassen. Ihr sagtet, dass ihr sie sicher verwahren würdet. Und doch sagtest du mir, dass Kaer Iwahell gefallen ist. Daher stellt sich mir eine Frage Atheris. Eine entscheidende Frage. Was ist aus ihr geworden? Aus unserer Möglichkeit.“

Atheris blieb abrupt stehen … „A d’yaebl aép arse!“ fluchte er leise. Gabhan spielte mit seiner Frage auf ein Thema ab, das der Nilfgaarder am liebsten vergessen würde. Nur Unheil hatte das Ding gebracht, seitdem sie es letzten Winter in Solonia an sich genommen hatten. Es war hinter einem mächtigen magischen Siegel verborgen gewesen … und da hätte es nach seiner Meinung auch am besten bleiben sollen. Das letzte halbe Jahr hatte er dieses mächtige Artefakt mit sich um die halbe Welt geführt, nur um es zu verbergen, bis alle Vorbereitungen abgeschlossen waren … und gerade, als er seinen Großmeister Valerian das Ding nach all den Vorkommnissen wieder gegeben hatte und es abgeschirmt vor jedweder Art der Magie-Detektion, sicher verwahrt wurde … da kam Er, den er einstmals als Freund bezeichnet hatte und nahm das Artefakt in einer hinterlistigen Nacht- und Nebelaktion an sich und verschwand. Die Spuren verloren sich in Solonia, eben jene Welt, die sie verlassen hatten, da ihr der Untergang drohte. „Sie ist nicht mehr in unserer Obhut, Gabhan. Wim hat nach all den Vorfällen in den letzten drei Jahren endgültig den Verstand verloren und sich des Artefaktes bemächtigt. Es bleibt zu hoffen, dass mit dem Untergang von Solonia auch das Problem mit dem Ding ein für alle Male ein Ende nimmt … “ Atheris schaute Gabhan mit seinen katzenhaften Augen an, die letzten Worte hatte er nur noch in Gedanken verloren Vorbringen können, zu sehr schmerzten ihn die Erinnerungen an diese verhängnisvolle Nacht.

Gabhan schnaubte. Er hätte es sich denken können. Mit einem Mal bereute er es. Bereute nicht das getan zu haben, was ihm im ersten Moment in den Sinn gekommen war. Bereute es, das verdammte Ding nicht wieder in jenen Raum aus Dunkelheit zurück gebracht zu haben aus dem es stammte und in dem Valerian diesen Magier, diesen Veritas zum Sterben zurückgelassen hatte. Bereute es, nicht Habbats Vorschlag gefolgt und das Artefakt am tiefen Punkt vor den Skellige-Inseln im Meer versenkt zu haben. Sie hatte es auch gewollt. Hatte gewollt, dass dieses Artefakt nie wieder in die Hände eines lebendigen Wesens fallen sollte. Macht korrumpierte und ultimative Macht korrumpierte ultimativ. Sie hatten es nicht getan. Hatten vertraut. Ein Fehler. Ein weiterer auf seiner eigenen, langen Liste.

Er wollte nicht mehr über das Thema reden. Es war vergangen und nicht sein Problem. Hexer waren neutral. Sie retteten keine Welten. Wie sollten sie auch? Sie konnten nicht einmal sich selbst retten. „Und das andere Projekt?“ hob Gabhan die Stimme wieder. „Du sagtest die Nekromantinnen kommen gut voran? Schau nicht so. Es ist mir egal wie sie sich bezeichnen. Ich habe es gehört. Habe gehört was sie sagte. Sie könne nur helfen, wenn es bereits zu spät sei. Eine Schule, die sich nur der Wissenschaft widmet. Welcher Wissenschaft frage ich mich da. Welches Wissen schaffen Sie? Welche Erkenntnisse? Schau nicht so. Blick nicht so drein – du kannst es dir ersparen. Ich habe ein schlechtes Gefühl bei ihnen. Habe ich damals schon gesagt. Sage ich immer noch. Und was sagst du? Kommen sie voran? Schaffen sie Wissen?“

Atheris blieb erneut stehen … er hatte die beiden Cousinen erst vor wenigen Monaten, nach der zweiten … verlorenen Schlacht um Kaer Iwhaell und der anschließenden Flucht durch ein Portal angetroffen. Miklagard, dieser exotische und wunderschöne Ort in Ofir hatte ihn verzückt. „Eiwa und Saleha kommen gut mit ihren Untersuchungen voran … sie verstehen viel von der Materie und ihre Labore in Miklagard zählen zu den besten, die ich je gesehen habe!“ von dem Überfall auf die Labore und die anschließende Jagd auf die dabei entflohenen Mutanten ging er lieber nicht ein, Gabhan’s Laune war sowie so schon nicht mehr die Beste.

Atheris beantwortete seine Frage nicht. Weder die, die er gestellt noch die, die er nicht gestellt hatte. Gabhan schwieg erneut eine Weile. Eine lange Weile. Und Langeweile kam auch auf. Langeweile und Durst und das Eine, wie das Andere trieb sie zu einem kleinen Bach in der Nähe, von dem sich Atheris sicher war ihn gesehen zu haben und von hier aus den Weg zur Ruine bestimmen zu können. Doch zuerst wollten sie eine kurze Pause machen. Die Wasservorräte auffüllen.

Gabhan nahm einen tiefen Schluck des eiskalten Wassers, spürte wie sich dieses in seinem Buschigen Oberlippenbart verfing und noch nach einigen Sekunden hinab tropfte. Er fixierte Atheris erneut, besah seinen Zunftbruder, wie dieser Wasser aus der hohlen Hand schöpfte. „Die Kräuterprobe“ hob Gabhan die Stimme. „Ich weiß, weshalb ich mein Blut an Valerian gegeben habe. Weiß, weshalb ich Teil des Projektes sein will…“ ja. Er wusste es. Aber Valerian wusste es nicht. Wusste nichts von den hintersinnigen Gedanken Gabhans. Wusste nichts davon, dass er bei weitem nicht so überzeugt von der Sache war, wie er getan hatte. Damals, im Keller des Gasthauses. Doch es gab nur eine Möglichkeit im Fall der Fälle da zu sein. Zu handeln. Und handeln würde er. Auf die eine oder andere Weise. Wie? Das wusste er nicht. Noch nicht. Es gab viele Dinge, die er noch nicht wusste und es war an der Zeit einige wenig davon zu beseitigen. „Aber weshalb tust du all das? Wieso neue Hexer?“

Atheris genoss das kalte Wasser, auch wenn er in diesem Moment einen guten Schluck Wein vorgezogen hätte – und dann stellte Gabhan erneut eine sehr interessante Frage … warum eigentlich? Er konnte es sich jetzt einfach machen und antworten, dass sein Meister Valerian es wollte und er als Lehrling sich den Wünschen fügte … Er konnte erzählen, wie die Gelehrten des Kastell Graupian ihn in seiner Jugend bereits auf Herz und Nieren untersucht hatten, mit dem selben Ziel … es gab viele, die an den zum Teil verlorenen Geheimnissen der Kräuterprobe der Hexer interessiert waren … aber das war es nicht, was Atheris antrieb. „Einer von zehn – du weißt es, ich weiß es. Die unvorstellbaren Qualen – du kennst sie, ich auch. Jugendlicher Leichtsinn – du kennst ihn, ich auch. Ich muss mir nur all die Möchtegern Monsterschlächter und Glücksritter vorstellen, die losziehen um Abenteuer zu bestehen oder eine Frau zu beeindrucken – und dann nicht mehr heimkehren. Gabhan, es wird immer Menschen geben, die den Weg der Vatt’ghern – unseren Weg, faszinierend finden werden und die sich dem Risiko der Kräuterprobe willentlich aussetzten würden. Ich muss nur an meine Freunde Logan und Egon denken, beide haben großes Leid in ihrer Kindheit erfahren und sie wollen mit dem Weg des Hexers verhindern, dass anderen Kindern etwas Ähnliches widerfährt. Ich habe gesehen, wie sie ihr Leben gegen Wesen riskiert haben, denen sie ohne die Mutationen hoffnungslos unterlegen waren … aber das ist nicht alles, Gabhan. Wie leben in verfluchten Zeiten, ja … die zunehmende Zivilisation hat dazu geführt, dass es weniger gefährliche Wesen gibt als noch vor dreihundert Jahren. Die Ausbreitung der Menschen führt aber auch dazu, dass sie häufiger auf Wesen treffen, die ihnen Leid zufügen … und nein ich rede nicht von Bestien, die in ihrem natürlichen Lebensraum vorkommen wie Draconiden … ich meine die unnatürlichen Wesen wie zum Beispiel Erscheinungen, Leichenfresser und Konstrukte. Mir ist klar, dass das Wissen um die Mutationen Begehrlichkeiten bei den Herrschern und deren Geheimdiensten weckt. Aber wenn wir realistisch sind, wird jemand Mutationen erfolgreich durchführen können … ich habe es in Miklagard gesehen, was alles möglich ist. Aber das ist auch nicht alles, Gabhan. Mir ist es lieber, wir Greifenhexer kümmern uns um die Wiederentdeckung der Kräuterprobe, als jemand anderes – nur so bin ich in der Nähe und kann Eingreifen, wenn sich meine Beweggründe ändern!“ Atheris schwieg für eine Weile nach seinen Ausführungen. Die Forschung an der Kräuterprobe und deren Ergebnis konnten für ihn eines Tages zu einer Zwickmühle führen, aber das behielt er lieber für sich.

Gabhan hörte Atheris zu und war überrascht. Diese Überraschung war dabei in zweierlei Bewandtnis besonders – zum einen hatte Gabhan sich vorgenommen nicht mehr überrascht zu sein. Zum anderen – und das war das überraschendste an seiner Überraschung: Sie war positiv. Gabhan war seit vielen, vielen Jahren nicht mehr positiv überrascht worden.

„Du hast Recht,“ stimmte Gabhan Atheris langsam zu. Zum einen, weil es zu Teilen der Wahrheit entsprach. Zum anderen, weil er seine Rolle in dieser Geschichte zu spielen hatte. „Es ist besser, wenn niemand anderes die Kräuterprobe entdeckt. Ebenso wie du Recht hast, dass Geheimdienste und Herrscher ein Interesse an Mutationen haben. An verbesserten Kriegern. Doch in einem, in einem hast du nicht Recht – es braucht uns nicht mehr. Deine Glücksritter und Helden sind so zahlreich und so voller Idealismus, dass es den Marktpreis zerstört. Aber nicht nur ihn. Es zerstört auch die Monster – die natürlichen und die unnatürlichen. Vielleicht sterben einige der Idioten dabei. Aber Idioten sterben jeden Tag – ob sie ein Monster töten oder ihr Dach mit Hilfe einer wackeligen Leiter neu decken wollen macht da keinen Unterschied“ er nahm noch einen weiteren Schluck Wasser, sog das kühle Nass gierig auf und hob dann wieder den Blick um jenen von Atheris zu begegnen. „Aber die Monster aus alter Zeit sind es nicht, die wahrlich gefährlich für die Menschen werden. Denn sie sind an den Rand des Aussterbens gedrängt worden. Was dem Menschen wahrlich gefährlich wird sind die neuen Monster einer neuen Zeit. Rassenkrieg. Umweltverschmutzung. Korruption. Die Maschinerie des Krieges. Es gibt keine kleinen Scharmützel mehr. Der Krieg selbst ist zur Ware geworden. Der Mensch ist des Menschen Monster. Dagegen können wir nicht ankommen. Wir sind Relikte Atheris. Alte Männer aus vergangenen Zeiten“ langsam stand Gabhan auf, ein grimmiges Lächeln auf dem Gesicht. „Aber wir werden weiter tun was wir am besten können. Monster erschlagen. So wie es der Brauch will. Wir werden tun wofür wir erschaffen wurden. Denn das ist das einzige was wir tun können, in einer Welt die am Abgrund tanzt. Etwas tun, dass Bestand hat. Tradition. Ein fester Grundpfeiler in einer Welt, in der noch nicht einmal das Morgen sicher ist…“ er starrte in sein Spiegelbild im Wasser, die Narbe in seinem Gesicht, die Raubtieraugen, die nichts Menschliches mehr an sich hatten. Die Narben an der Schläfe. Er war dreckig und unrasiert. Mehr Tier als Mann. Und mit einem Mal schämte er sich. Schämte sich ob seines Zynismus. Ob seiner Worte gegenüber Atheris. Schämte sich, dass er aufgegeben hatte. Was hätte Sie dazu gesagt? Ihr Ritter… und was für ein Ritter er war.

„Gibt es etwas, an das du glaubst, Atheris?“ fragte er und seine Stimme hatte das Knurren verloren. War weicher, sanfter.

Atheris empfand Mitleid mit Gabhan, der Hexer hatte sicherlich vieles miterlebt und zum Teil hatte er mit seinen Ausführungen recht, aber die Situation der Menschheit war immer im steten Wandel und genau dafür stand seine Heimat Nilfgaard. Auch wenn es die nördlichen Reiche nicht einsahen, aber das Kaiserreich führte zu Frieden, kulturellen Errungenschaften, zur Förderung von Kunst und Wissenschaft, all jenes, was Gabhan so auf der Seele lag. Atheris hatte eingesehen, dass die Mittel die Nilfgaard einsetzte nicht immer angemessen waren. Die Eroberungskriege im Norden waren blutig gewesen und hatten nicht zum gewünschten Ziel geführt. Aber wie sehr die Welt von dem modernen Staat profitierte hatte man vor dem zweiten nördlichen Krieg gesehen. Die Städte nördlich der Jaruga profitierten von der Wirtschaftskraft Nilfgaards und erlebten eine richtige Hochkonjunktur. Es führte soweit, dass die Kaufleute im Norden lieber mit der Währung des Kaiserreiches bezahlt werden wollten, als mit der Einheimischen. Es waren die Nordländer, die den zweiten Feldzug in den Norden provoziert hatten und Atheris hatte bei seinen Einsätzen nördlich der Jaruga die Landungsschiffe der Temerier gesehen, die bereit gewesen waren einen Überfallkrieg gegen Nilfgaard durchzuführen. Atheris schweifte ab, Gabhan hatte ihm eine Frage gestellt und er war die Antwort noch schuldig. Er blickte hoch zur Sonne und fühlte ihre warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Letztes Jahr wurde ihm eine ähnliche Frage bereits schon einmal gestellt. „Nach meinem Empfinden … Gabhan … entfaltet sich das Elysium eines Vatt’ghern in seinem Gewissen, und wenn er sich seiner Verantwortung bewusst ist, wenn er gesucht und gefunden hat, wenn er sich dem gemeinsamen Ideal seiner Schule angenähert, seine Pflichten als Jäger erfüllt hat, dann ist er gut darauf vorbereitet, eine Welt zu verlassen, die er ein wenig besser zu machen sich bemüht hat. Er wird seinen Nachfolgern ein Königreich hinterlassen, das von seiner Arbeit geprägt und für alle Menschen lebenswerter sein wird.“

Atheris wartete einen Moment bevor er noch einen Satz hinzufügte „Ich glaube daran, dass Veränderungen durch jeden Einzelnen von uns angestoßen werden. Wer, wenn nicht wir, können die Welt erschaffen, in der wir leben möchten! Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder Mensch ein Platz in dieser Welt hat und wenn er die ihm gegebenen Möglichkeiten nutzt und hehren Zielen folgt, wird die Menschheit als Ganzes aufblühen!“ Atheris schwieg und beobachtete den Bärenhexer. Hoffnung … Gabhan brauchte wieder Hoffnung.

Gabhan betrachtete seinen Zunftbruder und beobachtete ihn genau. Jede Bewegung der Muskeln in seinem Gesicht. Jede Betonung nahm er auf. Atheris Worte waren schön – und etwas in ihm wollte ihm glauben. Wollte glauben, dass es wirklich so war. Dass die Welt so einfach war. Das sie einfach nur versuchen mussten das zu tun was richtig war und sich dann alles zum Guten wenden würde. Er wollte es glauben. Wollte wirklich. Aber er wusste es besser. Wusste, dass es nicht ausreichte das Beste zu wollen. Wusste, dass es nicht ausreichte das Richtige zu wollen. Man musste auch das Richtige tun. Und manchmal war auch das falsch. Man verletzte Menschen. Menschen die einem etwas bedeuteten. Und vielleicht lag man falsch. Vielleicht tat man nicht das Richtige. Wer konnte schon sagen was das Richtige war?

Aber dann sah er Atheris, sah den Glanz in den Augen des Mannes. Atheris glaubte wirklich daran. Glaubte mit ganzem Herzen daran. Gabhan wusste es besser, aber vielleicht – ganz vielleicht war die Welt das eine oder andere Mal doch wie in den Märchen? Gabhan hoffte es. Hoffte es für Atheris. Und er würde nicht zulassen, dass Atheris das Gleiche durchmachen und die gleiche Erkenntnis durchleben musste wie er. Er würde ihn vor dieser Erkenntnis beschützen. Atheris sollte weiter daran glauben dürfen. Das Tun was er für gut und richtig hielt, ganz gleich wie aussichtslos es auch war. Es genügte, wenn Gabhan das tat was notwendig war. Wenigstens Atheris sollte die Möglichkeit haben besser zu sein. Besser als er. Er verstand Atheris. Der Andere war ein guter Mann. Er glaubte an etwas, das größer war. Deswegen brauchten gute Männer keine Regeln. Und die Götter wussten, Gabhan hatte viele Regeln.

„Man hat bei dir einen Fehler gemacht mein Größer,“ befand Gabhan und klopfte ihm auf die Schulter. „Du hättest Ritter oder Priester werden sollen, kein Hexer. Bei allen Göttern – du bist ein Greif durch und durch. Ein Narr mit hehren Zielen. Aber davon könnten wir ein paar mehr in dieser Welt gebrauchen.“

Atheris lächelte seinen Zunftbruder liebevoll an. „Lass uns aufbrechen, Gabhan! Der Eingang zur Ruine ist nicht mehr weit und wir wollen doch die Welt nicht auf uns warten lassen!“ Er stand auf und reichte Gabhan seine ausgestreckte Hand.

Kapitel 10 – Staub der Zeit

Es dauerte nicht lange und die beiden Zunftbrüder hatten die Lichtung erreicht, auf der sich der Angriff auf Atheris zugetragen hatte und in deren Mitte sich ein Eingang in die Elfenruine befand. Sie befestigten das lange Seil, dass sie mitgenommen hatten an einem Baum und näherten sich vorsichtig dem Loch im grünen Rasen. „Es ist schon seltsam, Gabhan. Das letzte Mal als ich hier war, hatte das Medaillon schon längst angeschlagen – hier und jetzt … nichts! Ob das mit der Tageszeit zusammenhängt?“ „Möglich“ knurrte Gabhan, der gerade seinen Kopf durch die Öffnung gesteckt hatte und sich ein Bild von der Situation im Inneren machte. „Lass uns keine Zeit verschwenden“ war nach einigen Augenblicken sein kurzes Fazit der Untersuchung.

Gabhan griff nach dem Seil, welches Atheris ihm entgegenhielt, wickelte sich dieses einmal um seine Hüfte und einmal um die eigene Hand. Die schwere Rüstung die er trug machte Bewegungen schwerfällig – an genügend feinmotorig um gut klettern zu können war nicht zu denken. „Ich gehe als erster runter, du lässt mich hinab und wenn ich mir sicher bin, dass es unten sicher ist kannst du nachkommen. Wenn du auch nur glaubst zu hören wie mich die Viecher anfallen, dann will ich, dass du Fersengeld gibst und abhaust. Dort unten sind so viele von denen, dass sie mich nicht nur getötet hätten ehe du unten ankommst, sondern auch mit dir kurzen Prozess machen würden. Ich kann im Tod nicht auch noch ein schlechtes Gewissen gebrauchen!“ Und mit diesen, durch und durch erbaulichen Worten stieg Gabhan in das Loch und ließ sich Meter für Meter von Atheris hinablassen. Der Abstieg dauerte einige qualvolle Sekunden und Gabhan schätzte den Weg bis zur Decke auf rund zehn Meter. Keine erbauliche Vorstellung im schlimmsten Fall von Antherion gejagt diese zehn Meter an einem kleinen Seil wieder zurück nach oben gelangen zu müssen, aber das war ein Problem, mit dem er sich später beschäftigen konnte.

Dumpf kam er auf dem Boden der Halle auf löste sich vom Seil und fingerte in seiner Tasche nach einer winzigen, abgegriffenen Flasche. Er nahm diese zwischen Daumen und Zeigefinger, entkorkte sie mit den Zähnen und spuckte den Korken aus, ehe er sich die übelschmeckende Flüssigkeit – Pimentwurzel, Mutterkornsamen und fünfte Essenz. Äther. Karmin. Hydragenum. Gabhan spürte wie die Flüssigkeit wie beißender Essig in seinen Magen floss und sich beinahe augenblicklich ein stechender Schmerz in seinen Schläfen einstellte. Er verklang so schnell wie er gekommen war, dafür begannen die Augen zu tränen, als sich die Pupillen weiteten und Gabhan das Innere des Tempels – denn ein solcher war es – erkennen konnte.

Langsam, beinahe ehrfürchtig durchschritt er die Anlage, fuhr mit seinen Fingern die aus den aufgeschnittenen Handschuhen hervorlugten über die staubigen Reliefs. Elfisch – es war ein elfischer Tempel. Dafür sprachen die Ornamente und Säulengänge, wenngleich dieser spezielle Stil Gabhan auch fremd war. Er erkannte Verzierungen, die an der Außenseite der dort abgebildeten Figuren zu sehen waren. Sie waren nicht aus Silber oder poliertem Eisen, sondern aus Messing. Gabhan stutzte. Er glitt weiter. Messing, animalische Andeutungen. Er ließ die Schultern sinken. Jetzt ergab auch alles einen Sinn. „Atheris!“ rief er nach oben. „Komm runter!“

Atheris beobachtete wie Gabhan sich im Gewölbe umschaute und als er ihn rief, ließ er sich ebenfalls an dem Seil hinunter. „Ein Tempel – kein Palast!“ stellte er überrascht fest. „Sieh dir die Materialien an, Atheris!“ brummte Gabhan. Der Nilfgaarder erkannte die inzwischen komplett schwarzen Augen seines Zunftbruders. Er hat bereits den Hexertrank ‚Katze‘ zu sich genommen, was seine Sicht in vollkommener Dunkelheit ermöglichte. Atheris lies seinen Blick über die Säulen und Skulpturen wandern. „Bronze! Das ändert einiges!“ stellte Atheris fest und Gabhan nickte anerkennend. Es war nun an ihm, seinen Trank zu nehmen. Er zog das kleine Fläschchen aus seinem Beinholster, öffnete den Korken mit seinen Zähnen und trank den Inhalt in einem Zug hinunter. Die Flüssigkeit schmeckte leicht süßlich, im Gegensatz zu manch anderem der Tränke, die er sonst zu sich nahm. Es dauerte einen Augenblick bis die Wirkung einsetzte, aber auf einmal war da ein kleines kribbeln hinter seinen Augen und nur einen Wimpernschlag später hatte er das Gefühl, dass sich zwei brennende Kohlen in seinen Augenhöhlen befanden. Es war nur ein kurzer Schmerzimpuls und auf einmal wich die Dunkelheit und Atheris sah das innere des Tempels fast genauso gut wie im Sonnenlicht. Atheris prüfte den korrekten Sitz seiner Ausrüstung und zog seine Silberklinge. Erneut behandelte er das kostbare Schwert mit dem Eisensulfid und reichte es dann an Gabhan weiter, der es ihm gleichtat. „Wenn ich die Karte richtig im Kopf habe, müssen wir uns weiter nach Süden bewegen, bereit mein Bruder?“

Gabhan ließ nur ein knappes Schnauben als Antwort hören, rückte noch einmal seinen Schultergurt zurecht, denn dieser störte ihn ein wenig in der Bewegung, die in seiner schweren Rüstung ohnehin nicht allzu ausgefeilt war. Aber ausgefeilt musste sie auch nicht sein. Sie musste schnell sein und vor allen Dingen kräftig. Gabhan griff nach dem Stahlschwert, welches er – im Gegensatz zu den meisten seiner Zunftbrüder – an der Seite trug und zog das Kurzschwert aus der Scheide.

Als Atheris ihm das Eisensulfat zuwarf fing Gabhan es geschickt auf, schmierte seine eigene Klinge damit ein und reichte Atheris dieses dann zurück. Weshalb der Andere das Silberschwert nahm, statt das genauso effektive und weniger anfällige Stahlschwert blieb ihm zwar ein Rätsel, doch er rechnete diese Entscheidung Atheris Hang zur Idealisierung des Hexertums zu. Eine Idealisierung, die er nie gelernt und niemals begangen hatte. Ebenso wenig wie jeder andere Hexer den Gabhan kannte. Mit Ausnahme vielleicht von Valerian, dem Großmeister der Greifen und Atheris Lehrmeister. Aber Valerian war… eine andere Geschichte. Und der alte Mann schuldete Gabhan noch einen Gefallen – und eine Rose.

Sie durchstreiften gemeinsam den großen Tempel und während Atheris aufmerksam die Gegend nach Feinden absuchte ließ Gabhan seine Deckung unten. Er würde den Feind schon hören – genauso wie der Feind sie hören würde. Die Akustik in diesem Gewölbe war von solcher Präsenz, dass manche Konzerthalle in den nördlichen Königreichen neidisch gewesen wäre. Nein. Gabhans Gedanken waren nicht bei möglichen Feinden. Waren nicht beim nächsten Kampf und dessen unvermeidbares Blutvergießen. Sie waren noch immer bei der Erklärung des alten Antherion und was dieser Tempel hier dann bedeutete. Was ihre Anwesenheit bedeutete. Was sie womöglich angerichtet – oder verhindert hatten. Gabhan verfluchte sich. Er hatte nur einige alte Runen gewollt. Runen die längst vergessen waren. Die niemand mehr benötigte. Die niemand brauchte. Nur er. Und nun war er in einen Schlamassel hineingeraten. Steckte über beide Ohren drin – und er hatte Atheris da auch noch mit reingezogen und der andere schien noch nicht einmal etwas zu ahnen. Gabhan plante nicht Atheris hier und jetzt in seine Befürchtungen einzuweihen. Vielleicht irrte er sich ja. Schätzte die Informationen und somit die Lage falsch ein. So etwas kam vor. Nicht oft. Seltener als ihm selbst lieb sein konnte. Aber es kam vor.

Gabhans fühlte die Unebenheiten auf dem Stein, die jedoch so winzig waren, wie sie nur in den Bauten der Elfen, Zwerge oder Gnome vorkamen. Und wenngleich auch die Architektur jener der Elfen ähnelte, so unterschied sie sich doch so sehr, wie ein Haus in Cintra sich von einem Haus in Kaedwen unterschied. Es waren beides Häuser, ohne jeden Zweifel. Aber es war… anders. Die Antherion waren anders. Sie, die Hexer, waren anders. Das hier würde Blut vergießen bedeuten. Oh ja, das würde es. Und Gabhan fürchtete sich. Er fürchtete sich sehr. Doch Furcht durfte einen Hexer niemals aufhalten oder auch nur Zögern lassen. Seine dunklen Augen huschten über die Wandreliefs. Eine Gestalt in Form eines aufrecht stehenden Wolfes, mit einer Krone angetan führte eine Schar ähnlicher Wölfe an, doch die Schatten dieser Schlachtenreihe, die kunstvoll aufgestellt worden waren, zeigten Gestalten mit spitzen Ohren. Auf der anderen Seite – eine Schar die an Monster erinnerte, doch eindeutig Rüstungen menschlicher Machart trug. Gabhan riss sich mit Mühe von den Zeichnungen los, denn er wusste was auf dem nächsten Bild sein würde. Wusste es.

„Halt,“ Gabhan hob eine Hand und deutete zu einem in den Felsen geschlagenen Gang. „Riechst du das?“ Gabhans Nasenflügel weiteten sich. „Es riecht nach… Nitron und Natron. Harz und Bienenwachs“ seine Nüstern weiteten sich noch weiter. Myrrhe. Palmwein. Er ließ die Schultern sinken und starrte Atheris an. „Das alles riecht wie… ein Einbalsamierungsraum. Wir sind nicht in einem Tempel Atheris, wir sind in einem Grab.“

Atheris bemerkte, wie der Blick des Bärenhexers für einen Moment an dem Wandbild haften blieb. Es zeigte vermutlich die Antherion wie sie von ihrem Anführer gegen ein Heer von Menschen zogen. Falls es diese Schlacht jemals gegeben haben mochte, Atheris hatte noch nie von ihr gehört. Seine Gedanken wurden durch das „Halt!“ von Gabhan unterbrochen. Der Bärenhexer hatte recht, es war ein Grab – vielleicht Maevens? „Meinst du, dieser Ort ist die letzte Ruhestädte von Maeven, Gabhan? “

„Wir beide sind hier unten Atheris,“ erwiderte Gabhan. „Es wäre wirklich zu viel verlangt, wenn uns das Leben nicht so hart ficken würden. Du kannst Gift drauf nehmen, dass wir so richtig, richtig tief in die Scheiße gegriffen haben“ aber es brachte nichts. Hier und jetzt umzukehren würde nur bedeuten, dass alle Arbeit bisher umsonst gewesen wäre. „Wir sollten weiter. Tiefer hinein in dieses Grab, es kann ja nicht ewig nach unten gehen irgendwann werden wir in einen richtigen Raum kommen. Wenn dort Abzweigungen sind suchen wir uns einfach den raus, der aussieht als würde dahinter unser sicherer Tod lauern – die Methode funktioniert immer,“ ätzte der Bärenhexer und ließ angespannt das Schwert zweimal in seiner Hand kreisen.

„Hört sich nach einem Plan an – einfach zwar, aber das sind die Besten!“ antwortete Atheris und folgte an der Seite Gabhans tiefer ins Grab. Das Gewölbe zog sich in die Länge – Länger als es Atheris bei einem Grab erwartet hätte. Auf ihrem Weg kamen sie an weiteren Gemälden vorbei und diese erzählten ihnen die Geschichte, die sich hier vor vielen Jahrhunderten abgespielt haben musste. Die blutige Schlacht endete zwar mit einem glorreichen Sieg der Antherion über die Menschen, doch dieser Sieg war teuer erkauft worden. Maeven wurde beim Kampf schwer verletzt und nur wenige Krieger überlebten die Schlacht. Atheris ging weiter und ebenso die Erzählung. Schritt für Schritt wurde der Mythos des Wesens, dessen Grab sie betreten hatten dargestellt. „Gabhan! Schau dir das an!“ Atheris blieb bei einem Bild stehen, dass zeigte, wie ein Wesen vor Maeven kniete – ob es sich um einen Antherion handelte, konnte man nicht sagen. Interessant war eine geöffnete Schatulle mit Runen. „Ist es das, was wir suchen?“

Gabhan betrachtete das Bildnis und die Schatulle mitsamt ihrem Inhalt genau und schwieg für eine ganze Weile. Das hier war kein Tempel und seine Runen keine längst vergessenen Relikte die niemand mehr vermissen würde. Sie waren in ein Grab eingestiegen und drauf und dran Runen zu entwenden, die in der Geschichte dieser Kriegerkönigin eine hohe Bedeutung gehabt haben mussten, wenn man sie schon auf einem Wandbild verewigt hatte. Gabhan schluckte, während er noch einige Schritte am Wandbild weiterging – die Gestalt mit den Runen befand sich nun auf mehreren Bildern. Zu sehen war ein Fest, welches wohl zu Ehren des Sieges ausgerichtet worden war. Gabhans Herz schlug schneller in seiner Brust, während sich in seinem Verstand die letzten Puzzleteile zusammensetzten. „Scheiße“ war sein einziger Kommentar, als er das letzte Bild erreichte, welches eine gesamte Wand eines großen, viereckigen Raumes einnahm. Die Figur mit den Runen stieß Maeven von hinten einen Dolch in den Hals. „Das hätte sie mir sagen müssen…“ knurrte Gabhan, dem erst jetzt das vollkommene Ausmaß dieser ganzen Misere vor Augen geführt wurde. Er warf Atheris einen kurzen Blick zu, der sich bereits daran machte einen Geheimgang zu finden, denn von hier aus ging es nicht mehr weiter. Zumindest nicht offensichtlich. Offensichtlich war für Gabhan jedoch nun die Wahrheit, direkt vor ihm ausgebreitet und sie war wie immer kompliziert.

„Atheris, warte…“ bat Gabhan den Zunftbruder und ließ sich auf eine kleine Stele sinken. Seine Wunde schmerzte noch immer, seine Schultern waren verspannt und anfänglicher Zweifel nagte in ihm. „Ich weiß nun was geschehen ist. Ich weiß es…“ er ließ ein tiefes Seufzen hören, eines das durch die alten Mauern drang und den Staub der Zeit aufwirbelte, der die Geschehnisse bis zur Unkenntlichkeit bedeckt hatte. „Antherion heißt nur die Oberkategorie der Wesenheiten denen wir uns hier nähren. Es gibt sie in den unterschiedlichsten Ausprägungen. Aguara zum Beispiel sind Fuchswesenheiten die sich durch das Entführen elfischer Kinder fortpflanzen. Das scheint – in Anbetracht des jungen Alters der vielen Antherion in dem Dorf bei unseren nicht der Fall zu sein,“ begann Gabhan seine Erklärung. „Ich glaube mittlerweile zu wissen welcher Unterkategorie wir uns hier gerade nähren – Yaguaru. Wolfswesen, die sich normal fortpflanzen und ebenso wie Aguara über starke magische und noch deutlich stärkere körperliche Macht verfügen. Vor vielen Jahrhunderten, als die Menschen neu in diesem Landstrich waren, müssen sie auf diese Yaguaru gestoßen sein – und auf Maeven. Keine Ahnung ob sie Königin, Kriegerin oder Alpha-Wölfin war, aber das ist auch vollkommen egal. Die Yaguaru besiegten die Menschen unter schweren Verlusten – und die Menschen boten den Yaguaru als Zeichen des Friedens einige Runen. Die Yaguaru erkannten das Zeichen an. Ein Zeichen der Unterwürfigkeit ist bei Wölfen nun einmal normal. Aber weißt du was nicht normal ist Atheris? Hinterlist. Verrat. Die Menschen kennen diesen Wesenszug, die Yaguaru kannten ihn bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Also töteten die Menschen Maeven hinterlistig – und das Volk der Yaguaru wurde in die Wälder getrieben. Dort blieben sie viele Jahre, ehe sie sich – dank ihrer Fähigkeiten als Menschen getarnt – hier in der Gegend niederließen. Aber die Menschen breiteten sich immer weiter aus. Die Yaguaru können immer weniger in ihre eigentliche Form wechseln. Ich habe es gesehen. Habe gesehen welche Mühe die Alten hatten ihre Form anzunehmen und zu halten. Je länger sie es unterdrücken, umso mehr verlieren sie ihre Fähigkeiten. Ihr Sein. Ihre Kultur. Die Jungen Atheris, die, die ich erschlagen und die gegen die Alten gekämpft haben. Jene jungen Yaguaru, die sich tief in dieses Grab zurückgezogen haben. Sie verehren nicht einfach nur Maeven, sondern das wofür sie stand. Für Freiheit und die Unabhängigkeit ihres Volkes. Diese Yaguaru sind bereit in den Krieg gegen die Menschen zu ziehen. Einen Krieg, den sie nur verlieren können und der die Yaguaru auslöschen wird. Sie werden stolz sterben. Aufrecht. Als Yaguaru. Aber sie sterben. Und die Dorfbewohner? Sie verlieren langsam ihre Kräfte. Hören auf Yaguaru zu sein. Werden zu etwas Anderem. Die Menschheit assimiliert sie. Eine Assimilation, die die Yaguaru ebenfalls auslöschen wird…“ er ließ die Schultern sinken und schüttelte den Kopf. „Und wir sind mittendrin mein Großer. Und da ich weiß wie diese Geschichte ausgehen wird stelle ich dir nun eine Frage – ein einziges Mal. Ich benötige diese Runen. Ich benötige sie sehr. Und ich sehe mich weder in der Pflicht noch in der Lage dieses Volk zu beschützen. Weder vor sich, noch vor den Menschen. Aber ich weiß, dass du es anders siehst. Ich weiß nicht, ob es etwas ändert. Ob wir beide überhaupt etwas ändern, jemals geändert haben. Aber ich will dich nicht noch tiefer in eine Sache hineinziehen, die dein Gewissen noch mehr belastet. Du hast hier und jetzt die Möglichkeit zu gehen. Geh. Oder komm mit mir. Tiefer in die Finsternis.“

„Ich werde dich auf keinen Fall da alleine reinlassen, Gabhan! Die Runen gehören nicht zur Kultur der Yaguaru und dürften ihnen deswegen wohl kaum heilig sein. Der Dorfälteste hat mehrmals klargestellt, dass sie mit dieser Ruine und allem was hier drin ist, nichts mehr zu tun haben wollen – und selbst die überlebenden des Kultes müssten nach den Wandmalereien anerkennen, dass diese Runen vermutlich von Menschenhand stammen und nicht von den Yaguaru!“ antwortete Atheris auf die ihm gestellte Frage. Gabhan schien mit der Antwort zufrieden und gerade als sich Atheris wieder der Wand widmen wollte, hörte er ein leises ‚Klacken‘ unter seinen Stiefelsohlen, dass ihn zusammenzucken lies ein leiseres zweites ‚Klacken‘ war leicht zeitversetzt zu hören – aber es geschah nichts. „Seltsam!“ knurrte Gabhan und näherte sich einer Wand und berührte diese vorsichtig. Seine Hand wanderte langsam zu seinem Hexer-Medaillon, dass den Kopf eines Bären darstellte. Seine Augen weiteten sich augenblicklich – es vibrierte kaum merklich mit einer hohen Frequenz, so marginal, dass er es nicht sofort bemerkt hatte. Er drehte sich langsam um und blickte zu Atheris. Als dieser die Augen seines Zunftbruders erblickte, wusste er sofort, was los war … „A d’yaebl aép arse!“ entfuhr es seinen Lippen und seine rechte Hand schloss sich fest um den Griff seiner Klinge.

Gabhan folgte nur einem Gefühl. Eine Vorahnung, die dunkel und tief verborgen in ihm schlummerte. Der Instinkt des Raubtieres, das in seine Gene eingebrannt worden war. Er hob das Schwert und spürte den Aufprall noch ehe er ihn hören konnte. Ein schwerer, verteufelt schwerer und verteufelt haariger Gegenstand kollidierte mit der Gewalt eines rasenden Ochsen mit ihm. Er spürte, wie das Schwert auf etwas traf. Konnte spüren, wie unter seiner Klinge Muskeln und Sehnen zerschnitten wurden, dann geschah das, was nach den Regeln der Physik immer geschehen musste, wenn ein bewegliches Objekt auf eines traf, das nicht in Bewegung war. Die Regeln der Physik waren noch unbarmherziger als die Antherion die sie angriffen. Gabhan wurde von den Füßen gerissen, flog im hohen Bogen durch die Halle und prallte gegen eine nahe Wand. Er fluchte beim Aufprall, fluchte ein zweites Mal, als er auf dem Boden aufschlug. Sterne explodierten vor seinen Augen. Sein Schwert. Wo war sein Schwert? Keine Zeit. Klauen und Zähne nährten sich ihm, blutig und geifernd vor Mordlust. Gelbe Wolfsaugen. Augen. Gabhan kämpfte sich wieder auf die Füße, da setzte das Wesen zum Sprung an, doch Gabhan drehte sich zur Seite. Beinarbeit, Schritt zurück, den Schwung nutzen. Gabhans Nietenbesetzter Handschuh donnerte mit solcher Gewalt auf das Auge des Angreifers, das er spürte, wie das weiche Gewebe unter seiner Hand nachgab. Der Hexer gab sich keinem Siegestaumel hin, sondern wirbelte herum. Wo war sein Schwert? Und wo war Atheris? Den Hexer sah er nicht, wohl aber sein Schwert, das keine zwei Schritt von ihm entfernt lag. Gabhan hechtete zu seiner Waffe, griff mit der linken danach – schloss den Griff. In diesem Moment explodierte der Schmerz in seinem anderen Arm. Schon wieder wurde er zu Boden gerissen, spürte wie spitze Zähne sich durch den Punkt seiner Armschienen bohrten, wo Ober- und Unterseite aufeinandertrafen. Das Monster schliff ihn mit sich. Gabhan spürte es. Die Unebenheit des Bodens, die Zähne des Antherion. Die Position war ungünstig. Der Winkel Schmerzhaft. Schmerz. Schmerz. Wut. Unbändige Wut. Gabhan griff das Schwert fester. Er hatte keinen Winkel um richtig Schwung zu holen – daher tat er das einzig mögliche. Mit aller Gewalt drosch er auf den Kehlkopf des Antherion ein. Einmal. Zweimal. Dreimal. Beim vierten Mal hörte er das befriedigende Knacken, das Drecksvieh ließ seinen Arm los und Gabhan wuchtete sich mit all seiner Gewalt gegen den Antherion, der winselnd zur Seite sprang. Gabhan ignorierte den schmerzhaft pochenden Arm, zog ein grünes Fläschlein aus seinem Gurt und leerte es in einem Zug. Der Schmerz verklang vollends und die Mordlust nahm überhand. „Kommt her…“ knurrte er, und hob die Klinge. Wo Atheris gerade war wusste er nicht. Aber das war ihm auch egal. Er sah die beiden Antherion die ihn bislang angegriffen hatten langsam auf ihn zu pirschen. Der eine auf allen Vieren, der andere hoch aufgerichtet auf zwei Beinen, wie ein Mensch.

Der Antherion kam mitten durch die Wand gesprungen – wobei Wand falsch war, es war eine Illusion. Gabhan fing den Prankenhieb mit seiner Klinge im letzten Moment ab, wurde aber bei dem Aufprall durch die Luft geschleudert. Atheris brachte sich mit einer Flugrolle nach rechts aus der Flugbahn, um nicht auch noch mit seinem Zunftbruder zu kollidieren. Mitten im Sprung sah der Nilfgaarder die Wand auf sich zu kommen, er hatte sich kräftig abgedrückt und nun bereitete er sich auf den Einschlag mit der Wand vor, aber es gab keinen Widerstand und er schlitterte über den fast ebenen Boden. Elegant kam er wieder auf die Füße und fand sich Auge in Auge mit einem Antherion wieder. Die stechenden gelben Augen hatten ihn fixiert und er baute sich zu seiner vollen Größe auf – Das war sein Fehler! Im Tierreich gab es oft das Phänomen, dass sich die Kombattanten aufrichteten oder aufplusterten, um ihren Gegner einzuschüchtern und Überlegenheit zu symbolisieren. Furcht war eine Waffe – kein Zweifel – aber Atheris war ein Jäger und Soldat und lies sich nicht durch Gesten beeindrucken. Auch wenn er als Greifenhexer einen eleganten Kampfstil pflegte, waren kurze letale Hiebe und Stiche ein effektives Mittel einen Kampf kurz und schmerzlos – für ihn selber – zu beenden. Das Wesen, dass vor ihm stand war groß und gewaltig, aber kein Krieger. Atheris nutzte die sich ihm bietende Blöße, stieß sich vom Boden nach vorne ab und führte einen sauberen Stich in die untere Magengegend aus. Die scharfe Klinge fuhr durch die Eingeweide des Antherion und trat auf dessen Rückseite mit einem Blutschwall wieder hervor. Um nicht von den wilden, unkontrollierten Hieben getroffen zu werden, machte er einen Ausfallschritt zurück und brachte wieder Distanz zwischen sich und seinen Gegner, dessen Augen ihm in der Gewissheit seines Todes leer anstarrten. Das schmerzhafte Schreien Gabhan’s ließ ihn aufhören, er hatte keine Zeit zu warten, bis der Antherion zusammenbrach. „N’ess tedd a thu!“ – mit zwei kurzen Schritten überwand er die Distanz zu seinem Opfer, führte eine einfache Finte aus, um den letzten Verteidigungsversuch ins Leere laufen zu lassen und führte einen kräftigen Hieb gegen die Kehle des Wesens durch, dass daraufhin gurgelnd zu Boden ging. Die Schreie von Gabhan hatten aufgehört. Atheris drehte sich um und sah, wie sein Freund sich unter seinem Gegner hervorwühlte und nach seinem großen Schwert griff. Zwei weitere Antherion waren im Begriff ihn anzugreifen. Er setzte zu einem kurzen Sprint … sprang hoch in die Luft mit der Klinge über dem Kopf erhoben und lies diese auf den linken, stehenden Antherion niederfahren.

Gabhan hatte sich bereits gemacht. War auf den Angriff vorbereitet gewesen. In diesem Augenblick tauchte Atheris wieder auf – wie der verdammte Teufel aus der Kiste schoss er aus der Wand hervor und ließ sein Schwert auf den linken Antherion niedersausen, traf diesen knapp oberhalb des Ohres und trennte einen Teil von diesem ab. Der Antherion jaulte, was seinen Bruder dazu bewegte zu ihm zu sehen.

Gabhan zögerte keine weitere Sekunde, konnte nicht zögern. Durfte nicht zögern. Jeder Fehler des Gegners musste ausgenutzt werden. Gabhan richtete das Schwert nach vorne, machte drei große Schritte, ließ das Schwert kreisen, in einem Winkel, dass der Feind es sehen musste. Der Antherion hob eine Klaue um abzuwehren. Gabhan drehte das Handgelenk, leitete die Kraft und die Geschwindigkeit am Knaufende um, wechselte mitten im Angriff die Seite. Das Schwert traf. Fraß sich gierig durch Fell und Fleisch. Gabhan riss seine Waffe zurück, wirbelte sie über dem Kopf und setzte nach. Deckte den Feind mit Hieben ein. Zielte auf Arme und Beine. Der Antherion und er befanden sich in einem wilden Tanz. Hexer und Monster. Blut und Stahl. Zähne und Klauen. Ausfallschritt, Ausfallschritt. Sie begegneten einander, lösten sich. Abraisen. Ausfallschritt. Abnehmen. Der Coup misslang. Der Antherion schlug Gabhan mit solcher Wucht, dass er beinahe wieder den Boden unter den Füßen verlor. Doch er hielt sich, machte eine knappe Drehung zur Seite. Wenige Bewegung. Nichts Kunstvolles. Kurze Bewegungen. Knapp. Tödlich. Erneut setzte der Antherion an und Gabhan machte einen Schritt zur Seite, stieß den Knauf des Schwertes mit aller Gewalt nach vorne, traf seitlich am Hals. Der Antherion winselte, machte einen halben Schritt zur Seite und fiel zuckend zu Boden. Gabhan wirbelte herum, sah wie Atheris von seinem Antherion bedrängt wurde und streckte die Hand aus – ein Blitz. Ein Zischen. Ein Ball aus Feuer schoss förmlich aus seiner Hand und traf den Antherion in das trockene Fell, dass wie Zunder Feuer fing.

„Sheyss!“ schrie Atheris noch in der Luft, als sich sein Ziel abrupt zur Seite Wand und er anstatt den Kopf zu spalten nur das Ohr vom Kopf trennte. Er hätte es besser wissen müssen, zu stürmisch und ungeduldig war der Angriff gewesen. Zumindest konnte er aus dem Augenwinkel sehen wie Gabhan den Moment der Ablenkung nutzte und den zweiten Angreifer unter Druck setzte. Er rollte sich über die Schulter ab und wendete sich sofort seinem Gegner zu – und das keinen Moment zu früh. Rasend vor Wut setzte das Wesen zum Sprung auf ihn an und er schaffte es gerade noch das Zeichen ‚Quen‘ zu wirken. Der Schild baute sich augenblicklich auf und schützte Atheris vor dem Aufprall. Eine wilde Kaskade aus Schlägen und Hieben trommelten auf das magische Energiefeld ein und es war nur eine Frage der Zeit, bis er in sich zusammenbrechen würde – zu schwach waren seine magischen Fähigkeiten um länger Stand halten zu können. Um einer unkontrollierten Implosion des Schildes zuvorzukommen, entzog Atheris dem Quen-Zeichen in einem günstigen Augenblick die Energie, was zur Folge hatte, dass der mächtige Hieb des Antherion ins Leere ging und dieser sein Gleichgewicht verlor. Blitzschnell ließ der Nilfgaarder seine silberne Klinge nach vorne zucken. Mit einem gellenden Aufschrei quittierte dieser den tiefen Schnitt, den die Klinge in seiner Schulter hinterlassen hatte. Mit blutigem Schaum vor dem Mund setzte das Monster wieder mit einer Kaskade an Schlägen und Hieben ein. Atheris Klinge war schnell, aber die Kraft die hinter den Angriffen steckte war gewaltig. Ein Rhythmus konnte er in den wilden, unkontrollierten Bewegungen nicht ausmachen. Tänzelnd bewegte sich Atheris rückwärts von seinem Gegner weg und versuchte alles, um diesen auf Distanz zu halten. Es gelang ihm immer wieder kleine präzise Wunden zu schlagen, mal am Handrücken, mal am Oberarm oder an der Hüfte, aber eine ernsthafte Ausfallmöglichkeit bot sich ihm nicht, zumindest keine, bei der er nicht selber schwerste Verletzungen befürchten musste. Der Kampf dauerte länger als ihm lieb war, die meisten Gefechte die er bestritten hatte, waren nach wenigen Hieben beendet … aber nicht dieser. Aus dem Augenwinkel sah Atheris, wie Gabhan ein Igni-Zeichen wirkte und der Feuerball seinem Gegenüber den Pelzverbrannte. Der brennende Schmerz sorgte dafür, dass der Antherion jedwede Deckung aufgab und Atheris sich die Blöße in Ruhe aussuchen konnte. Mit drei schnell geführten Hieben war das Wesen von seiner Qual erlöst und sackte leblos zu Boden.

Der Gestank nach verbrannten Haaren und verkohltem Fleisch stieg Atheris in die empfindliche Nase und der Qualm brannte unangenehm in den Augen. Erinnerungen an die Schlacht von Sodden kamen in ihm auf – Erinnerungen, wie er schwer verletzt unter den verkohlten Leibern seiner Freunde und Kameraden geborgen wurde…es war ein Massaker gewesen, was die Magier auf der Anhöhe unter den angreifenden Truppen Nilfgaards angerichtet hatten. Atheris schüttelte die Erinnerung ab, das war Vergangenheit, er hatte im hier und jetzt etwas zu erledigen, das seine ganze Konzentration erforderte. Er schritt hinüber zu Gabhan, der ziemlich übel zugerichtet aussah. „Danke dir, Gabhan!“

„Dank mir später,“ knurrte der Bärenhexer, während er sich seinen blutigen Arm besah und das Gesicht verzog. Ein paar Wunden und Narben mehr, darauf kam es nun wirklich nicht mehr an. Der Arm pochte unangenehm, aber die Zähne schienen nicht so tief eingedrungen zu sein, wie er zuvorderst befürchtet hatte. „Scheint so, als ob die felligen Arschlöcher nicht sehr scharf drauf wären mit uns zu verhandeln, was?“ er schüttelte den Kopf. Das sie bisher so gut durchgekommen waren war reines Glück gewesen. Antherion waren furchtbare Gegner – aber diese hier waren jung, unerfahren und nicht kampferprobt. Wenn doch… Gabhan wollte nicht darüber nachdenken was geschehen wäre, wenn die Dinge anders lagen.

„Wir werden tiefer hineinmüssen. Da wo die herkommen gibt es noch mehr – schau nicht so, ist nur eine Fleischwunde. Gehört haben sie uns sowieso, der Blutgeruch wird es nicht noch schlimmer machen. Wir können es sogar zu unserem Vorteil nutzen…“ Gabhan wartete gar nicht mehr auf Atheris, sondern marschierte stoisch voran, zog seinen Arm über die nahe Wand, trat durch die Illusion und verteilte weiteres Blut im Gang. Blutgeruch überall. Blut. Geruch. Selbst Gabhans empfindliche Nase konnte sich bereits verwirren lassen. Es wäre kein großer Vorteil, die Antherion rochen bestimmt noch besser als er, konnten mehr Nuancen unterscheiden. Aber ein Anfang war getan. Manchmal benötigte es nicht mehr als einen Anfang um ein Ende setzen zu können. „Kommst du? Oder muss ich dich tragen?“

Kapitel 11 – Zeit der Opfer

Atheris folgte seinem Zunftbruder durch die Illusion und dem dahinterliegenden Gang. Der Gang endete in einer breiten Wendeltreppe, die sie nach unten führte. Es roch nach Blut, Gabhan’s Blut und Atheris machte sich erneut Sorgen um seinen Freund. Bärenhexer waren bekannt dafür, robuste Kerle zu sein, die einiges aushielten. Aber Gabhan hatte erst vor einer Woche eine schwere Verletzung kurieren müssen und es schien nicht so, dass er sich davon bereits komplett erholt hatte. er ließ sich aber nichts anmerken und schritt Runde um Runde die Treppe hinab, bis sie endlich nach vielen Höhenmetern und noch mehr Stufen einen Gang erreichten, der sie vor ein steinernes Tor führte, auf welchem das Antlitz eines Yaguaru abgebildet war. Die Tür war geöffnet, weit genug, dass sich ein Antherion hindurchzwängen konnte. „Klauenspuren!“ meinte Atheris, als er sich den Rahmen der Tür genauer anschaute. „Sie haben die Tür gewaltsam geöffnet!“ knurrte Gabhan zustimmend. Vorsichtig schoben sich die beiden durch den Spalt und folgten einem weiteren kurzen Gang, der sie zu einem Vorsprung führte. Vor ihnen öffnete sich eine große unterirdische Höhle, die durch lumineszierende Pilze erleuchtet wurde. Quer durch die Höhle verlief ein Fluss, der durch einen Wasserfall auf der anderen Höhlenseite gespeist wurde. In der Mitte erblickten die beiden eine kleines mit Säulen gesäumtes Gebäude, aus dem geöffneten Eingang leuchtete ein Licht.

„Drei Mal darfst du raten, wo sich das Ende dieses kleinen Abenteuers befindet,“ flüsterte Gabhan, während er langsam den abschüssigen Hang hinabging. Der Fluss rechter Hand plätscherte für Gabhans Meinung viel zu fröhlich und der Hexer blieb schließlich stehen. Schien für einen Moment zu überlegen. Dies war ein Moment der Entscheidungen. Eine Entscheidung weshalb sie hier waren und ob es das wert war. Was war schon irgendetwas wert? Es war nicht ihre verdammte Schuld, dass die Yaguaru und die Menschen sich vor Jahrhunderten bekriegt hatten – es war nicht ihre Schuld, dass die jungen Idealisten des Dorfes diesen Kampf wiederaufnehmen wollten. Es war nicht ihre Angelegenheit – sie waren wegen etwas Anderem hier. „Atheris,“ Gabhan wandte sich zu dem anderen um, währen der in seiner Tasche kramte. „Hast du noch etwas von dem Eisensulfid übrig?“ der Bärenhexer zog eine Kartätsche aus der Gürteltasche und zog den Stopfen, in welchem auch die Zündschnur steckte. „Und wenn du jetzt noch Sturmhut oder direkt Lyoconitin hast, dann bist du mein persönlicher Held.“

Atheris blickte zu dem kleinen Gebäude und musste Gabhan Recht geben, ihre Suche würde vermutlich hinter der geöffneten Tür auf die eine oder andere Weise Enden. Atheris zog das kleine Gefäß mit dem Eisensulfid hervor und blickte auf den kläglichen Rest. „Viel ist es nicht mehr, aber einen kleinen Vorteil könnte es uns verschaffen!“ sagte er und reichte Gabhan das kleine Fläschchen. Gelber Sturmhut oder Wolfswürger wie er auch genannt wurde, war die giftigste Pflanze die Atheris kannte, leider auch inzwischen nicht mehr so häufig zu finden. „Tut mir leid, Gabhan – Sturmhut habe ich leider keinen bei mir. Ich habe mich vor einiger Zeit an Argentia probiert und noch eine Probe dabei. Als Klingenöl gegen Werwölfe soll es wahre Wunder vollbringen – ob es gegen Antherion ebenfalls wirkt, kann ich nicht sagen. Valerian warnte mich nur davor, es auf Stahlklingen aufzutragen!“

„Du hast Mondöl?“ hakte Gabhan ungläubig nach und betrachtete den größeren Hexer ungläubig. Diese verdammten Greifen hatten offenbar Zugang zu mehr seltenen Ingredienzien als er angenommen hatte. Doch hier und jetzt mochte ihnen dieses unverschämte Monopol zum Vorteil gereichen. „Ein Versuch ist es zumindest Wert. Doch denk daran, wir haben nur diesen einen Versuch – nur einen einzigen. Alles was danach kommt,“ er musste nicht weiter ausführen was danach kam. Es war ihnen beiden bewusst – zumindest hoffte Gabhan dies inständig, aber Atheris war kein Frischling mehr. Er wusste welche Gefahren hier lauerten. „Wenn du Tränke nehmen willst, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür…“ er selbst griff in seine Tasche und zog zwei weitere Tränke hervor. Donner hatte er bereits intus – was immer dort lauerte… mit einem selbstmörderischen Grinsen setzte er die beiden anderen kleinen Flaschen gleichzeitig an und trank. Er keuchte, krümmte sich, als das Gift durch seine Venen floss. Er packte die beiden Flaschen mit der Aufschrift „Würger“ und „Vollmond“ fort, unterdrückte das Zittern das sich einstellte, legte den Kopf in den Nacken, während sich seine Venen dunkel färbten. Dann blickt er zu Atheris. Er spürte wie sein Körper aufbegehrte, wie sein Herz raste und klopfte, seine Lungen Luft pumpten, glaubte seine Pankreas selbst zischen zu hören. „Los geht’s…“ knurrte er und entzündete die Kartätsche, nahm Schwung – und warf.

Atheris betrachtete den Trank in seiner Hand ‚Donner‘ – was würde ihm Meister Valerian für den bevorstehenden Kampf raten, schoss es ihm durch den Kopf. Er zögerte einen Moment und schaute Gabhan zu, wie dieser die Kartätsche nahm und in einem hohen Bogen durch die geöffnete Tür warf. Schnell ließ er den Trank in seinem Beinholster zurück gleiten – er hatte sich entschlossen mit klarem Kopf dem Ende entgegenzutreten.

Mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte das Wurfgeschoss im Inneren des Gebäudes und kaum einen Wimpernschlag später stürmten die beiden Zunftbrüder durch die Tür. Atheris erblickte sofort mehrere Antherion, die sich vor Schmerzen am Boden wälzten und versuchten, die behandelten Splitter aus ihrem Fell zu bekommen. „Ich nehme die rechte Flanke!“ schrie Atheris und stürmte auf den ersten Gegner zu. Mit etwas Glück konnte er einen von ihnen schnell erlegen, bevor sie wieder bei Sinnen waren.

Staub. Der Geruch nach Eisen, Blut und zersplittertem Stein. Gabhan glaubte alles in Zeitlupe zu sehen, während er durch den Eingang marschierte. Seine Schritte hallten auf dem einst polierten Marmor wider, der nun zersprungen und gerissen war. Die Antherion lagen auf dem Boden. Blut verklebte ihr Fell, welches ob des Eisensulfats dampfte und zischte, tiefe Wunden brannte. Tod. Tod überall. Für einen kurzen Augenblick wurde ihm schlecht, ehe seine Instinkte wieder übernahmen. Er trat an einem auf dem Boden liegenden Antherion vorbei und trat ihn mit aller Gewalt mit dem Stiefelabsatz. Einmal. Zweimal. Dreimal. Knochen knackten. Blut verteilte sich auf dem Boden. Der zweite noch auf dem Boden kriechende Antherion wurde mit einem einzigen schnellen Hieb durch den Hals von schräg oben von seinem Leiden erlöst. Blut. Der Geruch von Blut und von Tod. Tod. Tod überall. Er sah in die Augen eines weiteren Antherion, der rückwärts kroch, ein nur noch an einzelnen Sehnen hängendes Bein hinter sich herziehend. Er sah die Angst in den Augen des Monsters. Angst in den Augen eines Jungen. Angst in den Augen eines Jungen. Ihre Angst in den Augen. Diese Augen. Für einen kurzen Moment, den Bruchteil einer Sekunde hielt Gabhan inne. Zögerte. Er, der niemals zögern durfte.

Der Antherion riss sich eine lange Kette vom Hals – knurrte etwas in seiner kehligen Sprache. Es war sein Medaillon, dass Gabhan aus der Starre riss, indem es an seinem Hals zog und zitterte. Er sprang nach vorne, trennte den Kopf von den haarigen Schultern. Dass es zu spät war wusste er, noch ehe er das Geräusch des gewaltigen Sargdeckels im hinteren Teil des Raumes vernahm, der krachend zu Boden fiel.

Atheris wandelte durch die Reihen der am bodenliegenden Yaguaru wie der personifizierte Tod. Er hätte nie gedacht, dass die Kartätsche eine so verheerende Wirkung haben würde, aber so hatte er ein einfaches Spiel. Zwei präzise Streiche mit der scharfen Klinge beendete das Leiden der ersten Beiden. Ein Dritter versuchte sich Atheris in den Weg zu stellen – schnell formte er das Zeichen Aard und lies mit einer kurzen Bewegung seiner linken Hand die Druckwelle gegen die bereits zittrigen Beine des Wesen fliegen. Unsanft landete es wieder auf den zerstörten Marmorplatten und Atheris trieb ihm die Klinge von hinten ins Genick. Ein knurren erweckte seine Aufmerksamkeit und er wendete sich in Richtung des Sarges, der in der Mitte des Raumes stand. Zuerst sah der Nilfgaarder die beiden weißen Klauen, die sich auf dem Sarg platzierten, dann den großen Kopf mit den roten Augen und schließlich das riesige Maul. Mit einem Satz sprang der riesige Antherion auf den Sarg und lies wie vor einer Woche einen lauten Schrei von sich. Atheris Hand schloss sich eng um den Griff seines Schwertes und erhob es, bereit es mit dem Großen aufzunehmen.

Er konnte nicht sagen, woher auf einmal der große Dolch in der Hand des Antherion auftauchte, aber er erinnerte ihn stark an den Dolch, mit dem der Mensch im Gemälde hinterhältig Maeven gemeuchelt hatte. In dem Moment als Atheris seinen Angriff starten wollte, hob das Wesen die Hand und in einer flüssigen Bewegung stieß es sich die Waffe bis zum Anschlag in eigene Herz. Mit einem zweiten, wilderen Brüllen, riss er die Klinge aus seiner Brust und das Blut ergoss sich über den Sarg. Nur einen Moment später, spürte Atheris, wie sein Medaillon wie verrückt an der Kette um seinen Hals anfing zu ziehen. Und für einen Moment dachte Atheris, dass sein Herz aufhören würde zu schlagen. Langsam hob sich der Sargdeckel und er sah eine riesige Pranke – viel größer und älter als die des Weißen. Das Maul war wie aus einem Albtraum entsprungen und die stechenden Augen, die ihn nun fixierten, waren die Augen der Hölle. Langsam erhob sich das Wesen, das einst Maeven gewesen sein mochte aus seinem Grab und baute sich zur vollen Größe auf. „A d’yaebl aép arse!“ entfuhr es Atheris mit einem stöhnen.

Gabhan wäre beinahe ein irres Lachen entfleucht, als er sah wie das riesige Wesen sich vor ihm aufbaute. Die Muskeln verwest und doch ganz offensichtlich funktionsfähig. Ihre Augen wild und voller Mordlust – und doch war dort etwas Anderes. Das Echo einer Königin. Eine Königin, die ihr Volk selbst noch im Tod beschützen wollte. Das da vor ihnen war keine Antherion mehr. Wenn Gabhan es hätte klassifizieren wollen – und das hatte er in diesem Moment nicht vor – dann war sie wohl eine Draug. Oder etwas Ähnliches. „Du bist wunderschön,“ flüsterte Gabhan fasziniert von dem Wesen, welches nun ganz aus dem Sarg stieg. „Eine Schande…“ das war es. Eine Schande. So viele Dinge waren verloren gegangen im Staub der Zeit und sie würden nun dafür sorgen, dass auch der letzte Rest verloren ging. Entweder das, oder man konnte sie selbst im Sand der Jahrhunderte begraben finden.

Gabhan ließ das Stahlschwert noch einmal durch die Luft sausen, genoss den Klang der Klinge, das Schlagen seines Herzens in der Brust. Er atmete tief ein und aus. Ein. Und aus. Dann hob er erneut den Blick, ließ ihn über Atheris schweifen, der seinen Anderthalbhänder fester griff und festigte seinen eigenen Stand. Atheris hatte einen guten Winkel. Eine gute Position. Langsam beugte sich Gabhan hinab, griff in seinen Stiefelschaft, umgriff das kühle Metall dort fester während er sich aufrichtete. Die Zeit verging so langsam. So unendlich langsam. Sein Blut pulsierte schmerzhaft in seinen Adern, während seine Nieren den Marsch der Verdammnis pfiffen, noch immer darum bemüht das Gift zu verarbeiten. Er drehte das Stück Metall, dann sirrte es los – traf Maeven mitten in die Schulter und die gewaltige Kriegerin wandte sich schnell wie ein Gedanke zu Gabhan um. „Ganz genau Hundsfott. Komm und hol mich!“ dann stürzte sich der Antherion auf den Bärenhexer.

Atheris spürte, wie das Adrenalin endgültig in seinen Adern zu kochen begann, er spürte wie Energie durch seinen Körper schoss. Systematisch suchten seine Augen nach Schwachstellen in dem Wesen, dass an Hässlichkeit kaum zu überbieten war. Es mochte einst eine Königin oder Kriegerin ihres Volkes gewesen sein, aber dies hier war nichts mehr von alle dem. Ein untotes Wesen, das durch eine makabreres Ritual aus dem Staub der Zeit zurückgeholt worden war, um den alten Glanz vergangener Zeiten wiederzubringen.

Aus seinen Augenwinkeln sah Atheris wie etwas in Gabhans Hand den Schein der Kerzen spiegelte und nur einen Augenblick später steckte das Messer in der Schulter des Monsters. Blitzschnell wendete sie ihre Aufmerksamkeit auf Gabhan – und Atheris rannte los. „Se’ege na tuvean!“ brüllte Atheris, sprang auf den Rand des steinernen Sarges, drückte sich mit aller Kraft empor, gewann an Höhe, zielte mit seinem Schwert auf das Genick des Wesens und lies die Klinge mit aller Kraft die ihm zur Verfügung stand niederfahren. Er spürte, wie der gewaltige Hieb durch verrottetes Fleisch und altes Gewebe schnitt und tief in den Nacken von Maeven eindrang – jedem anderen Antherion hätte dieser Treffer das Leben genommen, aber was tot ist, kann nicht sterben und so konnte Atheris nicht verhindern, dass sein Freund mit der vollen Wucht des riesigen Körpers angegriffen wurde.

Gabhan hätte Atheris gerne noch einen Idioten genannt. Hätte ihm gesagt, dass er ihm persönlich die Zunge rausschnitt, wenn er noch ein einziges Mal mit irgendeinem Kampfschrei angriff, der den Gegner auch noch warnte. Doch dazu kam es nicht mehr. Maeven riss ihn mit sich, pflügte durch dutzende von hölzernen Bänken und Gabhan spürte jede einzelne von ihnen unter sich bersten. Sein Kettenhemd und der hohe, gesteifte Kragen seines Lederharnischs verhinderten schlimmere Verletzungen an Wirbelsäule und Nacken, aber auf mehr konnte er auch nicht hoffen. Die Wand war es, die sie gemeinsam stoppte. Gabhan war froh um den harten Gegenstand im Rücken, der es ihm ermöglichte weiterhin aufrecht stehen zu bleiben.

Er sah auf. Auge in Auge mit Maeven, ihren gewaltigen Augen. Ihrem fauligen Atem. Gabhan schmeckte Blut in seinem Mund und grinste. Dann spuckte er Maeven das Blut mitten ins Gesicht. Maeven brüllte auf – als der Trank Würger sein Werk tat. Das Gesicht der Wolfskönigin warf Blasen und wie von Sinnen schlug sie um sich, gab Gabhan genug Zeit sich zur Seite zu Werfen und dem nächsten, tödlichen Angriff zu entgehen. Er kämpfte sich wieder auf die Beine. Schwäche. Irgendwo musste das Wesen eine Schwäche haben. Dann erkannte er die lange Wunde am Hals Maevens, die durch all die Jahrhunderte ledern geworden war. Erkannte den Leichnam des großen Weißen Antherion und den Dolch dort. Natürlich. „Atheris! Der Dolch!“ brüllte er, in der Hoffnung, dass der Andere verstand.

Atheris war den beiden Kombattanten durch die Reihen der Bänke gefolgt und als Maeven den Bärenhexer an die Wand nagelte, packte er das Biest von hinten in die Mähne, und schaffte es im letzten Moment ihren Kopf nach hinten zu reißen, so dass ihre scharfen Fänge Gabhan nicht zerfleischen konnten. Atheris sah nicht, was sein Zunftbruder tat, aber er hatte offensichtlich Erfolg gehabt, denn mit einem Aufschrei löste Maeven ihren Griff und schlug wild um sich. Dem ersten Prankenhieb, der wild durch die Luft wirbelte, konnte er noch mit einem Sprung nach hinten ausweichen. Den zweiten Schlag konnte er nur noch mit einem Quen-Zeichen blocken, in das Atheris aber nicht mehr genug Energie fließen lassen konnte und es damit zwar die Kraft des Schlages milderte, der Schild aber implodierte und ihn weit durch die Luft fliegen lies. Unsanft landete er zwischen den zerstörten Bänken. Für einen kurzen Moment musste er nach Luft schnappen und konnte die aufsteigende Gallenflüssigkeit gerade noch so unterdrücken. Er hörte über das Gebrüll von Maeven hinweg die Stimme Gabhan’s, er hatte ihm etwas zugerufen, aber was? Er folgte dem Blick des Bärenhexers zu den sterblichen Überresten des weißen Antherion – und dann wurde ihm klar, was sein Zunftbruder meinte, „natürlich … der Dolch!“ erkannte Atheris. Fluch ist Fluch und wie er von seinem Meister Valerian gelernt hatte, konnten die meisten Flüche durch Artefakte, die den Fluch ausgelöst hatten auch wieder beendet werden. Atheris kämpfte sich zurück auf die Beine, er war deutlich näher am Sarg und so begann er seinen Sprint.

„Sheyss!“ entfuhr es Atheris, als er sah, wie Maeven von Gabhan ab lies und auf allen vieren sich ihm rasch näherte und aus dem kurzen Sprint ein Rennen auf Leben und Tod wurde. Er würde es nicht rechtzeitig schaffen, wurde ihm wenige Momente später klar, das Biest war verdammt schnell und würde ihn in wenigen Sprüngen eingeholt haben. Er sprang und streckte dabei seinen linken Arm nach vorne und … dann geschah alles ganz schnell. Bevor er den Dolch berühren konnte, schlossen sich Maeven’s Klauen um Atheris Hüfte und rissen ihn brutal aus seiner Flugbahn. Seinem so nahen Ziel beraubt verzweifelte der Greifenhexer für einen Moment und sah dann nicht weit entfernt Gabhan auf sie zu rennen. In einem letzten Geistesblitz formte er mit den Fingern das Zeichen Aard und entfachte eine unkontrollierte Druckwelle in Richtung des Dolches, der da frei vor ihm auf dem Boden lag. Das letzte was Atheris sah, war wie der Dolch zu Gabhan rutschte, dann wich seine freie Sicht und es umfing ihn eine stinkende Mischung aus Fellresten, Hautfetzten, scharfen Klauen und Reißzähnen … und unmenschlicher Schmerz!

Gabhan unterdrückte ein Fluchen. Wenn der verdammte Nilfgaarder nicht immer wieder durch lautes Brüllen auf sich aufmerksam gemacht hätte… aber es brachte ihn kein Stück weiter sich nun aufzuregen. Nicht einmal ein bisschen – und normalerweise regte Gabhan sich gerne auf. Als das Aard in seine Richtung geschossen wurde schloss er die Augen, hob die Hände und wehrte die kleinen Steinchen ab, die ihm wie Geschosse entgegenflogen und an Kettenhemd, Leder und Platte abprallten. Dann flog der Dolch nach und Gabhan versuchte ihn irgendwie aus der Luft zu schnappen, streckte die Hand aus – und knirschte mit den Zähnen, als es ihm gelang den Dolch tatsächlich im vollen Flug abzufangen. Er schnappte nach Luft und besah sich den Dolch in seiner Hand, der sich blutig durch seinen Handschuh geschnitten hatte. Blut troff von seinem Handschuh. Die verdammte Klinge war scharf wie ein Rasiermesser gewesen. Ein Bluttropfen fiel tief, tief hinab und platschte Geräuschvoll auf den Steinboden. In dem Moment drehte sich Maeven um, die Lefzen rot. „Ach komm schon…“ knurrte Gabhan.

Maeven hatte Atheris fest in ihren Pranken umschloss und die Krallen Kratzten über Stahl, zerfetzten Leder und Rüstwams und bohrten sich tief in das Fleisch des Hexers. Das Biest wollte seine scharfen Fänge in seinen Hals schlagen, aber er schaffte es zumindest soweit auszuweichen, dass das hässliche Viech nur seinen Schulterpanzer erwischte. Mit einem übelklingenden Kratzen rutschte das Maul ab. Atheris nutzte den Bruchteil eines Wimpernschlags und brachte seine Silberklinge zwischen sich und die Fänge, so dass er die scharfen Zähne hindern konnte, ihn erneut zu beißen. Mit aller Kraft drückte er gegen die Klinge und Blut begann aus den Lefzen zu fließen – konnte das Wesen überhaupt bluten? Immer wieder, wenn der Druck auf das Schwert für einen Moment nachließ, nutzte Atheris die Gelegenheit mit der linken Faust dem Vieh aufs Auge zu hauen – immer wieder und immer wieder, der Moment schien sich endlos hinzuziehen – und dann ließ Maeven abrupt von ihm ab.

Gabhan sah das riesige Wesen auf ihn zu brechen. In diesen wenigen Sekunden, jene Momente zwischen Mann und Monster entschied sich nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal das Schicksal des Hexers. Gabhan nahm einen letzten, tiefen Atemzug – vollkommen im Klaren, dass dies womöglich sein letzter sein mochte. Maeven – die große Kriegerin eines Volkes großer Krieger, deren Erben und Nachkommen um sie herum als stumme Zeugen lagen war keine zwei Meter mehr von ihm entfernt. Gabhan sah die offengelegten Muskeln unter dem vergilbten Fell arbeiten, sah wie sie sich anspannten, zum Sprung ansetzten. Und er duckte sich, wirkte das Zeichen Yrden auf den Boden und ein bläuliches Leuchten umgab ihn, Maeven segelte bereits auf ihn zu, wirkte dabei jedoch verlangsamt, als gleite sie durch zähflüssigen Pudding. Gabhan stieß mit der freien Hand den Dolch nach oben und traf Maeven am Hals. Die Wucht des Schlages riss ihm den Dolch aus den Fingern, ein Hinterlauf der einstigen Königin traf Gabhan, schleuderte ihn zur Seite und löste Yrden auf. Der Antherion krachte hinter ihnen in eine Reihe Bänke und Gabhan erhob sich, zuerst auf allen Vieren und schließlich wieder auf beide Beine, klaubte sein Schwert vom Boden und hob es erneut an, einen kurzen Blick zu Antherion werfend und jederzeit erwartend, dass Maeven doch wieder aufstand.

Atheris rappelte sich wieder auf, wobei der Schmerz seinen ganzen Körper durchfuhr. Er sah gerade noch, wie Gabhan das Yrden Zeichen wirkte und dann mit dem Dolch die Bestie erstach und weggeschleudert wurde. Er suchte nach seiner eigenen Silberklinge und fand sie einige Meter von sich entfernt am Boden liegend. Er schleppte sich zum Schwert, beugte sich hinunter, wobei ihn erneut schmerzen durchfuhren. Als er sich wieder zu Maeven wandte, sah er wie sein Zunftbruder mit gezogenen Schwert über dem Körper der Bestie stand. Schwer atmend trat ging er hinüber und baute sich neben Gabhan auf und betrachtete den leblosen Körper. Wobei, was hieß leblos … hatte er überhaupt gelebt? „Ist es vorbei, Gabhan?“ gab er erschöpft von sich.

Gabhan wartete noch einige Augenblicke ab, musterte den Körper der Königin, die sich jedoch nicht mehr rührte. „Es ist seit Jahren vorbei,“ erwiderte Gabhan nur kopfschüttelnd und trat zu dem Leichnam der Antherion, wuchtete sie um und betrachtete den Leichnam. Ein weiteres Leben. Eine weitere Existenz. So stand er da, eine ganze Weile. Sein Blick wanderte über die toten Antherion, die im gesamten Tempel verstreut lagen, die Extremitäten in einer Art und Weise verdreht, wie sie niemand verdrehen sollte. Das Leben aus ihren Augen gewichen. Er sah an sich selbst herunter. Er war schmutzig, staub hatte sich in sämtlichen Poren von Kleidung und Haut festgesetzt, schweres, beinahe dunkles Blut triefte aus tiefen Wunden und tropfte mit lautem Zischen auf den Boden, wo es sich brutzelnd in den Stein fraß. Gabhan ignorierte die Nebenwirkungen von Würger, ignorierte den Schmerz und die Müdigkeit. Er hatte kein Recht darauf.

„Hilf mir,“ er packte Maeven an den Füßen und zog die Königin langsam aber sicher in Richtung ihres Sarges. Er trat zum Sarg, sah hinein in das Grab, das ihr ewiges hatte sein sollen und schnaubte. Beugte sich hinab. Zog fünf Runensteine mit glänzend-leuchtenden Zauberzeichen und betrachtete sie einen Augenblick. „Jetzt ist sie schon ein zweites Mal aufgrund dieser kleinen Dinger gestorben,“ murmelte er leise und hielt einen kurzen Augenblick inne. Dann, erst dann, ließ er die Steine in seine Tasche gleiten. Es änderte nichts mehr, redete er sich selbst ein. Es machte keinen Unterschied mehr, ob er sie nun mitnahm oder hierließ. Ihm würden sie mehr nutzen als der toten Königin. Hier gab es nichts mehr zu holen. Weder für ihn, noch für die Anhänger einer Königin, die genauso tot war wie ihr Volk. „Wir sollten die Leichen aufreihen,“ die Worte kamen nur langsam, zögerlich und vor allen Dingen schwerfällig aus ihm hervor. „Maeven in den Sarg und ihre Anhänger vor dem Sarg in einer Reihe aufgereiht. Als ihre Totenwache. Das ist das Einzige, was wir noch für sie tun können…“ woher dieser Gedanke kam wusste Gabhan nicht, aber er hatte etwas Tröstliches an sich und es erinnerte ihn an die eigenen Begräbnisriten seiner Heimat. „Sie sollte nicht alleine hier liegen, im Dunkeln und vergessen von der Welt…“

Gabhan spürte Atheris Blick auf sich ruhen, der von Zweifeln sprach. Der Bärenhexer ignorierte die Blicke und begann selbst mit der Arbeit und da Atheris am Ende des Tages sehen musste, wie viel Mühe sein Zunftbruder hatte, so half er ihm doch mit seinem anachronistischen Vorhaben. Gabhan wusste, dass Atheris nicht verstehen konnte. Wie auch? Der andere blickte immer nur nach vorne – sein Optimismus und der Glaube an eine gerechte Welt war nur so zu erklären. Niemand, der auch nur einen Blick zurück warf in die Geschichte aller Völker konnte der Meinung sein, dass einfach alles gut wurde. Und da Atheris nicht zurückblickte hatte er keine Möglichkeit das zu sehen, was Gabhan sah: Die Schönheit eines Ortes, der längst vergangen war. Den Mut einer Königin, die für ihr Volk den Tod selbst überlistete, dessen dunkle Majestät über jedem schwebte und der nun, dank ihrer Taten erneut Einzug gehalten hatte in diese Hallen. Gabhan machte sich nichts vor, während er den schweren Leib der Kriegerin in ihren Sarg wuchtete. Der Tod dieser Antherion war unvermeidlich gewesen. Ihr Todesurteil in jenem Moment unterzeichnet, da sie sich entschlossen hatten aus den Schatten zu treten, die sie beschützt hatten. Sie wären wie ein Sommergewitter unter die Menschen gefahren. Heftig, und kurz. Sie wären vorbeigezogen, hätten Verwüstung angerichtet, aber letztendlich hätten sie die Menschen damit nicht aufgehalten. Es wäre nur noch mehr Blut vergossen worden. Das Blut unschuldiger Menschen, die genauso wenig mit diesem Konflikt zu tun hatten wie die Antherion, die sich für uraltes Unrecht rächen wollten. Und es wären Hexer gerufen worden. Am Ende hätte seine Klinge sie getötet. Es war ihre Entscheidung zu den Monstern zu werden, für die die Menschen sie hielten. Es war seine Entscheidung sie aufzuhalten ehe sie es tun konnten. Es war ihre Bestimmung gewesen zu sterben. Es war seine Bestimmung sie zu töten. Und dennoch – Gabhan wusste, oder ahnte zumindest, welches Erbe sie hier vernichtet hatten. Atheris schien dies bedeutend weniger zu kümmern, wenn er überhaupt darüber nachdachte. Gabhan konnte es ihm nicht verübeln, auch wenn er es nicht nachvollziehen konnte. Gerade, weil der andere so deutlich gefühlsduseliger war als er selbst…

Gabhan wischte sich die letzten Reste jener Flüssigkeit, die der Kampf gefordert und produziert hatte an seinem Gambeson ab und ließ noch einmal seinen Blick über die Toten und Gefallenen gleiten, ehe er langsam nickte. „Es ist Zeit zu gehen.“

Gegenwart – Zeit der Versöhnung

Der Rückweg gestaltete sich alles andere als einfach. Mit den zum Teil schweren Verletzungen, die sich die beiden Hexer im Kampf zugezogen hatten, war es eine Tortur das Seil zur Öffnung im Gewölbe hochzuklettern, aber letztendlich schafften sie es und traten mit den erbeuteten Runen den Weg zurück zum Dorf an. Die Bewohner verdienten es, die Wahrheit über die Ereignisse zu erfahren, da waren sich Gabhan und Atheris einig. Atheris merkte, wie Gabhans Stimmung seit dem sie Maeven besiegt hatten ziemlich bedrückt war. Ja, er war sich darüber bewusst, dass sein Zunftbruder viele Dinge anders sah als er selbst. Für Atheris war die Königin schon vor Jahrhunderten gestorben und dass was sie in der Gruft erlegt hatten eine Abnormalität, eine Perversität, die der Schöpfung ins Gesicht lachte.

Als sie endlich den befestigten Weg erreichten, saß Atheris auf den schwarzen Hengst auf und ließen sich von dem treuen Tier zurück zum Dorf tragen. „Was machen wir jetzt mit den Runen? Kennst du einen Schmied in der Nähe, der sie verarbeiten kann?“ fragte Atheris seinen Zunftbruder.

Gabhan, der bislang schweigend neben Atheris hergetrottet und in seinen eigenen Gedanken versunken war blickte schließlich auf und wandte sich zu Atheris. „Runen sind eine verteufelt schwierige Angelegenheit. Viele Schmiede können sie auf ein Schwert draufdängeln als gäbe es kein Morgen – aber die, die wir hier gefunden haben? Sie sind alt, lassen sich nur schwer verarbeiten und sind sehr machtvoll. Ich habe da jemanden zur Hand, aber sie ist weit fort und kostet mich eine gute Stange Geld. Geld, das ich nicht habe. Noch nicht…“ er schluckte, dachte nach.

„Ich habe in letzter Zeit mehrere Aushänge gesehen,“ überlegte er schließlich laut. „Und da du hier bist um noch etwas Erfahrung in Hexerarbeit zu bekommen – und ich das Geld gut gebrauchen kann, könnten wir uns an gutes, altes Hexerwerk halten“ befand er. Denn wenngleich sie dort unten auch ein Monster erschlagen hatten – das war alles weit entfernt von einem guten Job gewesen. Sie hatten keine Vorbereitung gehabt, keine Nachforschungen, keine speziellen Tränke. „Das eine ist relativ in der Nähe – irgendein nilfgaardischer Adliger hat wohl ein Fluchproblem. Das andere weiter im Norden. In Temerien, oder das was davon übrig ist – dort verschwinden Menschen im Wald.“

Atheris überlegte einen Moment – Temerien war seit fünf Jahren ein Teil des Kaiserreichs Nilfgaard … auch wenn es viele nicht wahrhaben wollten und dem alten König Foltest nachtrauerten. Gabhan interessierte Politik nicht und Atheris wollte auch nicht mit ihm darüber diskutieren … Zeiten ändern sich nun mal und es war an ihnen, die im hier und jetzt lebten, das Beste daraus zu machen. „Ich finde es hört sich beides gut an! Ich bin dabei“ antwortete er und lächelte dabei – er freute sich auf einen Besuch in der Heimat. „Der Auftrag mit dem Adligen, ist das zufällig in Toussaint?“ fragte er den Bärenhexer.

Gabhan blinzelte. „Nein,“ erwiderte er leise. Es gab da durchaus einen nilfgaardischen Adligen in Toussaint mit einem Fluchproblem soweit Gabhan wusste, aber dieser Auftrag wäre weit schwieriger an Land zu ziehen. Er konnte bereits Atheris Enttäuschung in den Augen aufblitzen sehen. „Er ist hier in Cintra. Wie gesagt, in der Nähe…“ diese Enttäuschung in den Augen. Gabhan knirschte mit den Zähnen. „Aber wir können vielleicht… wenn wir, dass alles erledigt haben möglicherweise… nach Probleme in Toussaint sehen.“

Es war nur ein kurzer Moment der Enttäuschung, aber er war nun mal nicht zum Vergnügen hier. „Also abgemacht, die zwei Aufträge und dann nach Süden…nach Toussaint. Du wirst es im goldenen Herbst lieben, Gabhan!“

Sie erreichten das Dorf kurz bevor die Sonne den Horizont berührte. Als die Dorfbewohner die Rückkehr der beiden Hexer bemerkten, bildete sich ein Tross, der den beiden zum Zentrum folgten, dort wo der Gasthof lag. Sie schritten durch das Tor, über dem das Schild mit dem Hund sich im Wind wiegte. Der Dorfälteste, Katharina und viele mehr erwarteten sie. Als sich alle um die beiden Zunftbrüder versammelt hatten, trat der Alte vor. „Wie ich sehe, seid ihr noch am Leben … wenn gleich sehr mitgenommen. Erzählt, wie ist es euch ergangen?“

„Kann’s kaum erwarten,“ knurrte Gabhan auf Atheris Lobpreisungen des goldenen Herbstes. Die Sommer seien ihm wohl zu warm, doch der Herbst könnte womöglich sogar sein Herz berühren – das hatte Grazyna von Strept gesagt. Gabhan wusste, dass die Zauberin in Toussaint ihn erwarten würde, selbst wenn er keine Kunde seiner Ankunft verlauten ließ. Doch das Wiedersehen zögerte er nur allzu gerne heraus. Besonders in Anbetracht der Tatsache, dass sie ihn hier in Cintra beinahe in sein Verderben hatte laufen lassen.

Als sie schließlich das Gasthaus betreten und zwei Krüge – einer mit Wein, den anderen mit Quellwasser, vor sich hatten begann Gabhan zu erzählen. Die Bewohner des Dorfes verdienten die Wahrheit. Verdienten es zu erfahren was geschehen war und was nunmehr geschehen würde – oder auch nicht, denn mit dem Tod der jungen Antherion, der Vernichtung Maevens und der Zerstörung von aufkeimender Rebellion war dieses Kapitel in ihrer Geschichte nunmehr beendet. „Wir waren im alten Grab eurer Urahnin,“ seine Stimme war rau; heiser vom Schreien und dem Staub in der Ruine und selbst das Wasser konnte nur wenig dazu beitragen dieses Gefühl zu vertreiben. „Wir haben sie gesehen, die Wandfresken und Bilder. Haben gesehen wie die Menschheit Verrat an eurer einstigen Königin geübt haben. Haben gesehen, welches Sinnbild eure Jugend verehrte und haben gesehen welches Zerrbild dessen aus ihrem Sarg entstieg. Ich sehe keine Verwunderung in euren Augen. Keine Zweifel. Das dachte ich mir. Und es sagt viel aus. Sehr viel. Über euch und über euer Wissen bezüglich all dessen was geschehen ist. Ihr wusstet was dort lauert. Wusstet was es auszurichten vermag. Und ihr wusstet, welche Bedeutung sie haben konnte. Was geschehen würde, wenn sie wegen etwas Anderem erweckt werden würde als wegen uns. Das Alter hat euch Weise gemacht Dorfvorsteher. Und milde. Auch ich bin alt. Aber weniger milde. Ihr habt uns benutzt. Das weiß ich nun und es war euer Recht, denn wir hatten eine Schuld bei euch. Eine Schuld, die nun abgetragen ist. Maeven ist tot. Endgültig. Niedergestreckt von dem Dolch aus den Legenden. Sie, ihre Anhänger und ihr Sinnbild ruhen nun für immer verborgen unter der Erde, zugedeckt vom Staub der Zeit. Das war es doch, was ihr wolltet nicht wahr? Nun. Ihr habt es bekommen. Es tut mir leid. Tut mir leid um jeden Sohn. Jede Tochter. Ich hoffe, dass alles war es wert. Hoffe es für euch. Und für mich.“

Atheris genoss den Geschmack des Weines. Er war müde und seine Wunden bereiteten ihm Schmerzen. Er lauschte Gabhans Ausführungen und beobachtete die Gesichter der Antherion, die passender Weise ihre menschliche Gestalt angenommen hatten. Gabhan erzähle die Geschichte etwas theatralisch, aber so war er nun mal. Ins Bett … er wollte nur Schlafen und der Schwalbe, die er eingenommen hatte die Zeit geben sie Wunden zu heilen.

Die Sonne war untergegangen und ein sommerlicher Herbstregen prasselte aufs Dach des Gasthauses. Die beiden Hexer waren gerade dabei, die letzten Fragen der Dorfbewohner zu beantworten, als die Tür aus den Angeln gerissen wurde und mit einem lauten Poltern auf den Boden flog. Atheris reagierte sofort und zog die Silberklinge, die neben ihm am Tisch lehnte, aus der Scheide. Gabhan trat ebenfalls mit gezogener klinge neben ihm. Das furchtbare Schreien verriet ihnen, wer da die Versammlung störte. Es roch nach nassen, alten Fell … und als sich der gewaltige Körper Maevens durch die Tür schob, wahr Atheris bereit für den nächsten Tanz auf Leben und Tod.

Gabhan wirbelte herum, zog das Schwert und stieß im selben Atemzug mit seinem Fuß den großen Tisch um, so dass dieser krachend auf dem Boden aufschlug. Als er erkannte, was sie da heimsuchte setzte sein Herz für einen kurzen Schlag aus. Jedweder Gedanke, dass das was er sah nicht sein konnte, weil sie den Fluch gebrochen hatten verbannte er sofort aus seinem Geist – dies waren Fragen, denen er sich zu einem späteren Zeitpunkt stellen konnte. Hier und jetzt ging es um handfesteres. Sein Bein schmerzte, während er es so setzte, dass er eine gute Position einnahm. Seine Augen weiteten sich und nahmen blitzschnell die Umgebung auf. Die Bänke, die Tische, die anderen Antherion. Niemand schrie. Der Regen peitschte, vom Wind getrieben, durch die offene Tür in den Gastraum. Niemand bewegte sich. Niemand schrie. Gabhan formte bereits das Zeichen Quen, Maeven spannte bereits die Muskeln an. Jemand bewegte sich. Niemand schrie. Jemand sprach.

Der Dorfälteste hatte sich nach vorne geschoben. Hatte sich aus der Masse gelöst und vor Maeven gestellt. „Go leor, seanmháthair“, Gabhan blinzelte – erwartete geradezu, dass der Alte vor ihm in Stücke gerissen wurde. Doch Maeven hielt inne, sprang nicht, sondern machte einen Schritt nach vorne, die Nüster aufgerissen, den Geruch des anderen einziehend. „Ní naimhde iad na strainséirí seo. Tá a cogadh thart. Tá suaimhneas ann. Ba streachailt fhada é agus fuair a lán daoine bás. Ach tá cónaí orainn. Ná cuir é seo i gcontúirt“ Gabhan verstand nur Bruchteile von dem, was der Alte dort sprach. Er war nicht sehr bewandert in der Alten Sprache und in diesem Dialekt noch viel weniger. Er war rau und kehlig, mehr ein Bellen als ein Sprechen. Gabhans Blick wanderte nur für eine Sekunde zu Atheris, sie beide standen dort, Rücken an Rücken, die Klingen erhoben. Der Alte wandte sich zu ihnen um. „Ísligh lanna Vatt’ghern. Doirteadh go leor fola inniu!“ das verstand Gabhan und auch Atheris schien zu verstehen, denn sie beide senkten unisono die Schwerter. Langsam trat der Alte zu Maeven. Langsam glitten die Schwerter in die Scheiden. Langsam legte er seine Stirn an die der einstigen Königin. Langsam schloss er die Augen. „Maeven, iníon le Morainn. Níos láidre i measc na mban. Comhlíontar do ghealltanas. Do mhuintir slán. Ná caith fuil ar do shon chaillfidh tú ár gcuid féin freisin. Ná tabhair bás, óir is tusa a bheidh a locht go páirteach as ár gcuid féin. Tá am Na Sean caite. Tá tús curtha le ham den nua. Codladh Maeven, iníon le Morainn. Codail agus faigh do shíocháin“ die Worte, die er intonierte waren Alt. Gabhan konnte es schmecken. Was immer er da sagte, es klang in seinem Singsang nach einer alten Beschwörungsformel, auch wenn es keine Magie war die hier wirkte. Momente kamen ihm wie Stunden vor und dann, ganz langsam, zog sich Maeven zurück.

Atheris hörte sich die Worte an, die der Alte sprach. Es war ein Dialekt, den er nicht sonderlich gut verstand, aber seine Heimatsprach war eng angelehnt an die Alte Sprache und so verstand er das, was er verstehen musste. Im Grunde sowas wie, „Es reicht Großmutter, es wurde genug Blut vergossen“…“Nehmt die Waffen runter, Hexer“ und am Ende: „Maeven, Tochter von Morainn. Stärkste unter den Frauen. Dein Gelübde ist erfüllt. Dein Volk in Sicherheit. Vergieße kein Blut, denn du wirst unseres ebenfalls vergießen. Bringe keinen Tod, denn du wirst unseren mit verschulden. Die Zeit des Alten ist vorbei. Eine Zeit des Neuen hat begonnen. Schlaf Maeven, Tochter von Morainn. Schlaf und finde deine Ruhe.“

Atheris atmete hörbar aus, als sich die untote Königin der Antherion abwand und wortlos verschwand. Aus dem Fenster des Gasthauses verfolgte er, wie das mächtige Wesen durch das Tor schritt und dabei das quietschende Gasthausschild mit dem Hund drauf berührte. Es wackelte noch einmal, dann riss die alte Kette und es stürzte zu Boden in den Dreck. „Wahrlich … die Zeit des Alten ist vorbei … eine neue Zeit bricht heran!“ flüsterte er während das Wesen in der Dunkelheit verschwand um sich für die Ewigkeit in ihrem Grab zu betten. „War es das jetzt, Gabhan … ist der Fluch gelöst, weil diejenigen die er schützen sollte, den Schutz nicht bedürfen, sie eher sogar gefährdet?“. Er blickte neben sich, auf den kleineren Hexer. Dieser stand da, er wirkte wehmütig … vermutlich, weil er sich selber wie ein Relikt aus alten Zeiten ansah.

Gabhan blinzelte zu Atheris hinauf und schnaubte. Er hatte wenig Lust darauf für den Jüngeren den Erklärbär zu spielen, ihm tat alles weh, sein Herz schlug noch immer schmerzhaft in seiner Brust und er war verdammt müde. Doch er hatte es versprochen und Atheris hatte eine Erklärung verdient.

„Ich weiß es nicht Atheris,“ flüsterte er leise, während sich die Antherion draußen versammelten und ihrer Königin und Vergangenheit nachsahen, wie sie das Dorf für immer verließ. „Es gibt keine Anleitung für Flüche oder dergleichen. Aber ja… ja ich glaube, dass dieser Fluch ein selbstauferlegter war. Verteufelt selten. Verteufelt schwierig zu lösen. Das was hier geschehen ist, war nicht unser Werk. Es war Glück“ Glück war es durchaus – wenn auch nur für sie, denn die Antherion – da war sich Gabhan sicher, hatten kein Glück. Aber es war nicht mehr zu ändern. Dieser Tod auf Raten war längst in Gang gesetzt. Unaufhaltsam. „Maeven war eine Königin, die nur das Beste für ihr Volk wollte. Die sie beschützt hat, sogar über den Tod hinaus. Dieser Schutz wird niemals aufhören Atheris. Sie wird sich wieder schlafen legen, ja. Vielleicht ist der Fluch wirklich gelöst und sie steht deshalb nie wieder auf. Oder ihr Volk verlangt von ihr, dass sie nicht mehr eingreift, stirbt aus und sie bleibt deswegen auf ewig liegen. Vielleicht erhebt sie sich in eintausend Jahren wieder, wenn der letzte dieses Volkes am Siechtum stirbt. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass der Fortschritt unaufhaltsam ist. Dass das was war nicht mehr zurückkehrt, ganz gleich wie sehr wir es uns wünschen. Die Vergangenheit ist vergangen. Womöglich ist es besser so. Wer sind wir das zu entscheiden Atheris? Wer sind wir schon?“

Epilog – Die Rache des Waldes

Der Weg war schlammig, machte das voranschreiten des Pferdes hinderlich. Der Mann auf dem Rücken des Pferdes zog seinen Umhang fester und hoffte, dass der Loden den hier anbrausenden Sturm möglichst von ihm und seiner wertvollen Ware abhalten mochte. Der Reiter rutschte ein wenig auf dem Pferd hin und her um eine angenehmere Position zu finden. Ein Unterfangen, dass nach den Stunden im Sattel ebenso bemüht wie zwecklos war.

Es war ungewöhnlich dunkel für diese Tageszeit befand der Reiter nach einem Blick in den von dunklen Wolken gänzlich verschluckten Himmel, aus dem es mehr Wasser goss als in Wyzima an einem guten Waschtag aus den Fenstern geschüttet wurde. Der Mann auf dem Rücken des Pferdes hieß Godwin Birnbaum. Sein Name stand in weißen Lettern aufgestickt auf seiner Brust, direkt über einem darunter stehenden Stickwerk, dessen Buchstaben das Wort ‚Vattweir Botendienste‘ bildete. Godwin hasste diese Aufschrift auf seiner Brust, denn wenngleich auch Menschen dazu neigten sich nichts merken zu können – den Namen eines Dienstleisters, der sie nicht zufrieden stellte, den merkte sich jeder. Und Menschen die auf Post warteten waren selten zufrieden. Sie ignorierten den Fakt, dass die Straßen mit all ihren Passierwegen, Schlagbäumen und Zöllen nicht mehr so einfach zu bereisen waren wie dereinst unter König Foltest Zeiten. Ja, damals unter Foltest war das Leben noch einfacher gewesen. Damals hatte er als königlicher Bote gedient, hatte Befehle des Königs ausgeliefert, an jeder Herberge ein frisches Pferd verlangen können und war stolz auf seinen Beruf gewesen. Heute gab es keinen Foltest mehr. Keine königlichen Boten, keine Befehle die er ausliefern konnte. Statt einem frischen Pferd an jeder Herberge durfte er nur an genau bestimmten Wegposten sein Pferd wechseln. Wegposten, die als Außenstellen zu den ‚Vattweir Botendiensten‘ gehörten. Es gab genau zwei davon in ganz Temerien.

Aber die Zeiten änderten sich. Einst war er ein königlicher Bote gewesen. Aber einst war sein Weib auch schön, die Kinder brav und seine Manneskraft unvorstellbar gewesen. Die Welt änderte sich. Er wurde alt, sein Weib runzelig und seine Kinder Tyrannen, die ihm auf der Tasche lagen. Also musste er weiterarbeiten und da er nie etwas Anderes gelernt hatte, war er zu den ‚Vattweir Botendiensten‘ gegangen. Aber die Zeiten änderten sich nunmal. Und das Gehalt. Meistens zum schlechteren.

Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken, die sich in behäbiger Regelmäßigkeit um den Körper seines Weibers vor mehr als dreißig Jahren oder die Körper anderer Weiber, die heute keine dreißig waren, drehte. Er blickte sich in dem kleinen Waldstück um, welches sie nun erreicht hatten. Sein Pferd und er. An den Rändern des Weges lagen hohe Baumstämme, gefällt und aufeinandergeschichtet, weitere Bäume am Rande waren mit weißer Farbe markiert. Der Regen hatte zugenommen, zog lange Flüsse aus braunem Schlamm durch die Rillen am Wegesrand. Ein Rascheln war zu hören. Godwin sah in die Richtung des Raschelns, doch nichts zeigte sich. Godwin hätte schon geglaubt, dass er sich getäuscht hatte, dass er von der Reise müde und erschöpft war. Erneut wollte er das Pferd antreiben, doch der alte Gaul bewegte sich nicht. „Komm schon du verdammtes…“ er trieb die Fersen in die Flanken, doch das Tier scheute nur auf, warf Godwin von sich, der mit einem krachen auf dem Boden aufschlug und schrie, als er sah was der Sturz mit seinem Bein angerichtet hatte. Er schrie, als er sah was sich ihm nährte. Schrie, als die Wurzeln ihn packten, schrie als sich die Raben auf ihn stürzten. Er schrie nicht mehr als die Wölfe kamen. Konnte nicht mehr schreien.