Verfluchte Küste

Verfluchte Küste

Küste vor Cidaris Frühling 1281

Nach dem langen Winter, den ich in Toussaint bei meiner Familie verbracht hatte, war ich mit einem Schiff ‚der feuchten Berta‘ in die Leuenmark aufgebrochen um mich mit Großmeister Valerian und den anderen Greifen in unserer Notunterkunft zu treffen.

Der Aufenthalt in der Fischzuchtanlage von Alastriona, die der Greifenschule Obdach über den Winter gewährt hatte, währte nur wenige Tage, wofür ich echt dankbar war zu dem Zeitpunkt. Der Allgegenwärtige Gestank von Fisch ist nichts für die feine Hexernase und ich kann mich nur glücklich schätzen, dass ich im Vergleich zu den anderen nicht den ganzen Winter hier ausharren musste. Valerian hatte auf mein Eintreffen gewartet, damit wir uns gemeinsam auf die Suche nach einer neuen Bleibe für unsere Schule begeben konnten. Zudem sprach Valerian von einigen Hinweisen, denen er bei der Gelegenheit nachgehen wollte.

Unser erstes Ziel auf dem Festland sollte die alte Handelsstadt Novigrad sein. In Abwesenheit unseres eigenen Schiffes – der Funkenflug – hatten wir Glück, dass die ‚feuchte Berta‘ noch im Hafen lag. Nach einem kurzen Verhandlungsgespräch mit dem Kapitän, erklärte er sich bereit uns überzusetzten.

Ich werde nie ein Freund von Seereisen werden, auch wenn das Meer eine beruhigende Wirkung haben mag, so wird der Alltag an Bord eines Schiffes schnell eintönig, zudem war die Unterkunft mehr schlecht als Recht und der Proviant…war nicht der Rede wert. Umso beachtlicher war der Smutje des Schiffes, der aus dem Zeug tatsächlich etwas Genießbares zaubern konnte. Die ‚feuchte Berta‘ machte ihrem Namen auch alle Ehre. Die Feuchtigkeit in dem Schiff war allgegenwärtig und zuweilen fühlte es sich mehr nach einer Tropfsteinhöhle denn nach einem Schiff an. Permanent war ein Teil der Seeleute am Leck flicken.

Die Eintönigkeit nahm ein jähes Ende, als ein furchtbarer Sturm aufzog und sich die glatte See zu einem zerklüfteten Gebirge erhob. Am Anfang trotze die ‚feuchte Berta‘ noch den Naturgewalten… aber was dann geschah, daran kann ich mich nicht erinnern. Den Ausführungen Valerians nach, hatte ich im Sturm einen Mast gegen den Kopf bekommen und so das Bewusstsein verloren.

Nach Stunden der Bewusstlosigkeit und einer bösen – schlecht behandelten – Platzwunde an der Stirn, kam ich in einer kleinen Hütte … in einem kleinen unbedeutenden Ort wieder zu mir. Neben Großmeister Valerian waren lediglich noch der Löwenhexer Vladim, die Elfenmagierin Nella, Jiri einer der Seemänner der ‚feuchten Berta‘ und ein mir unbekannter Melitele-Prieser namens Benedarius, anwesend…über das Schicksaal der restlichen Mannschaft konnte keiner genaueres Berichten, nur dass das Schiff gesunken war.

Valerian erzählte mir in seiner kurzen und knappen Art, was ich verpasst hatte und machte mir klar, dass wir vom Regen in die Traufe gekommen waren. Im Dorf herrschte einer dicker, unnatürlicher Nebel, durch den kaum das Sonnenlicht brach und die Dorfbewohner betrieben eine Art Kult, der eigene oder fremde Körperteile einem Leshen opferten und dabei sogar öffentlich Strichlisten führten, wer wieviel geopfert hatte…einfach absurd. Das Ganze erinnerte mich an die Vorkommnisse im letzten Spätsommer, als ich zusammen mit dem Bärenhexer Gabhan unterwegs gewesen war und wir in einem abgelegenen Dorf auf einen Waldschrat getroffen waren, der seinen Wald gerne mit Dorfbewohnern düngte.

Nachdem ich über meine Erfahrungen berichtet hatte, machte sich Vladim fachmännisch daran, die Fenster und Türen mit Holz zu verbarrikadieren, während Valerian, Heskor und ich uns auf die Suche nach den Zutaten für ein wirksames Relikt-Öl machten. Es war auch nicht sonderlich schwer in dem kleinen Dorf den örtlichen Schlachter ausfindig zu machen, dafür aber umso schwerer dem massiven Mann das benötigte Fett abzuringen, da unsere Geldreserven mit der ‚feuchten Berta‘ untergegangen waren. Obwohl ich dem schielenden Metzger davon abgeraten hatte, wollte er in einer von Valerian eingesteuerten Wette im Armdrücken um das Fett ringen. Rücksichtsvoll wie immer bot ich dem Mann an, den linken Arm zu verwenden, worauf er auch einging. Nachdem wir das erste Fettnäpfchen errungen hatte und der Metzger mit einer gebrochenen linken Hand den Wetteinsatz verdoppeln wollte – er bot uns eine Rehkeule an – ließ ich mich auf eine zweite Runde mit der Rechten ein. Niemand soll mir nachsagen, dass ich den Mann nicht mehrfach gewarnt hatte, denn auch die zweite Runde endete in einer weiteren zertrümmerten Hand. Sein Unglück war jedoch unser Glück, denn für ein drittes Fässchen Fett und eine Wildschweinhälfte bot Valerian an, dem Mann eine Heilsalbe für seine Hände anzufertigen.

Als wir zurück am Haus ankamen waren sowohl Heskor als auch Vladim mit ihren Aufgaben erfolgreich gewesen. Während Valerian anschließend loszog um die Zutaten für die Heilsalbe zu suchen und Jiri anfing das Abendessen vorzubereiten, machte ich mich an die Herstellung des Relikt-Öls.

Nachdem mehr oder weniger alle Vorbereitungen – nicht zuletzt dank Meister Valerian – erfolgreich abgeschlossen waren. Machten wir uns über das Essen von Jiri her. Was soll ich sagen, ich kann mich nicht daran erinnern, jemals einen so guten Rehbraten gegessen zu haben.

Nachdem die Nachtwachen eingeteilt waren – wobei sich alle darüber freuten, dass ich die Hundswache ‚freiwillig‘ übernommen hatte – sicherte Nella die Hütte mit einem Ritualkreis (den sie mit Mistelpulver streuen konnte (welches als Nebenprodukt der Relikt-Öl Herstellung übriggeblieben war), der uns alarmieren sollte, wenn sich jemand der Hütte näherte. Dass dadurch die Wacheinteilung fast wieder obsolet war, sprach ich nicht an – ich wollte den Kameraden ja nicht ihre Freude nehmen.

Entsetzliche Schreie und ein rhythmisches Klopfen weckten uns mitten in der Nacht – keine Frage, die Dorfbewohner schienen ihren Waldschrat zu huldigen. Für mich war es keine Frage, wir sollten uns nicht in die Angelegenheiten der Fremden einmischen und da die anderen die gleiche Meinung vertraten, blieben wir ruhig in der Hütte. Erst als wir die einsetzenden Schreie von Benedarius vernahmen, sahen wir uns zum Handeln gezwungen. Wann hatte sich der Melitele-Priester eigentlich von der Gruppe entfernt?
Heskor erklärte sich sofort bereit nach dem Rechten zu sehen und verschwand in der Dunkelheit.

Geduldig warteten wir anderen auf ein Zeichen unseres Freundes – welches nicht kam. Wie lange benötigte er, um sich einen Überblick zu verschaffen? War er selber in Gefahr? Letztere Frage war klar, der Assassine konnte sehr gut auf sich alleine Acht geben und keine Frage, die Schreie waren ein gutes Stück entfernt – es dauerte eben, wenn man vorsichtig vorging.

Auf einmal veränderten sich die Hilferufe des Priesters zu markerschütternden Schmerzens- und Entsetzensschreien. Großmeister Valerian handelte sofort, schnappte sich seine Silberklinge und stürmte aus der Hütte – wir hinterher.

(Notiz an mich: Der Bannkreis wirkt tatsächlich nur in eine Richtung, denn beim Verlassen der Hütte erfolgte das Alarmsignal nicht.)
Wir fanden Benedarius auf einen Altarstein gefesselt vor. Einer der Bewohner hatte bereits mit einer Sichel angefangen ihn langsam die Haut vom Leibe zu schneiden. Wie ich vermutet hatte, war der Waldschrat bereits anwesend, um sein Opfer entgegenzunehmen.

Während Großmeister Valerian, Vladim und Nella losrannten um die Priester zu retten, sollten Jiri und ich nach den Totems (zehn an der Zahl) suchen, deren möglicher Standort am Mittag zuvor durch Valerian in Erfahrung gebracht worden waren. Leshen ziehen den Großteil ihrer Macht aus diesen Totems und er kann nur final vernichtet werden, wenn eben jene vernichtet oder entweiht werden.

Das nächste Totem, an das ich mich erinnern konnte, musste auf der anderen Seite des Altars zu finden sein, weshalb ich mich dazu entschloss, meinem Meister in den Kampf zu folgen, der inzwischen in Richtung Priester losgerannt war.

Während die Dorfbewohner nur mit Messern und Dolchen bewaffnet uns entgegentraten und somit keine wirkliche Gefahr darstellten, entbrannte ein fürchterlicher Kampf mit dem riesigen Leshen.

Mir wird wohl keiner glauben, dass ich einen Wuchtschlag des Waldschrats mit der Klinge blocken konnte, mich anschließend mit meinen Schenkeln an dessen Hals klammern konnte und letztlich auf ihm geritten bin … aber das ist letztendlich auch egal. Während Jiri drei der Totems zerstörte und den Leshen dadurch schwächte, setzten wir anderen dem Monster gemeinsam ein Ende.

Warum Benedrius während seiner Rettung ein Bein verlor und Nella es nachwachsen lies … wie wir den Dorfbewohnern versucht haben im Anschluss an die Ereignisse zu erklären, was passiert war … und wie sie auf ihre vermeintliche Rettung reagiert haben und warum mich Nellas Feuerbälle unangenehmer Weise an die Schlacht von Sodden erinnerten… ist ein andere Geschichte.


Neues Metagame: Blut so Rot wie Wein

Neues Metagame: Blut so Rot wie Wein

Cathleen, Yannic und Peter waren wieder fleißig und haben wieder mal ein neues Metagame rausgehauen!

Viel Spaß beim lesen von „Blut so Rot wie Wein“.


Blut so Rot wie Wein

Blut so Rot wie Wein

Metagame von Cathleen, Yannic und Peter

Gabhan war wie erstarrt, sah aus dem Augenwinkel noch ein Gesicht an der Luke verschwinden. Geradezu unkontrolliert presste er seinen Arm nach vorne, als wolle er einem unsichtbaren Gegenüber einen Faustschlag direkt durch dessen Gesicht verpassen. Mit einem lauten Knallen und Bersten bog sich das Dach nach außen durch, Holz splitterte und Staub rieselte von der Decke. Den Schrei nahm Gabhan mit weniger Genugtuung entgegen als er gerne täte. Er sprang behände aus dem Zuber und rannte zu Atheris, fühlte nach dessen Puls. Langsam, aber gleichmäßig. Noch. Die Wärme des Wassers förderte die Durchblutung. Ein leises Plätschern. Wasser drang aus feinen Rissen und um den Ort, aus dem die Bolzenspitze stach.

Ein Arzt? Nein. In dieser unwirtlichen Gegend hätten sie Glück, wenn sie einen Pferdemetzger zu fassen bekämen und selbst der wäre zu spät gewesen. „Reynek!“ Gabhan fauchte den Schützen an, der zwar ebenfalls leicht rötlich um die Nase geworden war, den der Schock jedoch augenblicklich ausgenüchtert hatte. „Schnapp dir die Kleine und bring sie nach Wyzima. Wenn du kannst finde raus wer das war!“ blaffte er. „Keine Widerworte. Nicht jetzt. Und jetzt lauf! Ich krieg Atheris schon wieder hin! LAUF!“ der Schütze nickte, stolperte rückwärts und nahm seine Kleidung mit. Gabhan gab ihm gute Hoffnungen mit auf den Weg, behielt jedoch ein wenig für sich – nicht zuletzt jene Hoffnung, dass er nicht zu viel versprochen hatte. Versprechen mussten eingehalten werden. Oh bei allem was heilig war – dieses eine Mal musste die Vorsehung einfach zulassen, dass er ein Versprechen auch halten konnte.

Er warf nur noch einen letzten Blick auf die Wunde. Er konnte den Bolzen nicht ziehen. Und er konnte den Zuber genauso wenig mitnehmen. Gabhan fluchte, ehe er am gegenüberliegenden Rund des Zubers mit einem kräftigen Tritt eine der Planken zerbrach, dass das Wasser nur so hervorschoss. Er konnte keinen Gegendruck gebrauchen. „Hoffentlich überlebst du das Großer…“ fluchte der Bärenhexer und nahm sein Schwert zur Hand. Ein paar Narben würde er vertragen. Vertragen müssen. Die Alternative war, dass sein Körper keine Möglichkeit mehr haben würde Narbengewebe zu bilden. Dann schlug Gabhan zu. Holz krachte. Holz splitterte. Blut spritzte ihm ins Gesicht. Jedoch nicht so viel, wie er zuvor noch befürchtet hatte. Atheris drohte nach unten zu rutschen, nun wo der Schaft nicht mehr mit jenem Stück verbunden war, das aus dem Holz ragte. Gabhan war schnell zur Hand, fing den Freund auf. Blut. Überall war Blut. Der Geruch stieg ihm in die Nase, beflügelte sein Adrenalin, vertrieb jeden Rest von weißer Möwe aus seinem Geist. Er hielt Atheris in einer aufrechten Position, eilte zu dessen Sachen und fischte aus dem kleinen nahen Kästchen die Flasche mit der Aufschrift „Schwalbe“, entkorkte sie und kippte sie über die Wunde. Nicht so gut wie eine orale Einnahme, aber zum jetzigen Zeitpunkt konnte Atheris daran genauso gut ersticken. Kein Risiko. Der Herzschlag blieb regelmäßig, wurde aber langsamer. Wenn er den Bolzen ziehen würde? Nein. Furchtbare Idee. Ganz grässlich.

Gabhan schwang sich seinen eigenen Gambeson um, der außer der Bruche nicht viel verbarg und griff seinen Gürtel, an dem der schwere Schlüsselbund klimperte. Er hatte sich geschworen ihn nicht mehr einzusetzen. Nicht mehr bis er Genaueres wusste. Erneut ein Versprechen, das er brechen musste. Er rannte zu der Tür, durch die Reynek eben noch verschwunden war und die hinaus ins Treppenhaus führte und steckte den Schlüssel in das Schlüsselloch, drehte ihn zweimal. Sein Medaillon ruckte und er öffnete die Tür. Doch dahinter war kein Treppenhaus. Zu sehen war ein großer Raum mit hohen Stützbalken, eingestaubt. Verlassen. Geisterhaftes Licht schien durch zwei Fenster hinein, durch die man nicht hinausblicken konnte. Zettel lagen überall. Notizen. Aufzeichnungen. Gabhan warf behände alles was sie besaßen hinein, eilte zu Atheris und nahm ihn mit beiden Armen hoch. Verdammt war der andere schwer….

Er warf ihm kein Handtuch mehr über, ehe er in den großen Raum trat. In die Taverne. Für solche Kleinigkeiten hatten sie keine Zeit. Er legte Atheris auf dem Tisch in der Mitte ab, eilte zur Tür und schloss sie. Jeglicher Lärm von außen verstummte augenblicklich. Gabhans Stirn lehnte an der kalten Tür. „Bitte…“ flüsterte er leise. „Nur dieses eine Mal. Hilf mir nur dieses eine Mal. Ich brauche Hilfe. Einen Heiler. Bitte du verdammtes Stück Holz…“ er holte tief Luft.

Grazyna von Strept hatte sich ein wenig Auszeit verdient. Die letzten Wochen waren auf vielerlei Arten anstrengend gewesen. Und es hatte schon immer eine narrensichere Methode gegeben um Anstrengungen und Angespanntheit hinter sich zu lassen – Einkäufe waren eine dieser Methoden. Sie hatte sich den Tag in Beauclair vertrieben, hatte neue Garderobe gekauft und sich für den Abend wieder zurück auf den Weg nach Hause gemacht. Nichts. Gar nichts hätte sie auf das vorbereiten können, was dann geschah.

Die Zauberin passierte gerade ein kleines Bauernhaus. Eine jener winzigen Stübchen, die zwar an keinem Ort der Welt von überragender Schönheit waren, jedoch in Toussaint – wie fast alles – einen pittoresken Charme ihr Eigen nennen konnten. Oftmals saßen die Bauern abends vor solchen Häuslein und rupften Gänse oder tranken Traubenmost. Doch nicht vor diesem Haus. Es zischte – ein grelles Licht blitzte unter seiner Tür hervor, welche keinen Augenblick später aufgerissen wurde. Heraus stolperte – nur mit Bruche und Gambeson bekleidet, blutig und durchnässt, ein ihr bekannter Hexer.

Gabhan stockte, wandte sich kurz zu dem Haus und formte ein Stummes „Ernsthaft?“, doch er hatte keine Zeit sich Gedanken zu machen. „Wir brauchen Hilfe!“ rief er und machte einen Schritt nach vorne. „Und scheinbar bist du das Einzige, was die verdammte Vorbestimmung oder was auch immer unter Hilfe verstanden hat!“

Einen kurzen Moment – länger als es unbedingt notwendig gewesen wäre angesichts der Hektik, die Gabhan zeigte – wanderten Grazynas Augen über seine Erscheinung und nahmen sowohl die schnell hebende Brust wahr, wie auch die Nüstern, die sich wie bei einem Wildpferd aufblähten. An seinen Händen klebte Blut, das nicht von ihm selbst zu kommen schien, so rosa wie es war, die schlecht versorgte Wunde an seinem Oberschenkel fiel ihr ins Auge, aber darum schien es nicht zu gehen.

„Ich freue mich auch dich wiederzusehen, Gabhan“, hob sie schließlich die Stimme und trat den Schritt nach vorn, den anderen mit einer Hand am Oberarm greifend, um ihn ein paar Schritt von der Straße zu entfernen, an der sie zuvor so offensichtlich für Aufsehen gesorgt hatten „und dir erneut helfen zu dürfen. Gerade, als ich dachte, mein Tag könnte nicht schöner werden“, schob sie nach und rang sich nur kurz ein Lächeln ab, das ihre Augen nicht erreichen wollte und das von einem missgünstigen Schnauben begleitet wurde. Sie mochte den Hexer nicht, mit dem sie bislang noch kein Gespräch hatte führen können, das nicht von seinen schneidenden Kommentaren und dem bissigen Spott begleitet worden war, von dem er auch jetzt zu glauben schien, dass er witzig wäre. Sie hatte aufgegeben sich die Mühe zu machen ihn darauf hinzuweisen, dass sie seine Worte zumeist für geistlosen Unsinn hielt.

Mit der freien Hand griff sie in das Nichts hinein und zog nur wenige Augenblicke später eine ledernde Tasche mit einem cintrischen Wappen wieder aus dem Nichts hervor, aus dem ein Stück weißer Stoff mit feiner Borte ragte. Grazyna kommentierte ihr Tun nicht, zog stattdessen Gabhan lediglich mit der anderen Hand hin zu der Tür, durch die der Hexer soeben gebrochen war und schloss sie hinter ihnen beiden wieder, um die neugierigen Blicke auszusperren. Der Raum, in dem sie jetzt stand, war definitiv kein Bauernhaus mehr – Staub lag auf dem Boden und es roch widerwärtig nach alten Öllampen, billigem Alkohol, Schweiß und Fell. Es roch … nach Gabhan.

„Ich wusste nicht, dass du …“, hob sie erneut die Stimme als sie die ersten Schritte in den Raum setzte und sich noch einmal umsah, dann blieben ihre Augen an der Gestalt hängen, die Gabhan auf den Tisch gewuchtet hatte und ihr Herz setzte einige schmerzhafte Schläge aus. Das konnte nicht … sie spürte den Schauder, der sich auf ihren Armen ausbreitete, das flaue Gefühl in ihrem eigenen Magen. Ihr Verstand realisierte den Bolzen in seiner Brust und ließ sie handeln, noch bevor die Erkenntnis sie vollends eingenommen hatte.

„Frisches Wasser, Gabhan!“, wies sie den Hexer schroff über die Schulter an und war mit einigen wenigen Schritten bei dem Tisch. Zitternd streckte sie die Hand nach der vertrauten Gestalt aus, die dort lag und deren geschlossene Lider flatterten. „Was machst du nur …?“, flüsterte sie heiser, die eigene Stimme kaum mehr findend.

Gabhans Nackenhaare stellten sich auf, als ihm jenes leichte Zittern in Grazynas Stimme auffiel, welches von etwas kündete, das Gabhan weder fassen noch beschreiben konnte. Jenes seltsame Gefühl, das sich in der Magengegend ausbreitete und wie warme Flüssigkeit den Körper durchströmte.

Doch er konnte nicht mehr weiter darüber nachdenken. Konnte nicht darüber nachdenken, was Grazyna nicht über ihn gewusst hatte und das sie doch nicht mehr ausgesprochen hatte. Wasser. Sie wollte Wasser. Wie in Deibels Namen sollte er hier frisches Wasser bekommen? Er rannte hinter die wackelige Ablage, die einst eine Theke gewesen sein mochte und traute seinen Augen kaum, als dort eine noch glänzende Karaffe mit Wasser stand. Er brachte diese zu Grazyna und stellte sie neben sie. „Angriff in einem Gasthaus nahe Wyzima. Er hat gebadet – das Wasser war sehr heiß. Der Bolzen traf ihn von schräg links oben. Haben wohl auf sein Herz gezielt, aber der Winkel war ungünstig…“ erklärte Gabhan ruhig, aber schnell. „Ich habe den Bolzen zwischen Rücken und Zuber Rückwand durchtrennt. Hat einen leichten Ruck gegeben, aber ich bin zuversichtlich, dass keine inneren Organe getroffen wurden. Habe eine Schwalbe über die Wunde gekippt. Du musst mit der Vergiftung vorsichtig sein,“ schloss er seinen Report.

„Idiot“, schalt Grazyna ihn schroff und schüttelte den Kopf, die Hände nur kurz zu den langen, schwarzen Haaren hebend, um sie liederlich zusammen zu fassen und im Nacken festzustecken. Sie konnte es nicht gebrauchen, dass sie ihr jetzt ins Gesicht hingen. Nicht hier und vor allem nicht jetzt. „Ich werde deine Hilfe brauchen“, teilte die Zauberin mit und öffnete mit einigen schnellen Bewegungen den Verschluss an der Tasche, zerrte die Schürze hervor und band sie um. Sie suchte in den Bewegungen, die so routiniert waren eine Möglichkeit ihr eigenes hämmerndes Herz zu beruhigen, sich eine Option zu verschaffen, wie sie der Angst und der Sorge keinen Raum geben konnte, die sonst von ihr Besitz ergriffen hätte.

Für einen ganz kurzen Moment war sie wieder in Sodden – zurück in dem Dreck auf dem Schlachtfeld, aus dem sie bereits schon einmal einen Soldaten hervorgezogen hatte. Kopfschüttelnd drängte sie die alte Erinnerung fort, zog eine Tasche hervor und als sie sie entrollte gab sie saubereres Heilerbesteck frei. Wenig später folgte eine zweite Tasche mit kleinen Nadeln.

„Ein einziges Mal, Gabhan“, hob sie die Stimme als sie einen der Wundhaken aus der Tasche zog und ihn an die Wunde anlegte. „Keine Fragen und keine geistreichen Kommentare. Spar sie dir für später auf – ich kann sie nicht gebrauchen“, schob sie nach ehe der zweite Haken an der anderen Seite der Wunde folgte. „Halt die Haken fest und zieh sie auseinander. Nicht so stark! Nur ein Stück!“ Sie musste an den Bolzen kommen, der noch immer in der Haut steckte, musste ihn freipräparieren, um sich um die Wunde kümmern zu können. Und das Blut floss – rot wie Wein!

Die letzten Stunden waren quälend langsam vergangen bis der Bolzen klappernd auf dem Boden aufkam und dort ein Stück unter den Tisch rollte. Hektik war eingekehrt während Grazyna immer wieder Gabhan aufforderte die Wunde zu spülen, in der sie arbeitete. Der Bärenhexer hatte nicht einen Ton verlauten lassen und sie war ihm dafür dankbarer, als sie es ihn jemals hätte wissen lassen. Fein säuberlich hatte sie mit einer kleinen Pinzette die winzigen Holzsplitter aus dem Fleisch gezogen bevor sie die einzelnen Hautschichten wieder miteinander vernäht hatte.

Keine Narben … Grazyna erinnerte sich noch gut an seine Angst davor, die Narben könnten ihn hässlich machen und nur für einen einzigen Moment huschte der Anflug eines weicheren Lächeln über ihre Züge. Sie würde auch jetzt dafür sorgen, dass daraus keine Narbe werden würde, die ihn zeichnete. Sacht glitten ihre Finger über die vernähte Wunde, strichen über Wundränder während leise Worte die Lippen der Zauberin verließen – Licht glitt aus den Fingern hervor, hüllten die ausgefransten Wundränder ein und ließen sie sich endgültig wieder schließen. Muskel um Muskel fügte sich wieder aneinander während Grazynas Finger vor Anstrengung zu zittern begonnen hatten – sie spürte die Müdigkeit, die von ihr Besitz ergriffen hatte und welche die Magie jetzt nährte, auf die sie zurückgriff.

Als sie einen wankenden Schritt zurücksetzte – Stunden, nachdem sie den Ort betreten hatte und lange nachdem die Dunkelheit die Straßen leergefegt hatte – erlaubte sie es sich zum ersten Mal tief durchzuatmen, den Blick noch immer auf den Ort gerichtet, an dem einst ein Bolzen tief in der Haut gesessen hatte und wo jetzt kaum mehr als ein schwarzblauer Fleck zu erkennen war. „Er darf sich nicht viel bewegen, wenn er aufwacht. Zumindest nicht die nächsten zwei oder drei Tage.“

Heimat

Atheris öffnete seine schlangenhaften Augen und betrachtete eine Zeit lang das Bildnis, mit dem ein begabter Künstler die Decke verziert hatte und das wohl ziemlich kostspielig gewesen sein durfte. Es zeigte auf künstlerische Art und Weise den Herstellungsprozess seines Lieblingsgetränkes – Wein … es gefiel ihm. Aber was machte er hier eigentlich? Er setzte sich auf und griff sich an die Brust – kein Bolzen … nicht Mal eine Narbe war zusehen, lediglich ein kleiner Bluterguss, der bei Berührung ein wenig schmerzte, verriet ihm, dass er nicht träumte oder tot war. Er schaute sich weiter um, auch der Rest des Zimmers war mit kostbarem Dekor geschmückt und gehörte vermutlich einer wohlhabenden Dame. Das warme Licht der Morgensonne fiel durch drei große Fenster. Atheris stand auf und blickte an sich herab. Er war in ein feines, schneeweißes Nachthemd gekleidet. Obwohl es nicht seines war – es nicht sein konnte -passte es ihm wie angegossen. Etwas wackelig auf den Beinen schritt er zu einer leicht geöffneten Tür die nach draußen zu führen schien. Das Licht blendete seine empfindlichen Augen und er musste niesen. Als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte fand er sich auf einen großen Balkon wieder. Auf einem kleinen runden Tisch, an dem zwei gemütlich wirkende Sessel standen, stand eine Flasche ‚Est Est‘ – der beste Wein, den Atheris kannte. Zwei kristallene Weinkelche standen bereits neben der Flasche – gefüllt. Die Sonne küsste den Horizont und ein letztes Mal flammte die Sonne auf über den Weinbergen und über der Kulisse von Beauclair – er war zu Hause oder doch im Totenreich?

Das leichte Knarzen des Fußbodens verriet ihm, dass jemand das Zimmer betreten hatte und sich ihm näherte. Seine feine Nase erkannte den Duft des Parfüms sofort – er hatte es seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr wahrgenommen. Er brauchte sich nicht umzudrehen, er wusste wer es war noch bevor sie an seine Seite trat – so wie früher. „Ich verdanke dir mein Leben – schon wieder!“ begrüßte er sie lächelnd und fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit geborgen.

Es war so unendlich viele Jahre her, dass sie die vertraute Stimme zuletzt gehört hatte und noch immer brachte sie Etwas in ihr zum Klingen – Dinge, die sie vor so vielen Jahren vergraben hatte, damit sie nicht mehr länger schmerzten. Sie war immer wieder aufs Neue daran gescheitert zu vergessen, denn jede einzelne Erinnerung schmerzte noch wie eine nicht verheilende Narbe auf der Haut. Die leisen Worte sorgten dafür, dass sie nicht mehr wusste, was sie denken sollte während sie, gefangen in einer Mischung aus Wut und Erleichterung, mit sich selbst rang und schließlich war es eine einzige leise Frage, die sich über ihre Lippen schälte.

„Wo warst du…?“, flüsterte sie und wandte den Blick zu der hochgewachsenen Gestalt hinüber, das Gesicht musternd, das sich über all die Jahre kaum verändert hatte. Es war ein wenig härter geworden, sie sah die Last von Erinnerungen in den Schlangenaugen – die ihm seinen Namen gegeben hatten – und die sie nun ein wenig trüber zeichneten. Aus einem plötzlichen Impuls heraus setzte sie den Schritt nach vorn, näher auf ihn zu und schob die Arme um ihn. Sie musste wissen, dass er hier war – dass es mehr war als ein dummer Traum, aus dem sie in einigen Momenten wieder erwachen würde.

„Ich…“ erneut die leise zitternde Stimme, und erneut huschten die Worte wirr über ihre Lippen während sie immer wieder mit sich kämpfte, um nicht dem Brennen der Tränen in den eigenen Augen nachzugeben. „… dachte, du wärst tot. Niemand wusste, was mit dir nach Brenna passiert war. Niemand konnte mir etwas sagen“, setzte sie an und schüttelte den Kopf. „Ich habe dich gesucht … und nie gefunden … Toussaint war die letzte Möglichkeit und jetzt stehst du hier. Am Leben. Wo warst du?“

Atheris hielt sie in den Armen, fühlte sich glücklich, wollte sie küssen … aber er ließ es nicht zu. Welches Recht hatte er, sie erneut zu verletzen? Nach all den Jahren, die sie sich nicht gesehen hatten, geschweige denn vom Schicksaal des andern gewusst hatten! Er wollte auf keinen Fall ihre Gefühle durch eine unüberlegte, emotionale Handlung verletzen. Es fiel ihm unendlich schwer den Moment zu ertragen … aber es musste sein! Nach einer gefühlten Ewigkeit antwortete er schließlich. „Wo ich war? … Das ist eine lange Geschichte, Grazyna!“ seufzte Atheris traurig. Grazyna musste bemerkt haben, dass er anfing zu schwanken und geleitete ihn zu einem der Sessel. Nachdem sie es sich ebenfalls bequem gemacht hatte, fing er an, die Ereignisse seit der verhängnisvollen Schlacht von Brenna zu berichten. Die Flucht vom Schlachtfeld durch die Sümpfe bis zur Yaruga … die Zeit, die er in Toussaint verbracht hatte, die erfolglosen Reisen die er unternommen hatte um sie zu finden. Die Befehle und Aufträge der kaiserlichen Armee, die ihn quer durch das Kaiserreich geführt hatten und letztendlich der dritte Feldzug gegen die nördlichen Königreiche. Vom Missgeschick in der alten Elfenruine und dem Portal, das ihn über Umwege zu Valerian, den Großmeister der Greifenhexer geführt hatte. Der Mittag brach bereits an als er schließlich die Ereignissen der letzten Monate schilderte. Aus ihren Reaktionen schloss er, dass sie offensichtlich bereits zuvor Bekanntschaft mit Gabhan gemacht haben musste. „So viel zu mir… wie ich sehe ist es dir nicht schlecht ergangen, erzähl, was ist deine Geschichte?“

Wortlos hatte sie zugehört und die Geschichte, die sie gehört hatte still aufgenommen. Der erste Schluck aus dem Weinglas brannte noch in der aufgerauten Kehle, die sie jetzt ihr Eigen nannte, dann wurde es leichter – der Alkohol betäubte und half ihr dabei, sich selbst wieder unter Kontrolle zu bringen. Einen Stein in ihrem Magen konnte er nicht betäuben – sie hatten einander gesucht, hatten sich niemals finden können und nur eine einzige leise Stimme in Grazynas Inneren begann zu sprechen – was, wenn jemand es so gewollt hatte? Was, wenn das alles ein Plan gewesen war? Kopfschüttelnd trieb sie die Stimme wieder zurück dorthin, woher sie gekommen war und fasste sich wieder ehe ein weitaus weicheres Lächeln ihre Züge erhellte.

„Ich habe schon einige Geschichte von deinem Valerian gehört“, merkte sie an und lehnte sich ein Stück auf dem Stuhl zurück, auf dem sie zuvor Platz genommen hatte. „Du warst ziemlich umtriebig während der letzten Jahren.“ Beinahe hatte sie es vergessen, dass er nun ein Hexer war und dass die Monster nicht vor Landesgrenzen Halt machten, denen er jetzt nachzujagen schien.

„Sie haben mich nach Brenna nicht mehr gehen lassen“, begann sie schließlich zu erzählen und schloss für einen Moment die Augen, bevor sie fortfuhr. Darüber, dass die letzten Jahre ein stetes Auf und Ab in der Politik des Kaiserreichs gewesen war …, dass es einer ihre Aufträge gewesen war, den Weinschenk des Kaisers im Auge zu behalten und wie knapp es wieder und wieder gewesen war nicht als Zauberin enttarnt zu werden. Über den Besuch in Novigrad, weil es dort Gerüchte gab, man habe einen verletzten Hexer gefunden, der sich am Ende doch nur als Gabhan herausgestellt hatte. Den ständig betrunkenen Heiler namens Ludwig, der sie verborgen hatte, um nicht dem Norden in die Hände zu fallen und der ihr hinterher gereist war aber ihn rechtzeitig genug losgeworden war, bevor sie in die neue Anstellung bei der Familie Groll gewechselt war.

„Was Gabhan angeht…“, nahm sie den Faden wieder auf und schlug die Augenlider nieder. „Ich wusste nicht, was er von mir wollte, als er vor mir stand, aber ich hatte auch wenig Möglichkeit seine Bitte abzulehnen. Als ich ihn in Novigrad versorgt habe, war er zwei Tage später verschwunden – gemeinsam mit einem Brief, den er mir gestohlen hat. Seitdem … droht er mir mich auszuliefern.“ Langsam erhob sich die Zauberin wieder von ihrem Platz und trat ins Innere ihrer Räume, Atheris nur kurz bittend zu warten während sie zu einem kleinen Schränkchen trat und eine kleine Flasche hervorzog, mit der sie zu ihm zurückkehrte.

„Das habe ich ihm abgenommen. Es ist ein Gift, das auf Hexer angepasst wurde. Es … ist bei dir besser aufgehoben als bei mir. Das Fläschchen war bislang meine Garantie dafür, dass er den Brief nicht einfach abgibt und mich ausliefert.“

Atheris nahm das kleine Fläschchen in die Hand und betrachtete es. Mit einem Gift speziell gegen Vatt’ghern hatte er persönlich vor zwei Jahren unliebsame Bekanntschaft gemacht. Zu jener Zeit wurde die inzwischen vernichtete Greifenfestung Kaer Iwhaell von einer redanischen Armee belagert und deren Attentäter hatten eben jenes Gift gegen ihn und seine Zunftbrüder verwendet. Das geheime Rezept für das Gift hatten die feindlichen Spitzel damals aus der Bibliothek der Greifenhexerschule entwendet. Eine der zurück erbeuteten Proben hatten sie einem verbündeten Hexer namens Lado überlassen … dies schien eben jene Probe zu sein, zumindest meinte Atheris die Zeichen auf dem Fläschchen wiederzuerkennen. „Was steht denn in dem Brief drin den Gabhan dir entwendet hat, Grazyna?“

„Es ist der Brief einer alten Freundin, die inzwischen tot ist“, offenbarte die Angesprochene und griff erneut nach ihrem Weinglas, um daraus einen Schluck zu nehmen. Ihr war durchaus der Ausdruck auf seinem Gesicht aufgefallen, der davon sprach, dass er sehr genau wusste, was er dort in den Händen hielt, aber danach würde sie später fragen. Wenn sie Atheris über den Brief aufgeklärt hatte.

„Du weißt, wie gefährlich die Lage für uns Zauberer ist. Sie bot mir damals eine Lösung an, bot mir an mich mit Gleichgesinnten zu treffen und eine bessere Option für uns Zauberinnen zu erschließen. Ich habe ihr nie geantwortet, aber den Brief dummerweise aufgehoben. Ich kann dir nicht sagen, weshalb, vielleicht um noch eine Option zu haben, sollte alles schief gehen. Jetzt hat ihn Gabhan und wenn man mich mit der Loge der Magierinnen in Verbindung bringt, dann wird mich nichts mehr vor dem Zorn des Kaisers schützen können.“

„Ich verstehe. Ich werde Gabhan bitten, den Brief zu vernichten.“ antwortete Atheris und überlegte für einen kurzen Moment, wie er das anstellen sollte, wandte sich dann aber wieder Grazyna zu. „Weißt du, wo er sich gerade rumtreibt?“

„Er hat eines der Gästezimmer bekommen. Rechts – nur zwei Türen weiter. Wahrscheinlich wird er sich dort ausruhen, nachdem ich ihm Bettruhe wegen der Oberschenkelwunde verordnet habe“, lautete die leise Antwort, dann seufzte sie noch einmal und verzog das Gesicht. Sie wollte nicht, dass er sie für eine Verräterin am Kaiserreich hielt, sie jetzt anders sah als noch vor dieser Offenbarung, aber es war ihr genauso falsch vorgekommen ihn anzulügen. „Tu mir nur bitte den Gefallen und bewege dich nicht zu viel. Du magst dort keine Wunde mehr auf deiner Brust sehen, aber dein Körper braucht Ruhe“, bat sie schließlich und nickte dann langsam.

Weib, Wein und Waffengefährten

Das Licht der Mittagssonne fiel durch die bunten Bleiglasfenster, welche die Strahlen brachen und bunte Farben und pittoreske Muster auf den Boden warfen. Ebenso pittoresk war auch der Rest des kleinen Anwesens – Zweifellos ein kleines Sommerhaus irgendeines Bekannten von Grazyna, denn das Anwesen war hübsch genug um irgendeinem reichen Fatzke aus der gehobenen toussaintiner Schicht zu gehören, aber wo immer sie auch waren – hier gab es keine Dienerschaft und auch sonst zeugte ein Großteil der Möbel und restlichen Einrichtungsgegenstände eher von einem solitären Rückzugsort als von einer Residenz.

Grazyna hatte sie hier einquartiert, nachdem sie das Bauernhaus verlassen hatte und Gabhan war sich sicher, dass die Zauberin den Umgang mit zwei Hexern so geheim wie möglich halten wollte. Kein Wunder, dass sie solch einen gottverlassenen Sommersitz ausgewählt hatte, den nun im aufkommenden Herbst niemand mehr bewohnen würde.

Gabhan hatte sich wie ein Tier im Käfig gefühlt, seitdem Grazyna ihm verboten hatte sich mehr als unbedingt notwendig zu bewegen. Er hatte gehört wie oft Grazyna immer wieder in Atheris Zimmer gegangen war – deutlich öfter als es notwendig gewesen wäre. Ihre ganze Art. Ihre Blicke. Irgendetwas war im Busch und Gabhan hatte das ungute Gefühl gegen einen Orkan gepisst zu haben. Als er schließlich nahende Schritte vernahm schlug er das Buch zu, welches er sich aus einem der Regale geborgt hatte und sah auf. „Atheris…“ stellte er erstaunt fest. „Zurück unter den Lebenden wie ich sehe. Bei der Vorsehung – diesmal war es verdammt knapp. Wie geht es dir“?

„Dank dir und Grazyna, bin ich am Leben!“ Atheris lächelte, als er Gabhan zum ersten Mal fein säuberlich gebadet und erholt erblickte. „Siehst gut aus, mein Freund! Wie ich sehe, hat Grazyna auch dich wieder einigermaßen hinbekommen…deine Beinwunde sieht gut aus!“ Mit etwas wackeligen Beinen trat Atheris in den Raum und setzte sich auf einen Stuhl, der in Gabhans Nähe stand. „Erzähl, was habe ich verpasst?“ fragte er seinen Zunftbruder, der noch am Fenster stand.

Gabhan hob die Augenbrauen und legte das Buch neben sich auf den Fenstersims, lehnte sich selbst gegen die hohe Mauer und unterdrückte ein Gähnen. „Wenig,“ war die ehrliche Antwort des Bärenhexers. „Wie du schon richtig angemerkt hast, habe ich dich aus deiner misslichen Lage gerettet. Wobei ich anmerken muss, dass nicht ich es war, dem du dein Leben verdankst. Du verdankst es der Frau Zauberin. Ebenso wie du ihr diese…“ er machte eine umfassende Handbewegung durch den Raum, „Ruhestätte verdankst.“

Gabhans raubtierhafte Augen musterten den anderen eingehend. „Und du verdankst ihr noch mehr. Zumindest hat es den Anschein. Aber der Schein trügt dieser Orts ja doch recht häufig. Erst recht dieser Zeit…“ der Bärenhexer fuhr langsam über den Einband des Buches mit dem Titel ‚Der geborene Jäger: Eine Studie über Garkins‘. „Also sag du mir, was habe ich verpasst?“

„Vieles hast du verpasst, Gabhan!“ Atheris musterte den Zunftbruder und fuhr dann fort. „Ich habe Grazyna vor vielen Jahren während der ersten nördlichen Kriege kennen gelernt. Sie war damals Heilerin in der kaiserlichen Armee und wir haben zeitweise in der gleichen Einheit gedient. Nach der Schlacht von Sodden, war sie es gewesen, die mich unter den Leichenbergen gefunden und mir das Leben gerettet hat. Wir haben bis zur Schlacht von Brenna viel Zeit miteinander verbracht und erst danach haben wir uns aus den Augen verloren. Bis jetzt zumindest! … Was ist deine Geschichte? Woher kennst du sie?“ fragte er Gabhan, der ihm interessiert zugehört hatte.

Gabhans Gesichtsausdruck verdüsterte sich mit jedem weiteren Wort das Atheris sprach und jeder Versuch sich diesen Klumpen aus Unbehagen, Schuldgefühlen und Abscheu der da in seinem Magen wuchs nicht anmerken zu lassen schlug gehörig fehl. Weshalb Gabhan Unbehagen und Schuldgefühle empfand wusste er nicht und wem die Abscheu galt, die da in ihm wuchs wagte er nicht zu sagen. Denn diese Erkenntnis wäre womöglich ein noch größerer Klumpen gewesen. Einer, an dem er ersticken könnte.

„Sie hat mich in Novigrad aufgelesen,“ seine Stimme war heiser, halb erstickt. „Vor etwa einem halben Jahr. Etwas mehr. Seitdem sind wir uns noch zweimal begegnet. Einmal auf Skellige, einmal in Bogenwald. Nun das dritte Mal. Glaube mir Atheris, ich habe sie nicht willentlich gesucht. Dass sie es war, zu der uns die…, dass sie es war, die wir gefunden haben war…“ Schicksal? Vorherbestimmung? „Zufall.“

„Was ist los, Gabhan? Ich spüre, dass du nicht gut auf Grazyna zu sprechen bist … du ziehst eine Schnute, als ob du einen Waldschrat küssen müsstest … und ja, ich weiß von dem Brief und dem Hexer Gift … wir sind Freunde, kläre mich bitte auf!“ er machte eine kurze Pause und beobachtete den Bärenhexer der sichtlich mit sich selber am Ringen war, dann fügte er noch hinzu, “ ich will nicht unwissentlich zwischen euren Fronten stehen!“.

„Zwischen unseren Fronten?“ echote Gabhan und schüttelte den Kopf. „Oh Atheris. Du stehst nicht zwischen den Fronten. Glaub mir – das wäre dir eindeutig aufgefallen. Du hättest es bemerkt, wenn du zwischen mir und irgendwas stehen würdest…“ er brach ab, schien sich in seinen eigenen Worten verheddert zu haben. Ein feines Gespinst aus Intonation, Vokalen und seiner eigenen, furchtbaren Persönlichkeit.

„Sie ist eine Zauberin!“ wagte er einen erneuten Versuch, als ob dieser Satz alleine wohl alles erklären könnte. Doch noch immer schien Atheris nicht einlenken zu wollen und Gabhan stieß sich von der Wand ab. „Oh Atheris, du hast wahrlich noch wenig von der Welt gesehen. Zauberer und Zauberinnen sind stets nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Ausnahmen so selten wie Schnee im Sommer. Nein unterbrich mich nicht! Du willst, dass ich rede? Dann lass mich reden. Eine der vielen weiteren Lektionen. Wohl mindestens so weitschweifig wie du es von Valerian gewöhnt bist und – hat man Töne? – diesmal sogar noch lehrreich!“ er zeigte ein verbittertes Lächeln.

„Erinnre dich zurück – an jedes Abenteuer, dass du je erlebt hast. An jeden Landstrich den du besucht hast. Für beinahe alle Probleme war früher oder später ein Zauberer verantwortlich, oder etwa nicht? Nein. Ich bin kein solcher Fanatiker wie die Ritter der Flammenrose oder sonst irgendeinem Mumpitz. Ich sag nicht, dass jeder Zauberer verbrannt gehört oder ähnlich Grässliches. Was ich aber sage ist dies: Habe stets zwei Augen auf Magier. Zu schnell überschätzen sie ihre Macht und stürzen die Welt ins Verderben. Bei allen Göttern Atheris, du bist ein Hexer. Gerade du solltest wissen was Zauberer Leuten wie uns schon angetan haben. Und noch anzutun gedenken!“ Gabhan, der durch den Raum getigert war, blieb mitten im Zimmer stehen.

„Sie hat mich vor Novigrad aufgelesen. Halbtot. Sie hat mich zusammengeflickt. Als ich wieder zu mir kam war mir klar was sie ist. Jemand wie sie tut nichts aus Barmherzigkeit. Mir war klar, dass sie irgendeinen Preis fordern würde, den zu zahlen ich nicht bereit wäre. Wer weiß, ob sie mir nicht schon Blut abgenommen hatte. Genug verloren hatte ich ja um es nicht zu merken. Und als ich da auf dem Tisch lag, wurde ich des Briefes gewahr. Eine Lebensversicherung. Oh Atheris, ich rate dir – habe immer eine Lebensversicherung. Denn das Leben ist zu Leuten wie dir und mir nicht gerecht. Wir müssen uns absichern, wenn wir den nächsten Morgen noch sehen wollen. Und stell dir vor Atheris – ich hatte recht. Du weißt von dem Gift? Nun – kaum dass wir uns das nächste Mal begegneten entwendete sie es mir. Ich hatte ihr niemals von dem Brief erzählt. Aber nachdem sie das Gift hatte musste ich es. Musste sie unter Druck setzen. Wer weiß was sonst geschehen wäre? Ein Gift das Hexer tötet. Hat man Töne? Ja ich erpresse sie – zum Wohle unserer Bruderschaft. Trau keinem Zauberer. Denn sie sind alt. Sie sind weise. Sie haben immer eine Möglichkeit die Oberhand zu behalten. Immer eine Lebensversicherung. Genau…“ er wurde in seinem Redeschwall langsamer. „Wie ich…“

„Ich verstehe deine Punkte, Gabhan – aber ich teile sie nicht!“ Atheris blickte seinen Freund an und fuhr fort „Ich hatte oft in meinem Leben mit Magiern zu tun gehabt. Mal waren es unangenehme Begegnungen wie bei der Schlacht von Sodden … mal waren es lehrreiche Begegnungen wie in Kaer Iwhaell mit Nella und Medwin … ich wurde öfters von Magiern gerettet, als ich zählen kann … gerade von Grazyna!“ er machte wieder eine kurze Pause, er spürte, wie ihn das Reden anstrengte. „Die Tatsache, dass jemand ein Zauberer ist oder nicht, macht ihn weder gut noch böse, es sind nach meinen Erfahrungen immer nur die Personen, die dahinterstecken … sieh hier!“ Atheris holte das Fläschchen mit dem Gift hervor und stellte es neben sich auf den Tisch. “ Ich wusste nicht einmal, dass sie das Gift hatte, aber sie hat es mir gegeben, sie will kein Druckmittel gegen einen von uns haben, sie ist eine Freundin!“ Atheris stand auf und bereute es sofort, denn seine Beine gaben nach, so dass Gabhan nach vorne stürzen musste um ihn vor dem Sturz zu bewahren. „Gabhan, spring über deinen Schatten und gib ihr den Brief zurück. Ich bürge für sie mit meiner Ehre!“ flüsterte er mit brüchiger Stimme.

„Wie scheiße nobel von dir!“ ätzte Gabhan und verfrachtete Atheris auf einen der Stühle. „Dummerweise kann ich mir von deiner Ehre nichts kaufen – und sie macht auch keinen von uns wieder lebendig, wenn sie das Gift repliziert hat, wovon ich ausgehen muss. Niemand wäre so dumm seinen einzigen Trumpf aus der Hand zu geben. Denk doch mal nach Atheris! Die Welt ist kein verdammtes Märchen und es gibt niemals – Niemals – ein glückliches Ende. Niemand von uns lebt glücklich bis an sein Lebensende. Wie kannst du all das durchlebt haben und noch immer so naiv sein?“ er schüttelte den Kopf, verzog das Gesicht.

Seine Worte brannten wie Säure auf seiner Zunge. „Sie hält dich zum Narren und mich gleich mit, wenn ich mich darauf einlasse. Woher wollen wir wissen, ob das da überhaupt das echte Gift ist? Gäbe ja nur einen verdammten Weg es rauszufinden, nicht wahr? Oh. Das würde ihr gefallen. Die Welt ist schlecht Atheris und jeder verdammte Versuch etwas Gutes in ihr zu bewirken sorgt nur dafür, dass du jemanden verletzt der dir wichtig ist. Jeder Versuch das ‚Gute‘ zu tun sorgt dafür, dass irgendjemand anders etwas verliert. Wir sind nicht die Helden in dieser Geschichte Atheris – und Grazyna von Strept ist es am aller wenigsten. Nenn mir einen Grund ihr zu trauen – nur einen einzigen“

„Weißt du, warum viele Nilfgaarder die schwarzweißen Rechtecke an ihrer Kleidung tragen? Es ist ein Bild der sichtbaren Welt, in die der Mensch als Teil hingestellt ist und in der sein Leben sich abspielt. So wie in dem Mosaik die hellen und dunkeln Rechtecke abwechseln, so ist auch in der Natur und im Menschenleben ein steter Wechsel von Licht und Finsternis, von Entstehen und Vergehen, von Freude und Schmerz, von Glück und Unglück, von Leben und Tod. Dadurch aber, dass dieses Mosaik eine vollkommene Regelmäßigkeit in ihrer Abwechslung von hellen und dunkeln Dreiecken zeigt, wird man daran erinnert, dass das irdische Dasein nicht als ein Spiel des blind waltenden Zufalls, sondern als etwas von ewigen Gesetzen in die Bahnen der Entwicklung zum Vollkommenen hin Geleitetes zu betrachten ist“ Atheris seufzte “ Ja, Gabhan. Ich glaube fest an das Gute in der Welt … wir sind selber durch unser Handeln dafür verantwortlich! Du brauchst einen Grund zu vertrauen? Warte hier einen Moment!“ Atheris erhob sich wieder auf seine wackeligen Beine und ging zurück in sein Zimmer. Nach einigen Augenblicken kehrte er wieder … mit einem Zettel in der Hand. Er nahm das Giftfläschchen wieder in die Hand und hob es leicht hoch „Schatten, Gabhan!“ dann drückte er dem Zunftbruder den Zettel in die Hand „und da ist das Licht!“. Bei der ersten Schlacht von Kaer Iwhaell wurde ich mit dem Teufelszeug vergiftet … und Dank des Rezeptes in deiner Hand, konnten wir ein Gegenmittel herstellen! Es stammt von einem Zauberer! Licht und Schatten mein Freund!“ Atheris setzte sich wieder auf seinen Stuhl. „Ich vertraue ihr mit meinem Leben, vertraust du mir?“

Gabhan besah sich den Zettel in seiner Hand, befühlte das abgegriffene Papier unter seinen Fingern. „Es ist nicht so einfach…“ erwiderte Gabhan leise und schüttelte den Kopf. „Es ist so viel mehr Grau in dieser Welt Atheris. Da ist kein diffuses Dunkel… keine höhere Macht. Kein Teufel…“ er ließ die Schultern sinken.

Wie konnte Atheris nur in solch einem blinden Eifer daran glauben, dass das Gute tatsächlich existierte? Es wollte einfach nicht in seinen Kopf. Aber hatte er dies nicht auch getan? Einst an das Gute geglaubt? Eine leise Stimme in Gabhans Inneren meldete sich. Regte sich. Da gab es Sie. Hatte Sie gegeben. Sie war fort. Hatte ihn ausgesperrt. Und mit ihr war auch das Gute aus dieser Welt entschwunden. Caillean.

„Atheris…“ erschien nach ihm greifen zu wollen, ihn festhalten. Schütteln. „Wenn du wüsstest was ich weiß. Gesehen hättest was ich gesehen habe. Wenn du getan hättest was ich getan habe…“ er schlug die Augen nieder. Schüttelte den Kopf. „Ja. Ich vertraue dir Atheris. Auch wenn ich glaube, dass du sehr naiv bist. Beneidenswert. Auf der einen Seite. Aber eine gefährliche Sache. Sehr gefährlich.“ Doch dann nickte er. „Wieso sie?“

Atheris sah, wie geknickt auf einmal Gabhan vor ihm stand – ein Häuflein Elend! „Gabhan, natürlich weiß ich nicht, was du alles gesehen und getan hast, aber wenn du möchtest, kannst du es mir erzählen! Ich verspreche dir, kein Urteil über dich zu brechen!“ Atheris atmete durch „Wieso Grazyna? Die Frage, kann ich nicht beantworten … Schicksaal … Vorsehung? Vielleicht ist es aber auch nur einfach Zufall gewesen, dass ich sie getroffen habe. Für mich sind die Taten entscheidend, Gabhan. Grazyna hat mir mehr als einmal das Leben gerettet, sie ist eine liebenswerte Frau, die wie wir ihren Platz in der Welt sucht und nach etwas Glück strebt. Die Frage müsste also lauten … Warum nicht sie?“

Kein Urteil über ihn brechen? Das wagte Gabhan doch arg zu bezweifeln. „Lass mal gut sein. Was geschehen ist, ist geschehen. Daran wird sich nichts mehr ändern lassen. Sagen wir einfach, dass es da ein paar Dinge gibt, auf die ich nicht gerade stolz bin.“

Eine liebenswerte Frau also. Jemand der ihren Platz in der Welt suchte. Die nach Glück strebte. Keine sehr ausführliche Beschreibung. Aber Atheris schien es zu genügen – und vielleicht hätte Gabhan froh sein sollen, dass sich der Greifenhexer mit so wenig zufriedengeben konnte. Denn sonst hätte er Gabhan wohl längst zum Teufel gejagt. Und das wohl sogar mit Recht. „Verfluchte Scheiße, das werde ich eines Tages so bereuen – und womöglich unsre ganze Zunft gleich mit…“ er trat zu seinem Gürtel, den er über einen der Hutständer in der Ecke geworfen hatte und öffnete die dortige Tasche. Zwei Briefe und eine silberne Eichel fielen heraus. Gabhan packte die Eichel fort, hob die beiden Briefe auf und blieb für einen kurzen Moment stehen, strich mit dem Daumen über den lädierten der beiden und schien für den Bruchteil eines Augenblicks in Überlegungen zu hängen, ehe er den Kopf schüttelte und den Brief wegpackte, sich mit dem zweiten an Atheris wandte und ihm diesen überreichte. „Ich habe ihr gesagt, ich hätte ihn in einer Zwergen Bank deponiert und wenn mir jemals was passieren würde, würde ihn ein Mittelsmann stantepede an den Geheimdienst der Schwarzen schicken. Hat mich gewundert, dass sie das geschluckt hat. Als ob ich das Geld für ein Schließfach bei der Bank hätte. Oder Leute die sowas für mich tun würden.“ Er sah, wie Atheris nach dem Brief greifen wollte, den er zwischen Zeige- und Mittelfinger hielt und zog ihn noch einmal kurz nach oben fort. „Lass mich das nicht bereuen. Ich will nicht ungemütlich werden. Ich meine es ernst Atheris. Dieses eine Mal will ich nicht zum äußersten getrieben werden. Ich vertrau dir. Und das fällt mir nicht leicht.“

Atheris nahm den Brief entgegen. „Danke, Gabhan! Du wirst es nicht bereuen!“ sagte er, als er sich erhob. „Ich werde mich wieder hinlegen, ich fühle mich noch immer schwach und ausgelaugt.“

Gabhan zeigte ein schmales Lächeln. „Ruhe dich aus Atheris. Das ist das Wichtigste. Du bist dem Tod nur knapp entronnen.“

Zufrieden mit dem Gesprächsverlauf erhob sich Atheris schwer und machte sich auf den Weg zurück in sein Zimmer. Auf dem Flur begegnete er Grazyna, die ihn wohl gerade gesucht hatte und die ihm sofort half, zurück ins Bett zu steigen, das inzwischen frisch bezogen war. Als er gut zugedeckt auf seinem Rücken lag, überreichte er Grazyna den Brief. „An deiner Stelle würde ich ihn sofort vernichten, Grazyna!“ lächelte er und schloss die Augen.

Wenn die Vergangenheit ruft

Gabhan wusste noch immer nicht, ob er nicht einen großen Fehler begangen hatte, indem er sein eigenes Druckmittel aus der Hand gab. In Wahrheit war er sich ziemlich sicher, dass er einen gewaltigen Fehler begangen hatte. Einen Fehler, der sich eines Tages womöglich noch an ihm rächen würde. Wieso hatte er Atheris in dieser einen Sache vertraut? Was hatte er sich davon erhofft? Gabhan wusste es nicht. Er hasste es. Hasste es Dinge nicht zu wissen und sie nicht einsortieren zu können.

Viel Zeit sich darüber Gedanken zu machen hatte er nicht. Allgemein schien ihm bereits seit vielen Wochen jegliche Zeit für eigenständige Gedanken in der ruhigen Einsamkeit die er zu schätzen gelernt hatte nicht mehr vergönnt zu sein. Auch diesmal klopfte es an der Tür, welche kurz darauf Atheris ausspie. Vielleicht war es besser so. Vielleicht waren seine eigenen, alleinigen Gedanken doch nicht so gesund für ihn. „Du siehst ausgeruht aus,“ kommentierte der Bärenhexer. „Voller Tatendrang, wenn ich so sagen darf. Ein Drang der wohl auch mich vordrängen wird, sehe ich das richtig? Aber wohin drängst du?“

„Ich habe noch eine Schuld zu begleichen, Gabhan! Außerdem ist das Herbstwetter schön und Ker’zaer könnte ein wenig Bewegung vertragen. Kommst du mit?“ antwortete Atheris auf die Frage seines Zunftbruders. Atheris war überglücklich gewesen, als er bemerkt hatte, dass sich Grazyna die Mühe gemacht hatte, seinen schwarzen Hengst nach Toussaint zu holen – auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie sie das bewerkstelligt hatte … war Grazyna inzwischen in der Lage, Portale zu erschaffen? Egal, zumindest Gabhan schien die Aussicht zu gefallen, das Anwesen nach all den Tagen zu verlassen … zumindest interpretierte er das Brummen von Gabhan als Zeichen der Freude.

Atheris fand Grazyna in eines ihrer Bücher vertieft am Schreibtisch ihres Zimmers sitzen. Die Aussicht auf einen Tapetenwechsel schien sie zu erfreuen, denn sie stimmte sofort zu ihn zu begleiten. Lediglich als sie erkannte, dass Gabhan ebenfalls mitkommen würde, huschte ein Schatten über ihr Antlitz. Gabhan und Grazyna schienen wirklich nicht gut miteinander auszukommen. Immer wieder gerieten die beiden wegen beiläufige Kommentare aneinander und er hatte immer wieder zwischen ihnen vermitteln müssen. Atheris hoffte, dass der gemeinsame Ausflug ihnen vielleicht helfen konnte, sich besser zu verstehen.

Ker’zaer begrüßte Atheris mit einem freudigen Wiehern, als er zusammen mit seinen beiden Begleitern die kleine Stallung hinter dem Haus betrat. Obwohl die Wunden verheilt waren, war er noch so geschwächt, dass er es nicht alleine schaffte, den Sattel auf den Rücken seines treuen Tieres zu hieven. Sein Zunftbruder musste es bemerkt haben, denn er eilte ihm sofort zur Seite. „Danke dir, Gabhan!“

Die Herbstsonne stand hoch am Firmament, als sie die Stadttore von Beauclair passierten. Die Hauptstadt von Toussaint, die auf den alten Ruinen einer Elfenstadt erbaut worden war lag idyllisch zwischen den Weinbergen. Über der Stadt thronte auf einem riesigen Felsen der Herzoginnenpalast, der mit seinen beiden kunstvollen weißen Türmen wie aus einem Märchen entsprungen wirkte.

Atheris betrachtete die ihm vertrauten Häuserfassaden, die sich in den letzten Jahren kaum verändert hatten. Die Straßen waren belebt, wie fast immer so kurz nach der Weinlese. Langsam schritten die Pferde über die gepflasterten Straßen, die ebenfalls ein Anzeichen des Reichtums der Stadt waren. Ihr Weg führte sie vorbei an den Häusern der reichen Kaufmänner und des Stadtadels. Sie überquerten den großen Platz, an dem das imposante Gebäude der Cianfanelli-Bank stand. Vorbei an dem Büro, das die Familie Groll hier betrieb und bei der auch Atheris eine kleine Summe deponiert hatte. Letztendlich führte ihr Weg sie durch ein altes Tor zu einem der Randbezirke. Die reichverzierten Häuser wichen einfacheren Gebäuden. Atheris beobachtete, wie die Kinder auf der Straße spielten und ihm freudig zuriefen – sie erkannten ihn wieder. An einem kleinen Platz, auf dessen Mitte sich ein kleiner überdachter Brunnen befand und Bauern an ihren Marktständen ihre Waren feilboten, zügelte Atheris sein Pferd und stieg vor einem zweistöckigen Haus ab. „Wir sind da!“ verkündete er seinen Begleitern.

Gabhan verzog das Gesicht – ganz offenbar kannte man Atheris hier und aus irgendeinem Grund schienen ihm die Menschen hier tatsächlich so etwas wie Freundlichkeit entgegen zu bringen. Gabhan verstand es nicht – verstand nicht, wieso es einen Ort gab, wo sie nicht fortgejagt wurden. Nein, berichtigte er sich – wo Atheris nicht fortgejagt wurde. Als sein Raubtierblick über die Männer und Frauen glitt sah er in ihrem Blick keine Freude. Keinen Gruß. Beinahe beruhigte es ihn. So kannte er es. Es rüttelte weniger an seinem Weltbild.

Gabhan sah auf zu dem großen zweistöckigen Haus mit dem süßen Giebeldach und den pittoresken Blümlein, die auf dem Holz aufgemalt waren. „Und wo ist da?“ fragte Gabhan leise und warf einen Blick zu Grazyna, mit der unausgesprochenen Frage im Blick, ob sie wusste was bei allen Göttern Atheris hier vorhatte.

„Zu Hause, Gabhan! Mein zu Hause!“ antwortete Atheris mit einem Lächeln. „Wartet hier bitte einen Moment.“, fügte er hinzu während er Ker’zaer an einem Zaun befestigte und dann zu der alten Holztür schritt. Drei Mal klopfte er laut an die Tür und wartete. Nach einer kurzen Zeit hörte Atheris Schritte aus dem Inneren des Hauses, die sich ihm näherten. Dann öffnete sich die Tür langsam und eine rüstige alte Dame blickte ihn an und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem warmen Lächeln, als sie Atheris erkannte. „Damien, begrüßte sie ihn und die zierliche Frau schloss den großen Hexer in ihre Arme. „Grazyna … Gabhan! Darf ich euch vorstellen … meine Mutter Amelie!“

„Ja leck mich am.…“ wo man ihn lecken sollte erfuhr niemand, denn Grazynas Ellenbogen stieß ihm in die Rippen und das fester als er der Magierin zugetraut hatte. „Es freut mich… eure Bekanntschaft zu machen,“ erwiderte Gabhan leise und verbeugte sich mit jener nilfgaarder Verbeugung, die man ihm vor Jahren beigebracht und die er selten für notwendig gehalten hatte. Eine Mutter. Nun, natürlich hatte Atheris eine Mutter – jeder hatte eine. Selbst Hexer hatten Eltern. Die meisten Hexer kannten ihre nur nicht. Gabhan hatte seinen Vater gekannt. Das war eine eigene Geschichte, aber Atheris kannte seine Mutter nicht nur, sie war auch noch am Leben und schien sich zu freuen ihn zu sehen. Gabhan konnte es nicht glauben und doch beschloss er höflich und freundlich zu einer Dame zu sein, die verflucht alt sein musste, auch wenn sie noch fit wirkte. Aber Gabhan brachte es nicht zusammen. Eine nette alte Dame, die ihr Kind weggegeben hatte. Kurz keimte Zorn in ihm auf, aber es war nicht sein Zorn. Er hatte kein Recht. Abwarten. Dieses eine Mal warf er Grazyna einen beinahe hilflosen Blick zu, denn er wusste wahrlich nicht wie man sich nun verhalten sollte.

Die alte Frau ihr gegenüber sah freundlich aus – da war ein warmer Ausdruck in ihrem Gesicht, ein Funken Stolz, der immer dann aufblitzte, wenn ihr Blick über ihren Sohn wanderte und Grazyna blieb nichts anderes übrig, als sich von diesem Lächeln anstecken zu lassen. Sie ertappte sich dabei, wie ihre eigenen Mundwinkel sich zu einem Lächeln verzogen als sie einen Schritt nach vorn setzte und sich ebenfalls sacht verneigte.

„Es freut mich unglaublich Eure Bekanntschaft zu machen“, hob sie die Stimme und nahm es Gabhan damit ab weitersprechen zu müssen, denn auch sein hilfloser Blick war ihr aufgefallen. „Wir haben so viel schon gehört. Euer Sohn hat bisher nur gut von Euch gesprochen – nach allem, was wir gehört haben, mussten wir Euch unbedingt kennen lernen. Ich hoffe, wir kommen nicht unpassend …?“

Das Unbehagen war Gabhan ins Gesicht geschrieben, was Atheris nicht weiter wunderte. Der Bärenhexer war alles andere als ein Familienmensch – das waren die meisten Hexer nicht. Grazyna hingegen schien nicht sonderlich überrascht zu sein, aber sie kannte auch viele Geschichten über ihn und seine Herkunft.

Gemeinsam traten sie in das bescheidene Heim. Amelie zeigte auf den Tisch, der in der Mitte des Raumes stand und an dem zwei Stühle und eine Bank standen. Nicht viel hatte sich in den letzten Jahren verändert. Während seine Mutter einen Kräutertee aufsetzte, entschuldigte er sich und stieg die schmale Treppe hinauf ins obere Geschoss. Alles lag noch dort, wo er es bei seinem letzten Besuch hinterlassen hatte. Sein Blick fiel auf den schwarzen Schild mit der goldenen Sonne des Kaiserreichs auf der Front, der an einem einfachen alten Bett lehnte. Er war ein Relikt aus seiner Vergangenheit, hatte ihm bei der Schlacht von Brenna gute Dienste geleistet und hatte ihn immer geschützt – war nie zerbrochen. Daneben auf einer kleinen Kommode ruhte sein alter Helm, die leeren Sehschlitze schienen seinen Bewegungen zu folgen als er sich der hinteren Wand näherte. Atheris öffnete das mehr oder weniger versteckte Fach und zog zwei kleine Säckchen mit Münzen hervor. Nachdem er die genaue Summe abgezählt hatte, machte er sich wieder auf den Weg zurück zu den anderen. Als er den Tisch erreichte, legte er lächelnd die Beutel auf den Tisch. „Damit sollte meine Schuld beglichen sein, Gabhan!“

Gabhan starrte auf den Beutel, den ihm Atheris hingeworfen hatte, als habe ihm der Freund gerade einen zerquetschten Igel vor die Nase geworfen. Langsam atmete Gabhan durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. „Das werde ich nicht annehmen Atheris,“ meinte Gabhan mit leiser, aber fester Stimme. Er würde es nicht annehmen. Niemals. Natürlich riet sein Verstand ihm es doch zu tun. Riet ihm, den Stolz und den Anstand herunter zu schlucken, der ihm noch nie etwas Gutes eingebracht hatte und das Geld zu nehmen, das er dringend gebrauchen konnte. Aber Anstand und Stolz konnte man nicht in Gold aufwiegen. Doch verkaufen konnte man sie und war dies einmal geschehen erhielt man sie nie wieder zurück.

„Ich habe nichts getan, was dieses Geld rechtfertigen würde also steck es ein, gib es deiner Frau Mama oder spende es, wenn du musst.“

Atheris nickte stumm, nahm die gefüllten Säckchen und ließ sie in einer großen Tasche verschwinden. Er hatte damit gerechnet, dass sein Zunftbruder das Geld nicht annehmen würde, aber die Ehre gebot es Atheris ihm die abgemachte Bezahlung zumindest anzubieten. Nachdem er sich gesetzt und einen Schluck von dem kräftigen Kräutertee genommen hatte, richtete er das Wort an seine Mutter. „Erzähl Mutter, wie geht es dir, was ist in meiner Abwesenheit passiert?“

Gabhan lehnte sich zurück und taxierte sowohl Atheris als auch die alte Frau. Noch immer wollte ihm nicht in den Kopf was hier gerade geschah. Sie saßen in der guten Stube einer alten Dame, die nach den Erzählungen des anderen dessen Mutter war und es rein vom Alter her mit Hängen und Würgen hätte sein können. Das war nicht richtig. Die Eltern aller noch existierender Hexer waren mittlerweile tot. Asche und Staub. Waren es oftmals schon gewesen ehe auch nur ein Mutagen in die Adern ihrer Sprösslinge gepumpt worden war. Ein Hexer konnte keine Familie haben. Das ging gegen alles. Es faszinierte ihn. Gabhan konnte nicht sagen warum oder weshalb, aber er lauschte. Er lauschte sehr angestrengt.

Amelie schenkte sich selber etwas von dem Tee ein, ließ sich in einen der Stühle sinken und fing an zu erzählen. Fast ihr ganzes Leben hatte sie im Dienste der Familie du Lac gestanden. Auch jetzt im hohen Alter verbrachte sie noch viel Zeit auf dem Anwesen und kümmerte sich vor allem um die jungen Sprösslinge der alten Adelsfamilie. Obwohl Atheris nur wenig mit seinen Halbgeschwistern zu tun gehabt hatte, war er betrübt, als er von seiner Mutter erfuhr, dass sein Halbbruder Ramon vor kurzem ein Opfer des sogenannten ‚Biests von Beauclair‘ geworden war. Die Wachen hatten ihn im Nachtgewandt in der Gosse mit durchbohrtem Herzen vorgefunden. Es war den Gerüchten zur Folge ein Vampir gewesen, der ihn getötet hatte – angeblich aus Rache für das was er der Schwester der Herzogin, einer Frau Namens Sylvia, angetan haben sollte. Sylvia … den Namen hatte Atheris noch nie zuvor im Rahmen der Herzogsfamilie gehört. Die Folgen für die Familie du Lac waren gravierend. Während Sie trauerten, gelangten die schweren Vorwürfe an die Öffentlichkeit. Angeblich sollten Ramon und seine Begleiter die Schwester schwer misshandelt haben, als er sie vor vielen Jahren ins Exil geleiten sollte – wenig ritterlich für einen Adligen aus Toussaint. Atheris bemerkte wie emotional seine Mutter wurde, als sie anfing zu berichten, wie sich seitdem entfernt Verwandte Anspruchsteller wie die Geier in Beauclair einfanden um sich über die Güter der in Ungnade gefallenen Familie herzumachen.

Sophie, die älteste Halbschwester von Atheris hatte einen Großteil des Familienvermögens eingesetzt um Advokaten und sonstige Handelsmänner zu bezahlen um jene Anspruchsteller loszuwerden, aber ohne die Wiederherstellung der Familienehre würde es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis der Titel und die Ländereien verloren gehen würden. Ramon war kinderlos gestorben, Sophie hatte zwar zwei Söhne, aber diese waren zu jung um für die Familienehre in einem Duell erfolgreich antreten zu können und ihr Ehemann war in den nördlichen Kriegen ums Leben gekommen. Die beiden jüngeren Schwestern Jasmin und Emilia war unverheiratet. Somit war einziger legitime Streiter der die Familienehre wieder herstellen konnte, der jüngere Halbbruder Aramis, der allerdings als fahrender Ritter seit fünf Jahren angeblich in Serrikanien unterwegs war. Alle Boten die auf die Suche nach ihm entsendet worden waren, hatten sich entweder nicht oder ohne Ergebnis zurückgemeldet und einige der Anspruchsteller hatten deswegen bereits Anträge beim Herold gestellt, den verschollenen Ritter für tot zu erklären.

Atheris hörte sich die Ausführung seiner Mutter an, er konnte sich nur ganz grob an seine Kindheit auf den Familienanwesen der du Lacs erinnern. Als unehelicher Sohn des Grafen durfte er damals mit seiner Mutter, die zu jener Zeit als Zofe angestellt war, auf dem Anwesen in einem der Gesindehäuser wohnen. Erst nach der Heirat seines Vaters und vermutlich auf Drängen der neuen Gräfin, wurde Atheris zu den Vatt’ghern gegen den Willen seiner Mutter wegegeben. Erst viele Jahre später war er als junger Offizier der kaiserlichen Armee zu seiner Familie zurückgekehrt und nur mehr oder weniger gezwungen willkommen geheißen worden. Ramon war damals ein halbstarker Racker gewesen, der sich sehr für den seltsamen Mann mit den Schlangenaugen interessiert hatte. Aramis, Sophie, Jasmine und Emilia waren Sprösslinge aus der zweiten Ehe des Grafen und Aramis hatte zu jener Zeit gerade erst gelernt auf seinen eigenen Beinen zu stehen. Der Ausbruch des ersten Krieges mit den nördlichen Königreichen im selben Jahr und der damit verbundene jahrelange Feldzug, verhinderte damals, dass er seiner Familie hätte näherkommen können.

Es war wohl der Tatsache geschuldet, dass seine Mutter die Familie du Lac wie ihre eigene betrachtete und er erkannte, wie sehr seine Mutter zu leiden schien, dass Atheris anfing sich Gedanken um das Wohl der Familie zu machen – aber was konnte er als Bastard denn großartig machen und war es wirklich sein Problem?

Bei der Großen Sonne – die Situation war bei weitem keine einfache und Grazyna hatte sich noch nie zuvor so sehr eine schnelle Lösung gewünscht, wie in diesem Augenblick. Ihr Blick wanderte immer wieder zu der alten Frau, die dort mit ihrer Teetasse in der Hand am Tisch saß und deren alte Finger zitterten. Die Haut knitterte an den Händen, als wäre sie altes Pergament, das durch viel zu viele Hände geglitten war und wann immer Grazyna ihren Blick hinauf zu dem Gesicht wandern ließ, glaubte sie das verräterische Glänzen von Tränen in ihren Augen zu erkennen. Es musste ihr fürchterlich weh tun hier zu sitzen, immer wieder Angst davor, ihr eigenes Heim zu verlieren und den Sohn vor Augen, den sie einst vor Jahren in die Ferne hatte geben müssen und den sie nur dann und wann wiedersehen konnte, immer in der Hoffnung, es würde noch rechtzeitig sein bevor das Alter sie einholte.

Die Zauberin hatte Mitleid mit der alten Frau und langsam stellte sie die Teetasse ab. Sie wusste nicht, weshalb sie jetzt die Hand ausstreckte und sie sanft auf die der Älteren legte. Behutsam schob sie die Finger um die Hand und drückte sie sacht. „Wir finden eine Lösung“, verließ es ihre Lippen, noch bevor ihr Verstand ihr riet, sich aus dieser Angelegenheit rauszuhalten. Es ging sie nichts an, es sollte sie nichts angehen, aber hier saß sie jetzt und hatte dieses leise Versprechen geformt, weil es ihr richtig erschienen war. Sie verfügte über genug Geld, um Gabhan diesen Dienst zu bezahlen und so lenkte sie ihren Blick hinüber zu den beiden Hexern am Tisch und lächelte, ein stummes Bitten in den Augen. „Nicht wahr?“

Grazynas Worte rissen Atheris aus seinen Gedanken, er war froh, dass sie es war, die ihre Hilfe anbot. „Wir werden eine Lösung finden!“ stimmte er nickend zu und blickte zu Gabhan. Der Bärenhexer hatte alles schweigend verfolgt, was er wohl dachte? Familie? Ehre? … was hatte er damit zu tun? Atheris war auf seine Antwort gespannt.

Nun blickten alle zu ihm und Gabhan atmete tief ein. Sehr, sehr tief. Sein Brustkorb hob sich, spannte sich und drückte gegen die enge Lederumfassung seiner Rüstung. Dann, ganz langsam, stieß er die Luft wieder aus wie ein Blasebalg. Offensichtlich war die Entscheidung ja bereits gefällt worden, auch wenn er Atheris später in einem ruhigeren Rahmen fragen musste, ob er seinen verdammten Verstand verloren hatte. Er war verletzt, ihr Geld ging zu neige und sie brauchten einen Auftrag der harte Münzen brachten und keinen Familienurlaub den sie mit Blut bezahlen mussten. „Ich finde immer eine Lösung,“ erwiderte er schließlich, während er Grazynas Blick auffing der etwas anderes ausstrahlte als jener von Atheris. Ihr Blick war vergoldet und dass ihm dies gefallen mochte machte ihm Sorgen. Wahre Sorgen. „Und wie könnte eine solche Lösung aussehen? Ich bin nur ein einfacher Bürgerlicher müsst ihr Wissen, habe keine Ahnung von den Marotten der hohen Herren,“ log er. Er wusste was sie tun konnten und das gefiel ihm noch weniger. Er hoffte, dass man ihm eine andere als die naheliegende Lösung präsentierte.

„In Toussaint werden die ritterlichen Tugenden und die Ehre hochgehalten, das ist vermutlich jedem hier im Raum bekannt! Wir brauchen eine Lösung, welche die Familienehre nachhaltig wieder herstellt. Etwas das verhindert, dass überhaupt jemand Anrechte erheben kann!“ fing Atheris mit der Diskussion an.

Gabhan hatte es befürchtet. Das Gespräch von Ehre kam nun auf den Tisch – von Rittertugenden und anderen Dingen an die er in einem anderen Leben womöglich auch geglaubt hätte, aber dieses Leben führte er nicht. Er hätte gerne so getan, als wäre all dies wichtig. Als mache es einen Unterschied und als könne all diese Ehre, die Rituale und die hohen Ansprüche etwas ändern. Aber er wusste es besser. „Was, willst du ein Tournier veranstalten? Mit Burgfräulein, Gunstbändchen und Tjosten?“ fragte Gabhan und hob die Augenbrauen.

„Wenn es die Lösung ist, Gabhan!“, antwortete Atheris. Es war dem Bärenhexer anzusehen, dass ihm das Gerede von Ehre gegen den Strich ging, er es aber runterschluckte. „Die Frage ist, ob es funktioniert und was die Voraussetzungen dafür sind, kennt sich da jemand aus? Grazyna?“ er blickte zu der Magierin neben sich.

Grazyna verzog den Mund ein Stück und wirkte nur äußerst unglücklich mit der Lösung, die Gabhan da soeben vorgeschlagen hatte. Es war nicht so, als stünde diese Lösung nicht zur Debatte, aber auf dem Weg dorthin gab es bedeutend mehr Steine, als die, welche die beiden Hexer hier gerade sahen. Langsam, um Zeit zu gewinnen, in der sie ihre Antwort überdenken konnte, schob sie sich eine der schwarzen Strähnen aus dem Gesicht und schloss dann kurz die Augen. „Möglich ist das, allerdings ist das nicht so einfach“, räumte sie dann gedehnt ein. „Du bist ein Hexer, Atheris und die Ritter und restlichen Adligen werden dich zuvorderst nur als das wahrnehmen. Ein Hexer hat kein Recht auf Besitz – es sei denn, er wird ihm zugesprochen. Erst damit erhältst du Recht für Land streiten zu können.“

Gabhan zuckte mit den Schultern. „Da hörst du es Atheris – es ist so gut wie unmöglich. Ist nicht schlimm, nimm es nicht persönlich. Wir sind nun mal Hexer. Wir kennen unseren Platz und auch die Welt hat ihn nicht vergessen. Aber so ist das nun mal. Kann man nichts machen!“ er wollte schon aufstehen, doch Grazynas Blick nagelte ihn an Ort und Stelle fest und dafür benötigte sie noch nicht einmal ein Quäntchen Magie. „Zumindest … normalerweise nicht. Wir finden natürlich wie immer einen Weg,“ sprach er knurrend das aus, was in Grazynas Blick verborgen lag. Verflucht, sie würden es so oder so tun und am Ende würde es schief gehen, wenn er nicht half. So wie immer.

„Vielleicht sollten wir uns Rat einholen – von einem Advokaten oder vielleicht vom Herold selbst?“, warf Atheris in den Raum. Es musste doch eine Möglichkeit geben, er war schließlich der Sohn des alten Grafen, das musste doch irgendwas wert sein.

Es wurde ein langer und diskussionsreicher Tag und erst nachdem die Sonne bereits lange untergegangen war, machten sich die drei Gefährten auf den Weg zurück zum Sommerhaus.

Gedanken und Wein

Gabhan roch die Flammen der Kerzen, noch ehe er sie sehen konnte. Von jetzt auf gleich entzündeten sich alle Kerzen im Zimmer zur selben Zeit. Der Hexer warf der Zauberin einen kurzen Blick zu, die diesen jedoch nicht auffing, sondern an ihm vorbeischritt und erst zwei, dann nach kurzer Überlegung, drei Gläser aus dem Schrank nahm und eine Flasche Wein hervorzog.

„Ich fasse also zusammen,“ intonierte der Bärenhexer, der wusste das nun das unvermeidliche kommen würde. Sie mussten einen echten Plan fassen. Mehr als nur ein Geplänkel und mehr als nur Ideen, die sie hatten und die sie sich hin und her geworfen hatten wie heiße Kohlen. Grazyna sah so aus als wüsste sie was zu tun war, Atheris wirkte entschlossen und auch er, Gabhan, hatte einen Plan. Doch er hegte arge Zweifel daran, dass die Pläne eines jeden von Ihnen dem Plan des anderen entsprachen. „Du willst also wahrhaft zu dem Anwesen marschieren und dort darauf pochen, dass du der Sohn des Herrn Papas bist…“ hakte Gabhan nach und hob die Augenbrauen. „Ich frage nur ungern aber – hast du dafür Beweise? Mehr als dein Wort?“ er warf Grazyna einen Blick zu. „Sowas braucht es doch, oder? Selbst hier in Toussaint?“

„Sowas braucht es in der Tat hier in Toussaint. Genauso wie überall sonst“, bestätigte die Zauberin lediglich mit einem Seufzen angesichts der Geistesgegenwärtigkeit, mit der Gabhan seine Gedanken hier zum besten gab. Gerade in den Kreisen, in denen Atheris‘ Familie verkehrte, war es die Regel, dass es irgendwo Aufzeichnungen gab – Aufzeichnungen, die es zu finden galt und die sie vielleicht doch noch zu einem der Ärzte führte, die einst die Familie betreut hatten.

„Es sollte zumindest Geburtsurkunden geben, auf die wir zurückgreifen können. Selbst als illegitimer Sohn des Hauses sollte Atheris verzeichnet worden sein“, führte sie an und füllte die drei Gläser, zuerst Atheris eines davon hinüberschiebend und ein weiteres dann an Gabhan weiter reichend. Sie hatte es absichtlich vermieden das Wort ‚Bastard‘ in den Mund zu nehmen – es passte nicht, vor allem nicht zu der aktuellen Situation. „Dafür sollten wir allerdings zum Anwesen aufbrechen. Am besten morgen früh – heute Abend würde ich gern einen ruhigen Abend verbringen und unsere Gedanken sortieren.“

„Ich habe meine ersten Jahre auf dem Anwesen verbracht, mich würde es wundern, wenn es keine Aufzeichnungen über mich gibt – auch wenn mir nicht alle wohl gesonnen waren!“ antwortete Atheris und trank einen tiefen Schluck aus dem Glas. „Gabhan, ich hatte tatsächlich bisher nie gedacht, dass meine Abstammung eine Rolle spielen könnte – zu lange ist es her, dass ich dank der Mutationen als Sonderling abgestempelt wurde.“, er nahm einen weiteren tiefen Schluck aus seinem Glas. Es würde ein interessanter Tag werden und er war gespannt, wie das Wiedersehen mit seiner Familie verlaufen würde.

„Deine Abstammung sollte auch keine Rolle mehr spielen,“ knurrte Gabhan nur leise und richtete sein Augenmerk wieder auf Grazyna. „Sag‘s ihm. Sag es ihm oder ich tue es – das alles ist doch völliger Unfug. Atheris ich beschwöre dich. Das ist keine gute Idee. Vor deiner Frau Mama wollte ich es nicht sagen. Es erschien mir unhöflich. Kalt und herzlos. Aber das ist doch Wahnsinn. Selbst wenn es diese Aufzeichnungen gibt, was dann? Du bist ein Hexer. Niemand wird dir irgendetwas geben. Du bist noch nicht einmal mehr ein Mensch. Du kannst nicht erben und du kannst nicht mehr vererben. Wieso die Ehre einer Familie beschützen, die dich zum Sterben an die Hexer gegeben hat?“

„Weil Familie etwas zu bedeuten hat, Gabhan“, erwiderte Grazyna an Atheris‘ Statt und erhob sich wieder von ihrem Platz, nur um in einem der Regale eine zweite Weinflasche hervor zu ziehen und diese auf den Tisch zu stellen. Sie wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass sie heute Abend mehr als nur eine einzige Flasche benötigen würde. „Es tut mir leid, dass du das nicht nachvollziehen kannst, aber du hast dich für deinen Weg entschieden. Gib anderen eine Gelegenheit, sich auch selbst entscheiden zu können“, führte sie fort und füllte ihr eigenes Weinglas noch einmal auf, die Augen nicht von Gabhans zerfurchtem Gesicht lassend. „Dein Weg ist nicht immer der einzig richtige in dieser Welt.“

„Oh bei den Göttern, den Geistern und allem anderen was man so anrufen mag – ich hoffe doch sehr, dass mein Weg nicht der einzig richtige in dieser Welt ist, sonst kämen wir ja alle am selben Ziel an…“ knurrte Gabhan. „Aber mein Weg ist der des Hexers und auch Atheris ist einer. Atheris ich beschwöre dich. Spiele nicht den Ritter in edler Rüstung. Das bringt dich um. Wir sind was wir sind!“ er fing erneut Grazynas Blick auf, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Wollte nicht mehr diesen Blick sehen. „Glaubt nicht ich wüsste nicht was Familie bedeutet. Töricht ist es allemal. Das macht kein Blut dieser Welt wett. Ich kenne diese Welt lang und gut genug um zu wissen wie es endet und mir gefällt dieses Ende nicht.“

„Ich verstehe deinen Standpunkt, Gabhan! Ich habe über die Jahre viele tapfere Männer kennengelernt, die genauso denken wie du – vor allem Hexer. Aber im Vergleich zu dir war ich den Großteil meines Lebens kein Vatt’ghern, ich war Soldat und habe trotz meiner Mutationen viele Freunde und Kameraden kennengelernt. Ich kenne nicht die Beweggründe meines Vaters, warum ich damals weggegeben wurde, aber meine Mutter wurde durch die Familie du Lac immer bestens versorgt und das ist mir einiges wert. Ich meine, Gabhan! Wir Hexer setzten in der Regel unser Leben aufs Spiel, für Leute die wir kaum oder gar nicht kennen und wofür? Für Geld -verständlich, wir benötigen es um zu überleben – aber Hand aufs Herz mein Freund, wie oft hast du Aufträge unter Wert angenommen? Ich für meinen Teil habe das Gefühl hier das Richtige zu tun!“ Atheris griff nach seinem Weinglas, das Grazyna liebenswerter Weise während seiner Antwort bereits wieder gefüllt hatte – da war sie wieder … wie vor so vielen Jahren, diese Vertrautheit! Sie wusste, was er jetzt brauchte! Sein Blick wanderte zu der Zauberin und dann hinüber zu Gabhan.

„Wenn du einen weiteren Ansatzpunkt brauchst, um uns zu unterstützen“, hob Grazyna noch einmal die Stimme und fixierte den Bärenhexer ihr gegenüber. Gabhan sah beständig aus, als habe er in eine Zitrone gebissen, doch für den heutigen Abend schien diese Zitrone die sauerste zu sein, die er jemals versucht hatte. Nur ganz kurz huschte ihr Blick hinüber zu Atheris und der kurze Anflug eines Lächeln schob sich über ihre Züge, als wäre es Antwort auf ihre eigenen Gedanken. „Dann nenn mir eine Summe und ich bezahle dich dafür. Du wirst dafür bezahlt, Monster auszuschalten – nur haben die dieses Mal menschliche Gestalt und bedrohen eine Familie“, vollendete sie ihren Satz und hob die Augenbrauen.

„Nein,“ erwiderte Gabhan knapp und schüttelte widerwillig den Kopf. Er war knapp bei Kasse, ja aber das? Das ging zu weit. Selbst er hatte seine Grenzen. Er war kein Auftragsmörder. Er tötete nicht Widersacher und Kontrahenten gegen Geld. Es musste Grenzen geben. Winzige zumindest. Hexer töteten Monster. Keine Menschen, egal wie literarisch man es ihm auch verpacken mochte. „Ich helfe euch nicht gegen Geld. Keine Chance. Der Kodex verbietet es. Diesmal wirklich,“ auch diesmal war es eine Lüge, denn es gab noch immer keinen Kodex. Keinen echten zumindest. „Wenn es dein innigster Wunsch ist Atheris…“ hob er jedoch an. „Dann sorge ich zumindest dafür, dass du nicht draufgehst. Ich habe eine Verantwortung für dich und ich muss dich heil wieder zu den Greifen bringen. Ich habe ja kaum eine Wahl, denn ohne meine Hilfe…“ er schüttelte den Kopf. „Nein. Du brauchst meine Hilfe!“

Atheris hatte im Gesichtsausdruck von Gabhan lesen können, wie er mit sich kämpfte bei seiner Antwort. „Ich freue mich über deine Hilfe, Gabhan! Und keine Sorge, niemand hat hier ein Attentat vor, das hast du missverstanden! Aber Grazyna hat Recht, es gibt diese Monster in menschlicher Gestalt – und auch wenn in Toussaint die Ehre hochgehalten wird, kann es für diese ‚Monster‘ ein gefundenes Fressen sein, wenn ein Hexer versucht die Familienehre wieder herzustellen … wir müssen also gewappnet sein!“

„Gewappnet…“ Gabhan spie das Wort beinahe aus, als wäre es etwas sehr Übelschmeckendes, das er möglichst schnell loswerden wollte. Er ließ die Schultern sinken und betrachtete Atheris eine ganze Weile, ehe er langsam nickte. „Gut. Dann wappne dich. Auf deine Art – ich werde dich auf meine Art wappnen,“ versprach er und warf Grazyna einen langen und bedeutungsschwangeren Blick zu. Er brauchte Informationen. Informationen über jene, die hier etwas zu sagen hatten und die zeitgleich beeinflussbar waren. Auf die eine oder andere Art. Wobei Gabhan eine bestimmte Art lieber gewesen wäre.

Familie

Atheris beobachtete wie in dem Becher vor ihm das Wasser langsam anfing zu kochen und der Dampf in seine Nase stieg. Zufrieden ließ er die Energie, die durch seinen Körper in die Hände strömte, versiegen. Die kleinen Flammenstrahlen die aus seiner Handfläche waberten und den Becher einhüllten, erloschen wie eine Kerze im Wind. Zufrieden gab der Hexer eine Kräutermischung hinein und verrührte diese im Wasser. Valerian hatte ihm verschiedene Übungen gezeigt, die im alltäglichen Gebrauch nützlich waren und gleichzeitig seine Fähigkeiten in den Hexer-Zeichen verfeinerten. Genüsslich nahm er den ersten Schluck zu sich und fühlte, wie die heiße Flüssigkeit in seinen Magen floss. Die aufputschende Wirkung würde ihm helfen die Müdigkeit abzuschütteln, die ihn umfing. Es war eine unruhige Nacht gewesen, eher untypisch für Atheris, aber die Gedanken um seine Familie beschäftigten ihn mehr, als er gedacht hatte.

Wenig später war es das Stampfen von Gabhans Stiefeln, die an sein Ohr drangen und den grummeligen Bärenhexer ankündigten. In voller Montur betrat er auch wenig später die Küche und der Blick seiner mutierten Augen fanden sofort seinen Zunftbruder an dem kleinen Tisch sitzend, der eigentlich für die Bediensteten des Hauses vorgesehen war. Atheris betrachtete, wie sich Gabhan auf den Stuhl neben ihm sinken ließ, wobei der hölzerne Stuhl ob des Gewichtes der Rüstung protestierend knarrte. Mit den Fingern angelte er sich ein Stück Wurst von dem Teller, der vor ihm stand. „Guten Morgen, Gabhan! Bereit den noblen Teil meiner Familie kennen zu lernen?“ begrüßte Atheris seinen Freund.

Die Kerzen in dem großen Leuchter flackerten in dem seichten Wind, der durch die geöffneten Fenster in den Raum wehte, weil das fahle Licht des Vollmonds nicht genug Licht spendete. Silbrig glänzte der Metallbeschlag der weißen Feder, die über das teure Pergament kratzte und Namen in schwarzer Tinte darauf schrieb, kurz innehielt während von draußen leise Stimmen in den Raum getragen wurden – kaum mehr als noch ein Flüstern begleitet von schweren Schritten – torkelnd, wankend. Niemand gab sich die Mühe besonders leise zu sein und trotzdem sorgten die Stimmen und die Schritte dafür, dass die Hand mit der Feder zwischen den Fingern innehielt und jene beinahe wütend zur Seite legte.

Raschelnd vermeldeten feine Stoffe das Aufstehen der Person, deren Schatten jetzt im Licht zu tanzen begann während sie sich in Richtung des Fensters bewegte und die Hände auf dem Fensterbrett abstützte. Eine ganze Weile lang wanderten die hellen Augen über die dunkel dar liegende Straße außerhalb, fixierten zwei Männer in einfacher Kleidung, die lachend und singend ihren Weg nach Hause zu suchen schienen – weit später, als sie zuhause sein sollten. Kopfschüttelnd ließ sie den Blick hinauf zu den Sternen wandern, die sich hell vom dunklen Himmel abhoben, ab und an verdunkelt von ein paar trotzigen Wolken, die ebenfalls ihren Weg suchten und vom Wind vorangetrieben wurden, der jetzt auch ihr um die Nase wehte und ein paar widerspenstige schwarze Locken in ihre Stirn schob, die sie mit einer kurzen Kopfbewegung wieder an Ort und Stelle brachte.

Was tat sie hier? Sie verhalf jemandem, der ihr sehr viel bedeutete, in ein Korsett, das er noch gar nicht erkannte, weil die Schönheit dieses Landstrichs ihn so sehr blendete. So sehr, wie sie einst als sie hierhergekommen war, geblendet von den hohen Weinbergen und den malerischen Städtchen, der Ritterlichkeit in den Männern, deren Weg sie kreuzte und in den hübschen Gesichtern der Damen. Alles hier wirkte wunderschön und trotzdem kamen die Momente immer häufiger, in denen es sich falsch anfühlte. Unwirklich, so als sei es nur eine Geschichte, in die sie hinein gesogen worden war und in der sie nach und nach vergessen hatte, dass sie hier nicht hergehörte.

Die Geschichte, die jetzt aufgesprengt worden war und deren ganze Wirklichkeit jetzt ausgebreitet vor ihr lag. Die Kämpfe um Land und Lehen, um Einfluss und Reichtum, die sich ganz und gar nicht von dem Norden unterschieden. Kämpfe, in die sie jetzt hineingezogen worden waren. Die Freiheit, jetzt plötzlich klar zu sehen, fühlte sich an, als habe jemand die Schnüre dieses engen Korsetts durchgeschnitten – das Atmen war klar, gierig sog die Lunge nach der benötigten Luft, die Kälte trieb Tränen in die Augen.

Verkrampft ballte sie die Finger um das weiße Holz der Fensterbank und schloss die Augen, konzentrierte sich auf das Atmen, wie sie es einst gelernt hatte, um jene unseligen Kräfte zu kanalisieren, die ihr dieses Leben erst eingebracht hatten. Sie war verraten und verkauft worden. Nilfgaard hatte sie betrogen – sie hatten gewusst, wo er gewesen war und aus purer dummer Hoffnung war sie wie eine Marionette gefolgt. Sie hatten es genutzt, wann immer es notwendig gewesen war und ihr letztlich gar nichts für Loyalität und Treue gegeben. Es war ein anderer Hexer gewesen, ob Zufall oder Vorsehung, machte keinen Unterschied.

Die Frage, die blieb und die ihr unter den Nägeln brannte und Übelkeit in ihr hervorrief, war eine einzige. Ihr Verstand schrie sie beinahe, jetzt viel lauter als über all die Zeit zuvor. Willst du das wirklich? Wollte sie wirklich weiterhin an Fäden hängen, wenn sie wusste, dass die Freiheit vor ihr lag und sie so einfach zu bekommen war, wie jetzt die Luft in ihren Lungen?

Langsam öffnete sie die Augen wieder und löste den verkrampften Griff, streckte die Finger aus, um die Gelenke wieder zu entspannen, weil die Antwort so einfach war. „Nein.“ Sie flüsterte das Wort, um es über die eigenen roten Lippen kommen und in der Nacht verklingen zu hören. Von jetzt an würde es keinen Faden mehr geben, an dem sie hing – keine falschen Versprechungen und hübsche Worte, denen sie erliegen würde, weil sie süß wie Gift in ihr Ohr geträufelt wurden. Es hatte bislang nur wenige Menschen in ihrem Leben gegeben, die ehrlich zu ihr gewesen waren – Gabhan war einer davon und sie hatte sich dem anderen gegenüber nicht ruhmreich verhalten, hatte ihm wenig Grund gegeben freundlich zu ihr zu sein und seine Reaktion als Grundlage für ihr eigenes Verhalten genommen. Es wurde Zeit, dass sie auch das änderte. Erneut raschelten die teuren Stoffe ihrer Kleider leise als sie zurück zu dem Tisch trat und die Finger über die Aufzeichnungen wandern ließ. Die Tränke der Hexer, die Unterschiede in den einzelnen Mutationen, all das Wissen, das sie über die Jahre errungen hatte und das sich in ihrem eigenen Kopf befand. Sie hatte es aufgezeichnet, um es weiterzugeben und an der Forschung teilnehmen zu können, aber es würde nur eine weitere Bezahlung ohne Gegenleistung werden.

Langsam schob sie die Unterlagen in eine Tasche an ihrer Seite und lächelte für sich selbst. Sie konnte die Dinge genauso gut anders nutzen. Die Kopien gerieten in ihre Hände und nur für eine Sekunde wanderte ihr Blick darüber, dann hob sie den Stapel der Papiere an und hielt sie über eine der großen Kerzen. Gierig leckten die Flammen an dem Pergament und fraßen Löcher hinein. Langsam färbte sich das Papier schwarz, rot glommen die Ränder in dem Feuer bis der Windstoß kleine Fetzen in dem Raum verteilte und der Rauch beißend in ihre Nase stieg. Loyalität war solch ein fragiles Konstrukt. Sie hatte schon einmal ein Land verraten, schon einmal eine Heimat hinter sich gelassen und sich einer neuen angeschlossen. Wahrscheinlich hatte niemand erwartet, dass sie loyal sein würde und als Grazyna die Reste des Pergaments losließ und den Ruß an ihren eigenen Fingern betrachtete, lächelte sie erneut. Es würde niemanden wundern, wenn sie nicht loyal war.

Ihre Gedanken glitten das Haus hinab, die langen Stufen bis hinunter in die Küche, in der sie noch am vergangenen Abend gesessen hatten und für einen kurzen Moment kehrte der Stich wieder zurück und ließ sie zusammenzucken. Seit damals war viel Zeit vergangen, der Umgang miteinander war schwieriger geworden – nicht so leicht und unbedarft wie es früher einmal gewesen war. Hatte sie sich so sehr verändert, wie sie es ab und an in seinem Blick zu erkennen glaubte? Unweigerlich führten ihre Schritte sie zurück zum Spiegel. Ihre Augen betrachteten das Gesicht, das ihr dort entgegenblickte und das blass und erschöpft wirkte – eingepresst zwischen Schmuck und Tand, von dem sie nicht wusste, ob sie ihn benötigte. Stück für Stück von dem Schmuck wanderte jetzt in ein kleines gläsernes Schälchen. Sie hatte die falschen Prioritäten gesetzt, hatte sich von Reichtum und Prunk blenden lassen. Wieder kam die Frage auf, die erneut gegen ihre Schläfen drückte – willst du das wirklich? Wieder war die Antwort ein leises geflüstertes „Nein.“ Sie war keine Gouvernante, wie sie es in Gabhans Gedanken immer wieder hörte und sie war bei weitem noch nicht alt genug, um sich zu benehmen, wie eine alte Frau. Wieder fühlte sich die Freiheit besser an, ließ sie erneut aufatmen und den Rücken straffen.

Sie war eine Zauberin, sie verpflichtete sich niemandem – es sei denn, sie wollte es. Ob sie sich freiwillig verpflichten würde, würde sie herausfinden, wenn sie diese Tür hinter sich ließ und die Stufen betrat, die sie jetzt hinunter in das Erdgeschoss führten. Dort, wo zwei Hexer gerade im Dunkeln miteinander sprachen und auf deren Gesichtern Kerzen Schatten malten. Die Gesichter der beiden wurden dunkler und härter gezeichnet – die Narben auf Gabhans Gesicht wirkten tiefer, machten sein Gesicht düsterer, die katzenhaften Augen schienen im Halbdunkel unnatürlich zu leuchten und sorgten jetzt dafür, dass ihr ein eisiger Schauder über den Rücken fuhr.

„Guten Morgen“, hob sie die Stimme als sie sich einen Stuhl bei Seite zog und sich darauf sinken ließ. „Wir hatten einen schlechten Start, Gabhan. Es tut mir leid. Ich habe dir Unrecht getan und ich hätte das Gift nicht von dir nehmen sollen und …“ Damit wanderte ihr Blick kurz hinüber zu Atheris und ihr Blick wurde wieder weicher. „über das uns würde ich gern sprechen, wenn die Angelegenheit mit deiner Familie geklärt ist. Das hat erst einmal Vorrang, falls das für dich in Ordnung ist“, fuhr sie fort und brachte wieder ein Lächeln auf ihre Lippen. „Das wollte ich sagen, bevor wir aufbrechen.“

Gabhan hatte sich umgeblickt, als die Tür hinter ihm geknarzt hatte. Doch schon zuvor hatte sich Grazyna durch das immer stärkere Zucken des Bärenmedaillons angekündigt, welches dem Hexer sowohl Gefahr als auch Magie untrüglich anzuzeigen mochte. Bisher war Gabhan immer davon ausgegangen, dass es ihn bei Grazyna von Strept vor beidem warnte.

Doch als die Zauberin hier und jetzt den Raum betrat stockte etwas in Gabhan – die andere trug ein hübsches Kleid mit teurer Borte, dessen Ärmel mit zu goldenen Rosenblüten stilisierten Knöpfen geschlossen wurde und dessen ausladend Schultern die mit viel zu viel Stoff versehen waren in einen Ausschnitt übergingen, der ein Perlenbesetztes Unterkleid offenbarte welches zu Gabhans Überraschung nicht bis unter den Hals zugeknöpft war. Ebenso verwunderte ihn das Fehlen von Ohrringen und Haarnetz. Einzig ihr Perlenhalsband mit dem schwarzen Stein wähnte noch von Schmuck und Prunk vergangener Tage. Sie trug die Haare offen. All das hatte den Bärenhexer bereits über alle Maßen gewundert, doch man stelle sich seiner Verwunderung vor, als Grazyna das Wort erhob. Verdattert starrte er sie an und wurde sich zu spät bewusst, dass er für einige Herzschläge seine Maske aus Missgunst hatte fallen lassen, die er nur mühsam und langsam wieder aufgriff, die jedoch in diesem Moment nicht mehr recht zu passen schien. Sie entglitt ihm und er legte sie vorerst ganz bei Seite. Bei der großen Melitele – sie hätte ihm genauso gut ins Gesicht spucken können – das hätte ihn weniger verwundert. Und da war noch etwas. Eine andere Begebenheit neben der Entschuldigung, die seinen Blick zwischen Atheris und Grazyna wandern und das letzte Puzzel-Teil an seinen vorbestimmten Platz fallen ließ. Er hatte schon zu einer Antwort angesetzt, machte dann jedoch eine wegwerfende Bewegung. „Vergeben und vergessen,“ murrte er gleichmütig und zuckte mit den Schultern. Er würde später noch einmal mit ihr Reden müssen.

Die drei Gefährten saßen bis zum Morgengrauen an dem kleinen Tisch in der Küche und unterhielten sich. Mit den ersten Sonnenstrahlen, die über den herbstlichen Weinbergen durch das Fenster schienen, machten sie sich auf zum Stall. Der schwarze Hengst Ker’zaer begrüßte Atheris mit einem freudigen Schnauben. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte er, als er den schweren Sattel anheben wollte und seine Brustmuskulatur das mit einem stechenden Schmerz quittierte. Grazyna hatte ihn gewarnt, dass trotz der eingesetzten Magie und seines guten Heilfleisches, es dauern würde, bis er wieder voll einsatzfähig war – aber hatte er diese Zeit? Beim zweiten Versuch war Atheris auf den Schmerz innerlich vorbereitet und er schaffte es Ker’zaer zu satteln. Die fragenden Blicke seiner Gefährten im Rücken hatte er wahrgenommen- aber weder Grazyna noch Gabhan äußerten erneut ihre Bedenken.

Wenig später waren sie auf ihrem Weg durch die Weinberge. Die Ländereien der du Lacs lagen einen halben Tagesritt weiter südlich von Beauclair. Auch wenn Atheris seit seiner Kindheit nicht viel Zeit auf dem Familiensitz verbracht hatte, kamen ihm die bewaldeten Hügel und kleinen Wäldchen vertraut vor. Als sie ihr Weg über den letzten Hügelkamm geführt hatte, eröffnete sich eine kleine Ebene vor ihnen, die an einem großen blauen See mündete. An dem Ufer des Sees lag das romantische Dorf Avallach, von dessen Dorfmitte eine schmale Landzunge zu einer kleinen Halbinsel führte. Dort mitten im See thronte der alte Stammsitz der du Lacs über dem Wasser. „Vom See!“ kommentierte Gabhan mit seiner brummigen Stimme. „So ist es, Gabhan!“ stimmte ihm Atheris zu.

Die Burg hatte schon bessere Tage gesehen stellte Atheris fest, als sie sich durch das Dorf näherten. Bei seinem letzten Besuch herrschte sowohl im Dorf als auch auf dem Weg zur Burg ein reges Treiben – nun begegneten sie lediglich dem örtlichen Müller, der mit seinem Eselkarren auf dem Rückweg von der Burg war. Er konnte sich auch nicht daran erinnern, dass er die Zugbrücke jemals hochgezogen und die Tore geschlossen vorgefunden hatte – unter seinem Vater und seinem Halbbruder standen die Tore für gewöhnlich offen und lediglich zwei Wachen hatten dafür gesorgt, dass im friedvollen Toussaint keine ungebetenen Gäste die Burg betraten. Als sie den Graben nun erreichten waren es auch tatsächlich zwei Wachen, die sie von den Zinnen des Burgtores begrüßten. „Das ist alles sehr ungewöhnlich!“ flüsterte Atheris seinen Begleitern zu.

„Ja, mir gefällt es auch nicht,“ erwiderte Gabhan, wenngleich sich der Bärenhexer auch sicher war, dass seine Missgunst durch andere Umstände ausgelöst wurde als jene von Atheris. Es war ein hübsches Schlösschen. In einem hübschen Dorf an einer hübschen Straße und selbst die Bauern waren seltsam hübsch. Die Blumen auch und die Katze, die herumstreunte … war hübsch. Gabhan zog die Nase kraus. Er ließ die Schultern sinken, betrachtete das geschlossene Tor und er warf einen kurzen Blick zu Grazyna. Selbstverständlich könnte die Zauberin das Tor desintegrieren, könnte ein Loch in die Wand sprengen, die Wachen bezaubern oder sie womöglich einfach ins Innere der Burg teleportieren. Aber das hätte sie wohl als unschicklich empfunden, darum fragte er gar nicht erst nach solch magischen Kinkerlitzchen. „Na dann,“ grummelte er. „Also ich werde nicht fragen ob sie uns einlassen. Mein Charme lässt mich heute irgendwie im Stich.“

Bevor Atheris was erwidern konnte, öffneten sich die Tore mit einem lauten Knarzen und sie ritten über die Zugbrücke ins Innere der Anlage. Auch hier bemerkte Atheris sofort die Veränderung. Der einst schöne und gepflegte Innenhof mit den Blumenbeeten wirkte verwahrlost, das Moos fing an die beiden stolzen Marmorlöwen die den Eingang zum Haupthaus säumten zu befallen – Wo waren alle, die Knechte, die Gärtner und der Rest der Bediensteten, stand es wirklich so schlimm um die Finanzen der Familie? Endlich kam der Stallbursche angerannt – der kleine Blondschopf mit seinem strahlenden Lächeln und der dadurch entblößten Zahnlücke war der erste, erfreuliche Anblick, der sich ihnen bot. Eine der Wachen vom Tor erreichte sie und geleitete die drei zum Arbeitszimmer seines Vaters, das er noch nie betreten hatte. Während sie warteten, schaute sich Atheris in dem Raum um. Vieles hatte sich über die Jahrzehnte hier angesammelt, neben den für adlige üblichen Jagdtrophäen reihten sich viele sonderbare Dinge aus aller Welt in den Regalen – Mitbringsel die seine Vorfahren als fahrende Ritter von ihren Reisen nach Hause gebracht hatten. Sein Blick verharrte auf einem großen Portrait. Bis auf die dunkelbraunen Augen, die ergrauten Schläfen und die prachtvolle Rüstung hätte es sein eigenes Ebenbild sein können. Er hatte seinen Vater seit dem Tag als er von ihm zu den Vatt’ghern gesendet worden war nicht mehr gesehen. Das Bild zeigte ihn deutlich älter als er ihn in Erinnerung hatte – stolz … edel … der Inbegriff eines Ritters aus Toussaint. In der Hand hielt er das Familienschwert, ein schöner Anderthalbhänder mit vergoldetem Parier und Knauf. Atheris Mine verfinsterte sich, als er die Frau neben seinem Vater betrachtete, die alte Gräfin. Es waren gut fünf Jahrzehnte vergangen, aber der Groll gegen diese Frau hatte sich tief in seine Seele eingebrannt. Wie oft hatte er als Kind nachts im Bett gelegen und sich ausgemalt, wie schön sein Leben hätte sein können, wenn dieses gehässigste Weib nicht gewesen wäre. Mit ihrem Auftauchen am Hof hatte sich sein Leben schlagartig verändert. Er verbrachte keine Zeit mehr mit seinem Vater und er und seine Mutter wurden vom Bediensteten Trakt der Burg ins Dorf umquartiert. Er merkte wie Zorn in ihm aufkam und er wendete sich ab, schüttelte all die Erinnerungen ab und lächelte Grazyna und Gabhan an, die sich leise unterhielten.

Eine ganze Weile lang hatte Grazyna das alte Familienportrait angesehen und die Gesichtszüge des Mannes betrachtet, der Atheris‘ Vater gewesen war. Er hatte ihm ähnlicher gesehen, als sie es erwartet hatte – nur die Züge um seinen Mund waren härter gewesen als die des Hexers, den sie kennen und lieben gelernt hatte. Die Frau an seiner Seite war hübsch und trotzdem war da ein eisiger Ausdruck in ihren Augen gewesen, irgendetwas, das Grazyna selbst hatte schaudern lassen und dankbar hatte sie den Punkt aufgenommen, an dem Gabhan das Wort ergriffen hatte, um sie abzulenken.

Gabhans Aufmerksamkeit glitt von der Zauberin und ihrer wirklich sehr an- und für ihre Verhältnisse aufgeregten Unterhaltung – fort und hin zu einem Knecht, der nun die Tür öffnete und seine Augenbrauen wanderten nach oben. Er hatte Stroh im Haar, roch ein klein wenig nach Dung, hatte eine Kochschürze umgebunden und einen Staubwedel im Gürtel stecken. Es fiel dem Hexer nicht schwer zu antizipieren welche Rollen der Knecht hier einnehmen musste. Vielseitig, das musste er ihm lassen. Aber kein gutes Zeichen. „Die Herren,“ flüsterte er leise und als sein Blick auf Grazyna glitt wurde er bleicher. „Und… die hochgelehrte Dame! Die Damen des Hauses sind nun bereit sie zu empfangen!“ Gabhan zog die Nase hoch, blickte zu Grazyna. Er würde nicht antworten. Fürchtete, er wäre nicht in der Stimmung um freundlich zu wirken.

Grazyna folgte wie die anderen dem Knecht. Alles in diesem Anwesen wirkte alt und benutzt und schien nicht so recht zu dem Toussaint zu passen, das sie kennen gelernt hatte. Als wäre dieses Anwesen in einen langen Schlaf gefallen und gerade erst wieder aufgewacht, als Atheris mit seinen Begleitern das Anwesen betreten hatte. Der Knecht, der sie durch die Gänge führte, schien überfordert mit seiner neuen Position, wirkte fahrig und so, als wäre er bereits wieder bei drei weiteren Aufgaben in seinem Verstand, noch während er an einer vierten Aufgabe beschäftigt war und dann traten sie in den Raum, in dem die drei Schwestern warteten. Sie hatten sich wie die Schicksalsschwestern vor ihnen aufgebaut und es entlockte Grazyna ein schmales Lächeln als sie sich höflich vor den Damen des Hauses verneigte.

„Sei mir willkommen, Atheris!“ begrüßte Sophie ihren Halbruder.

„Ich danke dir, Sophie!“ antwortete Atheris, nachdem er sich wiederaufgerichtet hatte. „Dies sind meine Freunde – die Gelehrte Grazyna von Strept und der Hexer Gabhan!“ er zeigte auf seine Begleiter wobei er bewusst nicht die magischen Fähigkeiten von Grazyna erwähnte.

„Was verschafft uns die Ehre deines Besuches … Vatt’ghern!“ Emilia, trat an Atheris heran und musterte seine Erscheinung von oben bis unten. Richtig, seitdem er sich den Greifenhexern vor vier Jahren angeschlossen hatte, war er nicht mehr hier gewesen. Er musste in ihren Augen heruntergekommen aussehen, zwar trug er noch im wesentlichen die Uniform und die Rüstung eines kaiserlichen Offiziers, aber sie war in letzter Zeit ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden, zudem entsprach der Rest seiner Ausrüstung mitnichten der Standartausrüstung eines Soldaten und zuletzt trug er seine beiden Klingen nach Art der Hexer auf seinem Rücken und nicht mehr an der Seite. „Richtig erkannt Emilia – und ich werde dir die Geschichte gerne erzählen, aber zunächst möchte ich den Grund für unseren Besuch nennen. Ich habe von meiner Mutter erfahren, dass ihr in großen Schwierigkeiten steckt – und wir sind gekommen um euch zu helfen, sofern ihr uns lasst!“

Keine von ihnen schien mit Atheris oder unerwarteten Hilfe gerechnet zu haben. Sophie war schließlich diejenige, die die offizielle Begrüßung zu Ende gebracht hatte und die noch am gefasstesten wirkte. „Wir verlangen dafür nichts“, setzte Atheris seinen Worten nach und neigte noch einmal leicht den Kopf, um jene dunkle Befürchtung zu negieren, die im Gesicht von Emilia aufgetaucht war. „Es ist ein reiner Dienst an Atheris‘ Familie.“ ergänze Grazyna seine Worte.

Formalitäten

Atheris blickte durch die schmalen Fenster auf den Weinberg, der in der abendlichen Sonne märchenhaft wirkte und einige längst vergangene Glücksmomente hier auf dem Anwesen in sein Gedächtnis rief. Es war Grazynas Stimme, die seine Aufmerksamkeit zurück auf das lenkte, was hier an der langen Tafel besprochen wurde. Sein Blick viel auf Sophie, die nach anfänglicher Skepsis gegenüber den Hexern, inzwischen mit Feuer und Flamme dabei war, eine nachhaltige Lösung zu finden. Neben den drei Schwestern, Grazyna und Gabhan hatte sich inzwischen auch der alte Berater der Familie eingefunden. Gemeinsam gingen sie immer und immer wieder die Möglichkeiten durch. Im besten Fall würde Atheris als Streiter für die Familienehre beim herzoglichen Herold gemeldet werden. Zwei Wochen hatten dann etwaige Herausforderer Zeit sich offiziell bei Hofe zu melden und Atheris auf ein Duell auf Leben und Tod zu fordern. Sollte sich kein Herausforderer melden, würde das als Wiedererlangung der Familienehre durch den Herold bestätigt und offiziell verkündet werden. Im schlimmsten Fall würden sich viele Kombattanten einfinden und somit könnte sich der Prozess über mehrere Wochen hinziehen. Unabhängig davon war es notwendig, dass Atheris als unehelicher Sohn des Grafen offiziell durch die Familie du Lac beim Herold anerkannt werden musste, was nach dem Dahinscheiden des Vaters formell nicht ganz so einfach war, wie sie der alte Berater aufklärte. Klar gab es als Zeugin seine Mutter, aber sie war nicht vom Stand und ihr Wort hatte somit nur bedingt Gewicht. Sollte die Anerkennung nicht klappen, gab es noch Möglichkeiten zum Beispiel eine Heirat. Zunächst würde aber am morgigen Tag eine Delegation beim Herold vorstellig werden.

Es war schon später Nachmittag, als Atheris seinen schwarzen Hengst vor den Toren Beauclairs zügelte. Schwungvoll glitt er aus seinem Sattel und betrachtete Sophie, wie sie aus der Kutsche vor ihm stieg. „Kaum zu glauben, dass ihr Verwandt seid!“ vernahm er Gabhans stimme, der neben ihn getreten war. Nachdem Grazyna ebenfalls ausgestiegen war, gesellten sich die beiden Hexer zu ihr und folgten Sophie in den Palast. Ihr Weg führte sie durch lange Hallen, vorbei an alten Wandteppichen, deren Bilder die Heldentaten fahrender Ritter erzählten, vorbei an Marmorbüsten längst vergangener glorreicher Zeiten. Eine lange weiße Treppe führte sie in die oberen Etagen des Seitenflügels, wo die herzogliche Verwaltung ihre Räume hatte. Schließlich gelangten sie vor eine große rote, mit kunstvollen Beschlägen verzierte Tür. Atheris betrat den Raum als letztes und stellte sich hinter Grazyna und Sophie, die vor dem großen Schreibtisch des Herolds auf zwei einladend wirkenden Sesseln platzgenommen hatten. Der Herold war ein stattlicher junger Mann, ganz anders als es Atheris erwartet hatte. Sein Gesicht wirkte aufgeweckt und seine Augen strahlten eine Schärfe aus, die Atheris nur von Raubtieren kurz vor dem Beutesprung kannte. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und für einen kurzen Moment schien es ihm so, als würde er den Mann kennen. Sophie unterbrach den Moment, indem sie den Herold begrüßte und anfing ihr Anliegen vorzutragen.

Gabhan wusste nicht was er hier tat. Manche böse Stimmen mochten behaupten, dass dies stets und ständig der Fall war. Eine böse Stimme die Unrecht hatte. Doch diesmal war er sich wahrlich nicht sicher was er hier eigentlich tun sollte. Der Bärenhexer ließ seinen Blick durch den Raum streifen, der voller Pomp und Pathos nur so strotzte. Bis hin zu dem gewaltigen Gemälde einer hübschen Frau in einem Meer aus Rüschen, welches an der Wand hing. Er beugte sich ein wenig in Atheris Richtung und flüsterte, so leise, dass es nur der befreundete Hexer vernahm: „Hast du überhaupt eine Ahnung in was für ein Wespennest wir hier stechen?“ doch der Blick seines Gegenübers verriet ihm das schlimmste – Atheris wusste was er damit lostrat und Gabhan wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Das einzige Glück, das der Greifenhexer hatte saß dabei vor dem Herold, lächelte lieblich und hörte auf den Namen Grazyna.

Grazyna, zuvor noch im Gespräch mit Sophie und dem Herold, wandte sich nur kurz über die Schulter zurück, als sie Gabhans leise Stimme hinter sich vernehmen konnte. Es würde noch eine Zeit dauern, dessen war sie sich sehr wohl klar, weil es Dutzende von winzigen vertraglichen Bedingungen gab, die geklärt werden mussten und die wahrscheinlich nur dafür sorgen würden, dass Gabhan schlechte Laune bekommen und Atheris über die Einzelheiten verwirrt sein würde.

„Warum sucht ihr beide nicht, während wir alles klären, bereits ein hübsches Gasthaus, in dem wir im Anschluss etwas essen können?“, fragte sie mit einem sehr weichen Lächeln auf den Lippen. Gern hätte sie dem Bärenhexer gesagt, er solle etwas Nützliches tun – Mäuse jagen oder etwas ähnliches, aber sie saß vor einem Herold und an der Seite einer adligen Dame. Sie würde sich benehmen. „Wir lassen uns zur Feier des Tages überraschen. Ihr genießt unser vollstes Vertrauen“, schob sie nach. „Danke.“

Atheris war nicht unglücklich darüber, dass Grazyna ihnen die Möglichkeit eröffnet hatte, die politischen Spielchen vorzeitig wieder zu verlassen. Auch der Gabhan schien sichtlich erleichtert – keine Frage, Atheris hatte sich sowieso gewundert gehabt, dass der Bärenhexer mitgekommen war. „Komm mit, Gabhan! Ich kenne ein nettes Plätzchen, an dem es sich wunderbar warten lässt!“

Wenig später standen die beiden im Hafenviertel vor einem alten Wirtshaus. Es war sicherlich nicht das feine Restaurant, dass sich Grazyna und Sophie gewünscht hätten, aber für zwei wartende Vatt’ghern war es bestens geeignet. Eine junge Maid führte sie beide auf die kleine Terrasse vor dem Gebäude, wo sie es sich auf einer Bank gemütlich machten. Ihr Platz bot ihnen freie Sicht über den kleinen Hafen von Beauclair und die vielen Menschen, die ihrem Tagewerk nachgingen. Der Wirt brachte auf ein Zeichen von Atheris zwei Becher mit einer heißen Flüssigkeit. „Versuche es zu genießen, mein Freund!“

Gabhan hob die Augenbrauen und ließ seinen Blick über das Land wandern, welches womöglich wirklich eine gewisse Schönheit in sich trug. Doch es war falsch. Kein Land war so perfekt. Und es war zu heiß. Er atmete tief ein und aus, fuhr sich über die rasierten Seiten seines Schädels und betrachtete Atheris. „Du glaubst auch wirklich ich wäre immer nur schlecht gelaunt, oder?“ hakte Gabhan nach und schüttelte den Kopf. „Ich bitte dich. Ich kann durchaus auch Dinge genießen. Nur ist mir noch nichts davon hier begegnet…“ er grinste schief. „Ich drücke dir übrigens die Daumen. Was diese ganze Ehrenhändel-Sache angeht. Und in der Zwischenzeit überlege ich mir bereits eine gute Ausrede, die ich Valerian auftischen kann, weshalb ich deinen Leichnam mitbringe!“ das Grinsen wurde breiter und Atheris musste lachen.

Die Sonne berührte bereits den Horizont, als Atheris die beiden Damen erblickte. Sie hatten sich nach der langen Sitzung wohl gegen die Kutsche entschieden und so näherten sie sich zu Fuß den beiden Hexern. Ihre Gesichter wirkten erschöpft, aber zufrieden. „Es scheint gut gelaufen zu sein!“ merkte Atheris an, als es sich Grazyna neben ihm bequem machte.

Gabhan wog den Kopf hin und her, während er Grazyna und ihre Begleiterin erblickte. Wahrlich – Grazyna hatte ein dezentes, aber nicht weniger selbstgerechtes Lächeln auf ihren Lippen. Andererseits sah sie ja beinahe immer so selbstgerecht aus. Nein – er korrigierte sich selbst. Sie hatte noch am Morgen zu ihm gesagt, dass sie etwas ändern wollte und womöglich könnte sie wirklich einmal nützlich sein – und Feinde hatte er genug. Wenn er die Chance hatte eine von der Liste zu streichen, dann sollte er sie ergreifen. Und das fing nun einmal schon bei den eigenen Gedanken an. Gedanken, die er nun zu kontrollieren suchte. „Scheint so,“ stimmte der Bärenhexer zu. „Aber ich weiß nicht, was das für uns bedeutet. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn es nicht gelungen wä- oh, hallo Grazyna. Kann man dir etwas zu trinken bestellen?“

„Natürlich ist es gut gelaufen“, antwortete Grazyna mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, als sie sich neben Atheris sinken ließ und einen Stuhl zurückzog, damit auch dessen Schwester Platz an ihrer Seite nehmen konnte. „Du hast eine überaus fähige und versierte Schwester. Ich habe beinahe nichts mehr tun müssen. Du bist jetzt in jedem Fall anerkannt und darfst auch offiziell für deine Familie streiten – wir haben allerdings einen engen Zeitplan. Es war wichtig, dass sich die Duelle nicht mit einigen Feierlichkeiten der Herzogin überschneiden“, begann sie dann zu erzählen und wandte sich erst dann hinüber zu Gabhan.

„Wir haben etwas zu feiern, Gabhan. Überrasch uns mit etwas Geschmackvollem“, wies sie den Bärenhexer an und wandte sich dann wieder zurück zu Atheris. „Jedenfalls – der Zeitplan – wir müssen es binnen der nächsten sieben Tage geklärt haben, sonst wird der Besitz wieder zurück an die Herzogin fallen und neu vergeben werden. Wir haben versichert, dass es innerhalb der Frist erledigt sein wird.“

Sie schickte ihn also fort? Gut, sollte ihm recht sein. „Ich suche was Geschmackvolles,“ gelobte er und richtete sich auf, zögerte einen Moment und nestelte dann an seinem Schultergurt, löste diesen und hängte ihn über die Lehne seines Stuhl, warf Atheris einen unmissverständlichen Blick zu und ging in das Innere des kleinen Gasthauses. Hier drin war es deutlich kühler als außen und Weinreben hingen von der Decke. Es hatte schon einen gewissen Charme, wie Gabhan zugeben musste. Er ging zum Tresen und räusperte. „Tut mir leid Meister. Will nicht lange stören – ich brauch was Geschmackvolles zum Trinken. Etwas, das einem… feierlichen Anlass angemessen ist!“ er hatte für einen kurzen Augenblick überlegt Bitterwein zu bestellen, doch bei einem Blick über die Schulter, wo er den lächelnden Atheris sah entschied er sich dagegen. Er würde heute Abend einfach mal nicht die Sturmkrähe spielen. Sollte Atheris seinen Spaß haben. Sollte er sich freuen. Die Wahrheit würde noch früh genug mit brachialer Gewalt zuschlagen. Wahrscheinlich würde er die Wahrheit sein, die zuschlug. Fest. Mit einem nietenbesetzten Handschuh. In die Nieren jener Kontrahenten, die Atheris besonders gefährlich werden konnten. In sieben Tagen wäre Atheris nicht einsatzbereit. Und wenn es schlecht lief, dann würde er wahrlich die Radieschen von unten betrachten. Aber darum würde sich Gabhan ab morgen Sorgen machen. Wenn der Greifenhexer schon so blauäugig war sich über diesen Unsinn zu freuen, dann würde er es ihm nicht wegnehmen.

Einige Augenblicke später kam Gabhan zurück an den Tisch. In den Händen den Wein, der ihm von dem Wirt empfohlen worden war. Irgendwas Süßes. Mehr hatte er nicht verstanden.

Vorbereitungen

Drei schnelle Hiebe prasselten auf Atheris ein und er hatte alle Mühe sie mit seiner Klinge zu parieren. Mit einer halben Körperdrehung wand er sich um den Stahl, der die Luft an der Stelle zerschnitt, an der er soeben noch gestanden hatte. Er nutzte die sich ihm nun bietende Blöße und ließ sein Schwert diagonal von unten in Richtung der Brust seines Angreifers schnellen, aber er war zu langsam – zum wiederholten Male fiel es seinem Gegenüber überraschend leicht seinen Konter abzuwehren. Es musste ihm keiner sagen, es war zu offensichtlich, dass er seine gewohnte Schnelligkeit und Kraft noch nicht wiedererlangt hatte nach der schweren Verletzung und Gabhan demonstrierte es ihm während der Übungen immer und immer wieder. Mit einem letzten kräftigen Hieb, der den Schmerz durch seine Brust schießen ließ, beendete der Bärenhexer auch diese Sparringsrunde.

„Verflucht Atheris. Ich muss dir nicht mehr sagen, dass du dich verdammich überschätzt hast. Das merkst du gerade selbst, oder? Wenn sogar ich schneller als du bist, hast du noch einen verdammt weiten Weg zur alter Größe. Und dieser Weg ist zu weit für die Zeit die du noch hast…“ Gabhan, noch außer Atem von den Übungen mit Atheris, spuckte einen Klumpen zähflüssigen Speichel auf den schönen Holzboden. „Wir sollten Grazyna fragen, ob sie dir nicht doch noch irgendwie mit Zauberkunst helfen kann. Ich weiß was sie über die Nutzung von Magie zur Heilung sagt. Weiß wie vorsichtig sie ist, gerade bei uns. Aber du bist am Arsch Atheris. Da lässt sich nichts beschönigen…“ er hatte es befürchtet, aber nun wusste er es und was das bedeutete graute bereits seit einer ganzen Weile in seinem Verstand. Er würde mit Grazyna reden müssen. Denn Atheris würde nicht hören. Das tat der andere nie. Es war ebenso frustrierend wie auch angenehm. Etwas, auf das man sich verlassen konnte.

Atheris hatte sich auf einer Bank am Rande des Übungsplatzes niedergelassen und erfrischte sich gerade mit einem großen Schluck Rotwein. Gabhan hatte nicht Unrecht mit seiner Aussage, aber er hatte noch vier Tage Zeit und dank seines mutierten Körpers kehrten seine Kräfte schneller zurück als bei einem normalen Menschen. Auch die Pilze und Kräuter, die er nach Valerians Rezepten morgens und abends zu sich nahm, mussten bald ihre volle Wirkung entfalten. Er nahm einen weiteren tiefen Schluck, während Gabhan ihm sorgenvolle Blicke zuwarf. Der Bärenhexer hatte sein Herz am rechten Fleck, auch wenn er es selber nicht mehr wahrnahm. Es war die Wache vom Burgtor, der das Eintreffen des alten Berater der du Lacs verkündete. Atheris folgte dem Bärenhexer in Richtung Tor. Dort angekommen warteten bereits Grazyna und die drei Schwestern auf sie – ihren Gesichtsausdrücken entnahm er dieselbe Spannung, die er selbst verspürte.

Der alte Mann brachte auch tatsächlich Neuigkeiten vom Herold. Sechs Herausforderer hatten sich in den letzten Tagen beim herzoglichen Hofe eingefunden und formal Ansprüche erhoben. Einer dieser Ansprüche wurden als unzureichend zurückgewiesen, zwei weitere zogen ihre Herausforderung zurück, als sie erfuhren, dass ihr Gegner ein Vatt’ghern sein würde. Es blieben somit drei Herausforderer übrig. Der junge Baron Erwan de Sausaché war ein bekannter und erfolgreicher Ritter, der bei den Turnieren im vergangenen Sommer ungeschlagen geblieben war. Der zweite Herausforderer war ebenfalls kein unbekannter Mann auch wenn Atheris ihm bisher nicht begegnet war- der alte Marquise Pierrey Gérin-Lajoie. Der Marquise war seinem Ruf nach alles andere als ein Kämpfer, eher von gedungener, schwächlicher Gestalt. Sein Reichtum und der damit verbundene Einfluss waren die bevorzugten Waffen seiner Wahl. Der Marquis würde aber nicht selber das Duell ausfechten, sondern sein unbekannter Neffe aus dem Süden Nilfgaards. Der alte Berater beschrieb diesen als großen, kräftigen Mann, von dem der Volksmund behauptete, er würde Riesenblut in sich tragen. Als Letzter hatte sich Sir Valentin Baimencet beim Herold gemeldet, ein fahrender Ritter, über den der alte Mann weiter nichts berichten konnte.

„Hätte schlimmer kommen können!“ meinte Atheris – doch der Blick der anderen verriet ihm, dass sie seine Meinung nicht teilten. Gabhan tat seinem Unmut kund, indem er knurrend Atheris zurück aufs Trainingsfeld jagte.

Später am Abend saß Atheris frisch gebadet in der Gesindeküche und betrachtete die kleine Truhe vor sich. Er nahm zwei der seltsam geformten Pilze heraus und betrachtete sie für einen kurzen Moment, dann gab er sie in den köchelnden Sud. Wieder prüfte er das Rezept, das Meister Valerian ihm gegeben hatte und fügte zufrieden eine Kräutermischung hinzu, die ihm Gabhan aus seinem persönlichen Vorrat überlassen hatte. Wieder betrachtete er die bräunliche Flüssigkeit vor ihm in dem kleinen Kessel. Erst als das letzte Korn durch die Sanduhr gefallen war, nahm er den Kessel vom Feuer und füllte den Sud in eine hölzerne Schüssel und machte sich auf den Weg in sein Zimmer, legte sich in das für ihn etwas zu kleine, aber dennoch gemütliche Bett und trank den Inhalt in einem Zug. Der Schlaf setzte wie im Rezept beschrieben augenblicklich ein und Atheris übergab sich den Albträumen, die ihn nach der Einnahme des Gebräus für gewöhnlich heimsuchten. Die Schatten, welche derweil ins Zimmer getreten waren, bemerkte er nicht mehr.

„Er wird es nicht überleben,“ flüsterte Gabhan leise, wenngleich er auch wusste, dass der Trank, den sich Atheris zugeführt hatte, dafür Sorge tragen würde, dass sie mit einer Parade durch sein Zimmer hätten ziehen können, ohne dass der andere es bemerkte. Er brauchte die Ruhe. Sein Körper musste jede Anspannung verlieren, die den Hexern inne war und die dafür sorgen mochte, dass sie erwachten ehe sie etwas im Schlaf töten konnte, die jedoch in einem solchen Heilungsprozess eher hinderlich war. Er sah zu der Zauberin neben sich, die sich mittlerweile ihres Kragens und ihrer Handschuhe entledigt hatte. „Er ist stark. Und ein guter Kämpfer. Womöglich ein besserer als ich. Aber die Wunden der letzten Wochen und die eine im besonderen…“ er schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht wert. Die Ehre einer Familie die ihn nie wollte ist sein Leben nicht wert.“ „Das ist aber nicht unsere Entscheidung, Gabhan. Ich weiß, wie gefährlich all das ist, aber es ist seine Entscheidung und ich habe nicht das Recht, dazu etwas zu sagen.“

Gabhan schnaubte nicht gerade begeistert. „Wenn irgendwer das Recht dazu hat etwas zu sagen, dann du. Ach schau mich nicht so an. Ihr seid kaum nur alte Freunde. Das rieche ich…“ er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wie kannst du ihn das tun lassen? Wo er dir doch offensichtlich etwas bedeutet? Ich verstehe es nicht. Ich verstehe es wahrlich nicht.“ „Weil ich weder seine Mutter bin, noch sonst jemand, der über sein Leben bestimmt. Er ist erwachsen und ich kann nicht mehr tun als da sein und zu versuchen das zu versorgen, was dann noch übrig ist. Wie wäre es, wenn du damit ebenfalls beginnst, Gabhan? Andere als erwachsen wahrzunehmen?“ – „Werde ich, sobald ich mir sicher sein kann, dass er sich auch so benimmt. Du bist erwachsen. Deswegen rede ich mit dir. Wie mit einer Erwachsenen. Atheris glaubt an Ritterlichkeit, das Gute im Menschen und daran, dass eine Schale Milch die Kobolde fernhält. Klingt das für dich erwachsen? Also tue ich das was ich tun muss. Ich beschütze ihn.“ „Ist es das, was du dir einredest, Gabhan? Denn besonders gut hat dein Plan bisweilen noch nicht funktioniert.“

Gabhan lachte kurz auf. Ein knappes, bellendes Lachen. „Nein. Nicht wirklich. Haben meine Pläne so an sich. Irgendwie komme ich durch, aber ich bekomme nie das, was ich mit dem Plan eigentlich erreichen wollte!“ er ließ den Kopf in den Nacken sinken und betrachtete die kleine Decke mit dem weißen Putz und dem dunklen Holz. „Gut. Meine Pläne sind Scheiße. Notiert. Also, dein Plan? Denn du hast einen. Du lässt den gutaussehenden Idioten nicht sterben. Glaube ich dir nicht.“ „Werde ich auch nicht“, antwortete sie und schüttelte den Kopf. „Deshalb werde ich den Kampf auch beobachten, um im Notfall einzugreifen und für alle anderen Optionen gibt es dich.“ – „Mich?“ hakte er nach und legte eine Hand auf seine Brust und gab sich redliche Mühe überrascht und möglichst unschuldig auszusehen. „Was willst du damit andeuten? Solange keine Nekker, Ghule oder Tschorte in die Arena steigen bin ich wohl raus.“ „Männer mit Riesenblut in ihren Adern fasse ich durchaus als Monster auf, für die zu zahlen ich bereit bin.“ „Blödsinn. Weißt du wie Riesen aussehen? Das würde einen verdammt mutigen und Schmerzbefreiten Mann, oder eine wirklich arme und sehr tote Frau voraussetzen!“ er schüttelte den Kopf. „Die Sache mit dem Riesen ist gewaltiger Quatsch und das weißt du auch!“ er kratzte sich an der unrasierten Wange. „Aber gut. Reden wir Klartext. Ich nehme dafür kein Geld. Der Kodex verbietet es. ich bin kein gedungener Schläger, entgegen dem wie ich wohl erscheinen mag. Aber ich werde ihn wieder zurück zur Greifenschule bringen. Bei Möglichkeit mit allen Gliedmaßen.“

„Wieso denn Greifenschule?“, stellte sie die Frage und runzelte die Stirn. „Das ist überhaupt nicht die passende Ausbildung und nicht die entsprechende Mutation. Die Tränke wirken viel schlechter.“ Gabhan blinzelte und seine Pupillen weiteten sich um möglichst viel Licht in dem dunklen Raum einzulassen und Grazyna möglichst gut betrachten zu können. Jede Regung in ihrem Gesicht wahrzunehmen. „Wovon sprichst du? Er gehört zur Greifenschule. Wie du vielleicht an seinem Amulett gesehen hast? Sein Meister ist Valerian ‚Draugr‘ von Novigrad“ erhob eine Hand, während sich seine Gedanken drehten und er wieder an die Sache mit den Tränken damals in den kleinen Dorf dachte. „Erzähl mir davon.“

„Schlangenschule“, antwortete sie, die Stirn über die Worte des Bärenhexers runzelnd, weil sie keinen Sinn ergaben. „Ich habe die verschiedene Tränke probiert und rumexperimentiert bis sie geholfen haben – aus seinen Halluzinationen nach Sodden versucht ich mir eine grobe Orientierung zu verschaffen. Die Tränke, die ich bei mir hatte, waren für ihn.“ Gabhan zog die Nase hoch, was ein Geräusch gab, dass für ihn so unfassbar typisch klang. Dann trat er zu dem nahen Fenster und schloss die Läden, ließ sie in absoluter Finsternis zurück, wenngleich das auch nicht für ihn galt. „Schlangenschule…“ knurrte Gabhan düster und schloss die Augen. Ihre Tränke im Bodenwald, die viel zu heftig waren. Die Tränke, die Atheris zu sich nahm und die bei ihm häufig erst einige Augenblicke später zu wirken schienen als eigentlich gedacht. „Und er hat dir die Zutaten und Rezepte für die Tränke gegeben? Bei Freyas Titten! Weißt du was Lado mit dir getan hätte, wenn er davon wissen würde?“ er schluckte heftig. „Und was macht er dann bei der Greifenschule?“

„Hat er nicht. Ich habe es selbst rausgefunden, als ich versucht habe ihn am Leben zu halten … und was seinen Valerian angeht? Er hat ihn offensichtlich aufgegabelt und ausgebildet. Er hat etwas davon erzählt, als er wieder auf den Beinen war“, begann sie und hob eine Hand, um sich damit über das Gesicht zu fahren und dann schließlich schwer zu seufzen. Es fühlte sich nicht gut an, über jemanden zu sprechen, der nicht weit entfernt war – die Dinge auszusprechen, die sie nichts angingen, die Gabhan nichts angingen und über die sie hier jetzt trotzdem sprachen. „Und was Lado anbelangt? Dein Lado ist mir gleichgültig.“ „Mein Lado?“ Gabhan brummte. „Er ist nicht mein Lado. Mir geht es darum, dass dir etwas hätte geschehen können und ich hätte noch nicht einmal gewusst warum!“ er griff Grazyna an den Schultern. „Gut. Ich sehe. Noch mehr Geheimnisse die Atheris hatte. Aber sei es drum. Das ändert nichts. Das macht nichts aus. Was wichtig ist, ist wie wir mit der Sache nun umgehen. Wer wird ihm gefährlich werden?“

Machte er sich gerade Sorgen um sie? Grazynas Augenbrauen wanderten ein Stück in die Höhe während sie den Bärenhexer betrachtete und dann automatisiert die Namen derer vortrug, die gegen ihn in die Arena gehen würden. „Was ist mit deinen Geheimnissen?“, stellte sie die Frage. „Wirfst du jemandem wirklich vor Geheimnisse zu haben während du selbst kaum etwas preisgibst? Was ist mit der anderen Frau, von der Leto gesprochen hat? Mach ihm keine Vorwürfe für Geheimnisse, wenn du selbst keinen Deut besser bist.“ – „Meine Geheimnisse sorgen jedoch nicht dafür, dass meine Tränke nicht richtig funktionieren. Sie sorgen nicht dafür, dass es zu einem Krieg der Schulen kommen könnte. Ist ja nicht gerade so, als ob es so viele von uns gäbe.“ Er fuhr sich einmal über die Stirn, blieb dabei an den Narben hängen, die sich dort entlang zogen und ihn an eben jene Frau erinnerten, welche ihm die Wunde nicht versorgt hatte. „Und die andere Frau ist fort. Sie hat mir viel bedeutet. Mehr musst du nicht wissen. Aber es wird mich nicht in dieser Sache behindern. Zufrieden?“

„Gabhan“, führte sie an und seufzte noch einmal. „Ich bereite einige der Tränke vor und gebe sie dir. Solltet ihr wieder gemeinsam unterwegs sein kannst du besser helfen und was die Geheimnisse angeht? Jetzt haben wir drei eines, das wir gemeinsam tragen und niemand wird auch nur einen einzigen Ton davon erfahren.“

„Besser wäre es…“ erwiderte Gabhan und massierte sich die Nasenwurzel. „Es ist verdammt gefährlich Grazyna. Verflucht gefährlich. Hexer Geheimnisse … dahinter sind aktuell einige her. Also schweig darüber und ich tue es auch. Ich danke dir für dein Angebot. Ich danke dir sehr und ich werde es auch annehmen. Aber darum soll es nicht gehen. Ich werde dafür sorgen, dass zwei der Herausforderer nicht erscheinen werden. Dann muss er nur gegen einen antreten. Wenn alle drei verschwinden kommt es zu vielen Fragen. Habe ich schon gehabt, brauche ich nicht wieder.“ „Transmutation war mein Fachgebiet, Gabhan. Ich kenne eure Verwandlung sehr gut – ich weiß grob, wie es von Statten geht, allerdings fehlt viel Wissen. Die Tränke habe ich nicht, um sie zu verkaufen oder jemand anderen zu übergeben, sondern um zu helfen. Entschuldige, dass ich jetzt deine Ansicht über mich ändern muss. Ich werde den Mund über alles halten, so wie ich es die letzten Jahrzehnte auch getan habe.“ Die Augen des anderen wanderten einen kurzen Augenblick über ihre Erscheinung, die wie immer stolz ausstrahlte. Dann erwiderte er ihren Blick, schien in ihren Augen etwas zu suchen. Dann, ganz langsam, nickte er. „Gut. Ich glaube dir. Ich weiß, dass du … Atheris niemals etwas antun würdest. Und weißt du was? Ich will noch nicht einmal wissen warum. Es ist in Ordnung. Jeder von uns hat Recht auf Geheimnisse, nicht wahr?“ er zuckte mit den Schultern. „Dann hat jeder seine, wir haben zu dritt eines und nun werden wir beide uns ein weiteres erschaffen – ich werde Atheris Gegner aus dem Weg räumen und du wirst dafür sorgen, dass er für den letzten Kampf bereit ist!“ er streckte die Hand aus, zog seinen fingerlosen Handschuh aus und hielt ihr die Hand hin. Langsam ergriff Grazyna die Hand des anderen und umfasste sie. „Einverstanden.“

Gabhan lächelte knapp und schräg, während er seinen Handschuh wieder anzog. Dankbar nahm er die kleinen Kerzen, die Grazyna ihm kurz darauf reichte und deren Wachs so ganz und gar nicht wie jenes Bienenwachs wirkte, welches er einst im Dorf der Atherion gesehen hatte. Derart bewaffnet verabschiedete sich der Bärenhexer und trat leise wie ein Schatten in Atheris Zimmer, stellte die Kerzen dort auf und entzündete sie mit Feuerzeug und Zunderkasten.

Gabhan überprüfte noch einmal den Draht, welchen er wenige Stunden zuvor bei einem Händler gekauft hatte. Es war ein hübscher, grüner Draht, denn er sollte nicht auffallen. Normalerweise kamen diese Art von Drähten recht häufig in Weinbaugebieten vor, wo er die Weinreben an den langen Stöcken aufrecht hielt. Das war wichtig. Immerhin legten die Bewohner Toussaints großen Wert auf ein einheitliches Bild ihres pittoresken Reiches, da durfte ein Draht nicht auffallen. Auch Gabhan konnte diese Eigenschaft nun gut gebrauchen. Das feine Grün würde auch im Wald nur schwer zu sehen sein. Noch einmal überprüfte Gabhan den richtigen Zug des Drahtes, welcher sich um den halben Baumstamm spann und, kaum gezogen, straff über den ganzen Weg bis zur anderen Seite spannte. Es war perfekt.

Gabhans Raubtieraugen weiteten sich, ließen mehr Licht hinein und erlaubten ihm auch im grünen Dämmerlicht des kleine Wäldchens perfekt zu sehen. Er hatte sich in den Straßen umgehört und den Weg des täglichen Jagdritts von Sir Valentin Baimencet herausgefunden. Er wartete. Er war es gewohnt zu warten. Doch der Ritter zeigte sich schneller als ein Tschort – auch wenn er nicht bedeutend kleiner schien, auf seinem Fuchs den er im schnellem Galopp vorantrieb. Gabhan spannte den Draht. Spürte den Ruck. Das Sirren und Singen, dass durch Metall und Arm lief, seine Sehnen und Muskeln die spannten, protestierten. Dann hörte der Ruck auf und ein dumpfer Schlag war zu hören. Er hörte Schreie, das Krachen von Knochen und Metall. Gabhan musste nicht hinsehen um zu wissen was passiert war. Wahrscheinlich würde der Ritter überleben. Sehr wahrscheinlich sogar. Doch seine Verletzungen würden auch Atheris Überlebenschancen steigern – wenn er denn überhaupt antrat.

Wieder zurück im Gesindehaus auf dem Anwesen der du Lacs, welches momentan ihr Quartier war, zog Gabhan seine Lederhandschuhe aus und wusch seine gereizten, leicht blutigen Hände, die der Draht mehr als gedacht mitgenommen hatte, in eisigem Wasser.

Der Schweiz floss ihm über die Stirn, sein Atem war tief und gleichmäßig – der Rhythmus seines Herzen war langsam aber kräftig. Atheris sah inzwischen das Anwesen der du Lacs und bewegte sich im Laufschritt auf sein Ziel zu. Nach der alptraumhaften Nacht fühlte er sich körperlich deutlich besser, die Substanzen entfalteten ihre Wirkung und so war er in der Früh zu einem Lauf aufgebrochen. Der Pfad der Qualen, hatte Meister Valerian ganz nach der Tradition der Hexer den Trainingspfad der Greifenhexer um Kaer Iwhaell genannt – und das war er auch gewesen. Hier und heute war es eine deutlich leichtere Strecke gewesen, aber es tat gut sich zu bewegen. Als er die Tore einige Zeit später passierte, wartete bereits Gabhan mit zwei Übungsschwertern auf ihn. Atheris kam neben seinem Zunftbruder zu stehen, der ihm zur Erfrischung einen Kelch Wein reichte. Dankend nahm Atheris das Getränk entgegen, wobei ihm ein frischer Verband um Gabhans Hand ins Auge fiel. „Was ist mit deiner Hand passiert?“ fragte er ihn und nahm einen tiefen Schluck.

„Ist nichts Wildes, ich war nur etwas unvorsichtig!“ fiel die knappe Antwort des Bärenhexers aus. Selbst wenn Atheris hätte nachhaken wollen, wäre er dazu nicht mehr gekommen, denn Gabhan begann ohne Vorwarnung mit seinen Attacken.

Erst als Atheris zufrieden mit seinem Trainingsfortschritt beim gemeinsamen Abendessen saß, stürmte ein Bote des Herolds herein und berichtete, dass ein weiterer Kontrahent nach einem schweren Reitunfall zurückgezogen hatte.

Gabhan hob die Augenbrauen und nahm einen Schluck aus dem großen Krug neben sich, warf Atheris einen knappen Blick zu. „Ich dachte in Toussaint sind die Straßen gut ausgebaut!“ erklärte er erschüttert und schüttelte den Kopf. „Wir sollten ihm irgendwas zur Aufmunterung schicken. Irgendein Zeichen der ritterlichen Anteilnahme, wenn du mich fragst. ist doch bestimmt üblich in diesen Landen, nicht wahr? Solch Ritterlichkeit. Blumen womöglich?“ er stellte den Becher ab. „Aber sehen wir es positiv – ein Problem weniger um das du dich kümmern musst!“

Insomnia

Mit einem leisen Pfeifen bahnte sich ein Luftzug seinen Weg durch die alten Fensterläden des Gesindehauses. Es war das einzige Geräusch, das Gabhans feine Ohren wahrnahmen. Atheris und Grazyna waren bereits früh zu Bett gegangen, sie wollten für den großen Tag morgen ausgeruht sein. Auch er hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen, jedoch ließen ihn seine Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Wie hatte es nur soweit kommen können, dass er sich erneut um die Probleme anderer mehr sorgte, als um seine eigenen. Familie…pah! Für die Ehre…pah! Das alles führte zu Problemen und schlaflosen Nächten. Genervt setzte er sich auf und ging zu seiner Tasche, die achtlos auf einer Kommode lag. Seine Hände fanden das kleine Kästchen, nachdem er gesucht hatte, er öffnete mit einem leisen Klicken den Verschluss und zog mit zwei Fingern ein kleines Fläschchen mit einem feinen, schneeweißen Pulver raus. Nach einem prüfenden Blick zog er mit seinen Zähnen den Korken raus und hielt inne – beruhigte seinen Atem, bis dieser fast vollends zum Erliegen kam. Keine Bewegung. Er schloss die Augen und ließ seine anderen Sinne schweifen. Gleichzeitig begann er Energie aus seinem Körper in die linke Hand fließen zu lassen. Erneut pfiff ein Windzug durch die geschlossenen Fensterläden – dann war sich Gabhan sicher, er ließ sich über seine rechte Schulter zur Seite kippen – keinen Augenblick zu früh, denn er spürte wie der kleine Bolzen die Luft an der Stelle zerschnitt, an der vor wenigen Momenten noch sein Kopf gewesen war. Ohne sich auf die Landung zu konzentrieren, drehte er sich in der Luft, hob seinen Arm in die Höhe und formte mit sicherer Hand das Zeichen Aard. Die in Lumpen gekleidete Gestalt war inzwischen durch das Fenster in das Schlafgemach gestürmt, die scharfe Klinge im Mondlicht zum tödlichen Stoß bereit. Mit einer kaum merklichen Handbewegung vollendete Gabhan das Hexer Zeichen und entließ die gesammelte Energie aus seinem Körper. Die Druckwelle schien den Angreifer nicht zu überraschen, denn die zerlumpte Gestalt wich im letzten Moment zur Seite aus. „Scheiße!“ entfuhr es dem Bärenhexer, während er sich zur Seite rollte um nach dem kleinen Stuhl zu greifen, der an seinem Bett stand. Wie ein Raubtier schnellte der Schatten auf ihn zu … Parade…Parade…“Scheiße!“ entfuhr es ihm erneut, als er zwar die Klinge mit dem Stuhl abwerte, sie aber vom Holz abglitt und dann ein neues Ziel in seiner Schulter fand. Er spürte, wie Fleisch und Muskelgewebe zertrennt wurden und erst der Knochen dem Eindringen der Waffe ein Ende setzte. Aber da war mehr…viel mehr…Schmerz…lodernder Schmerz…ein kaltes Brennen…Gift…“Scheiße!“ schrie Gabhan wütend. Mit seiner freien Hand bekam er den Nacken seines Angreifers zu fassen, spannte seine Muskeln an und während er mit einem kräftigen Ruck seinen Gegner zu sich herabzog, schoss sein Kopf in entgegengesetzter Richtung nach oben. Er verspürte eine gewisse Zufriedenheit, als er mehrere Gesichtsknochen brechen hörte, die nicht die seinen waren. Es war ein ordentlicher Wirkungstreffer, denn der Angreifer ließ Gabhan genügend Zeit einen zweiten etwas schwächeren Kopfstoß direkt hinterher zu setzten um dann den erschlafften Körper von sich zu ziehen.

Vielleicht wäre es klüger den Mistkerl am Leben zulassen. Er wusste, dass dieses verdammte Arschloch vermutlich nicht alleine gehandelt hatte. Dass es einen Mittels- und einen Hintermann geben musste. Er wusste es, während er mit seinem Knie immer weiter auf den Hals des Angreifers drückte, spürte wie der Kehlkopf unter seinem Knie zerbrach. Der Attentäter hätte nichts gesagt, ganz gleich was sie versucht hätten und es war Gabhan auch herzlich egal. Er wollte in diesem Moment nur noch Rache. Das dumpfe Kribbeln in seinem Arm konnte nichts Gutes bedeuten. Was auch immer sein Gegenüber ihm da verpasst hatte, er war auf Hexer vorbereitet gewesen. Nur das erklärte das starke Gift, dass sogar bei ihm anschlug. Warum sollte ihn überhaupt jemand angreifen – außer – „Atheris!“ brüllte er so laut er konnte.

Er kämpfte gegen den aufkommenden Schwindel und das unkontrollierte Zucken seines Armes an…“Scheiße!“ fluchte er ein drittes Mal laut. Sein Blick fiel auf seine Klinge, die am Kopfende seines Bettes lehnte. Ungeschickt zog er das Schwert aus seiner Scheide und fixierte die Wand an der sein Bett stand. Erneut sammelte er die Energie in seinem Körper – zumindest das was noch übrig war und formte das Zeichen Aard. Er wusste nicht ob der Windstoß reichen würde, aber er hatte keine Zeit mehr zu warten, er spürte wie sich ein Taubheitsgefühl in seinem Körper ausbreitete und ein immer dichter werdender Sternennebel seine Sicht einschränkte. Die Energie formte erneut eine unsichtbare Faust, die er gegen die Wand sendete. Er sah den zweiten Angreifer sofort als er durch die geschwächte Struktur brach, er war bereits über Atheris gebeugt, aber etwas stimmte nicht, etwas schien ihm von dem tödlichen Streich abzuhalten. Gabhan spürte, wie ihn seine Kräfte verließen, es war egal, jetzt war alles egal! Er nahm sein Schwert auf Schulterhöhe, richtete den Ort auf sein Ziel aus und stürmte auf seinen Gegner zu. Mit einer letzten Genugtuung sank er zusammen mit dem durchbohrten Assassinen zu Boden – wie aus weiter Ferne meinte er Grazyna etwas rufen zu hören, die er mit erhobenen Händen im Türrahmen erblickte.

Von all dem bekam der sich im Tiefschlaf befindende Atheris allerdings nichts mit.

Tag der Entscheidung

„Du musst versuchen es auszublenden, Atheris! Grazyna hat ihr bestes gegeben ihn zu retten – mehr können wir im Moment nicht für ihn tun!“ Sophie reichte dem Hexer das Schwert, der es wortlos am Sattel befestigte. Gabhan zahlte den Preis für das aus seiner Sicht törichte Unterfangen von Atheris und diese Tatsache lastete schwer auf seinem Gemüt. Seine Schwester hatte allerdings Recht, er musste sich zusammenreißen, in wenigen Momenten könnte jede Unachtsamkeit tödlich enden. Der Hexer schwang sich unter den Blicken seiner Begleiter in den Sattel von Ker’zaer, der unruhig anfing auf der Stelle zu treten. Der junge Stallknecht reichte Atheris seinen schwarz-goldenen Helm. Er hielt ihn kurz in der Hand und betrachtete die Kerben und Dellen – oft hatte das gute Stück ihn vor so manch tödlichen Hieb geschützt. Er setzt ihn auf – es war kein unangenehmes Gefühlt wie er sich selbst eingestand. Durch die schmalen Sehschlitze und den geringeren Lärmpegel wirkte die Szenerie fast surreal. Sein Blick fiel auf die große Gestalt, die auf der anderen Seite der Arena auf einem grauweißen Streitross thronte, das Ker’zaer um einiges überragte. Atheris nahm seinen Schild und die Lanze entgegen. Letztere war etwas länger als die üblichen Kriegslanzen, die in der kaiserlichen Armee verwendet wurden. Sie war gut ausbalanciert und für den Tjost über Jahrhunderte optimiert worden. „Gloir aen Ard Feainn! Mein Bruder!“ flüsterte ihm Sophie zu, während er seinem Pferd die Sporen gab und sich auf den Weg in die Mitte der Arena machte.

Es war ein ungewohntes Gefühl, die Blicke der Schaulustigen in seinem Rücken zu spüren und das Gefühl wurde noch verstärkt, als er sich neben seinem Kontrahenten stellte und zum Herold hinüberblickte, der auf feierliche Art und Weise den Anwesenden von einer langen Rolle Pergament vorlas, was der Anlass des heutigen Tages war. Atheris hörte nicht zu, er kannte den Grund warum er hier war. Er konzentrierte sich darauf seinen Gegner zu mustern … welche der typischen Schwachstellen offenbarte seine Rüstung … wie saß er im Sattel … wie war sein emotionaler Zustand? Waren da Anzeichen von Furcht? Furcht konnte einen Kämpfer daran hindern, das Notwendige zu tun.

Die Rüstung entsprach nicht den hohen Ansprüchen eines Ritters aus Toussaint, sie war eher der Art, wie sie auf den Schlachtfeldern der Welt gängig war. Die Teile wirkten zusammengewürfelt und waren nicht auf seine große Statur angepasst. Sofort erkannten seine geübten Augen diverse Schwachstellen, auf die er sich im folgenden Kampf konzentrieren konnte. Auch die Art und Weise, wie sich der Mann im Sattel bewegte, verriet ihm, dass er im besten Fall ein passabler Reiter sein durfte. Das Alter des Mannes, in dessen Bart sich die ersten weißen Haare abzeichneten verrieten, dass er kein unerfahrener Kämpfer sein konnte, er wusste sicherlich um den Zustand seiner Ausrüstung und um seine eigenen Fähigkeiten – er war ohne Zweifel gefährlicher als ein junger naiver Ritter, der für Ruhm und Ehre stritt. Die Fanfare riss Atheris aus seinen Überlegungen und unter dem Gegröle des Publikums ritt er im leichten Galopp zu seiner vorgegebenen Ausgangsposition.

Die Beschrankung aus weiß angemalten Holzplanken bildete eine gerade Linie zu seinem Gegner. Das letzte Mal als er auf so einer Bahn geritten war, war an der kaiserlichen Militärakademie gewesen und sie diente damals als Erleichterung für die Rekruten um das Pferd nahe genug an den Gegner zu führen um mit der Lanze angreifen zu können – es entsprach aber kaum der Realität, da auf dem Schlachtfeld es eher selten vorkam, dass man seinem Gegner frontal im Kampf begegnet … aber das war jetzt auch egal. Mit einer weiteren Fanfare ließ der Herold das blutige Spektakel beginnen. Atheris ließ Ker’zaer wie immer vor einem Kampf kurz steigen und ließ dann den schwarzen Hengst scharf angaloppieren.

Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit näherte er sich dem Gegner, der trotz seines großen Schildes viele Angriffspunkte bot. Der Hüne hatte einen langen Oberkörper und ragte mit dem Bauchnabel weit über den Efter, zudem wies der Brustharnisch seines Gegenüber keine Keilform auf, weshalb sich Atheris einen Punkt auf der rechten Seite der Brust des Gegners als Ziel auserkor. Wenn er diesen Punkt mit genügend Wucht treffen würde, wäre es ein Wunder, wenn er sich im Sattel halten würde. Leicht nach vornegebeugt mit der Lanze fest unter dem Arm verkeilt hielt der Hexer auf sein Ziel an, tauchte unter der gegnerischen Lanzenspitze hindurch, führte seine Waffe in das Ziel und legte sich mit allem was er hatte in den Stoß…aber der harte Aufprall blieb aus, da seine Lanze widererwartend brach und die Wucht somit nicht in den Körper des Gegners übertrug. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte er, während er Ker’zaer zügelte, den Schaft seiner zerbrochenen Lanze unter dem Raunen der Zuschauer zur Seite schleuderte und mit der nun freien Hand nach seinem Schwert griff. Erneut preschten die beiden Streiter aufeinander zu. Atheris konnte nur hoffen, dass sein Widersacher erneut die Lanze nicht ins Ziel bringen konnte, ansonsten könnte sein Ansturm ein böses Ende nehmen. Konzentriert beobachtete der Hexer die Körperhaltung seines Kontrahenten … „Was hast du vor?“ entfuhr es ihm überrascht, als er sah, wie der Riese – bewusst oder unbewusst – sein Pferd näher an die Beschrankung führte. „Umso besser!“ dachte sich Atheris und hob seine Klinge zum Stich. Dann passierte das Unerwartete – das mächtige Schlachtross seines Gegners durchbrach im letzten Moment vor dem Aufeinanderprallen die Holzplanken und rammte Ker’zaer im vollen Galopp. Die Pferde und Reiter stürzten in einem wilden Knäul zu Boden. Auskeilende Hufe – ein schwerer Körper, der über Atheris hinwegrollte und ihm die Luft aus den Lungen presste – zwei Schläge mit einem gepanzerten Handschuh gegen seinen Helm, die ihm fast die Besinnung raubten – dann ein brutaler Zug an seinem Bein, der ihn für einen Moment aus dem Staub der Arena aufsteigen ließ, nur um gleich darauf wieder unsanft auf dem Rücken zu landen. Es dauerte einen Moment, bis sich Atheris orientiert hatte und feststellen musste, dass er mit seinem rechten Fuß im Steigbügel steckengeblieben war und nun von seinem Hengst durch die Arena geschliffen wurde. Der Versuch an sein Stiefelmesser zu gelangen scheiterte kläglich, als Ker`zaer vor der Arenabegrenzung einen scharfen Hacken schlug. Er musste sein Streitross beruhigen, also formte er mit der rechten Hand das Hexer Zeichen Axii und richtete seinen Konzentration auf das treue Tier. Atheris hatte das Zeichen noch nie erfolgreich bei einem Menschen anwenden können, aber es war nicht das erste Mal, dass er diesen Zauber auf ein Pferd anwendete. Durch ein kurzes aufblitzen der Augen löste sich der Zauber und fast augenblicklich beruhigte sich Ker’zaer, so dass der Hexer an sein Messer kam und zügig anfing den Steigbügelriemen zu durchtrennen. Keinen Augenblick zu früh befreite Atheris sein Bein, denn der Riese war bereits mit seinem erhobenen Kriegshammer und dem riesigen Schild an ihn herangetreten.

Grazyna hatte ihre Hände fest um die Armlehnen des Stuhls geschlungen, den Blick unaufhörlich hinab auf den Platz gerichtet, auf dem Pferd und Reiter miteinander fochten. Als Atheris gefallen war, hatte sie die Luft scharf eingesogen, bereit einen Zauber zu sprechen, um den anderen davor zu schützen sich erneut zu verletzen, wie er es sonst so gern tat. Sie tat es am Ende nicht – er würde es bemerken und es ihr übelnehmen und sie wollte ihm den Sieg nicht durch fremde Hilfe erkaufen, so dringend Sophie und ihre Geschwister ihn auch brauchten, doch gefallen … gefallen tat es ihr nicht.

Mit hämmerndem Herzen betrachtete sie den Hünen mit dem großen Kriegshammer und dem Schild, mit dem er jetzt auf den Hexer zutrat und ertappte sich dabei, dass sie für seinen Sieg zu welchen Göttern auch immer betete. „Er wird gewinnen“, hörte sie neben sich Sophie sagen und die leise Stimme der Frau brachte sie aus ihren Gedanken, ließ sie jetzt den Blick wieder heben und zu ihr hinüberlenken. „Natürlich wird er das“, versicherte Grazyna ihr und brachte ein weiches Lächeln auf ihre Züge, eine Hand von ihrer Lehne lösend und sie auf die der Schwester legend. „Er ist ein Ritter“, fügte sie hinzu als sei es Erklärung genug.

Das Splittern von Holz und ein metallenes Geräusch, als der Hammer die Rüstung traf, ließ nur wenige Sekunden später die Köpfe der beiden Frauen ruckartig zurück zum Turnierplatz fahren. Grazyna sah noch aus den Augenwinkeln, wie Sophie die Hände vor den Mund schlug, als der große Hammer auf die schwarze Rüstung traf und den Hexer ein Stück fortschleuderte. „Tu was!“, hörte sie Sophie neben sich mit erstickter Stimme flüstern. „Bitte…“, folgte es, als Grazyna zögerte, dann nickte die Zauberin nur knapp. Verborgen unter einem Schluck aus ihrem Weinglas verengte sie die Augen, flüsterte leise Worte und federte den Sturz ein wenig ab – gerade genug, damit es keinem Zuschauer auffiel.

„Danke …“, wisperte Sophie erneut neben ihr, aber Grazyna schüttelte den Kopf, wehrte den Dank wortlos ab, sich mit zitternden Händen wieder auf das konzentrierend, was dort unten vor sich ging. Sie hatte ihn schon einmal verloren, sie würde das nicht noch einmal zulassen. „Du liebst ihn noch, oder?“, fragte die Schwester dann mit einem Mal und seltsam ertappt machte Grazynas Herz einige Stolperer bevor sie versonnen in sich hinein lächelte und dann leise antwortete. „Ich habe nie damit aufgehört.“

Hitze wallte in Gabhans Gesicht auf. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, doch er verbot sich vom Fenster zu entfernen. Er keuchte, während sich die Zunge in seinem Mund anfühlte wie eine verdammte haarige Pflaume. Sein Blick wanderte hinab zu seiner Seite, wo ein dicker Verband ihn zusammenhielt und das verbarg, was darunter lag. Er wusste nicht genau was darunter lag, doch er ahnte die Farbe dessen und es war keine gute Farbe. Er war sich ziemlich sicher, dass diese Farbe auch nicht in der Natur vorkam. Der Hexer schüttelte den Kopf und sah wieder auf, ließ seinen fiebrigen Blick durch das Fenster wandern. Dort, auf der anderen Seite der Scheibe, auf dem von hier nur unzureichend zu erkennenden Turnierplatz überschlug sich Atheris gerade. Sah aus als würde es wehtun. Gabhan hoffte fest, dass es wehtat. Womöglich würde ihm das ein wenig Verstand einbläuen. Eine Scheißidee war das. Immer gewesen. Doch als der Riese nun auf Atheris zukam klammerte sich Gabhan doch noch an das Fensterbrett, hoffte das der verdammte Greifenhexer das hier überleben würde. Er konnte es kaum glauben – sie hatten gemeinsam einen Waldschrat besiegt, die Antherion zurückgeschlagen. Und nun würde er auf dem Feld der Ehre sterben? Vollidiot. Verdammter Vollidiot. Und er konnte diesem Vollidiot noch nicht einmal helfen. In was für einem erbärmlichen Zustand er nur war. „Komm schon Atheris…“

Der Hammer traf ihn wie ein Rammbock und wieder wurde er durch die Luft geschleudert und fand sich nach einem harten Aufschlag erneut im Staub wieder. Er schmeckte Blut im Mund … kein gutes Zeichen. Er versuchte sich zu erheben, aber er hatte Probleme sein Gleichgewicht zu finden. „A d’yaebl aép arse!“ schrie Atheris, als er sein rechtes Bein belasten wollte. Der Schmerz schoss durch seinen Körper wie glühende Lava und ein verdammt unangenehmes Pochen ging von dem inzwischen angeschwollenen Knöchel aus. Mit einem Schritt nach hinten wich der Hexer dem Hammer aus, der sich erbarmungslos in Richtung seinen Schädel senkte. Der lädierte Knöchel versagte ihm den Dienst und Atheris geriet ins Straucheln. Der Hüne erkannte dies noch im Schwung seiner Vorwärtsbewegung und nutzte diesen um den Hexer mit dem großen Schild nieder zu rammen. Ein drittes Mal fand er sich im Dreck wieder und ein drittes Mal musste er kämpfen um nicht sein Bewusstsein zu verlieren. Wäre sein Gegner wendiger gewesen als dieser Möchtegern-Riese wäre er vermutlich nicht mehr auf die Beine gekommen. Dem Schmerz trotzend richtete er sich vor seinem Gegner auf. Entschlossen blickte er dem Hünen in die Augen, in denen keine Freude, kein Vergnügen, sondern nur berechnendes Kalkül zu sehen war – er würde nicht leichtsinnig werden. Atheris unterdrückte den Impuls das Igni-Zeichen zu wirken – es ging um die Ehre und das offensichtliche Wirken von Magie würde den Ruf und die Ehre seiner Familie vermutlich nicht wieder herstellen – er musste auf profane Art und Weise siegen. „Ker’zaer…ratreut! Ratreut!“ schrie er aus voller Kehle, als er am Rande seines Blickfeldes den schwarzen Hengst entdeckte. Das treue Tier kam auf das Kommando sofort angaloppiert. Während der Hüne zögerte, ergriff Atheris das Sattelhorn mit seiner rechten Hand und hielt sich fest. Ker`zaer brachte den Hexer am Sattelhängend aus der Reichweite des mörderischen Hammers. Erst als sie die Mitte der Arena passiert und Atheris sein Schwert im Sand der Arena entdeckte ließ er den Sattel los und kam humpelnd zum Stehen. Er bückte sich und ergriff die Klinge – es fühlte sich gut an, das vertraute Gewicht der Waffe wieder in der Hand zu spüren. Drei Mal ließ er die Klinge vor sich die Luft zurrend zerschneiden und ging dann in Kampfstellung während sich der Riese mit großen Schritten näherte – „Se’ege na tuvean!“ schrie Atheris ihm entgegen.

Sein Gegner ließ sich nicht auf ein Geplänkel ein, sondern attackierte sofort mit einer Reihe von schweren Hieben. Links…zurück…nochmal nach links und abtauchen nach rechts…dann zwei halbe Schritte zurück um eine sichere Distanz zu erreichen – endlich war Atheris wieder im Kampf angekommen…die Schmerzen spielten keine Rolle mehr … die Ehre … die Familie … die Liebe … alles war in diesem Moment vergessen … nur die unzähligen Stunden auf dem Trainingsplatz, die Erfahrungen aus den Schlachten die er geschlagen hatte und die langen, aber lehrreichen Lektionen von Meister Valerian schossen ihm durch den Kopf. Wieder prasselten die Angriffe des Hünen auf ihn ein … er widerstand der Versuchung seine Klinge zum Parieren des schweren Kriegshammers zu verwenden, sondern pendelte die Schläge erneut aus. Im Vergleich zu Gabhan war sein Gegner deutlich langsamer, seine Angriffe mehr mit roher Gewalt geführt als mit Präzision – nur der riesige Schild schützte seinen Gegner vor einem schnellen Tod durch die Hexer Klinge.

Ein drittes Mal startete sein Kontrahent einen Angriff und wieder fuhr der schwere Hammer durch die Luft, mit dem Ziel seinen Kopf zu zermalmen. Von oben … er griff am liebsten von oben an … kein Wunder bei seiner Größe und seiner Reichweite musste er so unzählige Helme und deren Inhalt zermalmt haben. Zwar nicht so tänzerisch wie er es gewohnt war, dafür aber einfach und effektiv wich Atheris dem Schlag nach links aus, ließ aber dieses Mal seine Klinge wie eine Schlangenzunge nach vorne schnellen. Die scharfe Spitze seines Schwertes fraß sich durch die Kettenringe, welche die Schwachstelle zwischen Panzerhandschuh und Ellenbogenkachel schütze. Zufrieden sah Atheris, wie sich das rote Blut des Hünen seinen Weg durch den Gambeson und die gesprengten Kettenringe suchte und auf den gelben Sandboden der Arena tropfte.

Es war kein schwerer Treffer gewesen, dessen war sich Atheris sicher, aber sein Gegner schien nun die Taktik zu ändern und nahm zum ersten Mal in diesem Duell eine passivere, abwartende Haltung ein. ‚Ard‘ wäre die logische Wahl gewesen, eine gezielte Druckwelle auf den Schild und er hätte die Lücke in der Verteidigung, die er benötigte um den Kampf zu beenden. Wie aus dem Nichts schoss auf einmal der Schmerz zurück in seinen Knöchel…wieder setzte der Schwindel ein und lies die Welt um ihn herum verschwimmen … wie konnte das nur sein? Fragte er sich, als seine Beine unter ihm nachgaben und er anfing rückwärts zu stolpern. Sein Kontrahent brauchte nur einen kurzen Augenblick um die Lage zu erkennen und ging sofort wieder zum Angriff über.

Es war die zum Teil zerstörte Beschrankung, die den Sturz von Atheris verhinderte … es war der verzweifelte Versuch den tödlichen Schlag des Hammers zu blocken, der seine Klinge zerspringen ließ … es war seine Schulterpanzerung, welche die restliche Energie des Hiebes zum Teil absorbierte … letztendlich war es seine linke Schulter, die unter dem Gewicht des Kriegshammers brach. Wahnsinnig vor Schmerzen wollte sich Atheris wegrollen, wurde aber durch den jetzt noch riesiger wirkenden Schild fixiert – dann sah er sie, die Lücke in der Deckung seines Gegenüber. Ohne zu zögern und mit allem was er noch an Kraft aufbringen konnte, ließ er das kurze Stück, welches noch von seiner Klinge übrig geblieben war zur Seite und dann schräg nach oben schnellen. Er fühlte nur einen kurzen Widerstand bevor sich das Metall seines Schwertes seinen Weg durch das Fleisch, die Muskeln und Sehnen suchte. Mit einem tiefen, grollenden Schrei wich der Hüne schwer getroffen von Atheris zurück. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte er unter großen Schmerzen und raffte sich ein letzte Mal auf die Beine, wobei er ein Stück Holz zur Hilfe nahm, welches seine Hand im Sand ertastet hatte.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er die Distanz zu dem Hünen überwunden hatte, der inzwischen auf den Knien im rotgefärbten Stand kauerte. Der Schild lag achtlos neben ihm am Boden und lediglich der Kriegshammer diente dem Mann noch als Stütze, so dass er seinem vermeintlichen Ende entgegenblicken konnte. „Visse gead’tocht gaedeen! Du hast dich gut geschlagen!“ sprach Atheris so laut es ihm möglich war. „Der Kampf ist beendet, lege deine Waffe nieder! Morthwyl rhyfel vort!“ fügte der Hexer hinzu und richtete das Stück Holz in Richtung seines Gegners. Die metallene Spitze seiner abgebrochenen Lanze spiegelte die Sonne wider, während der Hüne den Hammer fallen ließ und in sich zusammensackte.

„Schwingen der Andacht, strebet empor, naht euch der Sonne goldenem Tor; Bringet ihr Grüße dankender Welt, die sie geboren, die sie erhält! Berge und Täler schmücket ihr Strahl, Trauben und Ähren reift sie zum Mahl; Farbiger Blüte würzt sie den Saft, weckt im Gemüte schaffende Kraft: Mutter des Lebens, preisen dein Licht, ist uns die erste kindliche Pflicht! Aen Ard Feainn!“ zitierte Atheris die alte kaiserliche Danksagung, die er an der Akademie gelernt hatte und die er in den nördlichen Kriegen so häufig nach einer überlebten Schlacht rezitiert hatte.

Während der Herold das Ergebnis des Duells offiziell bekannt gab, sah er wie Grazyna und Sophie zu ihm gestürmt kamen … natürlich war sie zur Stelle … sie war es immer um ihn zu beschützen. Mit einem Lächeln im Gesicht nahm er sie und seine Schwester in Empfang … die fluchenden Worte Grazynas, die sich sofort an die Versorgung seiner Wunden machte, störten ihn dabei keines Wegs.

Minus Heros

„Es ist nicht so schlimm wie es aussieht!“ beruhigte Grazyna die Anwesenden, „aber er wird Zeit brauchen um wieder in die Arena zurückzukehren!“ fuhr sie fort. „Zeit die wir nicht haben!“ entgegnete Sophie mit einem sorgenvollen Blick auf Atheris. Der Hexer lag auf einem Feldbett in einem Zelt gleich außerhalb der Arena und verfolgte das Gespräch der beiden Frauen. „Ich sehe keine andere Möglichkeit … Grazyna, kannst du noch etwas machen, das mir kurzfristig helfen kann?“ fragte er, während er vergeblich versuchte sich aufzusetzen, von der Magierin aber sanft zurückgeschoben wurde. „Es gibt verschiedene Ansatzmöglichkeiten, Atheris!“ rang sich Grazyna die Antwort ab. Sie wollte ihn auf keinen Fall in seinem jetzigen Zustand erneut auf dem Feld der Ehre erblicken, „aber … keinen Ansatz der schnell wirken würde ohne mit extremen Nebenwirkungen verbunden zu ist. Atheris, dein Körper war bereits durch eine schwere Verletzung geschwächt. Ich habe dir zuliebe schon mehr an deinem Körper magisch manipuliert, als es für einen normalen Menschen gesund ist – aber auch deinem Metabolismus sind Grenzen gesetzt … und die sind erreicht! Aen Ard Feainn! Atheris – ich will nicht als Nekromantin enden!“

„Dann werde ich für ihn antreten!“ ertönte Gabhans Stimme vom Zelteingang. Der Bärenhexer hatte eine Weile gebraucht um von seinem Krankenbett ins Zelt zu gelangen.

Er hatte keine Begeisterungsstürme erwartet, aber dass ihn alle nur mehr oder weniger anstarrten, kam auch für Gabhan überraschend. Zugegeben, er war nach dem Attentat letzte Nacht sicher nicht in bester Form …, sondern eher das Gegenteil. Aber er hatte den Kampf von Atheris aus dem Fenster verfolgt und seine Befürchtungen bestätigten sich – sein Freund lag übel zugerichtet vor ihm auf dem Feldbett und war sicher noch weniger in der Lage, dass zweite Duell zu bestreiten. Letztendlich war es Grazyna, die an Atheris Seite saß, die das Wort erhob. „Es wäre zumindest das kleinere Risiko Gabhan für den Kampf bereit zu machen!“

Ob die Magierin das nur gesagt hatte um ihren ach so lieben Atheris zu schützen wusste Gabhan nicht, aber er nickte zustimmend, worauf eine kurze aber lautstarke Diskussion entbrannte, bei der sie schnell wieder an dem Punkt waren, dass Gabhan als Kombattant wohl nicht zugelassen werden würde.

Der Bärenhexer hob eine Hand, um den Redeschwall der Anwesenden zu beenden. Er hatte sich schon durchdringen müssen dieses Wagnis einzugehen. Eine Idiotie, dessen war er sich bewusst. Sie hätten diesem vermaledeiten Versuch der Ehrenrettung von Anfang an den Rücken kehren sollen, doch dafür war es nun so oder so zu spät. Seine orangenen Augen wanderten von einer zur anderen und dort wo sein Handzeichen nichts zu bewirken vermochte, wirkte der Blick wunder. Es musste ein unangenehmer Blick sein, starr und ohne die Möglichkeit irgendein Gefühl hinein zu legen. Nur Grazyna hielt diesen Augen stand. „Wir reden hier nicht darüber, ob wir dieses Wagnis eingehen sollen. Denn ich sehe, dass wir es eingehen müssen. Atheris wird nicht wieder aufs Feld können, wenn sein nächster Gegner mit auch nur einem Funken mehr Talent als ein Kürbis gesegnet ist …. Ich hingegen … ich habe Tränke. Ich kann mich auf den Beinen halten. Und das länger als der Große…“ der Bärenhexer schüttelte den Kopf. „Anstatt also darüber zu reden wieso wir es nicht können will ich, dass wir etwas tun, damit ich es eben doch kann. Grazyna. Atheris. Irgendeine Möglichkeit wird es doch geben, oder? Ein altes Gesetz. Eine Weise, ein Ritterspiel, dass umzudeuten ihr in der Lage seid. Kommt. Ich will Ideen und keine langen Gesichter – und das schnell, ehe mein Verstand mir doch dazu rät diese Torheit sein zu lassen, denn eine solche ist es.“

Eine ganze Weile lang nagte Grazyna unruhig auf ihrer Unterlippe – eine lästige Eigenart, die ihr aus der Zeit ihrer eigenen Schülerschaft an der Akademie übriggeblieben war und die sie einfach nicht loswurde. Eine Eigenart, die sie immer dann wählte, wenn sie nicht wusste, ob das, was sie gleich sagen würde, nicht doch in einer völligen Katastrophe enden würde. „Die Antwort wird keinem von euch gefallen“, hob sie die Stimme, eine Hand ausgestreckt und sie auf Atheris Schulter gelegt, bereit ihn im Notfall auf dem Feldbett halten zu können, bevor er aufsprang und mehr an seinem eigenen Körper kaputt machte, als es jetzt bereits war.

„Die einzige Option, wie Gabhan antreten könnte, wäre, wenn er Teil der Familie wäre“, begann sie dann auszuführen, betrachtete, wie das Gesicht des Bärenhexers langsam wächserner wurde, als ihm dämmerte, was sie in Begriff war auszusprechen. „Beispielsweise als Verlobter einer deiner Schwestern“, sprach sie das aus, was sich in ihrem Kopf befand und hob die zweite Hand, noch bevor der Schwall der Empörung sie treffen konnte. „Eine Verlobung ließe sich im Nachhinein leicht wieder lösen. Es muss nur glaubhaft für die Adligen wirken, damit sie es nicht anzweifeln.“

„Oh ja, weil ich ja auch so verdammt gutes Heiratsmaterial bin!“ lachte Gabhan trocken und beißend auf. „Nein! Ich bin nicht irgendeine verdammte Dirne, die ihr an jemanden verschachern könnt. Oh, ich wusste, dass es eine dumme Idee war auch nur darüber nachzudenken hier zu helfen. Ehre, Familie. So ein…“ er schüttelte den Kopf. Nein. Nein, das war keine Option. Wie konnte er sich hergeben, wenn es SIE noch gab? Wenn SIE irgendwo dort draußen war? Was würde das für ihn bedeuten, für sein Ziel? Doch dann stockte er, sah in die Augen der Schwestern, in jene von Atheris, der seinem ersten Blick zumindest für den Bruchteil einer Sekunde auszuweichen schien. Dann in jene von Grazyna, die ihn aufspießte und einen Stich durch sein Herz schickte, dass er für den Bruchteil einer Sekunde als magisch wähnte, ehe er das Gefühl einordnen konnte – ein alter Bekannter, den er geglaubt hatte vor vielen Jahren losgeworden zu sein: Scham.

„Verzeiht. Ich sehe schon, was ich sehen muss und verstehe, was es zu verstehen gibt. Aber wie wollt ihr den Adligen weismachen, dass …“ er knirschte mit den Zähnen, rutschte eine Oktave tiefer, „dass eine der edlen Damen sich in so etwas wie mich verlieben könnte? Diese Scharade benötigt wahrlich viel kreative Eigenleistung. Ganz zu schweigen von dem Gesichtsverlust der edlen Dame, wenn es nicht zur Vermählung kommt…“ doch dann sah er den verzweifelten Blick der Schwestern, spürte Grazynas musternden Augen und die Bitte im Gesicht seines Zunftbruders. „Na gut…“ er ließ die Schultern sinken, fuhr sich über das Gesicht und spürte die Unregelmäßigkeiten und Narben in seinem Gesicht. „Gut. Gut, wir werden eine Lösung finden. Welche der Damen würde sich denn am besten für diese Scharade eignen?“ Grazynas Zungenschnalzen stand einer Peitsche in nichts nach und der Hexer hob abwehrend die Hände. „Ich meinte, welche Dame hat niemanden, der aktuell um sie wirbt?“

Für die Ehre

Es hatte sich eine Dame gefunden. Nicht zuletzt hatte Atheris drei Schwestern – und eine von ihnen würde sich für diesen Coup hergeben müssen. Das war eine unumstößliche Wahrheit, auch wenn die jüngste von ihnen – auf die die Wahl und die Vernunft gefallen war – wahrlich versucht hatte an dieser Wahrheit zu rütteln. Noch immer erkannte Gabhan den Schmerz in Emilias Augen. Eine Traurigkeit, die selbst den sonst so gefühlskalten Hexer nicht gänzlich unberührt ließ.

„Es ist die einzige Möglichkeit,“ hörte er noch Grazyna sagen, die dem Mädchen Wein und Taschentücher gereicht hatte, um diese bittere Medizin leichter verträglich zu machen. Gabhan wandte den Kopf ab. Um gegen die Tränen in diesen großen Augen anzukommen hätte er etwas Stärkeres benötigt als Wein. Auch er verspürte keine Lust seine eigene Freiheit in die Waagschale zu werfen – und seinen Ruf dazu. Diese Verlobung mochte nach dieser Scharade aufgehoben werden, doch sein Ruf als Hexer könnte irreparable Schäden davontragen, wenn man erst einmal erfuhr, dass es da eine edle Dame in Toussaint gab. Hexer waren Mordmaschinen ohne Gefühle – dafür wurden sie angestellt und bezahlt. Deshalb traute man ihn übermenschliche Dinge zu. Eine einzige menschliche Gefühlsregung mochte ausreichen, um Zweifel in anderen zu säen. Zweifel, die ihn einen Auftrag kosten, ihn um Geld und damit vielleicht sogar einen weiteren Winter bringen mochten. Doch das war nicht der einzige Grund, weshalb Gabhan es verabscheute. Alles in ihm wehrte sich mit Händen und Füßen. Denn wenn SIE erfahren würde, dass er sich verlobt hatte… was würde SIE nur denken? Würde SIE glauben, dass er SIE vergessen, einfach abgeschlossen und weitergemacht hatte? Niemals. Niemals durfte auch nur der Hauch einer Befürchtung entstehen, dass er womöglich nicht mehr weitermachen würde. Und doch… und doch war es Atheris einzige Chance um das Familienerbe zu behalten. Was für eine sinnbefreite Welt. Wie hoch konnte in Toussaint schon die Ehre stehen, die sie alle vor sich her trugen wie Standarten?

Noch einmal warf der Hexer einen Blick zu der Jüngeren der beiden Schwestern, die ihre Fassung wieder gewonnen hatte. Wie mochte es ihr erst gehen? Sie verlobte sich mit einer Missgeburt. Selbst wenn sie sich trennten, würde dieser Makel für immer an ihr haften bleiben. Sie würde gewiss eines Tages einen Mann finden der sie aufnahm. Aber es würde schwer werden. Keine gute Partie. Er würde ein Fleck auf ihrer weißen Weste sein. Eine Scharte in ihrer Ehre, die tief und gut sichtbar war. Sie würde ihre persönliche Ehre für die ihrer Familie aufgeben müssen. Wenn er darüber nachdachte, dann war es für sie wohl deutlich schlimmer als für ihn. Und dennoch war sie bereit es zu tun. War bereit sich selbst in die Waagschale zu werfen. Mutig genug für jenes ungleiche Tauschgeschäft. Was bedeuteten da schon seine eigenen Zweifel? Atheris war es wichtig. Und auf eine seltsame Art und Weise war Atheris ihm wichtig. Verfluchte Gefühle. Besser wäre es gewesen, sie hätten wahrlich alles in ihm abgetötet. Wie viel einfacher wäre es.

„Gebt dem Herold Bescheid,“ hob Emilia schließlich die Stimme. „Wir werden es tun. Nicht wahr, Meister Hexer?“ Gabhan lächelte nur müde. „Natürlich werden wir, meine Liebe. Es geht doch um die Familie. Natürlich werden wir.“

Obwohl ihm die schwere Plattenrüstung von Atheris zu groß war, fühlte er sich ziemlich eingeengt. Sicher war er als Bärenhexer an schwere Panzerung gewöhnt und er hatte sein Leben lang nichts anderes getragen, aber seine Ausrüstung war für den Kampf gegen allerlei Monstrosität ausgelegt – nicht für den frontalen Stoß einer Lanze. Er hatte sich lange geweigert, aber letztendlich war es Atheris gewesen, der ihn überredet hatte – wieder einmal – aber er hatte Recht, zumindest das erste Aufeinanderprallen sollte er wenigstens überleben und die schweren Platten waren seine beste Lebensversicherung.

Beinahe wie der Ritter, der er in einem anderen Leben womöglich geworden wäre, gerüstet verließ er das Zelt und schritt die wenigen Meter zu Ker’zaer hinüber, der von einem Stallburschen gehalten wurde. Über eine kleine hölzerne Treppe mit drei Stufen stieg er empor, begleitet von den einsetzenden Fanfaren aus der nahen Arena, wo die Schaulustigen sich für das Spektakel einfanden – er hasste es. Dankbar registrierte er die hohe Rückenlehne des Gestechsattels, der sich als überraschend bequem herausstellte. Emilia, seine Verlobte trat an ihn heran und überreichte ihm ein Tuch, dass mit schöner Spitze verziert war. Er steckte es wortlos, aber mit einem gequälten Lächeln in seinen Panzerhandschuh, dann ging es los – die Menge jubelte laut, vermutlich hatte sein Kontrahent soeben die Arena betreten.

Der Jubel brach ab, als er den Platz betrat – ob vor Erstaunen oder Missbilligung vermochte er nicht zu sagen – verwundert war er aber nicht und als er den Ritter in seiner vergoldeten Rüstung mit dem bunten Federschmuck auf seinem Kopf erblickte … einen strahlenden Ritter in glänzenden Rüstung, auf seinem schneeweißen Streitross … wurde ihm nochmal verdeutlicht, dass er so ziemlich das Gegenteil von dem war, was die Leute in Beauclair von einem Helden erwarteten.

„Wartet nur ab, bis ich mit eurem Ritter fertig bin!“ brummte Gabhan mehr für sich als für einen möglichen Zuhörer, die ohnehin zu sehr damit beschäftigt waren sich die Seele für jenen seelenlosen Abklatsch eines Märchenritters auf der anderen Seiten des Platzes aus dem Leib zu schreien, während er sein Visier runterklappte und Lanze und Schild entgegennahm und sich dann auf den Weg zum Herold begab.

Nun konnte Gabhan einen genaueren Blick auf sein Gegenüber werfen, auf die feinen Ziselierungen und Ätzungen in der Rüstung. Für Pomp und Tand, der über jeden Zweifel erhaben schienen und dafür sorgten, dass sich der Hexer in der eingedellten und schlechtsitzenden Rüstung seines Waffenbruders nur noch sinnloser fühlte.

Der Herold begann erneut den Grund für den Kampf und dessen Regeln zu erläutern. Gabhan hörte ihm nur mit einem Ohr zu, zu sehr damit beschäftigt die Schwachstellen seines Feindes zu analysieren und sich vorzustellen, wie er mit einer verdammten Lanze irgendwas Sinnvolles ausrichten sollte, als seine Gedanken auf einmal durch einen aufkommenden Jubel der Schaulustigen unterbrochen wurde. Die hörbar verunsicherten Fanfarenbläser kündigten durch ihr verspätet einsetzendes Signal einen weiteren Streiter an, der die Arena im leichten Galopp betrat. Die schwarz-goldene Rüstung sah mitgenommen aus … musste in den letzten Jahren viel mitgemacht haben. Das Wappen, dass er auf dem Schild trug verriet Gabhan, wer es sein musste…“Aramis!“ Wie in einer Märchengeschichte für Kinder betrat der strahlende Held im letzten Moment den Schauplatz um den Tag zu retten.

Gabhan fühlte sich endgültig fehl am Platz, als Aramis seine Stimme lautstark erhob und vor dem Herold und den Bewohnern Beauclairs seine Rechte einforderte. Nein…Gabhan hatte kein Problem damit, seinen Platz für Aramis zu räumen … dieses Duell um Ehre und Familie war eh nur eine Farce gewesen. Wie war er nur in diese Situation gekommen…warum hatte er sich nochmal darauf eingelassen? Sein Blick wanderte zur Tribüne, wo Sophie, Atheris und SEINE Verlobte ungläubig dastanden und auf Aramis starrten … keiner schien ihn auch nur mit einem Blick zu würdigen … ihn, der wider eigenen Willen hier in geborgter Rüstung auf einem Streitross saß das nicht seines war, bereit sein Leben gegen jede Vernunft aufs Spiel zusetzten, seinen Ruf zu riskieren und SIE unter Umständen für immer zu verlieren. Jedwede Aufmerksamkeit war nun von ihm abgefallen, das Tuscheln und Raunen auf den Zuschauerrängen kannte nur einen Namen und es war nicht der seine. Er hätte erleichtert sein sollen, doch ein schwelender Knoten bildete sich in seinem Magen. Mit einer abwinkenden Geste wendete er Ker’zaer ab und verließ den Platz der Ehre … jenen Platz, auf dem ein Hexer ohnehin nichts verloren hatte. Außer womöglich Atheris, aber der war in dieser Hinsicht ein hoffnungsloser Fall.

Atheris saß auf der Tribüne bei seinen Geschwistern und schaute Gabhan wehmütig hinterher. Wie ein räudiger Köter, der mit eingezogenem Schwanz von dannen zog, aber das Bild täuschte. Sein Zunftbruder war bereit gewesen für etwas einzustehen, was seinem Freund wichtig war, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, ohne dass er selber an diese Art der Ehre glaubte und wohl wissend, dass er in dieser speziellen Form des Duells leicht den Tod hätte finden können. Gabhan war sicher nicht der Held aus den Kindermärchen und sicherlich auch nicht der romantische Held aus den Liedern der Barden … aber er tat das, was Helden im echten Leben taten … auch wenn es wider seinem Willen war.

Die Fanfaren rissen Atheris aus seinen Gedanken und er richtete seine Aufmerksamkeit auf seinen jüngeren Halbruder Aramis. Neben ihm zuckte Sophie zusammen, als die beiden Kämpfer krachend aufeinandertrafen. Der junge Baron Pierrey Gérin-Lajoie wurde seinem Ruf gerecht, als begnadeter Tjostier und Gewinner der letzten großen Turniere in Toussaint führte er seine Lanze sicher ins Ziel. Sein Bruder fing die gegnerische Lanze jedoch geübt mit dem Schild ab und ließ die tödliche Stahlspitze an diesem abgleiten, was er mit einer leichten Drehung seines Oberkörpers unterstützte, während er zeitgleich seine eigene Lanze zwar nicht mit der gleichen Wucht ebenfalls auf den Schild seines Gegners platzierte. Die Kombattanten wendeten ihre Pferde und preschten erneut aufeinander zu – erneut schrien die Schaulustigen vor Begeisterung auf. Beim dritten Aufeinandertreffen passierte es schließlich, die Lanzen fanden ihr Ziel nur diesmal lehnte sich Aramis mit aller Kraft in seinen Stoß, wobei er den gegnerischen Angriff komplett ignorierte. Schwer getroffen landete der Herausforderer im Sand der Arena, während Aramis sich mit Mühe im Sattel halten konnte. Sophie schrie auf, während Emilia von der Bank aufsprang – die Menge tobte! Es war eben doch ein Unterschied, ob man bei einem Turnier antrat, bei dem es Ziel war seine Lanze auf dem Schild seines Widersachers zu brechen oder aber mit scharfen Waffen auf Leben und Tod zu kämpfen. Diese Lektion, hatte der junge Baron soeben schmerzhaft erfahren müssen, stellte Atheris zufrieden fest.

„Ist es vorbei?“ fragte Emilia mit heiserer Stimme. „Nein! Noch nicht!“ antwortete Atheris, der sich ebenfalls von der Bank erhoben hatte, da ihm die Leute vor ihm die Sicht versperrten. „Sie nur, er kommt wieder auf die Beine! … aber was macht Aramis da?“ kommentierte Sophie das Geschehen auf dem Platz. „In der Tat, was macht er da?“ fragte sich auch Atheris, der wie alle anderen sah, wie sich der Ritter in der schwarzen Rüstung von seinem Streitross gleiten lies und mit einer fließenden Bewegung die Klinge aus der Schwertscheide zog, die seitlich am Pferd befestigt war. Aramis schritt langsam auf seinen Gegner zu und gewährte diesem somit die nötige Zeit ebenfalls an seine Waffe zu gelangen. Wieder jubelte die Menge, als die beiden wie wild aufeinander eindroschen … wobei das nicht ganz stimmte. Atheris sah sofort, dass der Baron große Probleme hatte, vielleicht lag es auch an dem schweren Treffer verbunden mit dem Sturz, oder aber er war mit dem Schwert bei weiten nicht so gut wie mit der Lanze … egal, seine Aktionen wirkten in Summe wild und ungestüm. Aramis war hingegen absolut Herr der Lage und kontrollierte seinen Gegner mit seinem Schild wie er es wollte. Vielleicht tat es Aramis um es nicht zu leicht aussehen zu lassen … vielleicht aber auch um die Ehre seines Herausforderers zu wahren und ihn zumindest gut aussehen zu lassen – zumindest für das ungeübte Auge.

Atheris fuhr zusammen, als seine Schwestern mit einem ohrenbetäubenden Kreischen, was so gar nicht erhaben wirken wollte, den absehbaren Sieg ihres Bruders kundtaten. Dieser hatte in einer schnellen Abfolge zunächst seinen Gegner durch eine Finte ins Leere laufen lassen, dabei seinen Schild fallen gelassen, den Panzerstecher an seinem Gürtel rausgezogen und diesen seitlich an den Hals seines Gegners platziert, der wiederum sein Schwert fallen ließ und somit anerkannte, dass er verloren hatte und damit einverstanden war, das sein Leben geschont wurde.

„Was habe ich verpasst!“ knurrte Gabhan, der hinter Atheris schwer atmend und mit eingedelltem Helm unter dem Arm auf die Tribüne getreten war. „Nur das Ende dieser verfluchten Zeit, Gabhan!“ antwortete er Atheris mit einem breiten Lächeln im Gesicht.

Epilog

Die Frühlingssonne kitzelte Atheris in der Nase, als er auf dem Rücken von Ker’zaer durch die blühenden Weinberge in Toussaint ritt. Nach dem langen aber milden Winter, den er bei Grazyna und seiner Familie verbracht und seine Wunden gepflegt hatte, war es nun auch für ihn an der Zeit es Gabhan gleich zu tun.

Der Bärenhexer hatte sich noch vor Einbruch des Winters auf den Weg zum Winterquartier seiner Schule auf Yngvars Zahn, jenem kleinen Archipel der Skelliger Inseln begeben. Atheris hatte die Gesellschaft seines Zunftbruders genossen und das obwohl Gabhan alles andere als ein geselliger Zeitgenosse war.

Auch der Abschied von seiner wiedergefundenen Liebe Grazyna war Atheris schwergefallen, aber er hatte schwere Eide abgelegt, die es zu erfüllen galt. Die Magierin selbst hatte ebenfalls Verpflichtungen gegenüber einer reichen Patrizier Familie, die auch ihm ein Begriff war. Die Familie Groll war in Toussaint mehr als nur bekannt und zogen im Kaiserreich viele Strippen im Hintergrund.

Als Atheris eine Hügelgruppe überquert hatte und sich vor ihm eine blühende Ebene auftat, erblickte er einen einsamen Reiter, der langsam dem sandigen Weg folgte. Als er sich dem Unbekannten näherte, erkannte er die riesige Silhouette wieder, es war sein Gegner aus der Arena, er hatte sich von der schweren Verletzung offensichtlich erholt. „Wohin des Weges?“ fragte Atheris den Mann, als er diesen eingeholt hatte. „Wohin mich der Weg führt!“ antwortete dieser wortkarg. Der Hexer betrachtete den Mann, er wirkte deprimiert, nichts war mehr von dem fürchterlichen Krieger geblieben, als den er ihn das erste Mal getroffen hatte. Er reiste ähnlich wie Atheris selbst mit wenig Gepäck…nur das Nötigste. Vielleicht lag es daran, dass Atheris nicht gerne alleine war … vielleicht war es aber auch die Angst davor, genauso gefühlskalt zu werden wie die meisten anderen Zunftbrüder die er kennen gelernt hatte … es war letztendlich auch egal. „Wir können eine Weile dem Weg gemeinsam folgen?“ fragte Atheris nach einer Weile, woraufhin der Riese sich zu ihm umdrehte. Er war von den freundlichen und gütigen Augen des Mannes überrascht, der ihm mit einem leichten Nicken antwortete.

Nachspiel

Der Wind hatte sich gedreht und trug den Geruch nach kalter Luft und gefrorenen Wiesen mit sich. Wie es schien, herrschte in Toussaint also doch, entgegen der Behauptung der Dichter, kein ewiger Frühling. Gabhan blickte von seinem Versteck auf dem kleinen Hügel auf das herrschaftliche Haus herab, welches dort – umgeben von hohen Mauern gut sichtbar war. Die gelb getünchten Wände verstanden sich hervorragend mit den sie erklimmenden Weinreben, deren Blätter sich bereits rötlich gefärbt hatten, in Vorahnung auf das Kommende.

Es war gar nicht so schwer gewesen den Namen des Drahtziehers zu erfahren. Jenes reichen Adligen, der mit Vorliebe das Gehöft von Aramis Familie in Anspruch genommen und dafür auch das Leben von weit mehr Rittern geopfert hätte, als jene die er mit Versprechen auf Ehre ins Feld geführt hatte. Ein bitteres Lächeln umspielte Gabhans Lippen. Er hatte gewusst, dass all dies hier mehr gewesen war als der einfache Versuch einzelner Ritter eine weitere Zeile für ihr eigenes Epos zu erstreiten. Es gab immer jemanden dahinter. Einen Mann im Schatten. Und dieses Mal schien dieser das Leben in der Sonne zu genießen. Denn er saß auf dem großen Balkon seiner Villa, nippte an einem Wein, dessen Bouquet Gabhans feiner Nase bereits aus dieser Entfernung auffiel.

Der Bärenhexer hatte sich viele Gedanken gemacht. Hatte sich einen stilechten Auftritt überlegt. Hatte sich vorgestellt, wie er in voller Rüstung an das schmiedeeiserne Tor trat, der ersten Wache seinen Hodendolch kurz unter dem Kehlkopf in den Hals stieß, den nächsten mit einem Schlag gegen die Rippen gegen die Reben aus Eisen stieß, die das Tor zierten und seinem Leben mit einem einfachen Genickbruch beendete. Wie er das Tor mit Aard aufbrechen, die wohl sicherlich marmorne Treppe im Inneren entlang schreiten und auf den Balkon treten würde. Wie er dem dort sitzenden eine Rede über Moral, Ritterlichkeit und jenem Ruf halten würde, der in den Wald hinein und auch wieder herausschallen konnte, ehe er ihn mit einer schnellen Drehung enthaupten würde.

Doch er hatte diese Gedanken wieder verworfen. Es war ein unfassbarer Aufwand, konnte leicht schief gehen und war von einem Pathos geprägt, der ihm nicht hätte zu eigen sein sollen und den wohl dieses Land in ihn eingepflanzt hatte. Er hatte sich für eine andere Methode entschieden. Eine, die nicht auf einen Hexer deutete und die vor allem Dingen schneller war. Und schnell musste er sein, um Toussaint rechtzeitig vor den Winterstürmen zu verlassen und nach Skellige übersetzen zu können.

Aber zumindest ein wenig Pathos musste es wohl sein. Denn als er die Armbrust hob, die er einem reisenden Händler abgekauft hatte, glitzerte das Sonnenlicht auf jener Bolzenspitze, die Atheris beinahe das Leben gekostet hätte. Gabhan hatte sie aufgehoben und würde ihr nun, auf einem neuen Bolzen, einer neuen Bestimmung zuführen. Denn mochte Aramis auch den Tag gerettet haben, sobald er das Land wieder für längere Zeit verließ und nicht zurückkehrte, würde dieser Adlige, der da Wein schlürfte, wieder an der Pforte stehen. Doch diesmal nicht. Ehre und Ritterspiele mochten den Anschein erweckt haben, als hätten sie etwas geändert und irgendwelche Auswirkungen. Aber das hatten sie nicht. Sie waren nicht mehr als der Wunschtraum von Atheris. Wenn man wollte, dass etwas endgültig beendet wurde, dann musste man einen harten Abschluss ziehen. Dann musste man sich die Hände schmutzig machen. Und wenn Atheris das nicht einsehen wollte, dann musste Gabhan eben ran.

Die Armbrust wog ungewohnt schwer und der Hexer fragte sich, wie Reynek mit so etwas effektiv kämpfen konnte. Natürlich, er hatte solche Waffen schon mehr als einmal genutzt, aber sie nie lieben gelernt. Er hob die Armbrust, stützte das Gewicht an die Schulter und schoss.

Der Pathos verfehlte sein Ziel nicht, forderte aber seinen Tribut. Womöglich hätte er keine gebrauchte Spitze nehmen sollen. Womöglich hatte er auch einfach nur schlecht gezielt. Der Bolzen verzog leicht im Flug und traf nicht, wie vorgesehen den Kopf, sondern drang tief in den Hals des Mannes ein, der nur noch einen erstickten Laut von sich geben konnte, ehe er zu Boden fiel, dort versuchte aufzustehen und sich im Todeskampf wandte. Gabhan verzog das Gesicht. Es hatte schnell gehen sollen. Das war ihm nicht gelungen. Aber es half nichts, die Bewegungen des Mannes wurden langsamer, ehe sie gänzlich erstarben. Das Bouquet vermischte sich mit dem Geruch nach Blut und formten so einen Geruch, der dem Hexer deutlich bekannter war. Wenn Ehre so roch, dann konnte er darauf verzichten. Lässig warf er die Armbrust in ein Gebüsch und verließ den Platz. Es war Zeit nach Skellige zurück zu kehren und dieses verfluchte Land zu verlassen.