In den Kanninchenbau
In den Kanninchenbau
Von Yannic, Cat und Peter
Der Umweg
Wenn die Zeit endet, beginnt die Ewigkeit
Sinnspruch auf einem Stundenglas auf der Insel Thanedd
Gabhan hatte darauf bestanden nicht zu Pferde zu reisen – nur ungern erinnerte er sich mit schmerzendem Gesicht an die Stunden zu Pferde hinter Atheris – denn ein eigenes hatte er nicht. Er würde auch niemals verstehen, weshalb Atheris so auf den noch laufenden Sauerbraten stand. Der Freund musste einen Arsch aus Leder haben, so lange wie er stets im Sattel saß.
Doch der Witz war auf Gabhans Kosten gegangen – schließlich hatte er gehofft, dass die Frau Zauberin dann auf eine Reise mit Portalen bestand und ihnen allen so das Leben erleichtern würde – doch sie hatte diesen Vorschlag aufgrund gewichtiger Umstände abgelehnt. Auf die Nachfrage welche Umstände derart gewichtig sein könnten, hatte sie ihm auf liebevolle, aber bestimmter Weise den Rat gegeben, sich selbst ins Knie zu ficken. Nicht dass es ihre Worte gewesen wären. Aber sie hatte es gesagt. Mehr oder minder. Und Gabhan hatte nicht mehr nachgefragt. Eine Kutsche war zu teuer und zu langsam – und so schmerzten seine Füße nun von mehreren hundert Meilen Marsch. „Wir laufen übrigens falsch,“ knurrte er, als sie wieder mal an eine Wegkreuzung kamen, die sogar noch über zwei halbwegs existierende Wegweiser verfügte. „Wir wollen doch nach Wyzima – dort geht es nach Velen. Das ist ein gewaltiger Umweg und meine Schuhe habe ich bereits so gut wie durchgelaufen. Kein Grund es darauf anzulegen!“
Atheris hielt die Zügel seines Streitrosses Ker`zaer in der Hand und stand neben seinem Freund im knöcheltiefen Schlamm der Straße. Keine Frage, hier im Norden setzte der Herbst deutlich früher ein als im südlich gelegenen Kaiserreich. „Ich glaube nicht, dass der Wegweiser richtig ist. Unserer Karte zufolge führt der rechte Weg nach Wyzima – wobei laut der Karte die Kreuzung auch nur zwei und nicht drei Abzweigungen ausweist!“ Atheris blickte in die Richtung, in welcher der nicht eingezeichnete Weg führte. „Grazyna! Was meinst du?“ er blickte zur Magierin hoch, die es sich auf dem Rücken seines Pferdes gemütlich gemacht hatte. „Was hatte Gabhan nur geritten, auf Pferde verzichten zu wollen?“ dachte sich der Greifenhexer, während er die schmatzenden Schritte Gabhans neben sich hörte.
„In der Nähe hat ein guter Freund von mir ein Haus gekauft. Wir könnten dort einkehren und uns ein wenig ausruhen“, schlug Grazyna vor, dankbar dafür nicht laufen zu müssen und dadurch sich und ihre Kleider vollständig zu verdrecken. Sie sah die Erschöpfung im Gesicht der beiden, die Anstrengung, die die Reise bis hierhin bereits gefordert hatte und der sie nicht noch mehr zuführen wollte. Nur eine Sekunde lang ließ sie den Blick hinauf zum Himmel wandern, betrachtete die schweren, dunklen Wolken dort, die davon kündeten, dass es wahrscheinlich nicht mehr lang dauern würde bis es beginnen würde zu regnen und wenn sie ehrlich war, dann wollte sie nicht während des Regens im Schlamm mitten in Velen sein.
„Jirkam Aep Vald“, fuhr sie fort, noch bevor einer von ihnen ein Wort von sich geben konnte und ließ die Finger sanft über Ker’zaers Mähne streichen. „Wir haben uns vor ein paar Jahren in Novigrad kennen gelernt. Er ist Stoffhändler und wollte sich in der Nähe etwas Neues aufbauen.“
Atheris musste nicht lange überlegen, die Aussicht auf eine warme Mahlzeit und ein weiches Bett waren Grund genug, einen kleinen Umweg in Kauf zu nehmen, zumal er Grazynas Blick gefolgt war und ebenfalls die dunklen Wolken musterte, die eine unbequeme Nacht im Freien versprachen. „Ich bin für Grazynas Vorschlag, Ghaban! Wir haben es weder eilig noch sonderlich gutes Reisewetter!“ er schaute wieder zur Magierin empor. „Kannst du deinen Freund magisch aufspüren oder weißt du wo wir hin müssen?“
Gabhan hob die Augenbrauen ob der Diskussion, nickte dann aber. Er war nicht in der Stimmung zu diskutieren – und zudem war dieser Vorschlag so gut wie jeder andere auch. Mochten die anderen beiden auch erwarten, dass er dagegen stimmen würde, nur um seinem eigenen Ruf gerecht zu werden, er enttäuschte sie. Er stimmte sogar zu. Oder zumindest zog er die Nase kraus, was beide korrekterweise als Zustimmung zu interpretieren schienen. Auch er blickte zu Grazyna, bereit eine Nacht mal nicht auf einem harten Waldboden zu verbringen.
Gabhan schien sich ständig nur in zwei Varianten zu äußern – dem Nase-hochziehen, was als Zustimmung eines Vorschlags zu deuten war und dem missgünstigen Schnauben, was genau das war – die Ablehnung eines Vorschlags. Über all die Zeit, die sie miteinander unterwegs waren, hatte die Zauberin gelernt, den Bärenhexer einzuschätzen und aus den kurzen Reaktionen eine adäquate Antwort zu lesen, die ihr zumeist ausreichte und ihr weit weniger Kopfschmerzen bescherte als ein längeres Gespräch mit der Nase in seiner Reichweite. „Ich habe eine Ahnung, wohin wir müssen“, antwortete sie schließlich und lächelte dann entwaffnend, bevor eine weitere Nachfrage folgte, nur sacht die Hand hebend. „Gebt mir einen Moment bis ich ihn gefunden habe, danach kann ich uns die Richtung weisen.“
Statt der Magie allerdings Raum zu geben, ließ sie nur die zweite Hand in eine Tasche gleiten und zog ein kleines Gerät hervor. Nur ein einziges, geflüstertes Wort verließ ihre Lippen, dann leuchtete eben jenes Gerät kurz auf und wies eine dünne, helle Linie nach Norden, gerade hell genug, um für die kleine Reisegruppe sichtbar zu sein. „Dort entlang.“
Gabhan wandte den Kopf und sah hinauf zur Zauberin, die dort wieder eines ihrer Spielzeuge aus ihrer Tasche gezogen hatte, die nun eine lange dünne Linie aussandte. „Eine Karte wäre dir auch zu gewöhnlich, oder?“ fragte er knurrend und folgte der Linie mit seinem Blick, die nun vom Weg abwich und direkt durch wildes Land führte. „Der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten und so, hmmm?“ er schnaubte, diesmal unbegeisterter als noch zuvor. „Na dann kommt. Atheris, Grazyna … Sauerbraten – wir sollten uns beeilen, bevor die Feuchtigkeit noch das dunkle Haar der Zauberin locken lässt. Wäre doch schade um ihre Frisur.“
Ihr Weg durch die Wildnis dauerte länger als Atheris erwartet hatte und obwohl er keinerlei Zweifel daran hegte, dass Grazynas Zauberding sie an ihr Ziel führen würde – hätte er vielleicht fragen sollen, ob es neben der Richtung auch die Entfernung anzeigen konnte. Wie sie es erwartet hatten, setzte mit Einbruch der Dämmerung ein unangenehmer Dauerregen ein, der den bereits feuchten Waldboden endgültig in eine braune Suppe verwandelte. Gerade als Gabhans Laune endgültig zu kippen drohte, öffnete sich vor ihnen ein kleines Tal, durch das sich ein schmaler Fluss seinen Weg bahnte und an dessen Ufer sich eine kleine Siedlung befand, die durch eine einfach Holzpalisade geschützt wurde. Mit einem Lächeln Blickte Atheris zur Magierin, die seinen Blick liebevoll erwiderte. „Kommt ihr beiden endlich?“ raunzte Gabhan, der sich bereits wieder in Bewegung gesetzt hatte.
Eine kleine Holzpalisade, die die Siedlung vor Angriffen schützen sollte. Häuser, die aus demselben Holz gebaut zu sein schienen und deren Dächer mit Reet gedeckt worden waren – die Wände mit bunter Farbe bemalt, die Legenden und Glücksbringer zeigten. Das Dorf hätte friedlich sein können, würde nicht durch den dichten Regen und das dämmrige Licht eine triste Atmosphäre über dem Ort liegen. Die Menschen hier hatten sich in das Innere ihrer Häuser zurückgezogen – Kerzen brannten in den Fenstern und nur aus einer kleinen Schenke drangen noch die Stimmen von ein paar Männern, die ihren frühen Feierabend begossen. In einem kleinen Pferch draußen waren ein paar Schweine untergebracht, die in dem matschigen Boden noch nach Essen wühlten, auf einer großen Weide grasten Kühe und schienen dankbar dafür zu sein, dass die Fliegen und Mücken sie jetzt im Regen in Ruhe ließen.
Grazynas Weg führte die Zauberin zielsicher zu einem der größeren Häuser hin, das in der Mitte des großen Dorfes stand und um das ein kleiner Zaun gespannt worden war, der einen Garten voller frischer Kräuter begrenzte. In einem angrenzenden Stall schauten ihnen zwei Pferde entgegen, die den Kopf zurück warfen, als sich die kleine Gruppe dem Haus näherte – aus einer Decke betrachtete eine kleine, schwarze Katze die beiden Hexer missgünstig aus gelben Augen und fauchte, als sie näher kamen ehe sie in einer Scheune verschwand. Die Zauberin richtete noch einmal die Kapuze über ihrem Kopf, dann trat sie hinüber zur Tür und hob die Hand, um gegen das dunkle Holz zu klopfen.
Sie hörte, wie im Inneren die Stimmen verstummten, wie Stühle verrückt wurden und sich schwere Schritte der Tür näherten. Das leise Klacken, dem sie lauschte, musste ein schweres Schloss sein und sie nutzte den Augenblick, um sich zu den beiden Hexern umzuwenden. „Gebt mir einen kurzen Moment“, bat sie leise, dann öffnete sich die Tür und ein älterer, gebeugter Mann kam zum Vorschein. Eine Weile lang stand Misstrauen in seinem Gesicht, während seine wässrigen Augen zuerst über Gabhans Erscheinung, dann hinüber zu Atheris bis hin zu Grazyna wanderten und erst bei Letzterer hellte sich seine Miene auf. „Bei Meliteles großen Titten!“, stieß er aus und erhielt ein ungläubiges Augenbraunheben der Zauberin dafür. „Ist Jahre her!“, folgte es hastiger und Grazyna nickte langsam. „Schön dich wiederzusehen, Jirkam“, hob sie an und lenkte absichtlich ihren Blick hinauf in den Himmel.
Der Mann schien die Andeutung zu verstehen und machte eilig ein paar Schritt bei Seite. „Oh!“, stieß er aus und deutete hinein. „Kommt rein. Kommt rein!“, forderte er und warf einen Blick über die Schulter zurück. „Magda!? Magda! Wir haben Gäste! Mach was zu essen und was zu trinken!“, schrie er ins Innere bevor er sich wieder zurück zu der kleinen Gruppe drehte. „Ihr müsst mir erzählen, was ihr hier am Arsch der Welt macht. Kanns mir denken, wenn ich die Herrn Hexer hier seh … ist’s in der Nähe? Müssen wir uns Sorgen machen?“
Ein Dörfchen wie tausende. Wenngleich es Gabhan auch wunderte, dass Grazyna jemanden kannte, der solche Ausdrücke pflegte. Jemand der echt war und nicht nur aus Schall, Ehre und Geschichten bestand. „Keine Sorge Meister. Nichts ist in der Nähe – und kein Monster der Welt würde sich trauen, euch und eurem Haus zu nahe zu kommen, wenn die Frau Zauberin hier ist!“ lachte er knapp und knurrend und schob sich durch den noch immer halb offenen Spalt an dem Mann vorbei. „Ich dank euch für die Gastfreundschaft guter Mann – und ich entschuldige mich für den Geruch. Ich entschuldige mich sehr…“ er löste die Schnallen von seinem Schultergurt, der – nass vom Regen – quietschend von seinen Schultern glitt. Er warf Gurt und das stinkende, nasse Fell über eine Garderobe in der Nähe. Es folgten die Schnallen seines Brustpanzers. Schnüre für die Schulterplatten, sowie die dortigen Riemen. Dann der unangenehme, entwürdigende Teil. Das Kettenhemd. Es existierte keine Möglichkeit, dies mit Würde loszuwerden. Er ignorierte die Blicke, während die folgenden Worte im Geklirr der Kettenglieder untergingen.
Während Grazyna mit ihrem alten Freund redete und Ghaban immer noch dabei war, sich aus seinem Kettenhemd zu befreien, ließ Atheris seinen Blick durch das Zimmer schweifen – kein Zweifel, hier lebte ein Stoffhändler! In jeder freien Ecke stapelte sich die Handelsware, wodurch das an sich sehr schöne und geräumige Zimmer den Charme eines Lagerhauses versprühte – mal abgesehen von den Ratten, deren Spuren er hier nicht erkennen konnte.
„Macht es euch doch bitte gemütlich!“ erklang die Stimme des Hausherren, während er an Atheris vorbei schritt und mit wenigen Handgriffen einen Tisch und drei zusätzliche Stühle unter einem Ballen Stoff hervorzauberte. Der Greifenhexer half Grazyna aus ihrem nassen Mantel und hängte diesen zum Trocknen in der Garderobe auf, penibel darauf achtend, dass genügend Abstand zu Ghabans Ausrüstung bestand.
Ghaban, der sich inzwischen aus Kettenhemd und Gambeson geschält hatte, setzte sich mit einem zufriedenen Grunzen an den Tisch und seine Mundwinkel schienen ein Lächeln anzudeuten, als der Händler mit einem Tablett voller Käse, Schinken und Brot aus einem anderen Raum trat. Als Grazyna noch eine Flasche Rotwein hervorzauberte, setzte auch Atheris ein breites Grinsen auf – viel besser als im Regen die Nacht unter einem Baum zu verbringen, daran bestand kein Zweifel!
„Fangt schon mal ohne mich an, ich werde zuerst Ker`zaer versorgen und geselle mich dann zu Euch!“ rief er seinen Freunden zu und trat wieder in den Regen. Direkt hinter dem Haus befand sich eine kleine Stallung und ein überdachter Stellplatz für den Wagen des Händlers. Atheris öffnete mit einem Knarzten die Stalltür und betrachtete das Innere. Die beiden alten Wallache des Händlers blickten ihn aus schläfrigen Augen an, schienen aber ansonsten keine Angst vor den Neuankömmlingen zu haben. Viel Platz gab es hier nicht, aber es reichte, um für den schwarzen Hengst eine ruhige Ecke mit trockenem Stroh herzurichten und ihm etwas von dem hier gelagerten Heu zu fressen zu geben. Nachdem das Fell trockengerieben und die Ausrüstung sauber gelagert war, machte er sich wieder auf seinen Weg zurück zum Haus. Hoffentlich hatten sie ihm etwas von dem Wein übrig gelassen. Draußen regnete es inzwischen wie aus Kübeln und obwohl der Weg zur Eingangstür nicht weit war, kam er endgültig durchnässt auf der Veranda an. Gerade als er die Türklinke ergreifen wollte kam ein Unbehagen in ihm hoch – „A d’yaebl aép arse!“ flüsterte er, während er sich langsam umdrehte. Er spürte, wie jemand oder etwas ihn beobachtete – keine Magie, kein Instinkt … nur ein unheimliches Gefühl, das er nicht in Worte greifen konnte. Konzentriert ließ Atheris seinen Blick über die anliegenden Häuser schweifen. Die Lichter waren erloschen, die Fensterläden geschlossen und nur aus der kleinen Taverne erklang noch das dumpfe Lallen der letzten Gäste. Das Rauschen des Flusses, dessen Pegel durch den Regen inzwischen stark angestiegen war, kam kaum noch gegen das Geräusch der trommelnden Tropfen auf den Hausdächern an. Dann verharrte sein Blick auf der vermeintlichen Quelle seines Unbehagens. Das einst prächtige Kaufmannshaus stand am Rande des kleinen Marktplatzes in bester Lage. Es stand leer, das war leicht an den vernagelten Fenstern im Erdgeschoss und der vernagelten Tür zu sehen. Seine durch die Mutationen geschärften Augen vermochten den Regenschleier nur bedingt auf diese Entfernung zu durchbrechen, aber da war doch wer? Atheris wischte sich über die Augen und konzentrierte sich erneut. Er konnte die Blicke, die auf ihm lasteten spüren – war das eine Silhouette, die sich im Fenster direkt unter dem Giebel abzeichnete – Augen in der Dunkelheit, die den Regen durchbrachen und ihn auf so unnatürliche Weise berührten? Seine Hand wanderte instinktiv zum Amulett um seinen Hals und ergriff das Medaillon in Form eines Greifenkopfes. Keine Vibrationen … keine Magie … nichts Ungewöhnliches schien der Magiedetektor zu orten. Ein gleißend heller Blitz durchfuhr die Dunkelheit der Nacht und raubte Atheris für einen kurzen Moment die Sinne. Als sich das Nachbild endlich aufgelöst hatte und der Hexer seine Aufmerksamkeit erneut auf das Haus lenkte, war das unangenehme Gefühl verschwunden, und obwohl er noch eine Weile das Haus beobachtete, konnte er nichts Auffälliges mehr erkennen. Wenn da etwas gewesen war, so war es zumindest für den Moment verschwunden. Mit einem leichten Schulterzucken wandte er sich erneut der Eingangstür zu und schloss diese von innen. Die erneuten Blicke, die auf ihm ruhten, bemerkte er diesmal nicht.
Atheris war verdammt lange fort geblieben – und normalerweise hätte sich Gabhan Sorgen um den Freund gemacht, doch die Atmosphäre im Haus war in einem Maße unbedrohlich, dass es noch nicht einmal auffällig war. Sein Amulett zuckte zwar, aber das tat es immer in der Nähe der Zauberin, weshalb er längst aufgehört hatte, sich auf dieses zu konzentrieren und auch seine Instinkte meldeten keinerlei Gefahr. Mochte es draußen auch gewittern, Atheris würde es schon gut gehen. Er neigte einfach dazu der stolzen Salami auf vier Beinen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als Gabhan gemeinhin für angemessen hielt.
Um sich abzulenken und nicht in die Verlegenheit zu kommen, in die Erzählungen und Anekdoten über die Vergangenheit einbezogen zu werden, welche Grazyna und der Alte austauschten, ließ der Hexer seinen Blick durch den großen Raum wandern, der trotz seiner heimeligen Atmosphäre einem Kontor nicht ganz unähnlich war, mit all den gewaltigen Stoffballen, die sich in extra dafür gebauten Schränken und dutzenden Schubladen bis unter die Decke schraubten. Einige wenige vergessene Spinnweben hingen unter der Decke und verliehen dem Raum einen Charakter von bodenständigem Charme, der Gabhan gut gefallen konnte. Weniger gut gefiel ihm das Bild, welches zwischen zweien dieser Schränke hing und von dem aus ihm ein hagerer, wenn auch gut gekleideter Mann anblickte. Vom Stil der Kleidung her hätte Gabhan ihn auf das letzte Jahrhundert geschätzt. Vermutlich ein Vorfahre des Stoffhändlers, der mit seinen Geschäften den Reichtum seines Erben erst ermöglicht hatte. Wie es immer in dieser Welt war. Einigen wenigen gelang es sich nach oben zu arbeiten, von wo aus sie immer reicher wurden, während die Armen immer ärmer wurden. Die Anzahl der Reichen indes wuchs immer weniger an, weil jene, die bereits reich waren, die Endlichkeit der Ressourcen zumindest fürchteten, wenn sie auch nach außen immer etwas anderes propagieren mussten, und daher aufstrebende Neulinge behinderten wo sie konnten. Und die Armen? Die wurden immer mehr und – dank der Endlichkeit der Ressourcen – immer ärmer.
Weiteren sozioökonomische Gedanken, die seine Stimmung nur verschlechtern würden, konnte er jedoch nicht nachhängen, denn die Tür zur Stube ging wieder auf und Atheris kam tropfend hinein. Wie der Kerl es schaffte, dass Frisur und Bart dennoch wie immer akkurat saßen, war Gabhan ein ewiges Rätsel geblieben, während er seinen eigenen Schnurrbart gedankenverloren strich und die langen, widerspenstigen Haare wenigstens ansatzweise in Form brachte. „Setz dich Atheris! Die Graupensuppe ist vorzüglich!“ rief Gabhan dem anderen hinüber, der ein wenig gedankenverloren im Türrahmen stand. Es war eine Lüge. Gabhan hasste Graupen. Aber Gepflogenheiten wollten gepflegt werden und Grazyna hätte ihm die folgenden Tage verhagelt, wenn er sich nicht von seiner besten Seite zeigte.
Nur einen kurzen Moment hob die Zauberin den Kopf und brachte ein weiches Lächeln auf ihre Züge ehe sie sich schweigend von ihrem Platz erhob um hinüber zu ihrer Tasche zu treten, aus der sie zuvor bereits – sehr zum Unglauben der anderen – Wein hervorgezogen hatte. Als sie jetzt hinein griff, zog sie ein dickes, größeres Handtuch hervor und reichte es Atheris weiter ehe sie zurück zu ihrem Platz kehrte, das bereits gefüllte Weinglas hinüber schiebend ehe ihr der Blick des Stoffhändlers auffiel. „Ich habe ein kleines Arrangement mit einem Händler aus Toussaint. In Wahrheit befindet sich ein kleines Portal in der Tasche, das es mir erlaubt, immer wieder Wein holen zu können. Der Rest? Der ist nur das Nötigste“, schmunzelte sie und ihr Gegenüber schien mit dieser Antwort, wenngleich auch nicht vollständig, aber zumindest für den Moment zufrieden gestellt. Die Zauberin ließ offen, ob sie es ernst gemeint hatte oder nicht und lächelte nur still in sich hinein ehe sie wieder nach ihrem Glas griff. „Jedenfalls“, hob Jirkam wieder die Stimme, offensichtlich hatte er die Sprache wiedergefunden. „… ist ganz passend, dass ihr da seid. Hab vielleicht sogar Arbeit für die Herrn Hexer.“ Als ihm Gabhans Blick auffiel, hob er hastig die Hände und fegte mit der Geste auch gleichzeitig eine gefüllte Schüssel vom Tisch. „Ach Scheiße! Magda! Mach sauber! Bevor die Stoffe dreckig werden! Ist sowieso schon schwer, hier was zu verkaufen – ist ja nicht so, als hätten die hier Geld.“ Sein Lachen dröhnte unangenehmer durch das Haus, als es Grazyna in Erinnerung hatte und ließ die Zauberin kurz schaudern. „Ich zahl auch!“, nahm er den Faden wieder auf, den er zuvor fallen gelassen hatte. „Habt bestimmt das große Haus gesehen, das drüben steht. Ist eigentlich meins – hab`s gekauft, aber irgendwas scheint nicht zu stimmen. Leute reden über Geister und Stimmen, die daraus kommen und ich kann so nicht einziehen, weil keiner die Möbel rüber bringen will und ich kann es schlecht selbst machen. Jedenfalls würd´s die Leute bestimmt beruhigen, wenn sich … Professionelle das anschauen und bestätigen, dass da nichts ist“, führte er aus, und noch bevor einer der beiden Hexer antworten konnte, hob er wieder die Hand. „Aber erst mal seid ihr unsere Gäste. Ihr esst und trinkt, schlaft euch richtig aus und morgen könnt ihr euch dann drum kümmern. Sagen wir, die Hälfte im Voraus? Ist nur fair – könnt ja sonst jeder kommen.“
Das alte Haus
Der Regen hatte sich verzogen und die tiefstehende Herbstsonne hatte den dichten Morgennebel vertrieben. Atheris stand flankiert von Grazyna und Ghaban vor dem großen Haus und betrachtete die zugenagelte Tür. „Die Bretter wurden vor nicht allzu langer Zeit hier angebracht!“ stellte er das Offensichtliche laut fest. „Ich würde sagen … etwa vor einem Jahr, wenn man die Verwitterung des Holzes und der Nägel berücksichtigt … die Fenster dagegen wurden sicherlich vor mehr als zehn Jahren verriegelt!“ brummte der Bärenhexer als Erwiderung. Mit ein Paar gemurmelten Worten und einer kurzen Geste ließ Grazyna die Nägel aus den Brettern schweben und mit einem lauten Poltern krachten die Latten auf den Boden. „Danke Grazyna!“ lächelte Atheris, der sich gerade daranmachen wollte, die Bretter zu entfernen. Ghaban war der erste, der ins Innere trat und anfing sich umzuschauen. „Schaut euch das an!“, der Bärenhexer zeigte auf den verstaubten Boden. Man musste kein Fährtenleser sein, um die vielen verschiedenen Fußabdrücke zu erkennen – zu den großen Stiefelabdrücken gesellten sich barfüßige Spuren von jungen Kindern, die vermutlich aus Neugierde oder als Mutprobe in das Haus gekommen waren. „Sie waren nicht zur selben Zeit hier!“ stellte Ghaban fest, der sich über eine kaum im Staub erkennbare Spur gekniet hatte. Sowieso war etwas an diesem Haus seltsam. Er war es gewohnt, dass sein Amulett in der Nähe der Zauberin vibrierte. Das da stets ein leises Zucken war, das den sonst so potenten magischen Gegenstand zur Ortung und Einschätzung von Gefahren gänzlich unbrauchbar machte. Doch kaum, dass sie das Haus betreten hatten, hatte es aufgehört zu zucken. Es war ihm erst gar nicht aufgefallen. Doch nun, nun fiel es ihm auf. Und nicht nur das. Noch etwas schien zu fehlen – sämtliche Geräusche schienen vom Boden verschluckt zu werden. Selbst das Rauschens des Windes war so fern und leise, dass Gabhan glauben mochte, dass es nur noch in seiner Erinnerung existierte. Dass er es nur noch hörte, weil er wusste, dass er es in einem solch alten Haus hören musste. Es war ein gefährlicher Gedanke – denn kaum hatte er ihn gedacht – da war es fort. Das Rauschen des Windes. Beunruhigender war nur noch, was es mitgenommen hatte. „Ich bitte euch nun ruhig zu bleiben,“ flüsterte Gabhan leise, doch ob des Fehlens sämtlicher anderer Geräusche hätte er auch genauso gut schreien können. „Denn was ich euch nun sagen werde, könnte eurer Ruhe abträglich sein…“ er spürte den Blick der beiden auf sich, spürte bereits die Worte Grazynas, die sich in ihrem Kopf formten und bereit waren losgelassen zu werden, doch Gabhan hob die Hand und deutete hinüber zur Eingangstür. Oder besser – dorthin, wo die Eingangstür noch bis vor wenigen Augenblicken gewesen war. An ihre Stelle war nämlich nun blankes Holz getreten. Gabhan spürte einen drückenden Kopfschmerz, ein dumpfes Pochen. Waren sie überhaupt dort hindurch gekommen? Er schüttelte den Kopf. Natürlich waren sie das. Sie waren ja noch in der Eingangshalle. „Die Tür ist fort,“ sprach er das Offensichtliche aus, wenngleich auch mit der Hoffnung, dass die anderen ihn eines besseren belehren konnten. „Was?“, die Frage kam vollkommen unvermittelt von der Zauberin, die jetzt herum wirbelte und mit einigen wenigen Schritten hinüber zu dem Ort getreten war, an dem sich zuvor noch die Tür befunden hatte. Nichts. Das Holz dort wirkte, als wäre es schon immer hier gewesen. Als wäre es bereits seit Jahrzehnten an Ort und Stelle, an einigen Stellen längst abgenutzt von Dutzenden von Händen, die hier hinüber gestrichen haben mochten. Mit trockenem Mund ging sie weiter bis hin zu einem der großen Buntglasfenster und erstarrte dann erneut, als sie zum ersten Mal das Bildnis dort betrachtete, das in feinstem Mosaik geformt worden war. Es zeigte drei Gestalten – zwei davon mit Schwertern auf dem Rücken, hochgewachsen, die gelben Augen wachsam auf ein unsichtbares Unheil gerichtet. Einer davon mit einer hässlichen Narbe auf der Wange und drei vernarbten Klauenspuren an der Schläfe, der andere mit eindeutigen nilfgaardischen Symbolen auf der Kleidung. Die dritte Gestalt war eine Frau und Grazyna schluckte, als sie feststellte, dass es sich hierbei um sie selbst handelte. Kopfschüttelnd zwang sie sich zum Nachdenken, darum ihren eigenen Verstand wieder zu klären, der für eine Sekunde ausgesetzt und Furcht Platz eingeräumt hatte. Furcht half ihr nicht, sie lähmte sie nur und würde keinen von ihnen aus der unangenehmen Situation herausbringen, in die sie sich hinein manövriert hatten. „Seht euch das an“, wies sie die beiden Hexer darauf hin und deutete zu dem Fenster, das sie drei zeigte. Auf den anderen Fenstern sah sie weitere Gestalten – am Boden liegende und blutende Kinder, daneben ein paar Steine, mit denen sie offensichtlich die Fenster eines Hauses eingeworfen hatten, auf einem anderen eine lange Tafel wie zu einem rauschenden Fest, doch die Gäste lagen mit leeren Augen auf dem Tisch, die Weinkelche umgeworfen. Das nächste Bild zeigte einen Mann, der einen anderen erstach, wiederum ein anderes zeigte eine Frau, leblos und nur halb bekleidet auf einem Bett, die Kehle durchgeschnitten. Keines davon war von außen sichtbar gewesen.
Ein kalter Schauer lief Atheris den Rücken runter. Obwohl er es schon öfters mit unnatürlichen Erscheinungen zu tun hatte, so hasste er derart paranormale Phänomene – was Handfestes … das es zu erledigen galt … das war seine Spezialität. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte der Greifenhexer, als er Grazynas Blick zu den Gemälden folgte. „Zumindest haben wir schnell herausgefunden, dass hier was nicht stimmt!“ Er drehte sich um und betrachtete die lange breite Treppe die nach oben führte – da war es wieder gewesen, dieses unangenehme Gefühl beobachtet zu werden. Leise Geräusche drangen an seine empfindlichen Ohren – Worte, mehr gehaucht als geflüstert, so dass ihre Bedeutung nicht zu erkennen war. Er brauchte seine Freunde nicht darauf hinzuweisen, beide waren an seine Seite getreten und schauten ebenfalls nach oben. „Ich will ja nichts sagen!“ unterbrach Grazyna das Lauschen, „ist euch auch aufgefallen, dass die Treppe viel zu lang ist im Verhältnis zur Größe des Hauses … wir haben es hier mit irgendeiner Form der Illusion zu tun – oder, was noch viel schlimmer wäre – wir haben den natürlichen Raum verlassen!“ sie schaute Atheris über ihre Schulter an und er erwiderte ihren Blick mit einem leichten Lächeln. „Wenn du keine konkrete Idee hast, Frau Zauberin, lass uns hinaufsteigen … es scheint uns irgend jemand oder etwas zu erwarten!“ raunte Gabhan, während seine schweren Stiefel der ersten Treppenstufe ein leichtes Knarzten entlockte.
Gabhans liebenswürdige Art entlockte ihr dieses Mal nicht viel mehr als ein schweres Seufzen, während Grazyna das Kleid raffte und die ersten Schritte hinter dem Bärenhexer her machte, eine viel zu lange Treppe hinauf. Sie sah Kerzen im oberen Stockwerk aufflammen, je mehr Stufen sie voranschritten, hörte zuerst, wie sich Türen schlossen und andere öffneten, bevor sie es sehen konnten. Es war eine Schnapsidee hierher zu kommen und für eine Sekunde überlegte sie sich, ob es nicht Absicht gewesen war, sie Drei hier in eine Falle gelockt zu haben. Kopfschüttelnd verwarf sie den Gedanken wieder – sie wurde paranoid, war zu lang mit den Hexern unterwegs gewesen und schalt sich geistig selbst eine Närrin, so etwas befürchtet zu haben.
Der lange Korridor, den sie oben erreichten, war gesäumt von Dutzenden Türen aus dunklem Holz mit silbernen Klinken. Ein paar davon waren mit alten Symbolen bemalt – Blumen und glückbringende Inschriften, während andere beinahe vollkommen schwarz im Schatten lagen. Nur eine einzige Tür lag am Ende des Ganges zu ihrer Rechten noch offen, und Kerzenlicht warf tanzende Schatten in den Flur. „Dorthin“, sagte sie und durchbrach damit, wenngleich ihre Worte auch kaum mehr als ein Flüstern waren, die eisige Stille, als habe sie soeben geschrien. Irgendetwas umgab sie hier, sie spürte den Druck in ihrem Kopf, der ihr die Augen tränen ließ und die Müdigkeit in den Knochen, als wären sie bereits seit mehreren Tagen durch dieses Haus gewandert – es fühlte sich an, als würde jeder Schritt ihnen mehr Energie rauben und gleichzeitig begleitete sie immer wieder die Angst davor, was geschah, wenn man hier die Augen schloss.
Gabhan hörte die Schritte seiner Kameraden in einem einschläfernden Gleichklang hinter sich, während er den ewigen Flur entlang glitt. Seine schweren Stiefel folgten dabei bereits seit vielen Jahren, vielleicht Jahrhunderten ausgetreten Pfaden, die von einer Eintönigkeit geschliffen worden waren, die noch älter war als das Holz, auf dem es seine Spuren hinterlassen hatte. Er musste seinen Blick selbst wieder hochreißen, der zuvor von den hellen Spuren des Bodens gefangen genommen worden war, die ihm den Weg wiesen. „Verdammt, wir müssen wirklich vorsichtig sein hier…“ knurrte er und warf einen Blick zurück, als er keine direkte und schnippische Antwort erhielt. Doch die Zauberin, von der er diese Antwort erwartet hatte, war fort. Und mit ihr auch der ihr zu bekannte Hexer. Gabhans Kehle schnürte sich zu, während er den gewaltigen, unfassbar langen Gang entlang sah, in den sich bis in die Unendlichkeit Kerzen links und rechts an der Wand entlang hangelten, kleine Kerzenflammen nach oben züngelten. Flammen, die seinen Blick bannten. Die anschwollen, ob in seinem Geist oder in Wahrheit vermochte er nicht zu sagen, doch er spürte das Feuer in seinem Gesicht. Die wärmende Flamme, die zu einer versengenden Hitze wurde. Feuer. Feuer überall und dann – mit einem Mal erloschen die Kerzen im langen Gang. Eine nach der anderen, immer schneller und schneller, als würde eine Wand aus Dunkelheit heran walzen und sämtliches Licht verschlucken – und dort, in der Finsternis, dunkler als das Dunkel, ein Gesicht. Formen. Gabhan konnte sich losreißen – wusste nicht wie lange er dort gestanden hatte, doch er riss eine Tür zu seiner linken auf, stolperte dort hinein – und kam in einen zweiten Gang, ebenfalls von der linken Seite und stieß mit Grazyna zusammen. „Duibbelschiss! Wo wart ihr?“ brüllte er, doch die andere sah ihn nur fragend und verständnislos an.
Atheris zuckte zusammen, als Ghaban ohne Vorwarnung gegen Grazyna stolperte. Während der Greifenhexer langsam sein halb gezogenes Jagdmesser wieder in die Scheide zurückschob und er gerade ansetzten wollte etwas zu sagen, legte sich etwas auf seinen Mund. Vergeblich versuchte Atheris zu schreien, aber es blieb still. Mit all den erworbenen Fähigkeiten eines Vatt`ghern versuchte er sich aus dem Etwas, was ihn umschlungen hielt, zu befreien – blieb aber erfolglos. Er konnte sich nicht erklären, was ihn festhielt und er konnte auch nicht verstehen, warum seine Freunde sich nicht umblickten, sondern den langen Gang unbeeindruckt weiter folgten. Aus den Augenwinkeln sah er wie die Kerzen im Gang erloschen und wie sich die daraus ergebene Dunkelheit wie ein dunkles Omen auf ihn zukam und ihn samt seines Angreifers verschluckte. Dann herrschte Stille … nein, keine Stille … da sprach doch wer. Erneut griff er zu seinem Mund und zog an dem Stoff, der sein Gesicht inzwischen voll bedeckt hatte. Mit einem satten Klatschen landete der nasse Waschlappen im Zuber – direkt zwischen seinen nackten Beinen. „Eingeschlafen oder was!“ lächelte ihn Ghaban an, der neben ihm ebenfalls ein Bad genoss und dabei einen großen Humpen Bier in der Hand hielt. Direkt neben dem Bärenhexer befand sich ein dritter Zuber in dem Reynek ausgelassen ein kleines Liedchen sang. Wie konnte das sein? Atheris kannte dieses Zimmer … diese Szenerie … dieses …“A d’yaebl aép arse!“ schrie er, während er sich gegen die Seite seines Badezubers schmiss und diesen mit lautem Poltern zum Umkippen brachte – gerade noch rechtzeitig um dem tödlichen Armbrustbolzen auszuweichen, der schon einmal seine Brust durchbohrt hatte. Elegant rollte sich Atheris über die Schulter ab und kam in sprungbereiter Stellung wieder auf die Beine, bereit sich auf seinen Angreifer zu stürzen. Es war der überraschte Gesichtsausdruck auf Grazynas Gesicht, der den Greifenhexer daran hinderte, sich auf seine Freunde zu stürzen. Er musste sich nicht umschauen, er wusste wo er sich befand – in einem langen, endlos erscheinenden Gang.
Überraschung stand in Grazynas Gesicht geschrieben, als Gabhan sich mit einem Mal umgewandt hatte und sie zurückgestoßen hatte, sein gezogener Dolch hatte einen dünnen, kleinen Schnitt auf ihrem Hals hinterlassen, von dem sie jetzt spürte, wie Blut kleine Flecken in der weißen Chemise hinterließ. Dann hatte sich mit einem Mal sein Blick wieder geklärt und seine Worte, halb brüllend waren an ihre Ohren gedrungen. Noch bevor sie hatte antworten können, hatte auch Atheris den Verstand verloren und hatte gegen eine unsichtbare Kraft gekämpft – oder war er geflohen? Sie hörte das Poltern seiner Schritte, der Rolle, die er machte, bevor er vor ihnen beiden zum Stehen kam, sprung- und angriffsbereit – und dann klärte sich auch seine Sicht wieder. Die Nasenflügel der beiden Hexer blähten sich unter dem aufgeregten Atmen auf wie bei einem nervösen Pferd, sie sah das Zucken der Hände und wusste gleichermaßen auch, dass, wenn beide sie angreifen würden, es pures Glück sein würde, ob sie rechtzeitig reagieren würde können, um sich selbst zu schützen. Das Haus machte etwas mit ihnen, veränderte sie und gaukelte ihnen Dinge vor, die es nicht gab. „Was immer ihr seht, es ist nicht real“, hob Grazyna schließlich langsam die Stimme, beide Hände abwehrend gehoben ehe sie es wagte, den ersten Schritt auf die beiden zu zumachen und schließlich sanft eine Hand auf Atheris‘ Arm legend. „Es ist hier nichts. Nur ein leerer Gang und Türen. Es gibt keine Angreifer, nur uns selbst.“ Sie wusste nicht, was die beiden gesehen hatten, wollte aber auch nicht nachfragen, in der Befürchtung, sie würde es damit nur wieder schlimmer machen. Dann sah sie aus den Augenwinkeln eine Gestalt, schmal und in weiße Lumpen gekleidet, die dort vor ihnen durch den Gang schritt und in deren Augen Bedauern stand, als sie den Blick auf die Zauberin richtete. „Sie werden dich töten“, hallte plötzlich ein leises Wispern an ihre Ohren, das sie schaudern ließ und das beinahe dafür gesorgt hätte, dass auch sie herumgewirbelt wäre. „Sie werden euch beide töten …“ Dann war wieder Stille da, so als wäre nichts gewesen und Grazyna zwang sich zur Ruhe, verbat sich länger über die Worte nachzudenken. Es wurde Zeit, dass sie eine Lösung fanden und dieses Haus verließen. Es war nichts hier sagte sie – und doch hätte er schwören können, dass da etwas gewesen war.
Auch Atheris hatte etwas gesehen. Aber sie hatte wohl recht – war nur Lug und Trug. Mehr Schein als Sein, in einem Nebel aus sich stetig verändernden Farben und Formen. Er fuhr mit einer Hand über sein Amulett, als er stockte. „Natürlich…“ flüsterte er leise und schloss die Augen, verfluchte sich selbst ob seiner Dummheit. „Die Zauberin hat recht – all das ist nicht echt!“ knurrte er. „Unsere Amulette rucken wie verrückt! Atheris, fass deines auch an, konzentriere dich darauf! Das Scheiß Haus spielt mit uns, zeigt uns was es zeigen will und lässt weg, was es uns verschweigen mag!“ er spuckte aus. „Gut,“ sein Ton wurde düsterer. „Schluss mit den Spielchen – Angriff ist die beste Verteidigung – wir gehen da jetzt rein und fragen was die Scheiße soll!“
Seit dem Verschwinden der Tür war es Atheris klar gewesen, dass man mit ihrer Wahrnehmung spielte, dennoch fühlte sich alles, was hier passierte, real an. Wie verteidigt man sich gegen etwas oder jemanden, der eigentlich nicht da ist, aber den alle deine Sinne wahrnehmen? – Atheris hasste Geister!
Atheris vernahm Ghabans Worte, aber es dauerte noch eine gefühlte Ewigkeit, bis endlich die Tür am Ende des langen Ganges krachend aus den Angeln flog! Sichtlich genervt von den paranormalen Vorkommnissen hatte Ghaban nicht einmal versucht zu prüfen, ob die Tür verschlossen war oder nicht, sondern hatte sie schlicht weg eingetreten. „Was soll die Scheiße!“ waren seine Worte als sie gemeinsam den riesigen, gut beleuchteten Raum betraten. „Das ist ein verdammter – riesiger Ballsaal!“ stellte Atheris überrascht fest. Alleine die Ausmaße dieser Räumlichkeit ließen sofort erkennen, dass es sich um ein Gehirngespinst handelte. Atheris war nur wenige Meter in den Raum getreten, als erneut dieses so unbehagliche Gefühl in ihm aufkam – er erneut diese Blicke spürte, die ihn bis ins Mark erschütterten. Dann sah er den Schatten, am anderen Ende des Ballsaales. Fast wellenförmig spürte er, wie die Gänsehaut an seinem Arm hinablief bis zur geballten Hand, in der er das vertraute Gewicht seiner Silberklinge spürte. Seine geschlitzten, katzenartigen Augen verengten sich, als er dieses dunkle Wesen fixierte. Eine Fratze – einem Totenkopf nicht sehr unähnlich – die Augen, sofern dieses Wesen welche hatte, waren so tief schwarz, dass es den Eindruck erweckte, sie würden das Licht selber verschlingen. „Da ist es! Aen Ard Feainn!“ schrie Atheris und stürmte los, dicht gefolgt von Ghaban und Grazyna.
Als die drei etwa die Mitte des Ballsaales erreicht hatten, machte das albtraumhafte Wesen kehrt und verschwand hinter einer großen Tür. Fast gleichzeitig fingen die riesigen Fenster an den beiden langen Seiten an zu vibrieren und Fanfaren drangen an Atheris Ohr, zunächst leise – dann immer lauter werdend. Erst jetzt vielen dem Greifenhexer die durch Buntglas dargestellten Szenen von Rittern, Monstern und Drachen auf – und mehr noch, die Fanfaren schienen sie ins Leben zu rufen! Die Fenster, nein sie vibrierten nicht, etwas wollte aus ihnen heraus gelangen! Atheris musste es nicht aussprechen, seine Freunde hatten es ebenfalls sofort erkannt und nochmal an Tempo zugelegt und sprinteten auf den vermeidlichen Ausgang zu. Es waren keine zwanzig Meter mehr bis zu ihrem Ziel, als sich ein gläserner Ritter auf seinem Streitross aus dem Fenster löste und sich ihnen mit gesenkter Lanze in den Weg stellte. Es war für wahr ein seltsamer Anblick, da diesem Wesen die Tiefe fehlte, so dass ihr Angreifer, jetzt wo er sich frontal zu ihnen platziert hatte, nur wie ein Strich in der Landschaft wirkte. „Jetzt wird es interessant, Ghaban!“ sagte Atheris, währen er seine Klinge für den Kampf hob.
Das alte Haus erwacht
Gabhan spürte, wie der ganze Boden unter ihm bebte, wie sich mit jedem Schritt, den der gläserne Recke tat, der Boden des Ballsaals wellenförmig aufwarf. Gabhan setzte einen Fuß nach hinten, auf welchen er sein Gewicht verlagerte, den anderen nach vorne, um jederzeit sprung- und angriffsbereit zu sein, nach allen Richtungen austeilen zu können. „Ruhig…“ Gabhans Stimme war leise, ohne die Angriffslust, die in Atheris schnellen Bewegungen mitschwang. Der Ritter senkte die Lanze. Gabhan griff sein Schwert mit beiden Händen, führte es frontal vor den Körper, in ganzer Länge aufgerichtet, halb angewinkelt. „Ganz ruhig…“
Der Ritter, geformt durch die Kunstfertigkeit eines Glasbläsers, kreiert durch die Vorstellung eines Mannes, der sicherlich noch nie einen echten Ritter gesehen hatte und beseelt von der Dunkelheit des Hauses, visierte Gabhan an und verfiel erst in leichten Trab, dann in schnellen Galopp. Der Bärenhexer fixierte sein Gegenüber, die lange Lanze aus Glas. „Ich mach das,“ knurrte er in Atheris Richtung und drehte sich ebenfalls halb ins Profil, die Klinge nun leicht erhoben.
Sein Feind preschte voran – der Schein der Kandelaber spiegelte und brach sich auf der Lanze aus Butzenglas, warf bunte Farbkleckse wie ein Reigen zur Savoinne auf den Boden, die sich miteinander vermischten und zu neuen Gebilden, neuen Fantasien wurden. Der Ritter kam immer näher, die Geschwindigkeit wurde immer halsbrecherischer. Das ist nicht echt. Da war er, der Ritter, die Lanze, der Tod. Gabhan ließ sein Schwert sinken, drehte sich nach vorne, vergrub die Beine in den Boden und vollführte mit schneller, kurzer Geste ein einziges Zeichen, das lila-blau aufleuchtete, der Szenerie ein noch gespenstischeres Aussehen gab. Dann war der Ritter bei Ihm – die Lanze traf auf den Brustpanzer des Hexers. Wenn dieser erwartet hatte, dass sich der andere in Luft auflöste, wurde er nun enttäuscht. Der Schmerz war real, aber nur kurz. Die Lanze splitterte, feine Verästlungen liefen die Lanze entlang, über die Hand des Ritters, seinen Brustpanzer, sein Visier. Dann zersplitterte der Gesamte Ritter und Gabhan wurden abertausende feine Glassplitter entgegen geschossen. Der Bärenhexer schützte sein Gesicht instinktiv mit einem Arm, während tausend kleine Nadeln über seine Wangen fuhren. Das Geräusch des niederfallenden Glases erinnerte ihn an Regen. Erst als der letzte Tropfen gefallen war, wagte er es seine Augen wieder zu öffnen. Blut lief ihm aus kleinen Schnitten an der Wange hinab, sein Brustpanzer wies einen tiefen, aber nicht bis zum Körper führenden Schnitt auf. Glas lag kreisrund um ihm in dem nun langsam verlöschenden Yrden. „Ich sagte doch… nicht echt…“ keuchte er. Wenn auch echt genug.
Es war nicht echt … alles nicht echt … und dennoch betrachtete Atheris, wie sich weitere Bildnisse aus den Fenstern lösten und auf sie zumarschierten. Seine Silberklinge blitzte im Sonnenlicht, das nun durch die freien Fenster ungestört den Saal mit einem warmen Licht flutete. War es überhaupt die Sonne? Vermutlich nicht – egal! Atheris hob die Klinge zum Angriff und baute sich neben Ghaban so auf, dass Grazyna bestmöglich gedeckt war. Die Magierin hatte inzwischen die Augen geschlossen und die Hände ähnlich einem Gebet vor dem Körper platziert, während sie leise Worte murmelte, deren Bedeutung Atheris verborgen blieben. Als die erste der Glaserscheinungen in Reichweite seines Schwertes gelangte, griff er an! Die Klinge zuckte elegant nach vorne, in Richtung Hals – obwohl das bei einem Fensterbild oder einer Illusion sicherlich bedeutungslos war. Ohne das durch Ghaban geformte Yrden war der Aufprall des Schwertes auf das dicke Glas alles andere als eine Illusion, die sich bei dem Treffer in kleine Splitter auflöste. Mit einem zweiten, schnelleren Schlag brach Atheris den gläsernen Streiter und große scharfe Glassplitter zuckten für einen kurzen Moment durch die Luft. Sofort bauten sich zwei weitere Erscheinungen direkt vor ihm auf und trachteten ihm mit ihren scharfen Glasklingen nach seinem Leben, was sicherlich keine Illusion war. Das Geräusch von splitterndem Glas, einer zischenden Klinge und einigen unflätigen Ausdrücken zufolge war auch Ghaban dabei, sich mit dem nicht wirklich vorhandenen Feind zu streiten. Immer und immer wieder barsten die Scheiben und immer wieder fügten sich die verdammten Splitter zu neuen, noch absurderen Gestalten zusammen – das war kein Kampf, den man auf diese Art gewinnen konnte. Dann drang ein leiser, heller Ton an sein empfindliches Ohr. „Was zur Hölle is…!“ den Rest von Ghabans Worten musste sich Atheris denken, denn der Ton war schnell zu einem grellen Schrei herangewachsen. Schwindel überkam den Hexer, so dass er nur mit Mühe eines der Glasschwerter beiseite wischen konnte und mit einem kurzen Schlag des Knaufes das Konstrukt vor ihm zerschmetterte. Obwohl in ihm das Gefühl aufkam, sein Kopf würde gleich platzen, erkannte Atheris, dass sich feine Risse auf den Glasmonstern bildeten. Die Wesen hielten inne und schienen sich zu wundern, dass sie gebrechlich wurden. Der Ton war inzwischen so laut geworden, dass Atheris seine Klinge fallen lassen musste um seine Ohren zu schützen. Gerade als seine Beine unter ihm nachgaben und er auf die Knie stürzte, endete das Schauspiel mit einem letzten, klaren Ton, der die Angreifer in sich zusammen brechen ließ.
Gabhan schüttelte sich. Der schrille Ton war verklungen, doch er hatte ein Nachbleibsel in Form eines noch immer gut hörbaren, schrillen Tinnitus hinterlassen, der in den Ohren klingelte und ihm schlecht werden ließ. Er mochte nicht ganz so heftig reagiert haben wie Atheris, stand er doch noch immer auf den Beinen, doch diese fühlten sich an, als seien sie mit Pudding und nicht mit Muskeln oder gar Knochen gefüllt. „Verteufelt noch eins Zauberin! Hast du in deiner Akademie auch eine Opernausbildung gemacht?“ fluchte er und hielt Atheris eine Hand entgegen um ihm aufzuhelfen. Um sie herum war alles voller Glassplitter – doch die Fenster, durch die er zuvor noch Tageslicht hatte hereinfallen sehen, waren nun wieder mit Glas verschlossen, das nun jedoch milchig-weiß war und keine Möglichkeit mehr eröffnete zu erahnen, welche Tageszeit es draußen sein mochte. Der Bärenhexer fuhr sich über das Gesicht, um auch die letzten Glassplitter daraus zu entfernen, während Grazyna in seinem Augenwinkel ein kleines Kästchen zurück in ihren Beutel tat. „Wir sind kein Stück weiter gekommen…“ knurrte Gabhan, während er den Blick von seinen Begleitern abgewandt und zum Boden gerichtet hatte, auf dem er hier und da dunkle Flecke in rostigem Rot erkannte, die das Schicksal all jener unglücklichen verrieten, die nicht die Fähigkeiten oder Spielzeuge besessen hatten, die zwei Hexern und einer Zauberin aus Arethusa zur Verfügung standen.
„Ist jemand verletzt?“ stellte Gabhan schließlich die einzig wichtige Frage, nachdem er seinem Unmut genug Luft gemacht hatte. „Ich will nicht, dass wir weitergehen und irgendwer mit einem Mal zu spät merkt, dass er dummerweise ein handtellergroßes Stück Glas an einer ungünstigen Stelle mit vielen Arterien stecken hat.“
„Hast du jemals versucht, jungen Zauberinnen die Grundprinzipien der Transmutation beizubringen?“, lautete Grazynas einzige Antwort auf das kleine Spielzeug, das sie vor kurzem wieder in ihre Tasche geschoben hatte und von dem sie nicht beachtet hatte, dass es dem empfindlichen Gehör der beiden Hexer so sehr schaden würde. Langsam ließ sie noch einmal ihren Blick durch den großen Saal wandern, der sich vor ihnen Dreien erhob und in dem eine große Tafel stand. Ein langer hölzerner Tisch, daran Dutzende von Stühlen, allesamt fein säuberlich mit Stoff bezogen und sauber abgeklopft und auf den Tischen … für eine Sekunde hielt sie inne und runzelte die Stirn. Auf den Tischen waren frische Speisen, dampfend, kunstvoll angerichtet, so als würde die Dienerschaft des Hauses gerade erst Gäste erwartet haben. Am Kopfende des Tisches saß die gedrungene Gestalt eines Mannes, der jetzt die Hände zusammenlegte, die Arme – ganz untypisch für den Adligen, den er darstellte – auf den Tisch mit den Ellenbogen aufgestützt. „Guten Abend“, hob er die Stimme, tief und dröhnend – ganz so, wie jemand, der es gewohnt war, dass man ihm zuhörte und dunkle Augen musterten jeden einzelnen von ihnen. „Setzt euch. Ihr habt beinahe das Abendessen verpasst.“
Gabhan zuckte zusammen, als die dunkle Stimme an seine Ohren drang und ihn dazu zwang sich umzudrehen. Eben war dort noch kein Tisch gewesen. Kein Mann. Kein Essen. Selbst die Lichtstimmung in dem gesamten verfluchten Raum schien sich geändert zu haben – war eben noch milchig weißes Tageslicht hier hinein gefallen, so hatte sich dieses Licht in dem Moment geändert, da er sich umgedreht hatte. Fackeln und Kerzen leuchteten, tauchten die gesamte Szenerie in ein orangenes Licht. „Scheiße…“ knurrte er leise, doch Grazyna hob nur eine einzige Hand. Nein, nur einen kleinen Finger. Es war eine winzige Geste, doch sie war voller Kraft, Bestimmung und Eindeutigkeit.
„Verzeiht…“ hauchte er heiser und trat wie befohlen näher, setzte sich langsam an einen der Stühle, rückte diesen zurecht und ließ sich darauf nieder. „Wir wollten euch nicht so lange warten lassen…“ versprach er und warf Grazyna einen Blick zu, die mit falschem und einstudiertem Lächeln ebenfalls ihren Platz einnahm. Die andere schien einen Plan zu haben und wenngleich Gabhan normalerweise keine Absicht hegte, den Plänen der Zauberin zu folgen, schien in diesem Tollhaus der eine Plan so gut wie der andere.
Atheris hörte die Unterhaltung seiner beiden Freunde und wusste nicht wie die beiden sich so gelassen an den grotesken Tisch setzten konnten, der auf einmal aus dem Nichts aufgetaucht war und an dessen Stirnseite der dunkle Schatten mit dem Gesicht des Todes saß. Mit einer zutiefst verstörenden Stimme, die wie ein kalter Windhauch an seine Ohren drang, forderte Es Atheris und seine Begleiter auf, an der Tafel Platz zunehmen. Der Greifenhexer starrte von seinen Begleitern zu dem Schatten, der ihn mit seinem leeren Blick anstarrte – unheimlich, kalt … wie der Tod persönlich! Er schaute wieder zu Grazyna und Ghaban, die es sich inzwischen am Tisch – mehr oder weniger – gemütlich gemacht hatten. Er spürte wie seine Faust die immer noch gezogene Silberklinge umschloss, bereit sich ohne weiteres auf jeden Gegner zu stürzen – aber es hatte ja keinen Sinn, es war ja nicht wirklich da! Sein Blick viel auf Grazynas Gesicht, das ihn liebevoll anschaute. Die Magierin bedeutete ihn mit einem Lächeln im Gesicht, sich auf den Stuhl neben ihr zu setzten. Die ihm so sehr vertraute Gestickt der Magierin vermittelte ihm Zuversicht und mit einem kaum bemerkbaren Zeichen ihrer Finger auf der Stuhllehne, machte sie Atheris – wie schon so oft in ihrer gemeinsamen Zeit – deutlich, dass sie einen Plan hatte. Widerwillig und mit der Klinge auf dem Schoß setzte er sich zu seinen Gefährten und wartete darauf, was der Wahnsinn in diesem Haus noch so mit ihnen vorhatte.
Bankett des Wahnsinns
Dieses ganze Haus wirkte, als wäre es einzig und allein darauf ausgerichtet, einen Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Zuerst die verschwundene Eingangstüre, die Schritte und seltsamen Ereignisse während des Ganges und schlussendlich die Ritter aus Glas, sowie das seltsame Bankett, an dem sie gerade teilnahmen. Sanft nur legte Grazyna ihre Hand auf Atheris‘ Arm, bemühte sich darum, den Hexer zu beruhigen, noch bevor er sein eigenes Schwert hatte nutzen können und offenbarte mit jener Geste gleichwohl auch einen fein gearbeiteten Dolch, den sie selbst im Ärmel verbarg und auf dessen silbriger Schneide nun kleine, violette Zeichen aufleuchteten. Sie wagte nur den kurzen Anflug eines Lächeln auf ihren Lippen um zu beruhigen, erinnerte sie sich doch viel zu gut an jene Mosaikfenster im unteren Teil des großen Hauses. Jene Buntglasfenster, auf denen zu sehen war, wie Menschen an eben jener Tafel, an der auch sie jetzt saßen, vergiftet worden waren und die Zauberin hatte sich frühzeitig dafür entschieden, dieses Schicksal nicht teilen zu wollen.
Die Anspannung war greifbar, sie prickelte unter der Haut und ließ sie dann und wann schaudern, während ihr geisterhafter Gastgeber jedem von ihnen aus einem Dekanter roten Wein einschenken ließ und Bedienstete in geisterhafter Erscheinung, halb durchsichtig und mit Wehklagen und stummem Leid in den Augen ihnen die Speisen auf die Teller auftrugen. Ab und an glaubte sie wieder die kleinen Schritte von jenen Kindern zu hören, die auf den Mosaikfenstern im unteren Stockwerk als erschlagen gegolten hatten und die jetzt Reime sangen. Verzerrte und unheimliche Reime, die ihr Herz schneller schlagen ließen.
Ihr Gastgeber hob das Glas und Grazyna tat es ihm nach, hoffte darauf, dass auch Gabhan und Atheris ihrem Beispiel folgen würden. „Ich möchte einen Toast aussprechen“, hob sie schließlich die Stimme, das Weinglas in ihrer Hand und sich langsam von ihrem Platz erhebend. Sie spürte die Augen des Gastgebers auf sich ruhen, während er gönnerhaft die Hand hob, um sie sprechen zu lassen. „Bevor wir mit dem Essen beginnen, möchte ich anstoßen“, fuhr sie fort, mit der freien Hand eine Weile lang an ihrem Arm nestelnd und den dünnen Schnitt ignorierend, den ihr Dolch auf der bleichen Haut hinterließ, als sie den Griff zu fassen bekam. „Auf einen gelungenen Abend und auf die Gesellschaft, derer wir hier zuteil werden lassen“, beendete sie und hob das Glas zu den eigenen Lippen, die Augen noch immer fest auf jenen Mann gerichtet, der sie an den Tisch gezwungen hatte und der es ihr gleich tat. Nicht trinken. Sie betete zu allen ihr bekannten Göttern dafür, dass Gabhan und Atheris sich an jenes Bildnis erinnerten, das dort unten am Fenster prangte.
Nur einen Moment noch. Der Mann trank den ersten Schluck und gab ihr damit die ersehnte Gelegenheit. Klirrend ließ sie ihr Weinglas zu Boden fallen, wo es in hunderte kleiner Scherben zersprang, während der dünne Dolch zielgerichtet den Weg in den Hals des Mannes fand. Blut floss ihr über die Hände, Erstaunen lag in seinem Blick, als er den Kopf hob. Sein Versuch Worte zu fassen endeten jedoch nur damit, dass Blut ihm über die Lippen glitt während die violetten Zeichen auf dem Dolch aufleuchteten und Magie ihre Bahn brach. Sie spürte seine Hände nach ihr greifen, sie festhalten und näher ziehen ehe auch dieser Griff erstarb, während grimmige Entschlossenheit in Grazynas Blick lag. „Wer immer das hier hört – ich gebe dir einen guten Rat“, zischte sie finster. „Fass niemals diejenigen an, die mir wichtig sind.“
Der Mann sackte nach vorn, das Gesicht fiel hinab auf einen der Teller und färbte auch diesen blutig, während die Zauberin regungslos stehen blieb, hinab auf die Leiche blickte, die sie hinterlassen hatte und die jetzt nachzualtern schien. Ganz so als wäre nichts gewesen. Der Tisch an dem sie saßen, verlor an Schönheit, als das Essen noch vor ihrer aller Augen verdarb – Fleisch, das schwarz und ranzig wurde ehe es von Maden zerfressen wurde, die jetzt über den Tisch krabbelten. Zentimeterdicke Staubschichten lagen auf den Gläsern, die zuvor noch von brennenden Kerzen erhellt worden waren und von denen jetzt Spinnweben Geschirr verbanden.
Langsam beugte sich Grazyna hinab und zog aus der verdorrten und mumifizierten Leiche den eigenen Dolch. „Gehen wir?“
Gabhan hatte einiges erwartet – irgendeine hintersinnige Taktik, der Versuch aus dem hier Anwesenden endlich ein wenig Wahrheit heraus zu kitzeln, die womöglich Licht ins Dunkle hätte bringen können. Doch nichts dergleichen war geschehen – sie hatte ihn abgestochen wie ein Schwein, das man an den Hinterläufen aufgehangen hatte. Er spürte noch das warme Blut, das auf seine Wangen spritzte, das jedoch erkaltet war, ehe es seine Haut berührte. Die Szenerie wandelte sich und mit einem angeekelten Gesichtsausdruck ließ der Bärenhexer das Glas wieder sinken. Auch sein Mut sank. Die Hoffnung, hier schnell wieder hinaus zu gelangen, hatte sich vor seinen Augen gerade in Staub und alte Knochen verwandelt. „Und da sag noch jemand, dass ich einen kurzen Geduldsfaden habe…“ antwortete er jedoch nur auf Grazynas Frage und stand auf, schob mit dieser Bewegung seinen Stuhl zurück und umrundete den langen Tisch, fuhr dabei mit einem Finger über die jahrzehntealte Staubschicht. „Zusammenfassung – das Haus spielt uns etwas vor, es ist jedoch in der Lage, die Illusionen mit einer derartigen Realitätsdichte auszustatten, dass sie uns wirklich schaden können. Scheiße verfluchte – ich habe am Anfang befürchtet hier wäre ein Hym, aber der würde sich nur an einen von uns klammern. Wir sehen jedoch offensichtlich alle etwas. Wir brauchen mehr Informationen, wenn wir hier raus wollen!“ Er hielt inne, trat zu der mumifizierten Leiche und beugte sich ein wenig hinab. „Was sagst du? Du kannst uns nichts mehr sagen, weil du tot bist? Na wie unglücklich…“ er spürte den Blick der Zauberin noch bevor er ihn sah und machte eine wegwerfende Handbewegung. „War nicht böse gemeint. Wir finden eine Lösung. Irgendwie.“
„Irgendwie…!“ wiederholte Atheris leise Ghabans letzte Worte, während er sich das Elend vor ihm anschaute, eine weitere Illusion – keine Frage. Der auf einmal ziemlich heruntergekommene Saal war immer noch viel zu groß, um in das alte Haus passen zu können. Er rieb sich den Bart während Ghaban neben ihm feststellte, dass die Türen verschwunden waren. Grazyna wollte gerade anheben etwas zu sagen, als aus den Ritzen des Steinbodens ein rosa Nebel emporstieg. „Veldi math! Also gut, was uns auch immer hier festhält und was auch immer es mit uns vor hat – es geht weiter!“
Schnell füllte sich der Raum mit dem Nebel und raubte den drei Freunden die Sicht. Um sich nicht zu verlieren, legten sie sich gegenseitig eine Hand auf die Schulter und harrten der Dinge. „Was war das?“ fragte Atheris, als er ein kratzendes und dann polterndes Geräusch vernahm. „Hört sich an, als würde jemand Stühle rücken!“ erwiderte Ghaban. Schnelle Schritte von kleinen Füßen … oder Pfoten huschten an ihnen vorbei, und nur wenige Momente, nachdem der Nebel gekommen war, löste er sich wie ein Vorhang vor ihnen wieder auf. Es war wieder eine gedeckte Tafel, die sich ihnen darbot, diesmal saß aber kein unheimlicher Mann oder Wesen am Tisch, sondern ein blondes Mädchen. Es saß auf einem großen Stuhl mittig am Tisch. An den beiden Stirnseiten saßen zwei wundersame und zugleich grässliche Kreaturen – ein brauner menschengroßer Hase, der mehr Ähnlichkeit mit einem Ertrunkenen hatte, als mit seinen kleinen Artgenossen und ein Gnom mit pockigem Gesicht, langer Nase und gefährlich gelben Augen. Mit einem Lächeln, das seine messerscharfen Zähne entblößte, hieß er sie mit einer einladenden Geste Platz zunehmen.
Beinahe. Beinahe hätte Gabhan gelacht, ob der Absurdität der aktuellen Situation. Offensichtlich kamen sie hier nicht fort, ehe sie nicht dieses kranke Spiel mitspielten, welches sich das Haus für sie ausgedacht hatte. Denn langsam, ganz langsam, reifte in Gabhan die Gewissheit, dass der Wahnsinn, der Tod und das Böse in diesem Haus nicht der Ursprung einer einzelnen Erscheinung sein konnte. Es musste etwas tiefergehendes sein. Etwas böseres – und der Bärenhexer zermarterte sich das Gehirn nach dem Wer und Was.
Wie gebeten setzte sich Gabhan, betont langsam, um die Szenerie in Gänze in sich aufnehmen zu können. Wobei er dabei weder dem Gnom noch dem Hasen weitere Aufmerksamkeit zuwandte, sondern sich einzig und allein auf das blonde Mädchen mit dem blauen Kleid und der weißen Schürze konzentrierte. Und während er sie so betrachtete glaubte er – nur für einen kurzen Moment – einen Rinnsaal von Blut an ihrem Haaransatz zu erkennen. Und dort – war die helle Bluse nicht schmutzig von Staub und Blut? War ihr hübscher Kopf nicht an der einen Seite ein wenig eingedrückt? Ihm kamen erneut Bilder vor sein geistiges Auge – Bilder von Kindern in Butzenglas gegossen, eingefroren im Moment ihres Todes. Für immer ausgestellt. Für immer an das Haus gefesselt. „Ihr kommt zu spät! Das ist nicht sehr höflich!“ rügte das Mädchen sie mit fester Stimme und riss Gabhan für einen kurzen Moment aus seinen Gedanken. „Zu spät, zu spät!“ wiederholte der Hase, wie ein besonders hässlicher Papagei. „Zu spät?“ hakte Gabhan leise nach – „Viel zu spät!“ antwortete das Mädchen. „Und das zu eurer eigenen Feier. Das ist nicht sehr fein!“ – „Verzeih. Das höre ich öfter….“ erwiderte der Bärenhexer und warf Grazyna einen Blick zu. Das hier – es war weder das Mädchen, noch der alte Mann. Das hier war das Haus, und es wechselte sein Gesicht wie ein Marionettenspieler seine Puppen. Nutzte das Repertoire der Seelen all jener, die hier einst gestorben waren.
Wie sollten sie jemals aus diesem Kreislauf des Wahnsinns entkommen? Wie sollten sie mit den Geistern, die vielleicht dem Willen des Hauses oder etwas anderem gehorchten, nur umgehen? Atheris hasste Geister und ihre verschiedensten Ausprägungen. Die schlechten Erfahrungen, die er bisher in seinem Leben mit ihnen gehabt hatte, reichten ihm bereits um zu dieser Feststellung zu gelangen, aber das hier setzte dem Ganzen die Krönung auf! Viel hatte er in den letzten Jahren vom Großmeister der Greifenhexer Valerian gelernt, viel Literatur studiert und sogar selber einen Geist durch ein Bannritual befreit – aber in diesem Haus hatten zumindest den Bildnissen im Erdgeschoss zufolge mehrere Dutzend Menschen ihr Leben gelassen. Jede Seele einzeln zu bannen dürfte ein unmögliches Unterfangen sein – also mussten sie dem Ursprung des ganzen auf die Schliche kommen! „Ein Vatt`ghern ist mehr als nur ein einfacher Monsterschlächter! Er muss die Dinge verstehen lernen … vergangene Ereignisse offenlegen … Flüche und deren Ursache in Erfahrung bringen, dann und nur dann hatte er auch die Möglichkeit etwas dagegen zu unternehmen!“ waren die Worte seines Meisters gewesen.
Atheris setzte sich neben Grazyna, so dass die Magierin von den beiden Hexern flankiert wurde. Das Mädchen, eine weitere geschundene Seele, redete zwar mit ihnen – aber Atheris fiel schnell auf, dass ihre eiskalten, blauen Augen nicht auf ihre drei Gäste fixiert waren. Viel mehr schien es so, als würde sie durch sie hindurch starren, auf jemanden oder etwas, das sich hinter ihnen aufhalten musste. Kaum hatte Atheris diesen Gedanken gefasst, war da wieder das Gefühl beobachtet zu werden und wieder lief dem Greifenhexer ein kalter Schauer über den Rücken.
„Was feiern wir denn?“ stellte Atheris die Frage in den Raum, wobei er unsicher war, ob Grazyna nicht vor wenigen Momenten eine ähnliche Frage gestellt hatte, während er sich noch auf das unheimliche Gefühl konzentriert hatte. „Die Zeit! Atheris – die Zeit!“ entgegnete das Mädchen ohne seinen Blick zu ändern. „Die Zeit – die Zeit!“ wiederholte der hässliche Alptraumhase das Gesagte. Am liebsten hätte Atheris seine Klinge genommen und der Scharade ein Ende gesetzt, aber Grazyna hatte bewiesen, dass es nichts ändern würde – wobei die hässliche Visage des Hasen und seine noch hässlichere Stimme wäre er vermutlich los.
„Die Zeit feiern wir also!“ antwortete Atheris und überlegte, wie er aus dieser Tatsache zum Ursprung gelangen könnte. „Ist Zeit nicht nur eine bloße Illusion, die nur zusammengesetzt ist aus Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit? Zeit gibt es doch nur, weil die Zukunft zur Gegenwart und die Gegenwart zur Vergangenheit wird, oder weil die Vergangenheit die Zukunft der Gegenwart ist, oder das Heute das Gestern von morgen. Es gibt aber weder Zukunft, noch Vergangenheit, noch Gegenwart. Denn das Zukünftige ist noch nicht, das Vergangene ist nicht mehr, und die Gegenwart ist eine bloße Grenze zwischen Zukunft und Vergangenheit … Sobald wir sie denken, ist sie bereits vorbei!“ zitierte Atheris die Worte, die er vor vielen Jahren an der Universität der kaiserlichen Akademie zum Kastell Graupian von einem der Professoren gelernt hatte, der ihm damals ziemlich verrückt erschienen war. „Oder meinst du wir feiern die Zeit, weil unsere abgelaufen ist? Wenn ja, wieso?“ fügte er mit einem süffisanten Lächeln im Gesicht, das er künstlich aufgesetzt hatte, hinzu.
Grazyna wusste nicht einmal mehr, wie genau sie dazu gekommen war, wieder an dem Tisch Platz zu nehmen, an dem sie jetzt saß. Noch vor einer Sekunde hatte sie darüber nachgedacht, Gabhan zu ohrfeigen und ihn zu fragen, ob es einen Moment in seinem Leben gab, an dem er jemals zufrieden mit sich oder einem anderen gewesen war und bereits in der nächsten Sekunde hatte sie wieder am Tisch gesessen. Sie spürte ihre Arme schwer an ihrem eigenen Körper, beinahe so, als versuche die Seele, die dort vor ihnen saß, zu verhindern, dass etwas Ähnliches mit ihr geschah wie mit ihrem Vorgänger – hinderte sie daran, sich jetzt zu bewegen, den Kopf starr auf das gerichtet, was sich dort am Kopf der Tafel aufgetan hatte und was nicht obskurer hätte sein können.
Immer wieder starrte der Alptraumhase hinab auf Etwas in seiner Hand und schien vor Aufregung förmlich zu vibrieren. „Zeit!“, wiederholte er immer schneller dieselben Worte, während das Mädchen mit der blutigen Wunde an der Schläfe seelenruhig nach einer Teetasse auf dem Tisch griff und diese in formvollendeter Geste an die Lippen führte. „Keine Zeit! Sie haben keine Zeit!“, tönte es wieder von dem Hasen, dieses Mal noch ein wenig lauter und schneller, die Worte schienen sich zu überschlagen und schmerzten in den Ohren, hinterließen ein unangenehmes Dröhnen im Kopf, das ihr beinahe die Tränen in die Augen trieb. „Ich habe immer gedacht, die Zeit wäre ein Dieb, die mir alles stiehlt, was ich liebe. Aber jetzt weiß ich, dass sie geben, bevor sie nehmen …“, sagte dann das Mädchen wieder, ohne auf die Worte eines der anderen einzugehen und lächelte. Sie hinterließ damit noch mehr Fragen als Antworten auf die jeder von ihnen gehofft hatte.
Das waren ja ganz neue Töne, die Atheris da von sich gab und die er dem anderen gar nicht zugetraut hatte. Er wusste nicht einmal, dass Atheris jemals in Bibliotheken gewesen war, in denen Bücher mit derartigen Worten standen. Es beeindruckte und erfreute ihn, da er selbst derartige Betrachtungen gern hatte. Aber das waren Gedanken, die sie sich in diesem Moment nicht leisten konnten.
Als er versuchte sich aufzurichten, spürte er jedoch den Gegendruck, als wäre er unter Wasser und hunderte Kubikliter würden von oben auf ihn drücken, es ihm unmöglich machen sich weiter zu bewegen. Umso wichtiger war es seine Gedanken nun zu fokussieren. Sie gaben bevor sie nahmen. Seine Zähne knirschten laut, während seine Kiefer malten. Es musste eine Lösung geben. Irgend eine. Was war dieses Haus. Wer war dafür verantwortlich? Welches Wesen hatte solch eine Macht? Verflucht, es lag ihm auf der Zunge – aber es half nichts. Sie mussten erst einmal von diesem Tisch loskommen. „Ich würde gerne für immer hierbleiben,“ meinte Gabhan leise. Märzhase und das Mädchen sahen auf. „Ja. Natürlich – das wäre doch schön, oder? Ich meine, wenn wir doch zu spät kommen, können wir auch gleich hier bleiben. Wenn wir gar nicht auftauchen, können wir auch nicht zu spät gekommen sein!“
Das Häslein und das Mädchen hielten für einen kurzen Augenblick inne und sahen sich an. Ein knappes Lächeln umspielte Gabhans Gesicht, spannte schmerzhaft über der Narbe und verliehen ihm ein noch gruseligeres Aussehen als sonst. „Nicht zu vergessen, dass wir, wenn wir jetzt losgehen eigentlich sogar zu früh sind – und zwar für die nächste Sache, die geschieht.“ Ein kurzer Moment der Stille, während das Augenlid des Hasens zu zucken begann. Gabhan warf erst Grazyna, dann Atheris einen Blick zu in der Hoffnung, dass es einem von ihnen gelang, das kurze Zeitfenster, das er ihnen nun verschafft hatte, auch sinnvoll zu nutzen.
Die Situation erschien Atheris ausweglos. Was auch immer genau vor sich ging, was auch immer ihre Gedanken beherrschte, es war immer einen oder sogar zwei Schritte voraus – was dem Greifenhexer auch logisch vorkam, da es irgendwie – zumindest teilweise – Zugriff auf ihre Gedanken hatte. Sein Blick fiel auf ein kleines Fläschchen, das an seinem Beinholster befestigt war und die Aufschrift „Weiße Möwe“ hatte – jenes Elixier, das es auch Hexern ermöglichte, Bewusstseins verändernde Effekte zum Beispiel beim Konsum von Alkohol zu haben. Für gewöhnlich verwendete es Atheris nur in geringen Dosen, um bei einem guten Wein mehr zu spüren als nur den Geschmack und auch zur Herstellung mancher Tränke war das Elixier eine brauchbare Basis – hier und jetzt konnte aber die eigentliche Wirkung vielleicht sogar helfen!
Atheris hatte nicht aufgepasst, was Ghaban zu den Wesen gesagt hatte, aber für einen kurzen Moment löste sich der Druck, der auf ihm gelastet hatte und ihn an jedweder Bewegung gehindert hatte. Schnell griff er mit seiner rechten zur Flasche, zog diese in einer fließenden Bewegung zum Mund, löste mit den Zähnen den Korken und setzte die Flasche an die Lippen – keinen Moment zu spät, denn der Druck auf seinen Körper erhöhte sich wieder und er war erneut in einer Starre gefangen. Die Wirkstoffe suchten sich ihren Weg in Atheris Blutbahn und es dauerte nicht lange, bis sie ihre Wirkung entfalteten. Die Überdosis des extrem starken Halluzinogens begann Atheris Gehirn zu beeinflussen. Die Umwelt, die er mit seinen Sinnen wahrzunehmen dachte, begann sich zu verändern – das Mädchen und die beiden Abnormalitäten verschwanden im Bruchteil eines Momentes und er befand sich in seiner Heimat, auf dem elterlichen Hof wieder. Er nahm den Stock in seiner Rechten wahr – sein erstes Schwert – wie bei so vielen anderen Jünglingen. Dann erschien der monströse Hase in der friedlichen Idylle und begann auf ihn loszustürmen – aber nur kurz, dann verschwand er wieder und seine junge Mutter stand auf einmal vor ihm. Als sie gerade zum Sprechen ansetzten wollte, änderte sich abermals die Szenerie und der Hase sprang ihn an und riss ihn unsanft zu Boden. Der Aufschlag presste ihm für einen kurzen Moment die Luft aus den Lungen und als er die Augen öffnete, fand er sich auf einem verstaubten alten Boden wieder. Neben seinem Kopf befanden sich zwei abgelaufene Stiefel – Ghabans Stiefel! Er richtete sich auf und blickte seine beiden Begleiter an, die bewegungslos mit leerem Blick vor ihm standen. Weit waren sie offensichtlich nicht gekommen, denn die Eingangstür befand sich direkt hinter ihnen. Wieder begann sich die Szenerie zu wechseln und seine Sicht verschwamm. Atheris fing an zu taumeln und neben ihm erschien das Mädchen mit glühenden Augen und scharfen spitzen Zähnen im Gesicht – etwas packte ihn an der Schulter und er hörte, wie Klauen über seinen Schulterpanzer kratzten. Mit einer kurzen Bewegung führte er seinen Kopf nach hinten und traf etwas Hartes – kurz wurde ihm schwarz vor Augen, dann fand er sich auf dem elterlichen Hof in Toussaint wieder. Vor ihm Stand wieder seine Mutter mit ausgebreiteten Armen – Atheris formte das Zeichen Aard mit seinen kleinen Händchen, spürte wie die Energie in seine Hände floss und entließ diese in Richtung seiner Mutter! Die Druckwelle schleuderte Ghaban und Grazyna gegen die alte Holztür des Hauses, die unter der Heftigkeit des Einschlags der beiden nachgab, zersplitterte und dadurch die beiden in die Freiheit entließ.
Gabhan hatte noch immer die in den Wahnsinn verdrehte Teegesellschaft vor Augen, wenngleich die Szenerie vor ihm immer mehr zu flackern begann, an den Seiten ausfranste, wie das Werk eines Künstlers, dem kurz vor Vollendung der Becher mit dem für das Aquarell so notwendige Wasser umfiel und das Gemälde zerstörte.
Sein ganzer Kopf brannte und pochte, während sein Verstand versuchte seine Vorherrschaft gegen jenes Ding durchzusetzen, das sich seines Geistes bemächtigen wollte. Dann ging alles ganz schnell. Mit dem Hauch eines eisigen Windes löste sich alles um ihn herum auf – wie damals, wenn ihn die Älteren nach einer weiteren überstandenen Nacht der Kräuterprobe am Kragen gepackt, in den Hof geschleift und mit seinem Schädel das leicht gefrorene Wasserfass aufgebrochen hatten. Derselbe Schock ergriff ihn auch nun. Auch nun fühlte er einen Schlag und danach – Kälte und Nässe. Hustend und prustend griff Gabhan neben sich, wo er nichts weiter als Schlamm und nasse Erde spürte, die sich in jede Faser seiner Kleidung zog. Dicke Tropfen fielen ihm in Gesicht, während er sich die schmerzende Schulter hielt, überall um ihn herum flankiert von gesplittertem Holz.
Nun sah er es vor ich – das große, dunkle Haus mit den dunklen Fenstern, die wie leere Augenhöhlen zu ihm hinab starrten. Atheris, kreidebleich und mit Pupillen groß wie Wagenräder wankte aus dem offenen Schlund des Hauses, der von hier aus wenig Bedrohliches an sich hatte, auch wenn Gabhan wusste, das dem nicht so war. Sie waren entkommen. Aber geändert hatten sie nichts. „Scheiße…“
Überraschungen
Es war bereits Mittag als Atheris aus seinen Alpträumen erwachte. Er setzte sich auf dem für ihn viel zu schmalen und kurzem Bett auf und bereute es sofort wieder, als ihn ein heftiges Pochen im Kopf wieder zurück in die Kissen gleiten ließ. „A d’yaebl aép arse!“ entfuhr es ihm während er nach einer Glasphiole griff, die neben ihm auf einem kleinen Tisch stand. Das überraschend kalte Wasser tat ihm gut und der Schmerz linderte sich etwas – kurz darauf war er wieder eingeschlafen.
Grazyna und Ghaban saßen mit dem Händler an einer kleinen Tafel und unterhielten sich munter miteinander. Atheris musste sich korrigieren, die Magierin unterhielt sich mit ihrem alten Freund, während der Bärenhexer damit beschäftigt war, seine miese Laune zu verbreiten. Zumindest ein kleines Lächeln war im Bart von Ghaban zu erkennen, als dieser Atheris auf der Treppe entdeckte. „Siehst Scheiße aus, mein Freund!“ begrüßte Ghaban ihn, als sich der Greifenhexer auf einem freien Stühle niedergelassen hatte. „Ich sehe genau so aus, wie der Besuch in diesem verdammten Haus gelaufen ist!“ entgegnete Atheris mit einem Lächeln. „Habt ihr euch schon Gedanken gemacht, wie wir weiter vorgehen?“ fuhr er fort und schenkte sich einen Kelch von dem Rotwein ein, der vor ihm auf dem Tisch stand.
Gabhan nickte knapp, warf nur einen kurzen Blick zu Grazyna und ihrem blassen Gastgeber, ehe er mit einer fließenden, aber nicht weniger bestimmten Bewegung dem Freund den Kelch mit dem Rotwein fortnahm. „Du hast genug berauschende Mittel genommen um ein Brauereipferd umzuhauen mein Freund. Das halte ich für keine gute Idee,“ tadelte der Bärenhexer und schob dem anderen stattdessen ein Glas Wasser zu. „Was jedoch die folgenden Pläne angeht, so sind wir leider vergleichsweise planlos,“ erklärte er leise und fuhr mit einem Daumen über seinen eigenen Kelch, um ihm damit einen leisen Klang zu entlocken. „So etwas wie in diesem Haus habe ich in solch einer Intensität noch nie erlebt,“ erklärte der Ältere leise und massierte sich die Nasenwurzel. „Solch eine starke Illusion benötigt eine ungeheure Menge an Energie. Das beunruhigt mich ein wenig – auch wenn wir davon ausgehen müssen, dass diese Wesenheit durchaus auch von unserer eigenen Kraft gezehrt hat. Aber diese Erklärung reicht nicht – ein Haus mit solcher Energie muss sich auf die Umgebung niederschlagen. Wir haben also vor uns, einmal die Umgebung anzusehen. Das Dorf und dergleichen. Vielleicht finden wir irgendwo noch alte Aufzeichnungen zu dem Haus. Wir haben bei weitem zu wenig Informationen um gegen das, was sich uns da entgegen wirft, vorgehen zu können. Ich habe eine Vermutung in welche Richtung das hier geht, die ich aber lieber nicht aussprechen würde, da es Unglück bringt.“
So kam es, dass sich Ghaban und Atheris wenig später auf den Weg machten, um sich im Dorf weiter umzuhören, während Grazyna und der Händler zurückblieben, um alte Unterlagen zu studieren, welche dieser beim Kauf des Hauses erhalten hatte.
Atheris war nicht sonderlich überrascht, dass die Suche nach Informationen sich als ziemlich schwierig erwies. Zum einen war da diese Abscheu gegenüber Anderlingen und vor allem Hexern, die in den nördlichen Königreichen allgegenwärtig erschien und zum anderen schienen die Bewohner ähnliche Vorbehalte gegenüber dem Haus zu hegen wie Ghaban, denn kaum einer wollte sich aus Angst vor Unglück zu diesem äußern. Nicht mal die Betrunkenen in der örtlichen Taverne brachten den Mut auf, sich zu den Vorkommnissen im ‚Geisterhaus‘ zu äußern und wenn doch ein paar Worte dazu vielen, war das mehr Stammtischgeschwafel als nützliche Informationen. „Ich befürchte, das wird so nichts werden, Ghaban!“ stellte Atheris nüchtern fest, als wieder eine Türe vor ihrer Nase mit einem lauten Knall geschlossen wurde. „Hmmm…!“ war alles, was der Bärenhexer erwiderte. „Lass uns zu Grazyna zurückkehren, vielleicht hat sie etwas in Erfahrung bringen können!“ sagte Atheris und machte sich auf den Weg.
„Angst liegt nie in den Dingen selbst, sondern darin, wie man sie betrachtet.“ dieses Zitat von Professor Ducle Aep Waedh schoss Atheris durch den Kopf, als zwei Knaben im Alter von etwa zwölf Jahren an die Hexer herantraten. Der vermutlich ältere der beiden sprach die beiden Vatt’ghern nach einem kurzen Zögern mit leicht gebrochener Stimme an. „Wir haben gesehen wie ihr in das Geisterhaus gegangen und heute von Tür zu Tür gezogen seid – die Herren Hexer! Wenn ihr etwas über das Haus wissen wollte, seid ihr hier falsch! Keiner der hier lebt, spricht darüber – nicht einmal der Dorfälteste.“ Der Junge machte eine längere Pause, die für Atheris Geschmack etwas zu sehr einstudiert wirkte, dennoch war er gespannt, was jetzt kommen würde. „Für ein paar Taler können wir euch aber jemanden nennen, der euch eventuell zu helfen vermag!“ brachte er schließlich raus und setzte dabei die Mine eines Feilschers auf – oder das, was er glaubte, einer zu sein. Ghaban brummte nur laut, zog aber seine Geldkatze raus und reichte den beiden ein paar Münzen. Atheris wunderte sich nicht, dass der ältere Junge seine Hand geöffnet hielt und offensichtlich nach mehr verlangte – mutig, aber nicht mutig genug, denn Ghaban raunzte nur einmal missfällig und der Junge zog blitzschnell seine Hand mit den Münzen hinter den Rücken und erzählte den beiden Hexern von einer verrückten alten Frau, die im Nachbardorf seit vielen Jahren in der Klappsmühle lebte und von der behauptet wurde, dass sie die Tochter des Erbauers des Hauses sei. Atheris zog die Augenbraue hoch, während Ghaban noch eine Münze zu den Jungen schnippte, bevor diese sich schnell zurückzogen.
„Noch ein Irrenhaus … na toll!“ kommentierte der Bärenhexer, während er zu Atheris blickte. „Macht aber durchaus Sinn, mein Freund!“ entgegnete dieser mit einem leichten Lächeln im Gesicht.
Schnellen Schrittes gingen die beiden Zunftbrüder zurück zum Haus des Händlers, um ihre Sachen zu holen und Grazyna über ihr Vorhaben zu informieren – aber sie war nicht da! Atheris lief zu dem großen Sekretär, der aufgeklappt im Arbeitszimmer des Händlers stand und an dem die Magierin vorhin noch recherchiert hatte und zog ein Stück leeren Pergaments aus einem Fach. „Wo bei der großen Sonne ist denn die Schreibfeder hin!“ schimpfte Atheris und begann auf dem ansonsten so ordentlichen Tisch zu suchen. „Hier ist sie!“ hörte der Greifenhexer seinen Freund aus dem Kaminzimmer rufen – „aber da ist noch mehr! Schau es dir an!“ Atheris eilte der Stimme nach und betrachtete Ghaban, wie dieser sich über einem zerbrochenen Stuhl kniete und auf die Schreibfeder vor ihm auf den Boden deutete. „A d’yaebl aép arse!“ hauchte Atheris, als er seinen Blick über das Zimmer schweifen ließ! Neben zerstörten Einrichtungsgegenständen sah er auch immer wieder Tintenkleckse auf Boden und Wänden verteilt – aber da war noch mehr Blut! Die beiden Hexer stürmten zum umgestoßenen Sofa und fanden dahinter den Händler Jirkam in einer großen Blutlache liegen. Derjenige, der dies angerichtet hatte, schien keine Zeit darauf zu verschwenden seine Spuren zu verwischen, denn der schwere Kerzenständer, an dessen stumpfen Sockel ebenfalls noch Blut klebte, lag direkt neben dem Mann. „Er ist noch am Leben!“ stellt Ghaban kurz und knapp fest. „Aber wo ist Grazyna?“ es lag ein leichter Anflug von Panik in Atheris Stimme, als er sich wieder aufrichtete und seine Augen zuckend nach Anhaltspunkten über den Verbleib der Magierin suchen ließ. „Aen Ard Feainn!“ entfuhr es Atheris, als er ungläubig auf das Bild starrte, das hinter Ghaban schief an der Wand hing. „Da ist Grazyina, aber wie…!“ der Bärenhexer hielt inne und betrachtete die Szene auf dem Bild! Gabhans Blick wanderte düster über das Gemälde, blieb an jedem kleinsten Detail kleben wie eine Fliege am Honig. „Scheiße – das hier ist nicht irgend ein drittklassiger Fluch. Das hier ist ein verdammter ausgeklügelter Zauber… irgendein dreimal verfluchter Zauberer-Scheiß. Was auch immer das ist – würde mich nicht mal wundern, wenn Goetie dabei im Spiel wäre. Wir sollten von hier verschwinden und uns irgendeinen Magier suchen – keine Ahnung. Vielleicht springen noch einige Abgänger von Ban Ard in irgendwelchen Sümpfen rum. Bessere Dorfzauberer oder so…“ er schüttelte den Kopf und wusste, dass dieser Versuch ins Nichts laufen würde. Sie würden niemanden finden und selbst wenn – dann wäre er vermutlich inkompetent oder sie wären zu spät. „Scheiße… schau mich nicht so an. Ich weiß selbst, dass die Lösung nicht gut ist. Es gibt noch eine andere – aber die sollten wir nicht mal in Betracht ziehen. Wenn ich auch nur mit der Hälfte meiner Einschätzung richtig liege dann…“ er schloss die Augen. „Dann ist sie verloren – und wir gleich mit, wenn wir…“ Atheris Blick blieb weiter auf ihn geheftet und Gabhan spürte, wie sich dieser beinahe durch ihn bohrte. Es war Wahnsinn – absolut unvernünftig. „Wir könnten durch das Bild schreiten. Was immer sie hinein gesogen hat dürfte noch genug Energie hinterlassen haben, um einen erneuten Übergang zu ermöglichen.“
„Wie stellst du dir das vor, Ghaban?“ Atheris betrachtete das Bild kritisch – es war zwar ein großes Bild, aber nur unwesentlich größer als ein normales Hausfenster. „Wie ist es, wenn wir da durch- springen, landen wir in der Szene, welches das Bild darstellt? Was ist, wenn nicht genug Energie vorhanden ist … was ist, wenn wir auf halben Weg steckenbleiben?“ Atheris schossen viele Gedanken durch den Kopf, wobei eins klar war – Grazyna wurde in dieses Bild gebracht und die Hölle selbst würde ihn nicht daran hindern, ihr zu folgen und da rauszuholen! Atheris zog sein Silberschwert in einer fließenden Bewegung vom Rücken „Lass uns losziehen, ehe es zu spät ist!“
„Atheris! Warte!“ Ghaban stellte sich in den Weg, nahm das Bild von der Wand und legte es auf den Boden. „Vieles können wir nicht beeinflussen, aber mit dem Kopf durch die Wand springen lässt sich leicht vermeiden!“ sprach der Bärenhexer und tat einen Schritt nach vorne auf das Bild – in das er augenblicklich versank. Atheris beeilte sich seinem Zunftbruder zu folgen, wobei er sah, wie sich am Bilderrahmen ein Flackern bemerkbar machte! „Was zum …!“ weiter kam er nicht, als er mit einem Hechtsprung ebenfalls ins Bild eintauchte.
Hinein in den Kaninchenbau
Dunkelheit. Gabhan wusste nicht was genau er erwartet hatte, als er durch das Bild getreten war. Womöglich den Schlund eines gewaltigen Monsters, welches sich von Leid und Angst und Vorstellungskraft ernährte. Doch ihn hatte nur Dunkelheit erwartet. Für einen winzigen Augenblick befürchtete er sogar in einer Sphäre zwischen den Welten stecken geblieben zu sein, ehe sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Seine mutierten Pupillen weiteten sich noch mehr, sogen jedes noch so kleine bisschen Licht ein und offenbarte ihm die Natur seiner Umgebung – eine verschachtelte Mine. Männer die an den Mauern standen – gesichtslos. Und das im wahrsten Sinne. Ihre Gesichter existierten schlicht nicht, während sie immer und immer wieder auf die Wände einhakten. Dann jedoch näherte sich ihm eine Gestalt und das Gesicht des Bärenhexers wurde bleich. „24601! Was stehst du hier herum, zurück an die Arbeit!“ Gabhan fühlte sich mit einem Mal so nackt und wehrlos, während sich der Rücken seines Gambesons von roten Schlieren verunstaltet zeigte. Der Nilfgaarder trat einen weiteren Schritt auf Gabhan zu und hob eine Peitsche. „Ich sagte an die Arbeit, 24601!“
Die harte Landung presste Atheris die Luft aus den Lungen und für einen Moment schien sich die Welt spiralförmig um ihn zu drehen – dann riss ihn das Klirren von Klingen und das Schnauben verängstigter Pferde aus seiner Lethargie. Keinen Moment zu früh, sonst hätte er wohl die Streitaxt die auf seinen Schädel zielte nicht kommen sehen. Atheris ließ sich zur Seite kippen, zog dabei seine Silberklinge in die Höhe und erwischte den Zwerg der ihn angegriffen hatte unter der Axel. Noch während der Strebende zu Bode sackte, richtete sich der Hexer zu seiner vollen Größe auf. Neben ihm lag sein soeben verendetes Schlachtross aus dessen Leib noch die scharfen Zwergen-Spieße ragten, die sein Leben genommen hatten. „A d’yaebl aép arse!“ entfuhr es ihm entsetzt, als er zu verstehen begann, wo er gelandet war – der Alptraum von Brenna!
Wie vor all den Jahren schlug sich Atheris durch die Reihen der Feinde des Kaiserreichs … Zwerge der Freien Kompanie … schwere redanische Infantrie … temerische Ritter … alle fanden den Tod durch seine Klinge! Dennoch würde diese Schlacht verloren gehen! Er konnte sich daran erinnern, dass die Verstärkung der Gegner jeden Moment mit schallenden Hörnern über die Kuppe branden würde um die ‚Schwarzen‘ – wie sie hier im Norden genannt wurden – vernichtend zu schlagen. Das traumatische Erlebnis, was sich jetzt zu wiederholen schien, war aber tatsächlich nur seine kleinste Sorge – wie solle er in diesem Chaos nur Grazyna finden … und wo überhaupt steckte Ghaban! Der Bärenhexer war im Gegenteil zu Grazyna bei der Schlacht von Brenna nicht zugegen gewesen! „Grazynaaaa! Ghabaaaan!“ schrie Atheris, während er erneut seine Klinge in einen roten Wappenrock versenkte.
Die Schlacht wendete sich ihrem Höhepunkt zu, als die letzten Verstärkungen der nördlichen Königreiche ins Geschehen eingriffen. Wieder musste Atheris mit ansehen, wie viele seiner Kameraden und Freunde aus der VII. Daerlanischen Brigade ihren Tod fanden – wieder vernahm er wenig später die Trompeten der Signalgeber, die den Rückzug aller Einheiten befahlen – wieder zog er sich auf ein inzwischen herrenloses Pferd und brach mit seinen verbliebenen Kampfgefährten durch die Reihen der Feinde – wieder sah er wie Feldmarschall Coehoorn mit einigen seiner Führungsoffiziere die Anhöhe verließ, von der aus er die Schlacht geleitet hatte – wieder prasselte ein Pfeilhagel auf die Flüchtenden nieder und brachte weiteres Verderben … dann sah er ihn … oder genauer gesagt es! Das kleine Wesen wäre in der Hektik, die um Atheris herum herrschte, beinahe nicht aufgefallen – wenn nicht die bösartige Aura gewesen wäre! Der Wicht saß auf einem kleinen Leichenberg – seine giftgrünen Augen hatten ihn fokussiert und schienen sich direkt in sein Herz zu bohren! Er zügelte sein Pferd, ergriff mit einem Ruck eine Kriegslanze, die neben ihm aus einem temerischen Ritter ragte, legte diese in seine Armbeuge – wie er es früher so oft getan hatte – und gab seinem Pferd die Sporen! Im vollen Galopp raste er auf das kleine Männchen zu, dessen Lippen sich permanent bewegten, als ob sie eine magische Formel rezitieren würden. Es geschah aus dem Nichts heraus, dass auf einmal die Welt um ihn herum stillstand … kein Kampfeslärm, keine Todesschreie, nicht das verzweifelte Wiehern der Pferde oder der Schall der Trompeten. Die Menschen und Tiere waren zu lebensechten Statuen erstarrt und wie Atheris feststellen musste war auch sein Pferd mitten im Galoppsprung eingefroren. Der Hexer ließ die Lanze los, die neben ihm unwirklich in der Luft hängen blieb und glitt elegant vom Pferderücken. Das fiese Lächeln des kleinen Monsters wurde breiter, als sich Atheris mit großen Schritten näherte und dabei sein Jagdmesser aus der Brustscheide löste. Als er erkannte, dass der Wicht mit seinen Händen anfing die vermeintliche Beschwörung zu unterstützen ging, der Atheris in einen Sprint über, bereit sich auf seinen Widersacher zu werfen – dann passiert erneut etwas Unvorhergesehenes! Das kleine Wesen schien von etwas … oder jemanden abgelenkt zu werden. Es wendete seine Aufmerksamkeit abrupt von ihm ab und fokussierte sich auf etwas, was in seinem Rücken passierte. Die Szenerie begann zu verschwimmen, das blutige Schlachtfeld löste sich wie ein Nebel um ihn herum auf und er befand sich wieder im Eingangsbereich des verfluchten Hauses. Sein Blick viel sofort auf Grazyna, die auf der Treppe zur ersten Etage stand und mit ausgestreckten Armen einen Zauber zu wirken schien. Gegenüber von Atheris stand Ghaban, genau an jener Stelle, wo ein heller Fleck an der Wand kennzeichnete, dass dort einmal ein großes Bild gehangen haben musste. Die Blicke der Zunftbrüder trafen sich und mit einem kurzen Nicken gaben sie sich zu verstehen, dass sie bereit waren, diesem teuflischen Spiel ein Ende zu setzten.
Atheris ging in Angriffsposition, wobei sein Stiefelabsatz etwas zur Seite schob, dass hinter ihm auf dem Boden lag und dabei ein vertrautes Klingen von sich gab. Er drehte sich prüfend um, ohne dabei seinen Feind aus den Augen zu lassen und war erfreut als er erkannte, dass es sich um sein Silberschwert handelte, das er in den Kampfwirren während der Schlacht verloren geglaubt hatte. In einer fließenden Bewegung ergriff er die Waffe und als sich seine Hand um den vertrauten Griff schloss und er den Ort auf das Wesen richtete, war er bereit für das letzte Gefecht!
„Du weißt doch selbst, dass du dich für die falsche Seite entschieden hast!“ Die Stimme klang so klar in Grazynas Ohren, wie es schon seit Jahrzehnten nicht mehr gewesen war und sie erkannte das Unverständnis darin, den Zorn, der darin mitschwang und der sie einst als junge Adeptin vielleicht noch hätte schaudern lassen. Heute brachte der Ton und die Emotion darin ihr nicht einmal mehr ein müdes Lächeln bei. Um sie herum trommelte der Regen unbarmherzig auf das Land und weichte den Boden auf, zauberte dreckige Ränder an die schönen Kleider, die beide Frauen trugen. Die Stiefel zu vieler Männer hatten die einstige Ackerfläche vernichtet und würden den Bauern damit die Ernte von mindestens einem Jahr kosten. Wasser tropfte aus den roten Haaren ihres Gegenübers und auch sie selbst spürte, wie ihr die schwarzen Haare im bleichen Gesicht klebten. „Wir können sie hier aufhalten! Du weißt es! Hilf uns dabei“, machte ihr Gegenüber erneut einen Versuch und wieder schüttelte sie den Kopf. „Ich habe mich entschieden“, lautete ihre gefasste Antwort und für eine Sekunde schloss sie die Augen, nahm Abschied von allem, was einst ihr Leben gewesen war und was Banner aus Schwarz und Gold ihr genommen hatten. Cintra hatte den Versuch des Widerstands gemacht und sie hatte gesehen, worin es geendet war, hatte die Vernichtung in den Straßen gesehen. Den Geruch von dem brennenden Fleisch der Menschen, die in den Häusern eingeschlossen waren, würde sie wohl nie wieder vergessen. „Das Kapitel wird nicht erfreut sein. Sie werden dich als Verräterin verurteilen“, wagte die Frau noch einmal den Vorstoß und diese Mal blitzte Belustigung in ihren grünen Augen auf. „Das Kapitel wird es sehr bald schon nicht mehr geben. Ihr werdet sie kurzfristig zurückwerfen, aber niemals aufhalten. Wozu sein Leben für den Versuch verschwenden? Es ist klüger, sich mit den Richtigen gut zu stellen“, stellte sie jetzt die Gegenfrage und lächelte erneut als sie sah, wie ihre Frage den Zorn in der anderen entfachte. „Ist das dein letztes Wort?“, fragte die andere und hob bereits eine Hand, eine Geste, die sie mit einem knappen Kopfschütteln unterband. „Tu es nicht. Sie werden dich brauchen und ich habe ungern Blut an meinen Händen kleben, zumal es sich fürchterlich schwer aus der Kleidung entfernen lässt.“, wies sie sie hin und seufzte dann schwer als die andere herumwirbelte, um sich zu entfernen – Sekunden später war sie verschwunden, als habe es sie nie gegeben, das Flirren der Magie lag noch in der Luft. „Leb wohl, alte Freundin“, sagte sie noch und straffte dann die eigene Haltung ehe auch sie sich zum Gehen wandte, im Laufen die blauen Wappen mit den goldenen Löwen darauf zu Boden fallen lassend. Sie würde sie nicht mehr benötigen. Der Regen färbte den königsblauen Stoff dunkel ehe der Dreck die Löwen schwarz färbte. Dann versanken sie im Schlamm.
Befehle hallten durch den Wind, wurden weit nach vorn getragen und von anderen Stimmen wiederholt. Das Stampfen der schweren Stiefel war rhythmisch, immer im Gleichklang und wäre beinahe ein wenig einschläfernd gewesen, wenn nicht immer wieder wachsame Augen jede noch so kleine Bewegung ihrer Hände beobachteten. Die Schwarzen, wie der Norden die Nilfgaarder nannte, trauten den Zauberern nicht, vor allem nicht jenen, die aus dem barbarischen Norden stammten. Dort, wo man ihnen im Norden noch mit Respekt und Wertschätzung begegnet war, war hier nichts mehr von alledem zu spüren – hier war es Abneigung, Verachtung und Vorsicht, mit denen man sie hier betrachtete. Zauberern konnte man nicht vertrauen, Zauberinnen erst recht nicht und so hatte Grazyna sich daran gewöhnen müssen, dass man ihr Befehle gab und sie sie zu befolgen hatte – ohne Rückfrage, ohne Wenn und Aber. Im Kampf war sie eine zu große Gefahr gewesen, zu sehr fürchtete man, sie könne noch die Seiten wechseln und sich für diejenigen entscheiden, die dort Aufstellung auf einem Hügel genommen hatten. Der Ort, der später niemals in Vergessenheit geraten würde unter der grausamen Geschichte dessen, was hier geschehen würde. Die Schlacht von Sodden. Sie selbst hatte man in das Lazarett versetzt, immer mit jemandem an ihrer Seite, der sie beobachtete – ihr Auftrag waren die Todgeweihten. Jene Männer, die ohne Magie ohnehin sterben würden und durch deren Rettung sie vielleicht ihren Wert beweisen konnte. „Zauberer legt man am besten an die kurze Leine, insbesondere die aus dem Norden“, hörte sie seine Stimme sagen, hörte sein bellendes Lachen in ihrem Rücken und wusste zeitgleich, dass er es beenden würde, wenn er auch nur glauben würde, sie könne einen falschen Schritt tun und erneut sagte sie nichts darauf, als sie durch das Zelt schritt.
Längst hatten Blut und andere Körperflüssigkeiten das einstige Blau ihres Kleides verdreckt, der Saum war zerrissen und ausgefranst und die schwarzen Haare hatte sie in einen simplen Zopf geflochten, damit sie die Haare nicht mehr bei der Arbeit störten. Einst war sie respektiert und anerkannt worden, war eine beeindruckende Erscheinung gewesen und hatte geglaubt Oberwasser zu haben – heute, inmitten des Lazaretts fühlte sie sich nicht einmal mehr wie eine Abgängerin der Aretusa, nicht einmal mehr wie eine Zauberin. Hier war sie nicht mehr als eine von zahlreichen Heilern und Medica, nicht besser oder schlechter wie all diese simplen Menschen, die sie hier umgaben. Sie war am Boden angekommen, all die Erwartungen von der Realität verbrannt worden und wieder hörte sie die leise Stimme in ihrem Kopf ‚Du hast dich für die falsche Seite entschieden‘
„Esse’ionndrainn aep me caer“, hörte sie einen jungen Mann weinen, der sich den Arm hielt und auf den jetzt ihr Blick fiel. Sein Gesicht war aschfahl, tiefe Ringe lagen unter seinen geröteten Augen und sie brauchte eine Sekunde um die Worte zu übersetzen, die er da sprach. Es war die Ältere Rede aber abgewandelt, mit einem seltsamen Akzent, der es ihr schwer machte zu verstehen. Er vermisste seine Heimat. Langsam trat sie zu ihm hinüber, betrachtete den Arm, den er sich da hielt und das Blut, das von der Bahre tropfte, auf dem er lag. Die Hauptschlagader war getroffen worden, das Fleisch hing in Fetzen hinab und nur noch der Knochen hielt den Arm an Ort und Stelle. Wenn er leben sollte, dann würden sie keine Wahl haben als ihm den Arm zu nehmen und mit zitternden Fingern nahm sie eine Säge zur Hand.
Ein Ruf zerriss das Bild mit einem Mal und ließ sie stocken. Ihr Name. Da rief jemand nach ihr und sie kannte die Stimme, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, woher. Nur, dass es wichtig war – dass sie diese Stimme nicht ignorieren durfte, war mit einem Mal bedeutsam geworden. Die Szenerie änderte sich mit einem Mal, als wäre sie unangenehm nach vorn durch eine viel zu enge Röhre gezogen worden und sie benötigte einen Moment, um zu begreifen, dass sie nicht mehr in dem Lazarett war. Das hier sah nach einem guten Gasthaus aus, ein kleines Separee abseits des gewohnten Betriebs und ihr gegenüber saß ein Mann an einem Tisch, ein Weinglas in der Hand und die wachsamen Augen auf sie gerichtet. „Man erwartet Bericht“, hörte sie ihn mit einem Mal die Stimme erheben und zuckte unter dieser Stimme zusammen, als habe er sie soeben geohrfeigt. Fahrig glitt ihr Blick durch den Raum, nahm den Schatten unter dem Türspalt wahr, der darauf hindeutete, dass der Mann längst nicht allein gekommen war. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, schlug schmerzhaft gegen die Rippen und ließ ihr abwechselnd heißt und kalt werden während sie nickte. Ein klein wenig zu schnell und zu energisch. Verstehend nickte sie und ließ die Hände auf ihrem Schoß ruhen, weil das bedeutete, dass ihm nicht auffallen würde, wie sehr ihre Finger zitterten. „Wir würden ungern noch länger warten müssen. Die Reise an der Seite der Vatt’ghern dauert ja jetzt bereits eine Weile“, fügte er hinzu und ließ ihr keine Option zur Erklärung. Erneut nickte sie kurz, verstehend und ließ die Finger in die Tasche gleiten, langsam, damit er nicht glaubte, sie könne ihn verletzen wollen und legte ein paar Aufzeichnungen auf den Tisch, sie schweigend hinüber schiebend. Der Mann nickte, ohne sich die Dokumente genau anzusehen und griff danach, mit der zweiten Hand ihr Handgelenk fest umschließend – zu fest und Grazyna bemühte sich darum nicht dem Impuls nachzugeben, es wegziehen zu wollen. „Du hast bis Jahresende. Dann gibt es ausreichende Berichte und Aufzeichnungen über die Fortschritte und die Leistungen. Wir würden ungern die Eskapaden an der Seite der Vatt’ghern an anderer Stelle zur Sprache bringen. Er wäre sicherlich nicht begeistert.“ Erneut wurde ihr heiß und kalt und sie spürte, wie ihr auch der Rest der Farbe aus dem Gesicht wich, dann schließlich nickte sie noch einmal. „Verstanden …“ Es war das erste Mal, dass sie in diesem Gespräch die Stimme erhob und entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten klang sie jetzt dünn und viel zu leise. „Da wir das nun geklärt haben“, sagte der Mann ihr gegenüber wieder, dessen Namen sie nicht einmal kannte und ließ sie los, beiläufig die Dokumente einsteckend ehe er sich von seinem Platz erhob. „Eine gute Nacht.“
Er ließ sie zitternd zurück, den Blick starr auf das Weinglas vor ihr gerichtet. Dunkelrot der Inhalt, dieselbe Farbe wie Blut. Rot wie Blut … ihre Gedanken gerieten mit einem Mal ins Stolpern, als ihr das Flirren in der Luft auffiel, gerade so wie an einem heißen Sommertag auf der Straße – kaum wahrnehmbar, aber hier und jetzt. Mit hämmerndem Herzen fiel es ihr zum ersten Mal auf. Es fiel ihr auf, dass es nicht echt war. Dass hier etwas nicht stimmen konnte – nicht richtig war. Noch einmal glitt ihr Blick durch den Raum. Die Gardinen hingen falsch herum, ein Bild hing mit dem Gesicht nach unten.
Bild.
Wieder geriet sie ins Stocken. Da war etwas, an das sie sich erinnern sollte – etwas, das wichtig war. Die Stimme, fiel es ihr wieder ein – die, die ihren Namen gerufen hatte und die sie beinahe vergessen hatte. Der Lärm draußen im Gasthaus schwoll an, dröhnte plötzlich in ihrem Kopf und machte ihr das Denken schwer. Bild. Stimme. Immer wieder zwang sie sich dazu zu denken während sich pochender Schmerz hinter ihrer Stirn ausweitete. Jemand wollte nicht, dass sie nachdachte – wollte nicht, dass sie sich zu erinnern versuchte. Der Lärm aus dem Gasthaus wurde zu einem Summen in einem Bienenstock, ohrenbetäubend und trieb ihr Tränen in die Augen. Vorsichtig stützte sie sich hoch, versuchte Luft zu bekommen und den Drang zu unterdrücken sich die Hände auf die Ohren zu pressen während sie sich nach vorn kämpfte. Schwankenden Schritt um schwankenden Schritt und sich an jene Worte zu erinnern, die sie einst gelernt hatte. Irgendein Zauber, der sie jetzt vor dem Lärm bewahren konnte.
Bild. Stimme. Haus.
„Dybbuk!“, platzte es dann aus ihr heraus und dann wurde es still. Totenstill.
Nicht einmal ihr eigenes Atmen hörte sie noch, dafür aber die Gedanken, die umso lauter in ihrem Kopf schrien. Zauberformeln, Namen und Dinge, die seither geschehen waren. Sie war nicht mehr in einer Schenke. Da war ein Haus gewesen, in dem Gabhan, Atheris und sie gewesen waren. Es war Herbst gewesen, nicht Sommer und sie waren auf dem Weg nach Wyzima. Sie hatten unterwegs einen Zwischenhalt bei einem alten Freund gemacht ehe es seltsam geworden war. Die Puppen, die gläsernen Ritter. Das Essen mit dem Mädchen und dem schaurigen Hasen, die verzerrte Version von einer alten Kindergeschichte, die wohl jeder von ihnen kannte. Deshalb hatten ihre Waffen kaum eine Wirkung erzielen können. Sie waren nur mit jedem neuen Bild tiefer in die Zerrbilder im Reich dieses seltsamen Wesens gezogen worden. All das war nicht real gewesen. Nichts davon war echt. Keine seltsame Stimme, keine Drohung – nur das Bild. Das Bild und das Wesen in Gelb, das sie dort gesehen hatte. Dann begann sie zu sprechen, formte Zauber, die den Schleier trennen sollten, so wie sie es einst von Tissaia gelernt hatte. Nur ein Wimpernschlag, dann stand sie auf der Treppe eines staubigen Hauses und erkannte dort vorn im Eingangsbereich zwischen Glasscherben und altem Holz Gabhans und Atheris Gestalt, sowie das Wesen in Gelb.
„Hörst du nicht was ich sage, 24601?“ die Stimme des Nilfgaarders war durchsetzt von einem scharfen Akzent – scharf genug um Fleisch von Knochen zu tranchieren. Der Hexer nickte langsam und knapp. Doch, er hatte es gehört und er hatte es verstanden. Seine Hände wanderten hinab und was immer er dort erwartet hatte – Silber- oder Stahlschwert, er fand es dort nicht. Nur eine Spitzhacke. Alt und rostig, der Griff so rau, dass er sich nur beim Anfassen bereits Splitter zuzog.
Er wusste, dass es nichts brachte sich aufzulehnen. Dass es kein Entkommen aus der Mine gab, in welcher die Nilfgaarder mit Hilfe von Sklaven Dimeritium abbauen ließen, welches sich in Gemmerien tief in die Erde gefressen hatte. Die Arbeit war hart und der Dimeritiumstaub schlug auf die Lunge, machte es Gabhan unmöglich seine Zeichen zu wirken – und er war sich unsicher, ob er sie jemals wieder würde wirken können. Aber es brachte ohnehin nichts über die Zukunft nachzudenken – denn hier, in den tiefen Eingeweiden der nilfgaardischen Maschinerie würde er nie wieder das Tageslicht sehen.
Wie befohlen trat Gabhan zu der Stelle, die man als seinen Platz ausgelobt hatte und hob wieder die Spitzhacke, ließ diese auf den Stein niedergehen. Immer und immer wieder, bohrte er sich Zentimeter für Zentimeter durch den Fels, unter dem die nilfgaardischen Prospektoren eine weitere Ader des wertvollen Metalls vermuteten. Und dann hörte er es – eine Stimme, die seinen Namen rief. Sie schien aus dem Stein zu kommen – dumpf, aber doch eindeutig hörbar. Er hob die Spitzhacke und schlug auf den Stein ein. Immer und immer stärker, immer schneller bröckelte der Stein fort. Mit jedem Schlag blitzten Bilder vor seinem Auge auf – eine matschige Straße. Ein altes Haus. Ein Händler. Ein Hase. Ein Mädchen. Atheris. Grazyna. Der Dimeritiumstaub machte ihm das Denken schwer, seine Arme lahm. Aber er durfte nicht aufgeben. Etwas stimmte nicht. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Er sah wie der Stein vor ihm bröckelte, wie sich tiefe Risse in der Wand auftaten. Ein Licht war dahinter zu sehen, welches sich wie Säure durch den Stein ätzte. Immer stärker und heller schien. Und dann – Grazynas Stimme: „Dybbuk!“
„Ein Dybbuk, oder Dibbuk genannt ist ein seltener und mächtiger Geist. Manche Magier klassifizieren ihn auch als Dämon, der nur mit Hilfe von Goetie in diese Welt gezwungen werden kann. Er ergreift Besitz von einem Menschen – wie jeder Dämon – und soll seinem Wirt ein ewiges Leben schenken können. Zumindest glauben das einige. Andere Quellen sagen, er zieht das Leben seines Wirtes nur über die Maßen in die Länge, da er sich an diese Welt klammert. Andere Quellen wiederum sagen, er gaukelt seinem Wirt nur ein langes Leben vor. Was auch immer stimmen mag – ein Dybbuk ist ein äußerst gefährliches Wesen, das – im Gegensatz zu den meisten anderen Geistern der Dämonischen Kategorie gefallen an dieser Welt zu finden scheint. Was uns Sorgen bereiten sollte, denn das bedeutet, dass die Welt, in welcher der Dybbuk stammt so schrecklich sein muss, dass sogar ein Wesen wie er dort nicht hin zurück möchte…“ die Worte des alten Bärenhexers waren langsam und träge wie ein Gletschersee kurz vor dem Gefrierpunkt. Gabhan saß auf einer Decke aus Schafswolle und lauschte dem Älteren, während sich hinter ihm Tjaske und Habbart kabbelten und knufften. „Aber Meister,“ fragte Gabhan dessen Stimme hoch klang. Wie alt mochte er gewesen sein? 12? 13 womöglich?
„Wie besiegt man denn solch einen Dybbuk? Muss man einfach nur den erschlagen, von dem er Besitz ergriffen hat?“ – „Das möchte man meinen,“ erwiderte der alte Bärenhexer und wandte sich an den jungen, hob dabei den linken Arm, der kurz unter der Schulter in einem verwachsenen Stummel endete. „Aber das zu tun ist ein grober Fehler – stirbt der Besessene, bevor der Dybbuk in seine Sphäre zurückgekehrt ist, dann klammert er sich an irgend etwas anderes. Einen anderen Menschen, oder wenn kein solcher da ist an ein anderes Lebewesen oder einen Gegenstand – und zehrt von diesem, während er versucht einen neuen Wirt zu finden und dessen Geist zu brechen, damit er in diesen eindringen kann!“ – „Und… wie besiegt man dann einen Dybbuk?“ – „Nun, die einzige Methode die unserem Orden bekannt ist, ist es einen Dybbuk davon zu überzeugen in seine Welt zurück zu kehren. Und dabei nicht auf seine Täuschungen hinein zu fallen oder einen Kampf zu suchen. Denn wenn wir kämpfen nutzt der Dybbuk andere Einfallstore in unseren Verstand und zerrt uns tiefer in den Wahnsinn!“ – „Und… und wie überzeugt man einen Dybbuk in seine Welt zurück zu kehren?“ – „Nun, die einfachste Lösung ist…“ Gabhan hörte aufmerksam zu, versuchte seine gesamte Konzentration an die Erinnerung zu klammern, die er selbst wieder gefunden hatte, doch die Stimme des Meisters wurde dumpfer, sein Schatten wurde länger, nahm eine gelbliche Färbung an. In Gabhans Augenwinkeln verschwanden Habbat und Tjaske, während der gelbe Schatten immer größer wurde. Den Raum einzunehmen drohte – dann, als habe jemand einen Stein in die Oberfläche eines Sees geworfen, verschwand das Szenario und Gabhan stand wieder inmitten der großen Eingangshalle.
Dort stand Atheris, eine Silberklinge in der Hand, bereit auf ein seltsames Wesen zu zustürmen, das ihn keckernd anstarrte. Auf dem Treppenabsatz stand Grazyna, offensichtlich einen Zauber zu Ende webend, während hinter ihr ein gelber Schatten zu erahnen war. Atheris nickte Gabhan zu, ehe er begann sich in Bewegung zu setzen – auf das keckernde Etwas zuhielt. Denn wenn wir kämpfen nutzt der Dybbuk andere Einfallstore in unseren Verstand und zehrt uns tiefer in den Wahnsinn!
„Atheris! NEIN!“
Leben und Über Tod
Aprupt blieb Atheris stehen, als er Ghabans Worte vernahm. Verdutzt schaute er zu seinem Freund hinüber, der seine Worte mit einer befriedenden Geste nun verstärkte. „Warte Atheris, wir dürfen nicht gegen den Dybbuk kämpfen – das würde ihm in die Karten spielen!“
Atheris ließ sein Schwert sinken. „Ein Dybukk?“ hauchte er leise, blickte auf das Wesen vor ihm und versuchte sich an Großmeister Valerians Worte im Unterricht zu erinnern – war es nicht eine Art Totengeist? Ein Wesen, das auf irgendeine Art an dem Ort gebunden ist, wo sie spuken – zum Beispiel durch eine unerledigte Aufgabe, die sie zu Lebzeiten nicht abschließen konnten und nun ruhelos an diesem Ort umherwandern! – Atheris hasste Geister!
„Was nun? Grazyna … Ghaban, irgendwelche Vorschläge?“
„Keine die dir gefallen würden,“ erwiderte Gabhan und trat einige Schritte nach vorne, ohne jedoch auch nur eine Anstalt zu machen sein Schwert zu ziehen oder auf sonstige Weise aggressiv aufzutreten. Er hörte, wie hinter ihm Grazyna immer wieder ein und dieselbe Formel wie ein Mantra zitierte – offensichtlich um die Realität zu festigen, in welcher sie sich aktuell befanden. Zumindest hoffte Gabhan, dass sie sich wieder in der Realität befanden. „Aber was auch immer wir tun – Gewalt bringt uns kein Stück weiter. Nicht das geringste bisschen…“ Die Augen des Hexers richteten sich auf das Wesen hinter Atheris, das noch immer Grimassen schnitt. Gabhans Schritte wurden fester, als er sich an einen alten Spruch erinnerte, den ihn einst eine Priesterin lehrte: „Raus hier, übler Wicht! In die helle Sonne! Schwinde wie der Nebelhauch, heule mit dem Winde, In die wüsten Lande zieh‘ über alle Berge! Lass die Grube leer zurück, niemals kehre wieder! Sei vergessen und verloren, dunkler als das Dunkel, wo das Tor verschlossen steht, bis die Welt geheilt wird!“
Der Wicht erstarrte und löste sich tatsächlich auf, verschwand in Dunst, Nebel und Schatten, der sich am Rande ihres Bewusstseins manifestierte. Und dort, in der letzten Ecke seines peripheren Sichtfeldes glaubte Gabhan die schattenhafte Gestalt auszumachen. Einen gelben Mantel trug sie – oder war sie womöglich nichts weiter als ein Stück dieses Mantels? Getragen von etwas noch größerem, jenseits dieser Sphäre? Gabhan schüttelte den Kopf, versuchte sich wieder zu konzentrieren. Er spürte wie seine Ohren knackten, als ein Druck auf seinen ganzen Körper ausgeübt wurde.
Sprich
Gabhan warf Atheris einen knappen Blick zu – hier würden sie gemeinsam arbeiten müssen. Auch Grazyna schien ihre Aufmerksamkeit nun mehr der körperlosen Stimme zuwenden zu können. „Mein Name ist Gabhan und ich bin ein Hexer,“ erhob selbennamiger die Stimme. „Und meine Gefährten hier sind Atheris, ebenfalls ein Hexer und die Frau Grazyna. Eine Zauberin. Wir wollen keinen Unbill mit dir. Aber du wirst von hier verschwinden!“
Warum sollte ich dies tun?
Atheris merkte, wie er unwillentlich die Luft angehalten hatte und atmete mit einem leisen zischenden Geräusch aus! Endlich zeigte sich der Dybukk in seiner wahren Gestalt – endlich schienen die wahnhaften Illusionen ein Ende zu haben! Aber was nun? Welche Argumente konnten den Totengeist davon überzeugen loszulassen und zu verschwinden? Atheris hasste Geister! Fast schon erleichtert war er, als schließlich Ghaban einen Schritt auf den Dybukk zumachte und seine Stimme erhob.
Gabhan biss die Zähne zusammen, dass seine Kiefermuskulatur hervortrat. So eine verfluchte Scheiße. Natürlich konnte es mal nicht einfach sein! Er spürte Atheris Blick auf ihm liegen, die verzweifelte Hoffnung des anderen schon beinahe spüren könnend. Als könnte er, Gabhan, ihn jedes verdammte Mal retten! Der Bärenhexer schüttelte den Kopf, spürend, dass sich seine Gedanken wieder begannen in einen immerwährenden Strudel zu stürzen, der im Beisein des Dybbuk tödlich werden könnte. „Weil es hier nichts mehr für dich gibt. Der dich rief ist vergessen. Staub und Knochen. Du magst dich an dieses Gemäuer klammern, aber auch dieses ist dem Zahn der Zeit ausgesetzt. Es verfällt – und mit ihm verfällst du. Es mag noch zehn Jahre stehen – vielleicht fünfzig. Dann wird es verfallen, von Gras überwuchert werden. Vergessen. Und auch du wirst vergessen sein, Machtlos und nur noch ein Schatten.“
Ghaban’s Worte waren gut gewählt und für einen Moment schien es Atheris so, als ob der Dybukk etwas erwidern wollte – aber das Wesen schwieg! „Ich verstehe es nicht Dybukk – die aller meisten von uns sterben unzufrieden. Wir alle lassen unerledigte Aufgaben zurück! Was also ist es, dass dich hier festhält und andere nicht?“ Atheris tat es Ghaban gleich und trat während er sprach einen Schritt auf das Wesen zu. „Es wankt der Mensch am Pilgerstab – und von der Wiege bis zum Grab sucht er umsonst den Frieden. Erst wo der Stein am Hügel steht, und Geisteratem leise weht, ist Ruhe ihm beschieden. Oh! Wohl ihm, der nach seiner Lebenstat den süßen Schlaf gefunden hat Im stillen Tal der Grüfte. Es schwebt zum hohen Sternenchor entfesselt dann sein Geist empor, Empor durch Himmelslüfte!“ Es war lange her, dass er das Gebet, das er soeben rezitiert hatte, von einem Prior der großen Sonne in der Kaiserstadt gehört hatte – aber die Worte waren einprägend gewesen. Er machte einen weiteren Schritt auf das Wesen zu. „Dybukk, deine Zeit auf dieser Erde ist längst zerronnen, das Pendel steht seit Jahrzehnten still. Wer auch immer dich in diese Welt geholt hat, hat längst sein sterbliches Gewand abgestreift, der Atem steht seit langem still und das Licht der Augen ist erloschen. Derjenige der dich gerufen hat ist in ein höheres Leben eingetreten – nichts hält dich mehr an die Stätte der Vergänglichkeit. Gehe den dir bestimmten Weg Dybukk, wie auch wir den unseren weitergehen müssen!“
Gabhan hatte erst ungläubig Atheris angestarrt, als dieser wieder einen seiner hochtrabenden Monologe hielt, ausgeschmückt mit Worten, die Gabhan nicht von ihm kannte und die einem Hexer nur schwer zu Gesicht standen – dass sie überhaupt über seine Lippen kommen mochten war wohl dem Umstand zuzuschreiben, dass Atheris sich noch nie um die landläufigen Vorurteile gekümmert hatte, die ihrer Art entgegenschlug. Doch dann hatte Atheris zum letzten Part angesetzt und Gabhan wäre beinahe ein Aufschrei entfleucht – der dem Dybbuk bestimmte Weg? Wenn das verdammte Wesen das wörtlich nahm, würde er das tun was die Vorurteile über seine Art so sagten und Gabhan fürchtete, dass diese Vorurteile nur allzu sehr recht hatten. „Atheris! Nein!“ Gabhan machte eine knappe Handbewegung über seinem Hals, spürte auch Grazynas Blick, welcher sich ihm in den Rücken bohrte – auch sie hatte aufgehört zu sprechen, rezitierte nicht mehr die Formel, sondern hielt nur noch den Bärenhexer fixiert. Gabhan schob sich leicht vor Atheris, durchkreuzte den Blick der unendlichen Schwärze aus dem Blick des Dibbuk.
Mein Weg? Ist das euer Wunsch, Nicht-Mensch?
„Nicht so wirklich,“ grunzte Gabhan. „Aber weißt du was? Fick dich. Mach was du willst – besetze mich oder den Großen hinter mir, oder nimm dir die Zauberin da oben. Es ist mir gleich – denn am Ende wirst du verlieren!“
Unwahrscheinlich
„In keinster Weise. Die Zeit arbeitet für mich. Denn egal wie mächtig wir sind. Irgendwann wird einer von uns als dein Wirtskörper sterben. Dann wirst du dein nächstes Opfers finden – und auch dieses wird sterben. Immer und immer wieder. Bis die Welt um uns herum zu Staub zerfällt. Nichts mehr da ist. Noch nicht einmal mehr Staub. Nur noch du. Alles andere wird fort sein. Alles. Außer dir – du bist hier. Ewig. Und dann? Niemand mehr, der dich in eine andere Welt führen könnte. Du wärst das letzte Wesen in einer Welt die noch trauriger ist als sie es sowieso schon ist. Du wärst der Scheiß Gewinner einer Welt, die keinen verfickten Wert mehr hat. Weißt du was? Ich gönn`s dir.“
Hexer. Wenn sie in einer Sache gut waren, dann war es nicht zu wissen wann es galt den Mund zu halten. War sie bereits zutiefst über Atheris religiöse Anwandlungen schockiert gewesen, so schlug nun Gabhans selbstgerechter Zorn dem Fass endgültigen den Boden aus. „Mir deucht, jeder hat seinen Standpunkt nun klar gemacht!“ ihre Stimme glitt wie ein Stilett aus Eis durch die Luft und zwang den Dybbuk dazu, nun seine Aufmerksamkeit auf sie zu richten.
Die Zauberin
„Grazyna von Strept,“ erwiderte die Selbennamige, ohne dabei jedoch auch nur einen Hauch der Kälte in ihrer Stimme zu verlieren. „Diesen Namen wirst du auch niemals mehr vergessen. Du wirst dir sogar noch wünschen ihn nie zuvor gekannt zu haben. Denn bereits die jüngsten Adeptinnen von Artetusa wussten stets – niemand dringt ungestraft in den Verstand von Grazyna von Strept ein.“ Sie kam noch einen Schritt näher. Und noch einen. Spürte die Aufmerksamkeit dieses Wesens, das in jede Pore dieses Hauses gezogen war wie schwarzer Schimmel auf sich „Und die Adeptinnen taten gut daran dies weiter zu geben – denn man erzählte sich die schaurigsten Geschichten über diese von Strept,“ ein weiterer Schritt. Immer weiter erzählen – das Monstrum glauben lassend, man würde sich auf sein Spiel einlassen. Maskerade. Täuschung. all das hatte sie für Nilfgaard doch schon so oft tun müssen. „Du magst glauben du weißt, was Zauberer in dieser Welt ausmacht. Immerhin wurdest du von einem Beschworen. Aber glaube mir; du irrst. Goetie ist die einfachste aller Künste. Stümperei. Weißt du, was wahrer Kunstfertigkeit bedarf?“ nun stand sie direkt vor dem Dibbuk, vollendete mit der linken hinter ihrem Rücken die letzte Geste. „Feuer.“
Die Hölle brach los, als sich die elementare Kraft ihren Weg durch das Holz bahnte – innerhalb von Sekunden alles Brennbare des alten Hauses zeitgleich in Brand streckte. Jeden Bilderrahmen, jeden Stofffetzen, in den die Essenz und Präsenz des Dybbuk über die Jahrzehnte gesickert war – das Haus, das der Dybbuk war und der Dybbuk, der das Haus war. Sie beide standen in Flammen. Wurden vom Feuer verzehrt.
Im letzten Moment erkannte Atheris, was Grazyna vorhatte und noch bevor er sich vergewissern konnte, ob Ghaban es ebenfalls bemerkt hatte, umgab ihn ein Inferno, das dem Feuer bei Sodden in nichts nachstand! Bevor ihn die Flammenzungen erreichten, wirkte er geistesgegenwärtig das Zeichen Quen und augenblicklich bildete sich die rettende Schutzblase um ihn. Atheris Anflug, sich um seinen Zunftbruder zu sorgen, stellte sich als unbegründet heraus. Ghaban hatte den Braten gerochen, sich ebenfalls geschützt und stürmte brummend am Greifen Hexer vorbei in Richtung der Eingangstür. Der Bärenhexer brach ungestüm durch das, was von der brennenden Tür noch übrig war und gelangte ins Freie – dicht gefolgt von Atheris.
Die beiden Hexer schauten gebannt zurück auf das einst so prächtige Haus, das nun komplett in Flammen stand. „Grazyna!“ schrie Atheris in Richtung des Glutofens, was noch vor wenigen Augenblicken die Eingangshalle gewesen war. „Ja, Atheris?“ hörte dieser auf einmal hinter sich und schloss sofort die rußverschmierte Magierin in die Arme!
Während seine beiden Begleiter noch mit sich beschäftigt waren, begann Ghaban die herbeieilenden Dorfbewohner davon abzuhalten, das Feuer zu löschen. „… Es muss komplett herunterbrennen! Beschränkt euch nur darauf, ein übergreifend auf die anderen Häuser zu verhindern!“ brüllter er ihnen entgegen.
Epilog – Der Lohn eines Hexers
Zwei Tage war das große Feuer her, zwei Tage an denen Ghaban und Atheris mehrfach die Stelle untersucht hatten um sicherzustellen, dass der Dybukk nicht mehr in dieser Welt existierte. Zwei Tage in denen die Dorfbewohner die Hexer noch argwöhnisch betrachteten als bei ihrer Ankunft. Die Dankbarkeit, dass dieses verwunschene Haus endlich vernichtet war, konterkarierte nur bedingt den Schrecken, den das plötzliche Inferno unter ihnen verursacht hatte. Auch Jirkam brauchte die beiden Tage um den Verlust seines prächtigen Hauses zu verdauen, aber zumindest reifte bei ihm schließlich die Einsicht, dass ein verfluchtes Haus ihm weniger genutzt hatte.
Als die Sonnenstrahlen des dritten Tages über dem Dorf erstrahlen, waren Grazyna, Ghaban und Atheris bereit, ihre eigentliche Reise fortzusetzen.
Von Bären und Riesenspinnen
Von Bären und Riesenspinnen
Aus dem Tagebuch des Atheris von Toussaint, Wildnis von Kovir & Povis, Winteranfang 1281
Ernsthaft Atheris? Jeder weiß, dass das hier dein Tagebuch ist. Es ist eine verfluchte Sonne darauf – G.
Einige ereignisreiche Wochen liegen hinter uns – Meister Valerian treibt uns zu immer mehr Eile an und ich kann immer noch kaum glauben, dass wir es ohne weitere Vorkommnisse an der Grenze Redaniens vorbei geschafft und nun endlich Povis erreicht haben!
Wie schön, dass du hier geflissentlich die Begegnung mit den Hexenjägern ausblendest – G.
Mittlerweile haben wir zwar endlich ein schönes Gasthaus beziehen können, doch die vorangegangenen Ereignise haben uns schwer zugesetzt – mit Schrecken denke ich an die Ereignisse, lange bevor wir Lan Exeter passierten.
Was ist das denn für eine Exposition? Glaubst du den Kram hier liest irgendjemand? Welcher vernünftige Mensch beginnt denn in seinem Tagebuch mit einer Rückblende nach der Einleitung? – G.
Alles begann damit, dass wir uns auf einem hübschen kleinen Fleckchen ausruhten. Wir, dass war unsere Reisegemeinschaft der Greifen – Gabhan (ich weigere mich als Reisebegleitschaft der Greifen gesehen zu werden –G.), Grazyna, Valerian, Nella, Heskor, Jiri und meine Wenigkeit. Da vernahm Heskor mit einem Mal ein seltsames Geräusch – und erspähte, behände wie er ist, schnell von einem nahen Baum die Umgebung aus.
Wundert mich immer noch, dass das funktioniert hat – G.
Und wie groß war unsere Überraschung, als er uns vermitteln konnte, dass dort die stolzen Soldaten Kovirs und Povis aufmarschierten!
Ach komm schon! Das war doch nun wirklich keine Überraschung – wir waren mitten auf einer Handelsroute und es herrscht Krieg. Und wenn das deine Definition von stolz ist, wird mir einiges klar! – G.
Meister Valerian beschloss natürlich sogleich sich mit den Soldaten gut zu stellen, damit wir ein Stück des Weges gemeinsam reisen konnten. Denn wie sagt er immer? “Ein Fremder ist nur ein Freund den man noch nicht kennt” (mich wundert nichts mehr – G.)
Auf der Reise kam es dann zu einem unerwarteten Ereignis – gerade als wir eine große Hängebrücke passierten wurden wir Opfer eines miesen Hinterhalts! Ein Räuber, der es wohl auf die armen Soldaten abgesehen hatte, schnitt das Seil der Brücke durch! Noch nicht einmal mein schnell eingesetztes und meisterlich ausgeführtes Aard konnte mich vor dem Sturz in die Tiefe noch bewahren! (Aha –G.) Aber nicht nur ich! Nein, auch Grazyna und Jiri stürzten in die Tiefe, verschwanden aber vor meinen Augen durch ein Portal – selbstverständlich machte ich mir Sorgen, wenngleich auch Grazyna eine meisterliche Zauberin ist! Doch viel Zeit blieb mir nicht mir Gedanken zu machen, denn schon stürzten wir in die Tiefe.
Ich sah noch in letzter Sekunde, dass sich Meister Valerian gemeinsam mit Nella und Heskor katzengleich auf die andere Seite retten konnte, dann umtosten mich die Fluten des reißenden Flusses.
Atheris, ernsthaft – wer schreibt so sein Tagebuch? Außerdem hatte Valerian Glück. Mehr nicht – G.
Als ich wieder zu Bewusstsein kam war keiner meiner Freunde mehr zu sehen – und ich über und über mit Schlamm und Moder aus dem Sumpfgebiet bedeckt, in welches mich wohl einer der Seitenarme des Flusses gespült hatte. Erst nachdem ich meine stolze Nilfgaarder Rüstung wieder halbwegs gesäubert hatte, wurde ich eines fernen Stöhnens gewahr. Da lag Gabhan! Sauber aufgespießt von einem dicken Ast, der Kettenhemd und Bauch durchschlagen hatte. Wäre doch nur Malva da gewesen um uns professionelle Hilfe angedeihen zu lassen! Da verblute ich lieber – G.
Zu Gabhans Glück wird ein Nilfgaarder Offizier auch auf schwere Verwundungen auf dem Schlachtfeld vorbereitet, so dass ich für Gabhan schnell eine improvisatorische Trage basteln und ihn hinter mir her schleifen konnte. Wir suchten uns einen kleinen Flecken Erde mit sauberem Wasser, um uns um die Wunde zu kümmern. Doch oh Schreck – ich hatte Gabhan keine Sekunde aus den Augen gelassen, da hörte ich ein gewaltiges Brüllen! Offensichtlich hatte der Blutgeruch einen ausgewachsenen Bären mit Jungem angelockt, der in Gabhan wohl aufgrund seines Geruchs eine Gefahr sah! Der sah in mir ein Mittagessen – G.
Wenngleich auch der Bär eine schreckliche Bestie ist, so hatte er doch nichts gegen mein scharfes Schwert, meine gewaltigen Kräfte und der tollen Zusammenarbeit mit Gabhan entgegen zu setzen! Auch genau in der Reihenfolge, hm? – G.
Kaum hatten wir den Bären bezwungen mussten wir uns dringend um die nun noch viel größer gewordene Wunde meines Freundes kümmern! Mit vereinten Kräften zogen wir den sowieso locker gewordenen Stumpf aus seinem Bauch und versiegelten die Wunde mit einem gemeinsamen Igni!
Kaum das Gabhan so verarztet worden war fand uns auch Valerian, Heskor und Nella wieder. Sie hatten mich wohl durch magische Mittlung geortet! Gemeinsam traten wir den Rückweg zu einem sicheren Gasthaus an und besprachen was als nächstes zu tun war. Ohne jeden Zweifel mussten wir Grazyna und Jiri finden – da Nella die beiden irgendwo unterhalb von uns ortete, ließen wir uns von den überlebenden Soldaten den Eingang zu einem Höhlensystem zeigen.
Und siehe da – die Sonne war längst untergegangen, als wir ein Loch im Boden entdeckten. Über und über behängt mit gewaltigen Spinnennetzen. Und dort unten im Halbdunkel konnten wir Jiri und Grazyna ausmachen. Selbstverständlich zog ich sofort mein Schwert und sprang zur Rettung, mein treuer Kumpan Gabhan und auch Meister Valerian an meiner Seite! Weil du sonst gestorben wärst, so ganz alleine du Wahnsinniger! – G.
Tief in der Dunkelheit begegneten wir dem Ungetüm dieser Höhle – einer gewaltigen Spinne! Bestimmt elf Klafter fünfzehn Fuß hoch! Du hast keine Ahnung wie groß ein Klafter ist, oder? – G.
Mit gemeinsamen Kräften bezwang unsere Gruppe das Ungeheuer, ehe Nella die gesamte Brutstätte mit ihrer Feuermagie dem Erdboden gleich machte. Beunruhigender Weise fanden wir bei dem Spinnenwesen ebenfalls eine jener Messingplaketten, die wir auch bei den Experimenten von Asken, dem wahnsinnigen Magier des Kestrel-Gebirges fanden. Hier scheinen diese Magier wohl ebenfalls ihre Finger im Spiel zu haben – doch darum können wir uns kümmern, wenn wir im Frühjahr von unserer Reise nach Kaer y Seren zurück kehren.
Du kannst nur hoffen, dass dieses Buch niemals den falschen Leuten in die Hände fällt mein Freund. Sei froh, dass ich es unten im Gastraum gefunden habe. – G.
Menschliche Abgründe
Menschliche Abgründe
Die Gruppe, bestehend aus Gabhan, Grazyna, Valerian, Nella, Heskor, Jiri und Atheris war nach den ereignisreichen Tagen in der großen Stadt Wyzima ein Stück nordwärts gereist, wo sie in der Schenke „Rehfuß“ entspannen konnten. Allerdings meinte der Inhaber, ein Wirt mit schütterem Haar und schlechten Zähnen, dass sich vor kurzem jemand nach Mutanten, Andersartigen, eben „genau so welchen wie ihr … Hexer“ umgehört habe, ein Magier aus Ban Ard der in Richtung Kestrel Berge aufgebrochen war, vermutlich um zu seiner Akademie zurückzukehren. Nach dem schnellen Entschluss dieser Spur nachzugehen, traf die Gruppe auf einen stets heiteren und angetrunkenen Feldscher mit dem Namen Ludwig, sowie einen Skelliger namens Nechtan, der anbot, die Gruppe durch das Gebirge zu führen, da er wohl viel unterwegs sei und oft als Führer fungiere.
Doch bereits wenige Stunden nach der Überquerung der redanischen Grenze – Nechtan hatte die großen Zollstationen weit umgangen – stand die Gruppe vor einem Problem: links und rechts ging es nicht weiter, sumpfiger Morast machte ein Weiterkommen zu beiden Seiten hin unmöglich, vorn wiederum herrschte Stau; etliche Viehzüchter, Bauern und Händler warteten bereits.
Nach einer kurzen Untersuchung konnte die Gruppe feststellen, dass ein Adliger, „der Herr Targill vom kleinen Wäldchen, Cousin ersten Grades vom Herrn des großen Wäldchens“ mit seiner Kutsche einen Unfall hatte, das große Wagenrad steckte tief zwischen zwei eingewachsenen Steinen.
Der Adlige ergriff nach kurzem Dialog Gabhans Schwert und ließ einen seiner Mannen mit diesem das Wagenrad noch oben hebeln, etwas anderes passte nicht in die schmale Nische zwischen Rad und Stein und schließlich wusste doch jeder, dass Hexerschwerter verzaubert und somit unzerstörbar waren. Gleichzeitig formte Atheris das Zeichen Aard und Heskor stellte sich, aus unerfindlichen Gründen, direkt vor ihn. Es kam wie es kommen musste – einer Kartaune gleich wurde Heskor gegen den Knecht geschleudert, beide flogen nach hinten und die Waffe brach entzwei.
Von Wut übermannt schleuderte der Bärenhexer die Kutsche zur Seite, woraufhin Reichtümer aus Nilfgaard zum Vorschein kamen – offensichtlich hatte sich der redanische Adlige vom Feind kaufen lassen. Nach einem lauten Rufen Gabhans ging die – bisher wartende – Menge in Raserei über, die paar Wachsoldaten wurden mit Flegeln, Heugabeln, Steinen, Fäusten, Zähnen und Schuhen niedergemacht.
Der Adlige wurde am Leben gelassen, jedoch wurde er, zuvor von Atheris bei der Flucht gestoppt, mit einem Sklavensymbol aus Nilfgaard versehen, etwas, für das Gabhan viele finstere Blicke erntete. Nechtan war, wie sie später feststellen, offenbar irgendwo in der lauten Meute untergegangen und war nicht mehr auffindbar.
Das darauffolgende Dorf schien wie verlassen, es war nicht namenhaft und nicht groß, deswegen sei an dieser Stelle auch kein Name genannt. Die Gruppe entdeckte exakt abgetrennte Leiber die mal in der Mitte, mal längs, mal am Kopf, mal an den Beinen Portalmagie war, denn noch während sie durch das Dorf gingen, wurden sie durch solche entführt.
Eine Weile folgte Schwärze und als jeder der Gruppe, mit einem unglaublich trockenen Mund und schmerzenden Gliedern aufwachte, sahen sie sich in Zellen wieder, jeder in einer eigenen. Das Dimeritium an den Wänden verhinderte ein magisches Einwirken, der Wille zum Ausbruch war aber dennoch zu stark und so kratzten die einzelnen Gefangenen mit spitzen Gegenständen so viel Mörtel aus dem Mauerwerk, dass sie nach und nach Steine abtragen konnten.
Auch die beiden Gehilfen – ein offensichtlich geistig verwirrter und ein Mann mit einer Armbrust – Bohold und Ilmar, konnten sie nicht stoppen. Nachdem die Gruppe aus den Zellen geflohen war, schienen die Gehilfen vollkommen überfordert mit der Situation und taten einfach … nichts. Beim durchstreifen des Kerkers konnte die Gruppe nun etliche Experimente sehen, sowohl an Tieren, Monstern und auch Menschen – jeder von ihnen war auf eine andere Weise „modifiziert“ oder verbessert worden, doch keiner davon lebte mehr wirklich, sondern bettelte nur noch vor Schmerzen um den Tod.
Dies alles war das Werk vom gesuchten Magier, „Asken Hilvering“, ein ehemaliger Schüler aus Ban Ard, der zusammen mit einigen Kommilitonen von der Akademie verbannt wurde, da ihre Experimente zu grausam und zu schlecht für den Ruf der Institution waren.
Hier, in diesem Kerker schien Asken seine Forschungen fortgesetzt zu haben, offenbar mit dem Ziel herauszufinden, wie Hexer einst entstanden waren, um selbst etwas „noch besseres“ zu erschaffen, doch jeder seiner Versuche war gescheitert. Im Wahn setzte er sich selbst Tieraugen ein, was seinen Verstand vollends vernichtet hatte. Valerian und Grazyna entdeckten einen regen Briefaustausch zwischen Asken und den anderen Zauberern, die damals von Ban Ard verwiesen wurden, die Gewissheit, dass dies nur einer von mehreren Orten sein konnte, wo solche Versuche durchgeführt wurden, kam schnell – beinahe so schnell wie die Bitte darum, dass Gabhan allen elenden Kreaturen Gnade durch einen schnellen Tod erweisen sollte.
Recte obsideretur – zu Unrecht angeklagt
Recte obsideretur – zu Unrecht angeklagt
Aus dem Tagebuch des Atheris von Toussaint, Wyzima Sommer 1281
Wyzima, einstige Hauptstadt des Königreichs Temerien – nun Hauptstadt der nördlichsten Provinz des Kaiserreiches. In all den Jahren, die ich während der zwei ersten nördlichen Kriege im Norden verbracht hatte, war ich nie in dieser Stadt gewesen…und ich muss gestehen, dass ich bisher auch nichts verpasst habe. Die Gründe hierfür sind leicht erkennbar – alle Nachteile die man erwarten kann, wenn viele Menschen auf einem Haufen wohnen, kann man riechen und sehen! Die Vorteile hingegen – fehlen fast komplett. So kam es auch, dass Gabhan, Grazyna und ich uns in einem Gasthaus nahe der Stadtmauer niederließen, wobei Gasthaus noch nett umschrieben ist.
Während Grazyna und ich uns ein Glas Wein gönnten, machte sich Gabhan auf um einen Auftrag in der Kanalisation zu erledigen, in der einige unbescholtene Bürger verschwunden waren.
Gabhan erzählte mir später, wie er es mit einem Zeugl zu tun bekommen hatte und dass er auch Wochen später noch den Gestank in seiner Nase nicht losgeworden ist. Während des Auftrages stieß Vladim, der Löwenhexer und ein Freund der Greifen zu ihm. Gemeinsam besiegten sie das Monster und gingen zurück zum Auftraggeber…was zu einem ersten Problem an diesem Tag führen sollte. Denn beide Hexer bestanden auf die jeweils ausgehandelten Prämien, wohingegen der Auftraggeber lediglich eine einzelne Kopfprämie bezahlen wollte.
Ich kann leider auch nur aus zweiter Hand erzählen, was passiert sein musste, aber später am Abend trafen die beiden auf Großmeister Valerian, Nella und Jiri…keine Ahnung was die Ursache war, aber als ich mich später mit Grazyna auf dem Weg zum Treffpunkt mit Valerian aufmachte, brannte ein Haus, das von einem aufgebrachten temerischen Mob in Flammen gesteckt worden war. Während Nella von außen versuchte das Feuer unter Kontrolle zu bringen, machten wir uns auf den Weg ins Innere um unseren Freunden zu helfen…es war eine Katastrophe! Sie hatten sich mit einer nilfgaardischen Patrouille in die Haare bekommen und wenigsten zwei der kaiserlichen Soldaten lagen schwer verwundet am Boden.
Inzwischen hatte Nella das Feuer zum Erliegen gebracht, da kam es noch dicker. Eine Einsatz-Patrouille der Kaiserlichen brach durch die Tür und umzingelte uns. Ohne Gegenwehr ließen wir uns abführen. Wenig später fanden wir uns im Gerichtssaal auf der Anklagebank wegen Konspiration mit dem temerischen Widerstand wieder. Durch das Vorzeigen meiner kaiserlichen Dokumente erlangte zumindest ich die Freiheit, wohingegen die anderen Hexer als Exempel die Todesstrafe ereilen sollte. Zusammen mit den nicht inhaftierten Magierinnen Nella und Grazyna und Jiri dem Seemann, machten wir uns an die Arbeit, einen Fluchtplan für unsere Freunde zu entwerfen.
Während Jiri loszog um Kontakt mit dem temerischen Widerstand aufzunehmen, machten Grazyna und ich mich auf dem Weg zum Richter. Als Bürger des Kaiserreiches in Positionen mit ein wenig Einfluss, machten wir uns daran, das Urteil aufheben zu lassen, was nicht ganz gelang. Zumindest wurde das Strafmaß von Todesurteil auf abhacken der rechten Hand gemildert…nicht ganz was wir wollten, aber zumindest etwas, womit man arbeiten konnte.
Zurück im Quartier erarbeiteten die beiden Magierinnen einen Illusionszauber, der den anwesenden Wachen bei der Hinrichtung abgehackte Hände vortäuschen sollten. Jiri machte sich in der Zeit auf und organisierte auf seine eigene, unnachahmliche Weise ein paar echte abgehackte Hände, die schließlich benötigt wurden um die Scharfrichter zu täuschen. Nella ließ zusätzlich einen Igel zu Valerian ins Gefängnis laufen um ihn und die andere zur Geduld zu mahnen. Da wir unseren Plan als hinreichend sicher erachteten, ließen wir den gewaltvolleren Alternativplan mit dem Widerstand fallen, es war nicht sonderlich gut für das Geschäft, im Norden auf der Fahndungsliste der Kaiserlichen zu stehen.
Um es kurz zu machen, der Plan funktionierte ziemlich gut und wir konnten unsere Freunde mit ihren zum Schein abgehackten Händen durch die Vordertür des Gerichtsgebäudes eskortieren. An dieser Stelle sei ein Lob ausdrücklich erwähnt…ich hätte nicht gedacht, dass Valerian, Vladim und Gabhan so gut schauspielern konnten…in Anbetracht, dass man Hexern nachsagte, dass sie zu keinerlei Emotionen fähig wären.
Ende gut…alles gut? Mit Sicherheit nicht, aber für dem Moment musste es reichen. Um die Täuschung nicht doch noch auffliegen zu lassen, ließen wir Wyzima fürs erste hinter uns und machten uns weiter auf den Weg in Richtung Norden zum Kestrell-Gebrige.
Verfluchte Küste
Verfluchte Küste
Küste vor Cidaris Frühling 1281
Nach dem langen Winter, den ich in Toussaint bei meiner Familie verbracht hatte, war ich mit einem Schiff ‚der feuchten Berta‘ in die Leuenmark aufgebrochen um mich mit Großmeister Valerian und den anderen Greifen in unserer Notunterkunft zu treffen.
Der Aufenthalt in der Fischzuchtanlage von Alastriona, die der Greifenschule Obdach über den Winter gewährt hatte, währte nur wenige Tage, wofür ich echt dankbar war zu dem Zeitpunkt. Der Allgegenwärtige Gestank von Fisch ist nichts für die feine Hexernase und ich kann mich nur glücklich schätzen, dass ich im Vergleich zu den anderen nicht den ganzen Winter hier ausharren musste. Valerian hatte auf mein Eintreffen gewartet, damit wir uns gemeinsam auf die Suche nach einer neuen Bleibe für unsere Schule begeben konnten. Zudem sprach Valerian von einigen Hinweisen, denen er bei der Gelegenheit nachgehen wollte.
Unser erstes Ziel auf dem Festland sollte die alte Handelsstadt Novigrad sein. In Abwesenheit unseres eigenen Schiffes – der Funkenflug – hatten wir Glück, dass die ‚feuchte Berta‘ noch im Hafen lag. Nach einem kurzen Verhandlungsgespräch mit dem Kapitän, erklärte er sich bereit uns überzusetzten.
Ich werde nie ein Freund von Seereisen werden, auch wenn das Meer eine beruhigende Wirkung haben mag, so wird der Alltag an Bord eines Schiffes schnell eintönig, zudem war die Unterkunft mehr schlecht als Recht und der Proviant…war nicht der Rede wert. Umso beachtlicher war der Smutje des Schiffes, der aus dem Zeug tatsächlich etwas Genießbares zaubern konnte. Die ‚feuchte Berta‘ machte ihrem Namen auch alle Ehre. Die Feuchtigkeit in dem Schiff war allgegenwärtig und zuweilen fühlte es sich mehr nach einer Tropfsteinhöhle denn nach einem Schiff an. Permanent war ein Teil der Seeleute am Leck flicken.
Die Eintönigkeit nahm ein jähes Ende, als ein furchtbarer Sturm aufzog und sich die glatte See zu einem zerklüfteten Gebirge erhob. Am Anfang trotze die ‚feuchte Berta‘ noch den Naturgewalten… aber was dann geschah, daran kann ich mich nicht erinnern. Den Ausführungen Valerians nach, hatte ich im Sturm einen Mast gegen den Kopf bekommen und so das Bewusstsein verloren.
Nach Stunden der Bewusstlosigkeit und einer bösen – schlecht behandelten – Platzwunde an der Stirn, kam ich in einer kleinen Hütte … in einem kleinen unbedeutenden Ort wieder zu mir. Neben Großmeister Valerian waren lediglich noch der Löwenhexer Vladim, die Elfenmagierin Nella, Jiri einer der Seemänner der ‚feuchten Berta‘ und ein mir unbekannter Melitele-Prieser namens Benedarius, anwesend…über das Schicksaal der restlichen Mannschaft konnte keiner genaueres Berichten, nur dass das Schiff gesunken war.
Valerian erzählte mir in seiner kurzen und knappen Art, was ich verpasst hatte und machte mir klar, dass wir vom Regen in die Traufe gekommen waren. Im Dorf herrschte einer dicker, unnatürlicher Nebel, durch den kaum das Sonnenlicht brach und die Dorfbewohner betrieben eine Art Kult, der eigene oder fremde Körperteile einem Leshen opferten und dabei sogar öffentlich Strichlisten führten, wer wieviel geopfert hatte…einfach absurd. Das Ganze erinnerte mich an die Vorkommnisse im letzten Spätsommer, als ich zusammen mit dem Bärenhexer Gabhan unterwegs gewesen war und wir in einem abgelegenen Dorf auf einen Waldschrat getroffen waren, der seinen Wald gerne mit Dorfbewohnern düngte.
Nachdem ich über meine Erfahrungen berichtet hatte, machte sich Vladim fachmännisch daran, die Fenster und Türen mit Holz zu verbarrikadieren, während Valerian, Heskor und ich uns auf die Suche nach den Zutaten für ein wirksames Relikt-Öl machten. Es war auch nicht sonderlich schwer in dem kleinen Dorf den örtlichen Schlachter ausfindig zu machen, dafür aber umso schwerer dem massiven Mann das benötigte Fett abzuringen, da unsere Geldreserven mit der ‚feuchten Berta‘ untergegangen waren. Obwohl ich dem schielenden Metzger davon abgeraten hatte, wollte er in einer von Valerian eingesteuerten Wette im Armdrücken um das Fett ringen. Rücksichtsvoll wie immer bot ich dem Mann an, den linken Arm zu verwenden, worauf er auch einging. Nachdem wir das erste Fettnäpfchen errungen hatte und der Metzger mit einer gebrochenen linken Hand den Wetteinsatz verdoppeln wollte – er bot uns eine Rehkeule an – ließ ich mich auf eine zweite Runde mit der Rechten ein. Niemand soll mir nachsagen, dass ich den Mann nicht mehrfach gewarnt hatte, denn auch die zweite Runde endete in einer weiteren zertrümmerten Hand. Sein Unglück war jedoch unser Glück, denn für ein drittes Fässchen Fett und eine Wildschweinhälfte bot Valerian an, dem Mann eine Heilsalbe für seine Hände anzufertigen.
Als wir zurück am Haus ankamen waren sowohl Heskor als auch Vladim mit ihren Aufgaben erfolgreich gewesen. Während Valerian anschließend loszog um die Zutaten für die Heilsalbe zu suchen und Jiri anfing das Abendessen vorzubereiten, machte ich mich an die Herstellung des Relikt-Öls.
Nachdem mehr oder weniger alle Vorbereitungen – nicht zuletzt dank Meister Valerian – erfolgreich abgeschlossen waren. Machten wir uns über das Essen von Jiri her. Was soll ich sagen, ich kann mich nicht daran erinnern, jemals einen so guten Rehbraten gegessen zu haben.
Nachdem die Nachtwachen eingeteilt waren – wobei sich alle darüber freuten, dass ich die Hundswache ‚freiwillig‘ übernommen hatte – sicherte Nella die Hütte mit einem Ritualkreis (den sie mit Mistelpulver streuen konnte (welches als Nebenprodukt der Relikt-Öl Herstellung übriggeblieben war), der uns alarmieren sollte, wenn sich jemand der Hütte näherte. Dass dadurch die Wacheinteilung fast wieder obsolet war, sprach ich nicht an – ich wollte den Kameraden ja nicht ihre Freude nehmen.
Entsetzliche Schreie und ein rhythmisches Klopfen weckten uns mitten in der Nacht – keine Frage, die Dorfbewohner schienen ihren Waldschrat zu huldigen. Für mich war es keine Frage, wir sollten uns nicht in die Angelegenheiten der Fremden einmischen und da die anderen die gleiche Meinung vertraten, blieben wir ruhig in der Hütte. Erst als wir die einsetzenden Schreie von Benedarius vernahmen, sahen wir uns zum Handeln gezwungen. Wann hatte sich der Melitele-Priester eigentlich von der Gruppe entfernt?
Heskor erklärte sich sofort bereit nach dem Rechten zu sehen und verschwand in der Dunkelheit.
Geduldig warteten wir anderen auf ein Zeichen unseres Freundes – welches nicht kam. Wie lange benötigte er, um sich einen Überblick zu verschaffen? War er selber in Gefahr? Letztere Frage war klar, der Assassine konnte sehr gut auf sich alleine Acht geben und keine Frage, die Schreie waren ein gutes Stück entfernt – es dauerte eben, wenn man vorsichtig vorging.
Auf einmal veränderten sich die Hilferufe des Priesters zu markerschütternden Schmerzens- und Entsetzensschreien. Großmeister Valerian handelte sofort, schnappte sich seine Silberklinge und stürmte aus der Hütte – wir hinterher.
(Notiz an mich: Der Bannkreis wirkt tatsächlich nur in eine Richtung, denn beim Verlassen der Hütte erfolgte das Alarmsignal nicht.)
Wir fanden Benedarius auf einen Altarstein gefesselt vor. Einer der Bewohner hatte bereits mit einer Sichel angefangen ihn langsam die Haut vom Leibe zu schneiden. Wie ich vermutet hatte, war der Waldschrat bereits anwesend, um sein Opfer entgegenzunehmen.
Während Großmeister Valerian, Vladim und Nella losrannten um die Priester zu retten, sollten Jiri und ich nach den Totems (zehn an der Zahl) suchen, deren möglicher Standort am Mittag zuvor durch Valerian in Erfahrung gebracht worden waren. Leshen ziehen den Großteil ihrer Macht aus diesen Totems und er kann nur final vernichtet werden, wenn eben jene vernichtet oder entweiht werden.
Das nächste Totem, an das ich mich erinnern konnte, musste auf der anderen Seite des Altars zu finden sein, weshalb ich mich dazu entschloss, meinem Meister in den Kampf zu folgen, der inzwischen in Richtung Priester losgerannt war.
Während die Dorfbewohner nur mit Messern und Dolchen bewaffnet uns entgegentraten und somit keine wirkliche Gefahr darstellten, entbrannte ein fürchterlicher Kampf mit dem riesigen Leshen.
Mir wird wohl keiner glauben, dass ich einen Wuchtschlag des Waldschrats mit der Klinge blocken konnte, mich anschließend mit meinen Schenkeln an dessen Hals klammern konnte und letztlich auf ihm geritten bin … aber das ist letztendlich auch egal. Während Jiri drei der Totems zerstörte und den Leshen dadurch schwächte, setzten wir anderen dem Monster gemeinsam ein Ende.
Warum Benedrius während seiner Rettung ein Bein verlor und Nella es nachwachsen lies … wie wir den Dorfbewohnern versucht haben im Anschluss an die Ereignisse zu erklären, was passiert war … und wie sie auf ihre vermeintliche Rettung reagiert haben und warum mich Nellas Feuerbälle unangenehmer Weise an die Schlacht von Sodden erinnerten… ist ein andere Geschichte.
Blut so Rot wie Wein
Blut so Rot wie Wein
Metagame von Cathleen, Yannic und Peter
Gabhan war wie erstarrt, sah aus dem Augenwinkel noch ein Gesicht an der Luke verschwinden. Geradezu unkontrolliert presste er seinen Arm nach vorne, als wolle er einem unsichtbaren Gegenüber einen Faustschlag direkt durch dessen Gesicht verpassen. Mit einem lauten Knallen und Bersten bog sich das Dach nach außen durch, Holz splitterte und Staub rieselte von der Decke. Den Schrei nahm Gabhan mit weniger Genugtuung entgegen als er gerne täte. Er sprang behände aus dem Zuber und rannte zu Atheris, fühlte nach dessen Puls. Langsam, aber gleichmäßig. Noch. Die Wärme des Wassers förderte die Durchblutung. Ein leises Plätschern. Wasser drang aus feinen Rissen und um den Ort, aus dem die Bolzenspitze stach.
Ein Arzt? Nein. In dieser unwirtlichen Gegend hätten sie Glück, wenn sie einen Pferdemetzger zu fassen bekämen und selbst der wäre zu spät gewesen. „Reynek!“ Gabhan fauchte den Schützen an, der zwar ebenfalls leicht rötlich um die Nase geworden war, den der Schock jedoch augenblicklich ausgenüchtert hatte. „Schnapp dir die Kleine und bring sie nach Wyzima. Wenn du kannst finde raus wer das war!“ blaffte er. „Keine Widerworte. Nicht jetzt. Und jetzt lauf! Ich krieg Atheris schon wieder hin! LAUF!“ der Schütze nickte, stolperte rückwärts und nahm seine Kleidung mit. Gabhan gab ihm gute Hoffnungen mit auf den Weg, behielt jedoch ein wenig für sich – nicht zuletzt jene Hoffnung, dass er nicht zu viel versprochen hatte. Versprechen mussten eingehalten werden. Oh bei allem was heilig war – dieses eine Mal musste die Vorsehung einfach zulassen, dass er ein Versprechen auch halten konnte.
Er warf nur noch einen letzten Blick auf die Wunde. Er konnte den Bolzen nicht ziehen. Und er konnte den Zuber genauso wenig mitnehmen. Gabhan fluchte, ehe er am gegenüberliegenden Rund des Zubers mit einem kräftigen Tritt eine der Planken zerbrach, dass das Wasser nur so hervorschoss. Er konnte keinen Gegendruck gebrauchen. „Hoffentlich überlebst du das Großer…“ fluchte der Bärenhexer und nahm sein Schwert zur Hand. Ein paar Narben würde er vertragen. Vertragen müssen. Die Alternative war, dass sein Körper keine Möglichkeit mehr haben würde Narbengewebe zu bilden. Dann schlug Gabhan zu. Holz krachte. Holz splitterte. Blut spritzte ihm ins Gesicht. Jedoch nicht so viel, wie er zuvor noch befürchtet hatte. Atheris drohte nach unten zu rutschen, nun wo der Schaft nicht mehr mit jenem Stück verbunden war, das aus dem Holz ragte. Gabhan war schnell zur Hand, fing den Freund auf. Blut. Überall war Blut. Der Geruch stieg ihm in die Nase, beflügelte sein Adrenalin, vertrieb jeden Rest von weißer Möwe aus seinem Geist. Er hielt Atheris in einer aufrechten Position, eilte zu dessen Sachen und fischte aus dem kleinen nahen Kästchen die Flasche mit der Aufschrift „Schwalbe“, entkorkte sie und kippte sie über die Wunde. Nicht so gut wie eine orale Einnahme, aber zum jetzigen Zeitpunkt konnte Atheris daran genauso gut ersticken. Kein Risiko. Der Herzschlag blieb regelmäßig, wurde aber langsamer. Wenn er den Bolzen ziehen würde? Nein. Furchtbare Idee. Ganz grässlich.
Gabhan schwang sich seinen eigenen Gambeson um, der außer der Bruche nicht viel verbarg und griff seinen Gürtel, an dem der schwere Schlüsselbund klimperte. Er hatte sich geschworen ihn nicht mehr einzusetzen. Nicht mehr bis er Genaueres wusste. Erneut ein Versprechen, das er brechen musste. Er rannte zu der Tür, durch die Reynek eben noch verschwunden war und die hinaus ins Treppenhaus führte und steckte den Schlüssel in das Schlüsselloch, drehte ihn zweimal. Sein Medaillon ruckte und er öffnete die Tür. Doch dahinter war kein Treppenhaus. Zu sehen war ein großer Raum mit hohen Stützbalken, eingestaubt. Verlassen. Geisterhaftes Licht schien durch zwei Fenster hinein, durch die man nicht hinausblicken konnte. Zettel lagen überall. Notizen. Aufzeichnungen. Gabhan warf behände alles was sie besaßen hinein, eilte zu Atheris und nahm ihn mit beiden Armen hoch. Verdammt war der andere schwer….
Er warf ihm kein Handtuch mehr über, ehe er in den großen Raum trat. In die Taverne. Für solche Kleinigkeiten hatten sie keine Zeit. Er legte Atheris auf dem Tisch in der Mitte ab, eilte zur Tür und schloss sie. Jeglicher Lärm von außen verstummte augenblicklich. Gabhans Stirn lehnte an der kalten Tür. „Bitte…“ flüsterte er leise. „Nur dieses eine Mal. Hilf mir nur dieses eine Mal. Ich brauche Hilfe. Einen Heiler. Bitte du verdammtes Stück Holz…“ er holte tief Luft.
Grazyna von Strept hatte sich ein wenig Auszeit verdient. Die letzten Wochen waren auf vielerlei Arten anstrengend gewesen. Und es hatte schon immer eine narrensichere Methode gegeben um Anstrengungen und Angespanntheit hinter sich zu lassen – Einkäufe waren eine dieser Methoden. Sie hatte sich den Tag in Beauclair vertrieben, hatte neue Garderobe gekauft und sich für den Abend wieder zurück auf den Weg nach Hause gemacht. Nichts. Gar nichts hätte sie auf das vorbereiten können, was dann geschah.
Die Zauberin passierte gerade ein kleines Bauernhaus. Eine jener winzigen Stübchen, die zwar an keinem Ort der Welt von überragender Schönheit waren, jedoch in Toussaint – wie fast alles – einen pittoresken Charme ihr Eigen nennen konnten. Oftmals saßen die Bauern abends vor solchen Häuslein und rupften Gänse oder tranken Traubenmost. Doch nicht vor diesem Haus. Es zischte – ein grelles Licht blitzte unter seiner Tür hervor, welche keinen Augenblick später aufgerissen wurde. Heraus stolperte – nur mit Bruche und Gambeson bekleidet, blutig und durchnässt, ein ihr bekannter Hexer.
Gabhan stockte, wandte sich kurz zu dem Haus und formte ein Stummes „Ernsthaft?“, doch er hatte keine Zeit sich Gedanken zu machen. „Wir brauchen Hilfe!“ rief er und machte einen Schritt nach vorne. „Und scheinbar bist du das Einzige, was die verdammte Vorbestimmung oder was auch immer unter Hilfe verstanden hat!“
Einen kurzen Moment – länger als es unbedingt notwendig gewesen wäre angesichts der Hektik, die Gabhan zeigte – wanderten Grazynas Augen über seine Erscheinung und nahmen sowohl die schnell hebende Brust wahr, wie auch die Nüstern, die sich wie bei einem Wildpferd aufblähten. An seinen Händen klebte Blut, das nicht von ihm selbst zu kommen schien, so rosa wie es war, die schlecht versorgte Wunde an seinem Oberschenkel fiel ihr ins Auge, aber darum schien es nicht zu gehen.
„Ich freue mich auch dich wiederzusehen, Gabhan“, hob sie schließlich die Stimme und trat den Schritt nach vorn, den anderen mit einer Hand am Oberarm greifend, um ihn ein paar Schritt von der Straße zu entfernen, an der sie zuvor so offensichtlich für Aufsehen gesorgt hatten „und dir erneut helfen zu dürfen. Gerade, als ich dachte, mein Tag könnte nicht schöner werden“, schob sie nach und rang sich nur kurz ein Lächeln ab, das ihre Augen nicht erreichen wollte und das von einem missgünstigen Schnauben begleitet wurde. Sie mochte den Hexer nicht, mit dem sie bislang noch kein Gespräch hatte führen können, das nicht von seinen schneidenden Kommentaren und dem bissigen Spott begleitet worden war, von dem er auch jetzt zu glauben schien, dass er witzig wäre. Sie hatte aufgegeben sich die Mühe zu machen ihn darauf hinzuweisen, dass sie seine Worte zumeist für geistlosen Unsinn hielt.
Mit der freien Hand griff sie in das Nichts hinein und zog nur wenige Augenblicke später eine ledernde Tasche mit einem cintrischen Wappen wieder aus dem Nichts hervor, aus dem ein Stück weißer Stoff mit feiner Borte ragte. Grazyna kommentierte ihr Tun nicht, zog stattdessen Gabhan lediglich mit der anderen Hand hin zu der Tür, durch die der Hexer soeben gebrochen war und schloss sie hinter ihnen beiden wieder, um die neugierigen Blicke auszusperren. Der Raum, in dem sie jetzt stand, war definitiv kein Bauernhaus mehr – Staub lag auf dem Boden und es roch widerwärtig nach alten Öllampen, billigem Alkohol, Schweiß und Fell. Es roch … nach Gabhan.
„Ich wusste nicht, dass du …“, hob sie erneut die Stimme als sie die ersten Schritte in den Raum setzte und sich noch einmal umsah, dann blieben ihre Augen an der Gestalt hängen, die Gabhan auf den Tisch gewuchtet hatte und ihr Herz setzte einige schmerzhafte Schläge aus. Das konnte nicht … sie spürte den Schauder, der sich auf ihren Armen ausbreitete, das flaue Gefühl in ihrem eigenen Magen. Ihr Verstand realisierte den Bolzen in seiner Brust und ließ sie handeln, noch bevor die Erkenntnis sie vollends eingenommen hatte.
„Frisches Wasser, Gabhan!“, wies sie den Hexer schroff über die Schulter an und war mit einigen wenigen Schritten bei dem Tisch. Zitternd streckte sie die Hand nach der vertrauten Gestalt aus, die dort lag und deren geschlossene Lider flatterten. „Was machst du nur …?“, flüsterte sie heiser, die eigene Stimme kaum mehr findend.
Gabhans Nackenhaare stellten sich auf, als ihm jenes leichte Zittern in Grazynas Stimme auffiel, welches von etwas kündete, das Gabhan weder fassen noch beschreiben konnte. Jenes seltsame Gefühl, das sich in der Magengegend ausbreitete und wie warme Flüssigkeit den Körper durchströmte.
Doch er konnte nicht mehr weiter darüber nachdenken. Konnte nicht darüber nachdenken, was Grazyna nicht über ihn gewusst hatte und das sie doch nicht mehr ausgesprochen hatte. Wasser. Sie wollte Wasser. Wie in Deibels Namen sollte er hier frisches Wasser bekommen? Er rannte hinter die wackelige Ablage, die einst eine Theke gewesen sein mochte und traute seinen Augen kaum, als dort eine noch glänzende Karaffe mit Wasser stand. Er brachte diese zu Grazyna und stellte sie neben sie. „Angriff in einem Gasthaus nahe Wyzima. Er hat gebadet – das Wasser war sehr heiß. Der Bolzen traf ihn von schräg links oben. Haben wohl auf sein Herz gezielt, aber der Winkel war ungünstig…“ erklärte Gabhan ruhig, aber schnell. „Ich habe den Bolzen zwischen Rücken und Zuber Rückwand durchtrennt. Hat einen leichten Ruck gegeben, aber ich bin zuversichtlich, dass keine inneren Organe getroffen wurden. Habe eine Schwalbe über die Wunde gekippt. Du musst mit der Vergiftung vorsichtig sein,“ schloss er seinen Report.
„Idiot“, schalt Grazyna ihn schroff und schüttelte den Kopf, die Hände nur kurz zu den langen, schwarzen Haaren hebend, um sie liederlich zusammen zu fassen und im Nacken festzustecken. Sie konnte es nicht gebrauchen, dass sie ihr jetzt ins Gesicht hingen. Nicht hier und vor allem nicht jetzt. „Ich werde deine Hilfe brauchen“, teilte die Zauberin mit und öffnete mit einigen schnellen Bewegungen den Verschluss an der Tasche, zerrte die Schürze hervor und band sie um. Sie suchte in den Bewegungen, die so routiniert waren eine Möglichkeit ihr eigenes hämmerndes Herz zu beruhigen, sich eine Option zu verschaffen, wie sie der Angst und der Sorge keinen Raum geben konnte, die sonst von ihr Besitz ergriffen hätte.
Für einen ganz kurzen Moment war sie wieder in Sodden – zurück in dem Dreck auf dem Schlachtfeld, aus dem sie bereits schon einmal einen Soldaten hervorgezogen hatte. Kopfschüttelnd drängte sie die alte Erinnerung fort, zog eine Tasche hervor und als sie sie entrollte gab sie saubereres Heilerbesteck frei. Wenig später folgte eine zweite Tasche mit kleinen Nadeln.
„Ein einziges Mal, Gabhan“, hob sie die Stimme als sie einen der Wundhaken aus der Tasche zog und ihn an die Wunde anlegte. „Keine Fragen und keine geistreichen Kommentare. Spar sie dir für später auf – ich kann sie nicht gebrauchen“, schob sie nach ehe der zweite Haken an der anderen Seite der Wunde folgte. „Halt die Haken fest und zieh sie auseinander. Nicht so stark! Nur ein Stück!“ Sie musste an den Bolzen kommen, der noch immer in der Haut steckte, musste ihn freipräparieren, um sich um die Wunde kümmern zu können. Und das Blut floss – rot wie Wein!
Die letzten Stunden waren quälend langsam vergangen bis der Bolzen klappernd auf dem Boden aufkam und dort ein Stück unter den Tisch rollte. Hektik war eingekehrt während Grazyna immer wieder Gabhan aufforderte die Wunde zu spülen, in der sie arbeitete. Der Bärenhexer hatte nicht einen Ton verlauten lassen und sie war ihm dafür dankbarer, als sie es ihn jemals hätte wissen lassen. Fein säuberlich hatte sie mit einer kleinen Pinzette die winzigen Holzsplitter aus dem Fleisch gezogen bevor sie die einzelnen Hautschichten wieder miteinander vernäht hatte.
Keine Narben … Grazyna erinnerte sich noch gut an seine Angst davor, die Narben könnten ihn hässlich machen und nur für einen einzigen Moment huschte der Anflug eines weicheren Lächeln über ihre Züge. Sie würde auch jetzt dafür sorgen, dass daraus keine Narbe werden würde, die ihn zeichnete. Sacht glitten ihre Finger über die vernähte Wunde, strichen über Wundränder während leise Worte die Lippen der Zauberin verließen – Licht glitt aus den Fingern hervor, hüllten die ausgefransten Wundränder ein und ließen sie sich endgültig wieder schließen. Muskel um Muskel fügte sich wieder aneinander während Grazynas Finger vor Anstrengung zu zittern begonnen hatten – sie spürte die Müdigkeit, die von ihr Besitz ergriffen hatte und welche die Magie jetzt nährte, auf die sie zurückgriff.
Als sie einen wankenden Schritt zurücksetzte – Stunden, nachdem sie den Ort betreten hatte und lange nachdem die Dunkelheit die Straßen leergefegt hatte – erlaubte sie es sich zum ersten Mal tief durchzuatmen, den Blick noch immer auf den Ort gerichtet, an dem einst ein Bolzen tief in der Haut gesessen hatte und wo jetzt kaum mehr als ein schwarzblauer Fleck zu erkennen war. „Er darf sich nicht viel bewegen, wenn er aufwacht. Zumindest nicht die nächsten zwei oder drei Tage.“
Heimat
Atheris öffnete seine schlangenhaften Augen und betrachtete eine Zeit lang das Bildnis, mit dem ein begabter Künstler die Decke verziert hatte und das wohl ziemlich kostspielig gewesen sein durfte. Es zeigte auf künstlerische Art und Weise den Herstellungsprozess seines Lieblingsgetränkes – Wein … es gefiel ihm. Aber was machte er hier eigentlich? Er setzte sich auf und griff sich an die Brust – kein Bolzen … nicht Mal eine Narbe war zusehen, lediglich ein kleiner Bluterguss, der bei Berührung ein wenig schmerzte, verriet ihm, dass er nicht träumte oder tot war. Er schaute sich weiter um, auch der Rest des Zimmers war mit kostbarem Dekor geschmückt und gehörte vermutlich einer wohlhabenden Dame. Das warme Licht der Morgensonne fiel durch drei große Fenster. Atheris stand auf und blickte an sich herab. Er war in ein feines, schneeweißes Nachthemd gekleidet. Obwohl es nicht seines war – es nicht sein konnte -passte es ihm wie angegossen. Etwas wackelig auf den Beinen schritt er zu einer leicht geöffneten Tür die nach draußen zu führen schien. Das Licht blendete seine empfindlichen Augen und er musste niesen. Als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte fand er sich auf einen großen Balkon wieder. Auf einem kleinen runden Tisch, an dem zwei gemütlich wirkende Sessel standen, stand eine Flasche ‚Est Est‘ – der beste Wein, den Atheris kannte. Zwei kristallene Weinkelche standen bereits neben der Flasche – gefüllt. Die Sonne küsste den Horizont und ein letztes Mal flammte die Sonne auf über den Weinbergen und über der Kulisse von Beauclair – er war zu Hause oder doch im Totenreich?
Das leichte Knarzen des Fußbodens verriet ihm, dass jemand das Zimmer betreten hatte und sich ihm näherte. Seine feine Nase erkannte den Duft des Parfüms sofort – er hatte es seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr wahrgenommen. Er brauchte sich nicht umzudrehen, er wusste wer es war noch bevor sie an seine Seite trat – so wie früher. „Ich verdanke dir mein Leben – schon wieder!“ begrüßte er sie lächelnd und fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit geborgen.
Es war so unendlich viele Jahre her, dass sie die vertraute Stimme zuletzt gehört hatte und noch immer brachte sie Etwas in ihr zum Klingen – Dinge, die sie vor so vielen Jahren vergraben hatte, damit sie nicht mehr länger schmerzten. Sie war immer wieder aufs Neue daran gescheitert zu vergessen, denn jede einzelne Erinnerung schmerzte noch wie eine nicht verheilende Narbe auf der Haut. Die leisen Worte sorgten dafür, dass sie nicht mehr wusste, was sie denken sollte während sie, gefangen in einer Mischung aus Wut und Erleichterung, mit sich selbst rang und schließlich war es eine einzige leise Frage, die sich über ihre Lippen schälte.
„Wo warst du…?“, flüsterte sie und wandte den Blick zu der hochgewachsenen Gestalt hinüber, das Gesicht musternd, das sich über all die Jahre kaum verändert hatte. Es war ein wenig härter geworden, sie sah die Last von Erinnerungen in den Schlangenaugen – die ihm seinen Namen gegeben hatten – und die sie nun ein wenig trüber zeichneten. Aus einem plötzlichen Impuls heraus setzte sie den Schritt nach vorn, näher auf ihn zu und schob die Arme um ihn. Sie musste wissen, dass er hier war – dass es mehr war als ein dummer Traum, aus dem sie in einigen Momenten wieder erwachen würde.
„Ich…“ erneut die leise zitternde Stimme, und erneut huschten die Worte wirr über ihre Lippen während sie immer wieder mit sich kämpfte, um nicht dem Brennen der Tränen in den eigenen Augen nachzugeben. „… dachte, du wärst tot. Niemand wusste, was mit dir nach Brenna passiert war. Niemand konnte mir etwas sagen“, setzte sie an und schüttelte den Kopf. „Ich habe dich gesucht … und nie gefunden … Toussaint war die letzte Möglichkeit und jetzt stehst du hier. Am Leben. Wo warst du?“
Atheris hielt sie in den Armen, fühlte sich glücklich, wollte sie küssen … aber er ließ es nicht zu. Welches Recht hatte er, sie erneut zu verletzen? Nach all den Jahren, die sie sich nicht gesehen hatten, geschweige denn vom Schicksaal des andern gewusst hatten! Er wollte auf keinen Fall ihre Gefühle durch eine unüberlegte, emotionale Handlung verletzen. Es fiel ihm unendlich schwer den Moment zu ertragen … aber es musste sein! Nach einer gefühlten Ewigkeit antwortete er schließlich. „Wo ich war? … Das ist eine lange Geschichte, Grazyna!“ seufzte Atheris traurig. Grazyna musste bemerkt haben, dass er anfing zu schwanken und geleitete ihn zu einem der Sessel. Nachdem sie es sich ebenfalls bequem gemacht hatte, fing er an, die Ereignisse seit der verhängnisvollen Schlacht von Brenna zu berichten. Die Flucht vom Schlachtfeld durch die Sümpfe bis zur Yaruga … die Zeit, die er in Toussaint verbracht hatte, die erfolglosen Reisen die er unternommen hatte um sie zu finden. Die Befehle und Aufträge der kaiserlichen Armee, die ihn quer durch das Kaiserreich geführt hatten und letztendlich der dritte Feldzug gegen die nördlichen Königreiche. Vom Missgeschick in der alten Elfenruine und dem Portal, das ihn über Umwege zu Valerian, den Großmeister der Greifenhexer geführt hatte. Der Mittag brach bereits an als er schließlich die Ereignissen der letzten Monate schilderte. Aus ihren Reaktionen schloss er, dass sie offensichtlich bereits zuvor Bekanntschaft mit Gabhan gemacht haben musste. „So viel zu mir… wie ich sehe ist es dir nicht schlecht ergangen, erzähl, was ist deine Geschichte?“
Wortlos hatte sie zugehört und die Geschichte, die sie gehört hatte still aufgenommen. Der erste Schluck aus dem Weinglas brannte noch in der aufgerauten Kehle, die sie jetzt ihr Eigen nannte, dann wurde es leichter – der Alkohol betäubte und half ihr dabei, sich selbst wieder unter Kontrolle zu bringen. Einen Stein in ihrem Magen konnte er nicht betäuben – sie hatten einander gesucht, hatten sich niemals finden können und nur eine einzige leise Stimme in Grazynas Inneren begann zu sprechen – was, wenn jemand es so gewollt hatte? Was, wenn das alles ein Plan gewesen war? Kopfschüttelnd trieb sie die Stimme wieder zurück dorthin, woher sie gekommen war und fasste sich wieder ehe ein weitaus weicheres Lächeln ihre Züge erhellte.
„Ich habe schon einige Geschichte von deinem Valerian gehört“, merkte sie an und lehnte sich ein Stück auf dem Stuhl zurück, auf dem sie zuvor Platz genommen hatte. „Du warst ziemlich umtriebig während der letzten Jahren.“ Beinahe hatte sie es vergessen, dass er nun ein Hexer war und dass die Monster nicht vor Landesgrenzen Halt machten, denen er jetzt nachzujagen schien.
„Sie haben mich nach Brenna nicht mehr gehen lassen“, begann sie schließlich zu erzählen und schloss für einen Moment die Augen, bevor sie fortfuhr. Darüber, dass die letzten Jahre ein stetes Auf und Ab in der Politik des Kaiserreichs gewesen war …, dass es einer ihre Aufträge gewesen war, den Weinschenk des Kaisers im Auge zu behalten und wie knapp es wieder und wieder gewesen war nicht als Zauberin enttarnt zu werden. Über den Besuch in Novigrad, weil es dort Gerüchte gab, man habe einen verletzten Hexer gefunden, der sich am Ende doch nur als Gabhan herausgestellt hatte. Den ständig betrunkenen Heiler namens Ludwig, der sie verborgen hatte, um nicht dem Norden in die Hände zu fallen und der ihr hinterher gereist war aber ihn rechtzeitig genug losgeworden war, bevor sie in die neue Anstellung bei der Familie Groll gewechselt war.
„Was Gabhan angeht…“, nahm sie den Faden wieder auf und schlug die Augenlider nieder. „Ich wusste nicht, was er von mir wollte, als er vor mir stand, aber ich hatte auch wenig Möglichkeit seine Bitte abzulehnen. Als ich ihn in Novigrad versorgt habe, war er zwei Tage später verschwunden – gemeinsam mit einem Brief, den er mir gestohlen hat. Seitdem … droht er mir mich auszuliefern.“ Langsam erhob sich die Zauberin wieder von ihrem Platz und trat ins Innere ihrer Räume, Atheris nur kurz bittend zu warten während sie zu einem kleinen Schränkchen trat und eine kleine Flasche hervorzog, mit der sie zu ihm zurückkehrte.
„Das habe ich ihm abgenommen. Es ist ein Gift, das auf Hexer angepasst wurde. Es … ist bei dir besser aufgehoben als bei mir. Das Fläschchen war bislang meine Garantie dafür, dass er den Brief nicht einfach abgibt und mich ausliefert.“
Atheris nahm das kleine Fläschchen in die Hand und betrachtete es. Mit einem Gift speziell gegen Vatt’ghern hatte er persönlich vor zwei Jahren unliebsame Bekanntschaft gemacht. Zu jener Zeit wurde die inzwischen vernichtete Greifenfestung Kaer Iwhaell von einer redanischen Armee belagert und deren Attentäter hatten eben jenes Gift gegen ihn und seine Zunftbrüder verwendet. Das geheime Rezept für das Gift hatten die feindlichen Spitzel damals aus der Bibliothek der Greifenhexerschule entwendet. Eine der zurück erbeuteten Proben hatten sie einem verbündeten Hexer namens Lado überlassen … dies schien eben jene Probe zu sein, zumindest meinte Atheris die Zeichen auf dem Fläschchen wiederzuerkennen. „Was steht denn in dem Brief drin den Gabhan dir entwendet hat, Grazyna?“
„Es ist der Brief einer alten Freundin, die inzwischen tot ist“, offenbarte die Angesprochene und griff erneut nach ihrem Weinglas, um daraus einen Schluck zu nehmen. Ihr war durchaus der Ausdruck auf seinem Gesicht aufgefallen, der davon sprach, dass er sehr genau wusste, was er dort in den Händen hielt, aber danach würde sie später fragen. Wenn sie Atheris über den Brief aufgeklärt hatte.
„Du weißt, wie gefährlich die Lage für uns Zauberer ist. Sie bot mir damals eine Lösung an, bot mir an mich mit Gleichgesinnten zu treffen und eine bessere Option für uns Zauberinnen zu erschließen. Ich habe ihr nie geantwortet, aber den Brief dummerweise aufgehoben. Ich kann dir nicht sagen, weshalb, vielleicht um noch eine Option zu haben, sollte alles schief gehen. Jetzt hat ihn Gabhan und wenn man mich mit der Loge der Magierinnen in Verbindung bringt, dann wird mich nichts mehr vor dem Zorn des Kaisers schützen können.“
„Ich verstehe. Ich werde Gabhan bitten, den Brief zu vernichten.“ antwortete Atheris und überlegte für einen kurzen Moment, wie er das anstellen sollte, wandte sich dann aber wieder Grazyna zu. „Weißt du, wo er sich gerade rumtreibt?“
„Er hat eines der Gästezimmer bekommen. Rechts – nur zwei Türen weiter. Wahrscheinlich wird er sich dort ausruhen, nachdem ich ihm Bettruhe wegen der Oberschenkelwunde verordnet habe“, lautete die leise Antwort, dann seufzte sie noch einmal und verzog das Gesicht. Sie wollte nicht, dass er sie für eine Verräterin am Kaiserreich hielt, sie jetzt anders sah als noch vor dieser Offenbarung, aber es war ihr genauso falsch vorgekommen ihn anzulügen. „Tu mir nur bitte den Gefallen und bewege dich nicht zu viel. Du magst dort keine Wunde mehr auf deiner Brust sehen, aber dein Körper braucht Ruhe“, bat sie schließlich und nickte dann langsam.
Weib, Wein und Waffengefährten
Das Licht der Mittagssonne fiel durch die bunten Bleiglasfenster, welche die Strahlen brachen und bunte Farben und pittoreske Muster auf den Boden warfen. Ebenso pittoresk war auch der Rest des kleinen Anwesens – Zweifellos ein kleines Sommerhaus irgendeines Bekannten von Grazyna, denn das Anwesen war hübsch genug um irgendeinem reichen Fatzke aus der gehobenen toussaintiner Schicht zu gehören, aber wo immer sie auch waren – hier gab es keine Dienerschaft und auch sonst zeugte ein Großteil der Möbel und restlichen Einrichtungsgegenstände eher von einem solitären Rückzugsort als von einer Residenz.
Grazyna hatte sie hier einquartiert, nachdem sie das Bauernhaus verlassen hatte und Gabhan war sich sicher, dass die Zauberin den Umgang mit zwei Hexern so geheim wie möglich halten wollte. Kein Wunder, dass sie solch einen gottverlassenen Sommersitz ausgewählt hatte, den nun im aufkommenden Herbst niemand mehr bewohnen würde.
Gabhan hatte sich wie ein Tier im Käfig gefühlt, seitdem Grazyna ihm verboten hatte sich mehr als unbedingt notwendig zu bewegen. Er hatte gehört wie oft Grazyna immer wieder in Atheris Zimmer gegangen war – deutlich öfter als es notwendig gewesen wäre. Ihre ganze Art. Ihre Blicke. Irgendetwas war im Busch und Gabhan hatte das ungute Gefühl gegen einen Orkan gepisst zu haben. Als er schließlich nahende Schritte vernahm schlug er das Buch zu, welches er sich aus einem der Regale geborgt hatte und sah auf. „Atheris…“ stellte er erstaunt fest. „Zurück unter den Lebenden wie ich sehe. Bei der Vorsehung – diesmal war es verdammt knapp. Wie geht es dir“?
„Dank dir und Grazyna, bin ich am Leben!“ Atheris lächelte, als er Gabhan zum ersten Mal fein säuberlich gebadet und erholt erblickte. „Siehst gut aus, mein Freund! Wie ich sehe, hat Grazyna auch dich wieder einigermaßen hinbekommen…deine Beinwunde sieht gut aus!“ Mit etwas wackeligen Beinen trat Atheris in den Raum und setzte sich auf einen Stuhl, der in Gabhans Nähe stand. „Erzähl, was habe ich verpasst?“ fragte er seinen Zunftbruder, der noch am Fenster stand.
Gabhan hob die Augenbrauen und legte das Buch neben sich auf den Fenstersims, lehnte sich selbst gegen die hohe Mauer und unterdrückte ein Gähnen. „Wenig,“ war die ehrliche Antwort des Bärenhexers. „Wie du schon richtig angemerkt hast, habe ich dich aus deiner misslichen Lage gerettet. Wobei ich anmerken muss, dass nicht ich es war, dem du dein Leben verdankst. Du verdankst es der Frau Zauberin. Ebenso wie du ihr diese…“ er machte eine umfassende Handbewegung durch den Raum, „Ruhestätte verdankst.“
Gabhans raubtierhafte Augen musterten den anderen eingehend. „Und du verdankst ihr noch mehr. Zumindest hat es den Anschein. Aber der Schein trügt dieser Orts ja doch recht häufig. Erst recht dieser Zeit…“ der Bärenhexer fuhr langsam über den Einband des Buches mit dem Titel ‚Der geborene Jäger: Eine Studie über Garkins‘. „Also sag du mir, was habe ich verpasst?“
„Vieles hast du verpasst, Gabhan!“ Atheris musterte den Zunftbruder und fuhr dann fort. „Ich habe Grazyna vor vielen Jahren während der ersten nördlichen Kriege kennen gelernt. Sie war damals Heilerin in der kaiserlichen Armee und wir haben zeitweise in der gleichen Einheit gedient. Nach der Schlacht von Sodden, war sie es gewesen, die mich unter den Leichenbergen gefunden und mir das Leben gerettet hat. Wir haben bis zur Schlacht von Brenna viel Zeit miteinander verbracht und erst danach haben wir uns aus den Augen verloren. Bis jetzt zumindest! … Was ist deine Geschichte? Woher kennst du sie?“ fragte er Gabhan, der ihm interessiert zugehört hatte.
Gabhans Gesichtsausdruck verdüsterte sich mit jedem weiteren Wort das Atheris sprach und jeder Versuch sich diesen Klumpen aus Unbehagen, Schuldgefühlen und Abscheu der da in seinem Magen wuchs nicht anmerken zu lassen schlug gehörig fehl. Weshalb Gabhan Unbehagen und Schuldgefühle empfand wusste er nicht und wem die Abscheu galt, die da in ihm wuchs wagte er nicht zu sagen. Denn diese Erkenntnis wäre womöglich ein noch größerer Klumpen gewesen. Einer, an dem er ersticken könnte.
„Sie hat mich in Novigrad aufgelesen,“ seine Stimme war heiser, halb erstickt. „Vor etwa einem halben Jahr. Etwas mehr. Seitdem sind wir uns noch zweimal begegnet. Einmal auf Skellige, einmal in Bogenwald. Nun das dritte Mal. Glaube mir Atheris, ich habe sie nicht willentlich gesucht. Dass sie es war, zu der uns die…, dass sie es war, die wir gefunden haben war…“ Schicksal? Vorherbestimmung? „Zufall.“
„Was ist los, Gabhan? Ich spüre, dass du nicht gut auf Grazyna zu sprechen bist … du ziehst eine Schnute, als ob du einen Waldschrat küssen müsstest … und ja, ich weiß von dem Brief und dem Hexer Gift … wir sind Freunde, kläre mich bitte auf!“ er machte eine kurze Pause und beobachtete den Bärenhexer der sichtlich mit sich selber am Ringen war, dann fügte er noch hinzu, “ ich will nicht unwissentlich zwischen euren Fronten stehen!“.
„Zwischen unseren Fronten?“ echote Gabhan und schüttelte den Kopf. „Oh Atheris. Du stehst nicht zwischen den Fronten. Glaub mir – das wäre dir eindeutig aufgefallen. Du hättest es bemerkt, wenn du zwischen mir und irgendwas stehen würdest…“ er brach ab, schien sich in seinen eigenen Worten verheddert zu haben. Ein feines Gespinst aus Intonation, Vokalen und seiner eigenen, furchtbaren Persönlichkeit.
„Sie ist eine Zauberin!“ wagte er einen erneuten Versuch, als ob dieser Satz alleine wohl alles erklären könnte. Doch noch immer schien Atheris nicht einlenken zu wollen und Gabhan stieß sich von der Wand ab. „Oh Atheris, du hast wahrlich noch wenig von der Welt gesehen. Zauberer und Zauberinnen sind stets nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Ausnahmen so selten wie Schnee im Sommer. Nein unterbrich mich nicht! Du willst, dass ich rede? Dann lass mich reden. Eine der vielen weiteren Lektionen. Wohl mindestens so weitschweifig wie du es von Valerian gewöhnt bist und – hat man Töne? – diesmal sogar noch lehrreich!“ er zeigte ein verbittertes Lächeln.
„Erinnre dich zurück – an jedes Abenteuer, dass du je erlebt hast. An jeden Landstrich den du besucht hast. Für beinahe alle Probleme war früher oder später ein Zauberer verantwortlich, oder etwa nicht? Nein. Ich bin kein solcher Fanatiker wie die Ritter der Flammenrose oder sonst irgendeinem Mumpitz. Ich sag nicht, dass jeder Zauberer verbrannt gehört oder ähnlich Grässliches. Was ich aber sage ist dies: Habe stets zwei Augen auf Magier. Zu schnell überschätzen sie ihre Macht und stürzen die Welt ins Verderben. Bei allen Göttern Atheris, du bist ein Hexer. Gerade du solltest wissen was Zauberer Leuten wie uns schon angetan haben. Und noch anzutun gedenken!“ Gabhan, der durch den Raum getigert war, blieb mitten im Zimmer stehen.
„Sie hat mich vor Novigrad aufgelesen. Halbtot. Sie hat mich zusammengeflickt. Als ich wieder zu mir kam war mir klar was sie ist. Jemand wie sie tut nichts aus Barmherzigkeit. Mir war klar, dass sie irgendeinen Preis fordern würde, den zu zahlen ich nicht bereit wäre. Wer weiß, ob sie mir nicht schon Blut abgenommen hatte. Genug verloren hatte ich ja um es nicht zu merken. Und als ich da auf dem Tisch lag, wurde ich des Briefes gewahr. Eine Lebensversicherung. Oh Atheris, ich rate dir – habe immer eine Lebensversicherung. Denn das Leben ist zu Leuten wie dir und mir nicht gerecht. Wir müssen uns absichern, wenn wir den nächsten Morgen noch sehen wollen. Und stell dir vor Atheris – ich hatte recht. Du weißt von dem Gift? Nun – kaum dass wir uns das nächste Mal begegneten entwendete sie es mir. Ich hatte ihr niemals von dem Brief erzählt. Aber nachdem sie das Gift hatte musste ich es. Musste sie unter Druck setzen. Wer weiß was sonst geschehen wäre? Ein Gift das Hexer tötet. Hat man Töne? Ja ich erpresse sie – zum Wohle unserer Bruderschaft. Trau keinem Zauberer. Denn sie sind alt. Sie sind weise. Sie haben immer eine Möglichkeit die Oberhand zu behalten. Immer eine Lebensversicherung. Genau…“ er wurde in seinem Redeschwall langsamer. „Wie ich…“
„Ich verstehe deine Punkte, Gabhan – aber ich teile sie nicht!“ Atheris blickte seinen Freund an und fuhr fort „Ich hatte oft in meinem Leben mit Magiern zu tun gehabt. Mal waren es unangenehme Begegnungen wie bei der Schlacht von Sodden … mal waren es lehrreiche Begegnungen wie in Kaer Iwhaell mit Nella und Medwin … ich wurde öfters von Magiern gerettet, als ich zählen kann … gerade von Grazyna!“ er machte wieder eine kurze Pause, er spürte, wie ihn das Reden anstrengte. „Die Tatsache, dass jemand ein Zauberer ist oder nicht, macht ihn weder gut noch böse, es sind nach meinen Erfahrungen immer nur die Personen, die dahinterstecken … sieh hier!“ Atheris holte das Fläschchen mit dem Gift hervor und stellte es neben sich auf den Tisch. “ Ich wusste nicht einmal, dass sie das Gift hatte, aber sie hat es mir gegeben, sie will kein Druckmittel gegen einen von uns haben, sie ist eine Freundin!“ Atheris stand auf und bereute es sofort, denn seine Beine gaben nach, so dass Gabhan nach vorne stürzen musste um ihn vor dem Sturz zu bewahren. „Gabhan, spring über deinen Schatten und gib ihr den Brief zurück. Ich bürge für sie mit meiner Ehre!“ flüsterte er mit brüchiger Stimme.
„Wie scheiße nobel von dir!“ ätzte Gabhan und verfrachtete Atheris auf einen der Stühle. „Dummerweise kann ich mir von deiner Ehre nichts kaufen – und sie macht auch keinen von uns wieder lebendig, wenn sie das Gift repliziert hat, wovon ich ausgehen muss. Niemand wäre so dumm seinen einzigen Trumpf aus der Hand zu geben. Denk doch mal nach Atheris! Die Welt ist kein verdammtes Märchen und es gibt niemals – Niemals – ein glückliches Ende. Niemand von uns lebt glücklich bis an sein Lebensende. Wie kannst du all das durchlebt haben und noch immer so naiv sein?“ er schüttelte den Kopf, verzog das Gesicht.
Seine Worte brannten wie Säure auf seiner Zunge. „Sie hält dich zum Narren und mich gleich mit, wenn ich mich darauf einlasse. Woher wollen wir wissen, ob das da überhaupt das echte Gift ist? Gäbe ja nur einen verdammten Weg es rauszufinden, nicht wahr? Oh. Das würde ihr gefallen. Die Welt ist schlecht Atheris und jeder verdammte Versuch etwas Gutes in ihr zu bewirken sorgt nur dafür, dass du jemanden verletzt der dir wichtig ist. Jeder Versuch das ‚Gute‘ zu tun sorgt dafür, dass irgendjemand anders etwas verliert. Wir sind nicht die Helden in dieser Geschichte Atheris – und Grazyna von Strept ist es am aller wenigsten. Nenn mir einen Grund ihr zu trauen – nur einen einzigen“
„Weißt du, warum viele Nilfgaarder die schwarzweißen Rechtecke an ihrer Kleidung tragen? Es ist ein Bild der sichtbaren Welt, in die der Mensch als Teil hingestellt ist und in der sein Leben sich abspielt. So wie in dem Mosaik die hellen und dunkeln Rechtecke abwechseln, so ist auch in der Natur und im Menschenleben ein steter Wechsel von Licht und Finsternis, von Entstehen und Vergehen, von Freude und Schmerz, von Glück und Unglück, von Leben und Tod. Dadurch aber, dass dieses Mosaik eine vollkommene Regelmäßigkeit in ihrer Abwechslung von hellen und dunkeln Dreiecken zeigt, wird man daran erinnert, dass das irdische Dasein nicht als ein Spiel des blind waltenden Zufalls, sondern als etwas von ewigen Gesetzen in die Bahnen der Entwicklung zum Vollkommenen hin Geleitetes zu betrachten ist“ Atheris seufzte “ Ja, Gabhan. Ich glaube fest an das Gute in der Welt … wir sind selber durch unser Handeln dafür verantwortlich! Du brauchst einen Grund zu vertrauen? Warte hier einen Moment!“ Atheris erhob sich wieder auf seine wackeligen Beine und ging zurück in sein Zimmer. Nach einigen Augenblicken kehrte er wieder … mit einem Zettel in der Hand. Er nahm das Giftfläschchen wieder in die Hand und hob es leicht hoch „Schatten, Gabhan!“ dann drückte er dem Zunftbruder den Zettel in die Hand „und da ist das Licht!“. Bei der ersten Schlacht von Kaer Iwhaell wurde ich mit dem Teufelszeug vergiftet … und Dank des Rezeptes in deiner Hand, konnten wir ein Gegenmittel herstellen! Es stammt von einem Zauberer! Licht und Schatten mein Freund!“ Atheris setzte sich wieder auf seinen Stuhl. „Ich vertraue ihr mit meinem Leben, vertraust du mir?“
Gabhan besah sich den Zettel in seiner Hand, befühlte das abgegriffene Papier unter seinen Fingern. „Es ist nicht so einfach…“ erwiderte Gabhan leise und schüttelte den Kopf. „Es ist so viel mehr Grau in dieser Welt Atheris. Da ist kein diffuses Dunkel… keine höhere Macht. Kein Teufel…“ er ließ die Schultern sinken.
Wie konnte Atheris nur in solch einem blinden Eifer daran glauben, dass das Gute tatsächlich existierte? Es wollte einfach nicht in seinen Kopf. Aber hatte er dies nicht auch getan? Einst an das Gute geglaubt? Eine leise Stimme in Gabhans Inneren meldete sich. Regte sich. Da gab es Sie. Hatte Sie gegeben. Sie war fort. Hatte ihn ausgesperrt. Und mit ihr war auch das Gute aus dieser Welt entschwunden. Caillean.
„Atheris…“ erschien nach ihm greifen zu wollen, ihn festhalten. Schütteln. „Wenn du wüsstest was ich weiß. Gesehen hättest was ich gesehen habe. Wenn du getan hättest was ich getan habe…“ er schlug die Augen nieder. Schüttelte den Kopf. „Ja. Ich vertraue dir Atheris. Auch wenn ich glaube, dass du sehr naiv bist. Beneidenswert. Auf der einen Seite. Aber eine gefährliche Sache. Sehr gefährlich.“ Doch dann nickte er. „Wieso sie?“
Atheris sah, wie geknickt auf einmal Gabhan vor ihm stand – ein Häuflein Elend! „Gabhan, natürlich weiß ich nicht, was du alles gesehen und getan hast, aber wenn du möchtest, kannst du es mir erzählen! Ich verspreche dir, kein Urteil über dich zu brechen!“ Atheris atmete durch „Wieso Grazyna? Die Frage, kann ich nicht beantworten … Schicksaal … Vorsehung? Vielleicht ist es aber auch nur einfach Zufall gewesen, dass ich sie getroffen habe. Für mich sind die Taten entscheidend, Gabhan. Grazyna hat mir mehr als einmal das Leben gerettet, sie ist eine liebenswerte Frau, die wie wir ihren Platz in der Welt sucht und nach etwas Glück strebt. Die Frage müsste also lauten … Warum nicht sie?“
Kein Urteil über ihn brechen? Das wagte Gabhan doch arg zu bezweifeln. „Lass mal gut sein. Was geschehen ist, ist geschehen. Daran wird sich nichts mehr ändern lassen. Sagen wir einfach, dass es da ein paar Dinge gibt, auf die ich nicht gerade stolz bin.“
Eine liebenswerte Frau also. Jemand der ihren Platz in der Welt suchte. Die nach Glück strebte. Keine sehr ausführliche Beschreibung. Aber Atheris schien es zu genügen – und vielleicht hätte Gabhan froh sein sollen, dass sich der Greifenhexer mit so wenig zufriedengeben konnte. Denn sonst hätte er Gabhan wohl längst zum Teufel gejagt. Und das wohl sogar mit Recht. „Verfluchte Scheiße, das werde ich eines Tages so bereuen – und womöglich unsre ganze Zunft gleich mit…“ er trat zu seinem Gürtel, den er über einen der Hutständer in der Ecke geworfen hatte und öffnete die dortige Tasche. Zwei Briefe und eine silberne Eichel fielen heraus. Gabhan packte die Eichel fort, hob die beiden Briefe auf und blieb für einen kurzen Moment stehen, strich mit dem Daumen über den lädierten der beiden und schien für den Bruchteil eines Augenblicks in Überlegungen zu hängen, ehe er den Kopf schüttelte und den Brief wegpackte, sich mit dem zweiten an Atheris wandte und ihm diesen überreichte. „Ich habe ihr gesagt, ich hätte ihn in einer Zwergen Bank deponiert und wenn mir jemals was passieren würde, würde ihn ein Mittelsmann stantepede an den Geheimdienst der Schwarzen schicken. Hat mich gewundert, dass sie das geschluckt hat. Als ob ich das Geld für ein Schließfach bei der Bank hätte. Oder Leute die sowas für mich tun würden.“ Er sah, wie Atheris nach dem Brief greifen wollte, den er zwischen Zeige- und Mittelfinger hielt und zog ihn noch einmal kurz nach oben fort. „Lass mich das nicht bereuen. Ich will nicht ungemütlich werden. Ich meine es ernst Atheris. Dieses eine Mal will ich nicht zum äußersten getrieben werden. Ich vertrau dir. Und das fällt mir nicht leicht.“
Atheris nahm den Brief entgegen. „Danke, Gabhan! Du wirst es nicht bereuen!“ sagte er, als er sich erhob. „Ich werde mich wieder hinlegen, ich fühle mich noch immer schwach und ausgelaugt.“
Gabhan zeigte ein schmales Lächeln. „Ruhe dich aus Atheris. Das ist das Wichtigste. Du bist dem Tod nur knapp entronnen.“
Zufrieden mit dem Gesprächsverlauf erhob sich Atheris schwer und machte sich auf den Weg zurück in sein Zimmer. Auf dem Flur begegnete er Grazyna, die ihn wohl gerade gesucht hatte und die ihm sofort half, zurück ins Bett zu steigen, das inzwischen frisch bezogen war. Als er gut zugedeckt auf seinem Rücken lag, überreichte er Grazyna den Brief. „An deiner Stelle würde ich ihn sofort vernichten, Grazyna!“ lächelte er und schloss die Augen.
Wenn die Vergangenheit ruft
Gabhan wusste noch immer nicht, ob er nicht einen großen Fehler begangen hatte, indem er sein eigenes Druckmittel aus der Hand gab. In Wahrheit war er sich ziemlich sicher, dass er einen gewaltigen Fehler begangen hatte. Einen Fehler, der sich eines Tages womöglich noch an ihm rächen würde. Wieso hatte er Atheris in dieser einen Sache vertraut? Was hatte er sich davon erhofft? Gabhan wusste es nicht. Er hasste es. Hasste es Dinge nicht zu wissen und sie nicht einsortieren zu können.
Viel Zeit sich darüber Gedanken zu machen hatte er nicht. Allgemein schien ihm bereits seit vielen Wochen jegliche Zeit für eigenständige Gedanken in der ruhigen Einsamkeit die er zu schätzen gelernt hatte nicht mehr vergönnt zu sein. Auch diesmal klopfte es an der Tür, welche kurz darauf Atheris ausspie. Vielleicht war es besser so. Vielleicht waren seine eigenen, alleinigen Gedanken doch nicht so gesund für ihn. „Du siehst ausgeruht aus,“ kommentierte der Bärenhexer. „Voller Tatendrang, wenn ich so sagen darf. Ein Drang der wohl auch mich vordrängen wird, sehe ich das richtig? Aber wohin drängst du?“
„Ich habe noch eine Schuld zu begleichen, Gabhan! Außerdem ist das Herbstwetter schön und Ker’zaer könnte ein wenig Bewegung vertragen. Kommst du mit?“ antwortete Atheris auf die Frage seines Zunftbruders. Atheris war überglücklich gewesen, als er bemerkt hatte, dass sich Grazyna die Mühe gemacht hatte, seinen schwarzen Hengst nach Toussaint zu holen – auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie sie das bewerkstelligt hatte … war Grazyna inzwischen in der Lage, Portale zu erschaffen? Egal, zumindest Gabhan schien die Aussicht zu gefallen, das Anwesen nach all den Tagen zu verlassen … zumindest interpretierte er das Brummen von Gabhan als Zeichen der Freude.
Atheris fand Grazyna in eines ihrer Bücher vertieft am Schreibtisch ihres Zimmers sitzen. Die Aussicht auf einen Tapetenwechsel schien sie zu erfreuen, denn sie stimmte sofort zu ihn zu begleiten. Lediglich als sie erkannte, dass Gabhan ebenfalls mitkommen würde, huschte ein Schatten über ihr Antlitz. Gabhan und Grazyna schienen wirklich nicht gut miteinander auszukommen. Immer wieder gerieten die beiden wegen beiläufige Kommentare aneinander und er hatte immer wieder zwischen ihnen vermitteln müssen. Atheris hoffte, dass der gemeinsame Ausflug ihnen vielleicht helfen konnte, sich besser zu verstehen.
Ker’zaer begrüßte Atheris mit einem freudigen Wiehern, als er zusammen mit seinen beiden Begleitern die kleine Stallung hinter dem Haus betrat. Obwohl die Wunden verheilt waren, war er noch so geschwächt, dass er es nicht alleine schaffte, den Sattel auf den Rücken seines treuen Tieres zu hieven. Sein Zunftbruder musste es bemerkt haben, denn er eilte ihm sofort zur Seite. „Danke dir, Gabhan!“
Die Herbstsonne stand hoch am Firmament, als sie die Stadttore von Beauclair passierten. Die Hauptstadt von Toussaint, die auf den alten Ruinen einer Elfenstadt erbaut worden war lag idyllisch zwischen den Weinbergen. Über der Stadt thronte auf einem riesigen Felsen der Herzoginnenpalast, der mit seinen beiden kunstvollen weißen Türmen wie aus einem Märchen entsprungen wirkte.
Atheris betrachtete die ihm vertrauten Häuserfassaden, die sich in den letzten Jahren kaum verändert hatten. Die Straßen waren belebt, wie fast immer so kurz nach der Weinlese. Langsam schritten die Pferde über die gepflasterten Straßen, die ebenfalls ein Anzeichen des Reichtums der Stadt waren. Ihr Weg führte sie vorbei an den Häusern der reichen Kaufmänner und des Stadtadels. Sie überquerten den großen Platz, an dem das imposante Gebäude der Cianfanelli-Bank stand. Vorbei an dem Büro, das die Familie Groll hier betrieb und bei der auch Atheris eine kleine Summe deponiert hatte. Letztendlich führte ihr Weg sie durch ein altes Tor zu einem der Randbezirke. Die reichverzierten Häuser wichen einfacheren Gebäuden. Atheris beobachtete, wie die Kinder auf der Straße spielten und ihm freudig zuriefen – sie erkannten ihn wieder. An einem kleinen Platz, auf dessen Mitte sich ein kleiner überdachter Brunnen befand und Bauern an ihren Marktständen ihre Waren feilboten, zügelte Atheris sein Pferd und stieg vor einem zweistöckigen Haus ab. „Wir sind da!“ verkündete er seinen Begleitern.
Gabhan verzog das Gesicht – ganz offenbar kannte man Atheris hier und aus irgendeinem Grund schienen ihm die Menschen hier tatsächlich so etwas wie Freundlichkeit entgegen zu bringen. Gabhan verstand es nicht – verstand nicht, wieso es einen Ort gab, wo sie nicht fortgejagt wurden. Nein, berichtigte er sich – wo Atheris nicht fortgejagt wurde. Als sein Raubtierblick über die Männer und Frauen glitt sah er in ihrem Blick keine Freude. Keinen Gruß. Beinahe beruhigte es ihn. So kannte er es. Es rüttelte weniger an seinem Weltbild.
Gabhan sah auf zu dem großen zweistöckigen Haus mit dem süßen Giebeldach und den pittoresken Blümlein, die auf dem Holz aufgemalt waren. „Und wo ist da?“ fragte Gabhan leise und warf einen Blick zu Grazyna, mit der unausgesprochenen Frage im Blick, ob sie wusste was bei allen Göttern Atheris hier vorhatte.
„Zu Hause, Gabhan! Mein zu Hause!“ antwortete Atheris mit einem Lächeln. „Wartet hier bitte einen Moment.“, fügte er hinzu während er Ker’zaer an einem Zaun befestigte und dann zu der alten Holztür schritt. Drei Mal klopfte er laut an die Tür und wartete. Nach einer kurzen Zeit hörte Atheris Schritte aus dem Inneren des Hauses, die sich ihm näherten. Dann öffnete sich die Tür langsam und eine rüstige alte Dame blickte ihn an und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem warmen Lächeln, als sie Atheris erkannte. „Damien, begrüßte sie ihn und die zierliche Frau schloss den großen Hexer in ihre Arme. „Grazyna … Gabhan! Darf ich euch vorstellen … meine Mutter Amelie!“
„Ja leck mich am.…“ wo man ihn lecken sollte erfuhr niemand, denn Grazynas Ellenbogen stieß ihm in die Rippen und das fester als er der Magierin zugetraut hatte. „Es freut mich… eure Bekanntschaft zu machen,“ erwiderte Gabhan leise und verbeugte sich mit jener nilfgaarder Verbeugung, die man ihm vor Jahren beigebracht und die er selten für notwendig gehalten hatte. Eine Mutter. Nun, natürlich hatte Atheris eine Mutter – jeder hatte eine. Selbst Hexer hatten Eltern. Die meisten Hexer kannten ihre nur nicht. Gabhan hatte seinen Vater gekannt. Das war eine eigene Geschichte, aber Atheris kannte seine Mutter nicht nur, sie war auch noch am Leben und schien sich zu freuen ihn zu sehen. Gabhan konnte es nicht glauben und doch beschloss er höflich und freundlich zu einer Dame zu sein, die verflucht alt sein musste, auch wenn sie noch fit wirkte. Aber Gabhan brachte es nicht zusammen. Eine nette alte Dame, die ihr Kind weggegeben hatte. Kurz keimte Zorn in ihm auf, aber es war nicht sein Zorn. Er hatte kein Recht. Abwarten. Dieses eine Mal warf er Grazyna einen beinahe hilflosen Blick zu, denn er wusste wahrlich nicht wie man sich nun verhalten sollte.
Die alte Frau ihr gegenüber sah freundlich aus – da war ein warmer Ausdruck in ihrem Gesicht, ein Funken Stolz, der immer dann aufblitzte, wenn ihr Blick über ihren Sohn wanderte und Grazyna blieb nichts anderes übrig, als sich von diesem Lächeln anstecken zu lassen. Sie ertappte sich dabei, wie ihre eigenen Mundwinkel sich zu einem Lächeln verzogen als sie einen Schritt nach vorn setzte und sich ebenfalls sacht verneigte.
„Es freut mich unglaublich Eure Bekanntschaft zu machen“, hob sie die Stimme und nahm es Gabhan damit ab weitersprechen zu müssen, denn auch sein hilfloser Blick war ihr aufgefallen. „Wir haben so viel schon gehört. Euer Sohn hat bisher nur gut von Euch gesprochen – nach allem, was wir gehört haben, mussten wir Euch unbedingt kennen lernen. Ich hoffe, wir kommen nicht unpassend …?“
Das Unbehagen war Gabhan ins Gesicht geschrieben, was Atheris nicht weiter wunderte. Der Bärenhexer war alles andere als ein Familienmensch – das waren die meisten Hexer nicht. Grazyna hingegen schien nicht sonderlich überrascht zu sein, aber sie kannte auch viele Geschichten über ihn und seine Herkunft.
Gemeinsam traten sie in das bescheidene Heim. Amelie zeigte auf den Tisch, der in der Mitte des Raumes stand und an dem zwei Stühle und eine Bank standen. Nicht viel hatte sich in den letzten Jahren verändert. Während seine Mutter einen Kräutertee aufsetzte, entschuldigte er sich und stieg die schmale Treppe hinauf ins obere Geschoss. Alles lag noch dort, wo er es bei seinem letzten Besuch hinterlassen hatte. Sein Blick fiel auf den schwarzen Schild mit der goldenen Sonne des Kaiserreichs auf der Front, der an einem einfachen alten Bett lehnte. Er war ein Relikt aus seiner Vergangenheit, hatte ihm bei der Schlacht von Brenna gute Dienste geleistet und hatte ihn immer geschützt – war nie zerbrochen. Daneben auf einer kleinen Kommode ruhte sein alter Helm, die leeren Sehschlitze schienen seinen Bewegungen zu folgen als er sich der hinteren Wand näherte. Atheris öffnete das mehr oder weniger versteckte Fach und zog zwei kleine Säckchen mit Münzen hervor. Nachdem er die genaue Summe abgezählt hatte, machte er sich wieder auf den Weg zurück zu den anderen. Als er den Tisch erreichte, legte er lächelnd die Beutel auf den Tisch. „Damit sollte meine Schuld beglichen sein, Gabhan!“
Gabhan starrte auf den Beutel, den ihm Atheris hingeworfen hatte, als habe ihm der Freund gerade einen zerquetschten Igel vor die Nase geworfen. Langsam atmete Gabhan durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. „Das werde ich nicht annehmen Atheris,“ meinte Gabhan mit leiser, aber fester Stimme. Er würde es nicht annehmen. Niemals. Natürlich riet sein Verstand ihm es doch zu tun. Riet ihm, den Stolz und den Anstand herunter zu schlucken, der ihm noch nie etwas Gutes eingebracht hatte und das Geld zu nehmen, das er dringend gebrauchen konnte. Aber Anstand und Stolz konnte man nicht in Gold aufwiegen. Doch verkaufen konnte man sie und war dies einmal geschehen erhielt man sie nie wieder zurück.
„Ich habe nichts getan, was dieses Geld rechtfertigen würde also steck es ein, gib es deiner Frau Mama oder spende es, wenn du musst.“
Atheris nickte stumm, nahm die gefüllten Säckchen und ließ sie in einer großen Tasche verschwinden. Er hatte damit gerechnet, dass sein Zunftbruder das Geld nicht annehmen würde, aber die Ehre gebot es Atheris ihm die abgemachte Bezahlung zumindest anzubieten. Nachdem er sich gesetzt und einen Schluck von dem kräftigen Kräutertee genommen hatte, richtete er das Wort an seine Mutter. „Erzähl Mutter, wie geht es dir, was ist in meiner Abwesenheit passiert?“
Gabhan lehnte sich zurück und taxierte sowohl Atheris als auch die alte Frau. Noch immer wollte ihm nicht in den Kopf was hier gerade geschah. Sie saßen in der guten Stube einer alten Dame, die nach den Erzählungen des anderen dessen Mutter war und es rein vom Alter her mit Hängen und Würgen hätte sein können. Das war nicht richtig. Die Eltern aller noch existierender Hexer waren mittlerweile tot. Asche und Staub. Waren es oftmals schon gewesen ehe auch nur ein Mutagen in die Adern ihrer Sprösslinge gepumpt worden war. Ein Hexer konnte keine Familie haben. Das ging gegen alles. Es faszinierte ihn. Gabhan konnte nicht sagen warum oder weshalb, aber er lauschte. Er lauschte sehr angestrengt.
Amelie schenkte sich selber etwas von dem Tee ein, ließ sich in einen der Stühle sinken und fing an zu erzählen. Fast ihr ganzes Leben hatte sie im Dienste der Familie du Lac gestanden. Auch jetzt im hohen Alter verbrachte sie noch viel Zeit auf dem Anwesen und kümmerte sich vor allem um die jungen Sprösslinge der alten Adelsfamilie. Obwohl Atheris nur wenig mit seinen Halbgeschwistern zu tun gehabt hatte, war er betrübt, als er von seiner Mutter erfuhr, dass sein Halbbruder Ramon vor kurzem ein Opfer des sogenannten ‚Biests von Beauclair‘ geworden war. Die Wachen hatten ihn im Nachtgewandt in der Gosse mit durchbohrtem Herzen vorgefunden. Es war den Gerüchten zur Folge ein Vampir gewesen, der ihn getötet hatte – angeblich aus Rache für das was er der Schwester der Herzogin, einer Frau Namens Sylvia, angetan haben sollte. Sylvia … den Namen hatte Atheris noch nie zuvor im Rahmen der Herzogsfamilie gehört. Die Folgen für die Familie du Lac waren gravierend. Während Sie trauerten, gelangten die schweren Vorwürfe an die Öffentlichkeit. Angeblich sollten Ramon und seine Begleiter die Schwester schwer misshandelt haben, als er sie vor vielen Jahren ins Exil geleiten sollte – wenig ritterlich für einen Adligen aus Toussaint. Atheris bemerkte wie emotional seine Mutter wurde, als sie anfing zu berichten, wie sich seitdem entfernt Verwandte Anspruchsteller wie die Geier in Beauclair einfanden um sich über die Güter der in Ungnade gefallenen Familie herzumachen.
Sophie, die älteste Halbschwester von Atheris hatte einen Großteil des Familienvermögens eingesetzt um Advokaten und sonstige Handelsmänner zu bezahlen um jene Anspruchsteller loszuwerden, aber ohne die Wiederherstellung der Familienehre würde es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis der Titel und die Ländereien verloren gehen würden. Ramon war kinderlos gestorben, Sophie hatte zwar zwei Söhne, aber diese waren zu jung um für die Familienehre in einem Duell erfolgreich antreten zu können und ihr Ehemann war in den nördlichen Kriegen ums Leben gekommen. Die beiden jüngeren Schwestern Jasmin und Emilia war unverheiratet. Somit war einziger legitime Streiter der die Familienehre wieder herstellen konnte, der jüngere Halbbruder Aramis, der allerdings als fahrender Ritter seit fünf Jahren angeblich in Serrikanien unterwegs war. Alle Boten die auf die Suche nach ihm entsendet worden waren, hatten sich entweder nicht oder ohne Ergebnis zurückgemeldet und einige der Anspruchsteller hatten deswegen bereits Anträge beim Herold gestellt, den verschollenen Ritter für tot zu erklären.
Atheris hörte sich die Ausführung seiner Mutter an, er konnte sich nur ganz grob an seine Kindheit auf den Familienanwesen der du Lacs erinnern. Als unehelicher Sohn des Grafen durfte er damals mit seiner Mutter, die zu jener Zeit als Zofe angestellt war, auf dem Anwesen in einem der Gesindehäuser wohnen. Erst nach der Heirat seines Vaters und vermutlich auf Drängen der neuen Gräfin, wurde Atheris zu den Vatt’ghern gegen den Willen seiner Mutter wegegeben. Erst viele Jahre später war er als junger Offizier der kaiserlichen Armee zu seiner Familie zurückgekehrt und nur mehr oder weniger gezwungen willkommen geheißen worden. Ramon war damals ein halbstarker Racker gewesen, der sich sehr für den seltsamen Mann mit den Schlangenaugen interessiert hatte. Aramis, Sophie, Jasmine und Emilia waren Sprösslinge aus der zweiten Ehe des Grafen und Aramis hatte zu jener Zeit gerade erst gelernt auf seinen eigenen Beinen zu stehen. Der Ausbruch des ersten Krieges mit den nördlichen Königreichen im selben Jahr und der damit verbundene jahrelange Feldzug, verhinderte damals, dass er seiner Familie hätte näherkommen können.
Es war wohl der Tatsache geschuldet, dass seine Mutter die Familie du Lac wie ihre eigene betrachtete und er erkannte, wie sehr seine Mutter zu leiden schien, dass Atheris anfing sich Gedanken um das Wohl der Familie zu machen – aber was konnte er als Bastard denn großartig machen und war es wirklich sein Problem?
Bei der Großen Sonne – die Situation war bei weitem keine einfache und Grazyna hatte sich noch nie zuvor so sehr eine schnelle Lösung gewünscht, wie in diesem Augenblick. Ihr Blick wanderte immer wieder zu der alten Frau, die dort mit ihrer Teetasse in der Hand am Tisch saß und deren alte Finger zitterten. Die Haut knitterte an den Händen, als wäre sie altes Pergament, das durch viel zu viele Hände geglitten war und wann immer Grazyna ihren Blick hinauf zu dem Gesicht wandern ließ, glaubte sie das verräterische Glänzen von Tränen in ihren Augen zu erkennen. Es musste ihr fürchterlich weh tun hier zu sitzen, immer wieder Angst davor, ihr eigenes Heim zu verlieren und den Sohn vor Augen, den sie einst vor Jahren in die Ferne hatte geben müssen und den sie nur dann und wann wiedersehen konnte, immer in der Hoffnung, es würde noch rechtzeitig sein bevor das Alter sie einholte.
Die Zauberin hatte Mitleid mit der alten Frau und langsam stellte sie die Teetasse ab. Sie wusste nicht, weshalb sie jetzt die Hand ausstreckte und sie sanft auf die der Älteren legte. Behutsam schob sie die Finger um die Hand und drückte sie sacht. „Wir finden eine Lösung“, verließ es ihre Lippen, noch bevor ihr Verstand ihr riet, sich aus dieser Angelegenheit rauszuhalten. Es ging sie nichts an, es sollte sie nichts angehen, aber hier saß sie jetzt und hatte dieses leise Versprechen geformt, weil es ihr richtig erschienen war. Sie verfügte über genug Geld, um Gabhan diesen Dienst zu bezahlen und so lenkte sie ihren Blick hinüber zu den beiden Hexern am Tisch und lächelte, ein stummes Bitten in den Augen. „Nicht wahr?“
Grazynas Worte rissen Atheris aus seinen Gedanken, er war froh, dass sie es war, die ihre Hilfe anbot. „Wir werden eine Lösung finden!“ stimmte er nickend zu und blickte zu Gabhan. Der Bärenhexer hatte alles schweigend verfolgt, was er wohl dachte? Familie? Ehre? … was hatte er damit zu tun? Atheris war auf seine Antwort gespannt.
Nun blickten alle zu ihm und Gabhan atmete tief ein. Sehr, sehr tief. Sein Brustkorb hob sich, spannte sich und drückte gegen die enge Lederumfassung seiner Rüstung. Dann, ganz langsam, stieß er die Luft wieder aus wie ein Blasebalg. Offensichtlich war die Entscheidung ja bereits gefällt worden, auch wenn er Atheris später in einem ruhigeren Rahmen fragen musste, ob er seinen verdammten Verstand verloren hatte. Er war verletzt, ihr Geld ging zu neige und sie brauchten einen Auftrag der harte Münzen brachten und keinen Familienurlaub den sie mit Blut bezahlen mussten. „Ich finde immer eine Lösung,“ erwiderte er schließlich, während er Grazynas Blick auffing der etwas anderes ausstrahlte als jener von Atheris. Ihr Blick war vergoldet und dass ihm dies gefallen mochte machte ihm Sorgen. Wahre Sorgen. „Und wie könnte eine solche Lösung aussehen? Ich bin nur ein einfacher Bürgerlicher müsst ihr Wissen, habe keine Ahnung von den Marotten der hohen Herren,“ log er. Er wusste was sie tun konnten und das gefiel ihm noch weniger. Er hoffte, dass man ihm eine andere als die naheliegende Lösung präsentierte.
„In Toussaint werden die ritterlichen Tugenden und die Ehre hochgehalten, das ist vermutlich jedem hier im Raum bekannt! Wir brauchen eine Lösung, welche die Familienehre nachhaltig wieder herstellt. Etwas das verhindert, dass überhaupt jemand Anrechte erheben kann!“ fing Atheris mit der Diskussion an.
Gabhan hatte es befürchtet. Das Gespräch von Ehre kam nun auf den Tisch – von Rittertugenden und anderen Dingen an die er in einem anderen Leben womöglich auch geglaubt hätte, aber dieses Leben führte er nicht. Er hätte gerne so getan, als wäre all dies wichtig. Als mache es einen Unterschied und als könne all diese Ehre, die Rituale und die hohen Ansprüche etwas ändern. Aber er wusste es besser. „Was, willst du ein Tournier veranstalten? Mit Burgfräulein, Gunstbändchen und Tjosten?“ fragte Gabhan und hob die Augenbrauen.
„Wenn es die Lösung ist, Gabhan!“, antwortete Atheris. Es war dem Bärenhexer anzusehen, dass ihm das Gerede von Ehre gegen den Strich ging, er es aber runterschluckte. „Die Frage ist, ob es funktioniert und was die Voraussetzungen dafür sind, kennt sich da jemand aus? Grazyna?“ er blickte zu der Magierin neben sich.
Grazyna verzog den Mund ein Stück und wirkte nur äußerst unglücklich mit der Lösung, die Gabhan da soeben vorgeschlagen hatte. Es war nicht so, als stünde diese Lösung nicht zur Debatte, aber auf dem Weg dorthin gab es bedeutend mehr Steine, als die, welche die beiden Hexer hier gerade sahen. Langsam, um Zeit zu gewinnen, in der sie ihre Antwort überdenken konnte, schob sie sich eine der schwarzen Strähnen aus dem Gesicht und schloss dann kurz die Augen. „Möglich ist das, allerdings ist das nicht so einfach“, räumte sie dann gedehnt ein. „Du bist ein Hexer, Atheris und die Ritter und restlichen Adligen werden dich zuvorderst nur als das wahrnehmen. Ein Hexer hat kein Recht auf Besitz – es sei denn, er wird ihm zugesprochen. Erst damit erhältst du Recht für Land streiten zu können.“
Gabhan zuckte mit den Schultern. „Da hörst du es Atheris – es ist so gut wie unmöglich. Ist nicht schlimm, nimm es nicht persönlich. Wir sind nun mal Hexer. Wir kennen unseren Platz und auch die Welt hat ihn nicht vergessen. Aber so ist das nun mal. Kann man nichts machen!“ er wollte schon aufstehen, doch Grazynas Blick nagelte ihn an Ort und Stelle fest und dafür benötigte sie noch nicht einmal ein Quäntchen Magie. „Zumindest … normalerweise nicht. Wir finden natürlich wie immer einen Weg,“ sprach er knurrend das aus, was in Grazynas Blick verborgen lag. Verflucht, sie würden es so oder so tun und am Ende würde es schief gehen, wenn er nicht half. So wie immer.
„Vielleicht sollten wir uns Rat einholen – von einem Advokaten oder vielleicht vom Herold selbst?“, warf Atheris in den Raum. Es musste doch eine Möglichkeit geben, er war schließlich der Sohn des alten Grafen, das musste doch irgendwas wert sein.
Es wurde ein langer und diskussionsreicher Tag und erst nachdem die Sonne bereits lange untergegangen war, machten sich die drei Gefährten auf den Weg zurück zum Sommerhaus.
Gedanken und Wein
Gabhan roch die Flammen der Kerzen, noch ehe er sie sehen konnte. Von jetzt auf gleich entzündeten sich alle Kerzen im Zimmer zur selben Zeit. Der Hexer warf der Zauberin einen kurzen Blick zu, die diesen jedoch nicht auffing, sondern an ihm vorbeischritt und erst zwei, dann nach kurzer Überlegung, drei Gläser aus dem Schrank nahm und eine Flasche Wein hervorzog.
„Ich fasse also zusammen,“ intonierte der Bärenhexer, der wusste das nun das unvermeidliche kommen würde. Sie mussten einen echten Plan fassen. Mehr als nur ein Geplänkel und mehr als nur Ideen, die sie hatten und die sie sich hin und her geworfen hatten wie heiße Kohlen. Grazyna sah so aus als wüsste sie was zu tun war, Atheris wirkte entschlossen und auch er, Gabhan, hatte einen Plan. Doch er hegte arge Zweifel daran, dass die Pläne eines jeden von Ihnen dem Plan des anderen entsprachen. „Du willst also wahrhaft zu dem Anwesen marschieren und dort darauf pochen, dass du der Sohn des Herrn Papas bist…“ hakte Gabhan nach und hob die Augenbrauen. „Ich frage nur ungern aber – hast du dafür Beweise? Mehr als dein Wort?“ er warf Grazyna einen Blick zu. „Sowas braucht es doch, oder? Selbst hier in Toussaint?“
„Sowas braucht es in der Tat hier in Toussaint. Genauso wie überall sonst“, bestätigte die Zauberin lediglich mit einem Seufzen angesichts der Geistesgegenwärtigkeit, mit der Gabhan seine Gedanken hier zum besten gab. Gerade in den Kreisen, in denen Atheris‘ Familie verkehrte, war es die Regel, dass es irgendwo Aufzeichnungen gab – Aufzeichnungen, die es zu finden galt und die sie vielleicht doch noch zu einem der Ärzte führte, die einst die Familie betreut hatten.
„Es sollte zumindest Geburtsurkunden geben, auf die wir zurückgreifen können. Selbst als illegitimer Sohn des Hauses sollte Atheris verzeichnet worden sein“, führte sie an und füllte die drei Gläser, zuerst Atheris eines davon hinüberschiebend und ein weiteres dann an Gabhan weiter reichend. Sie hatte es absichtlich vermieden das Wort ‚Bastard‘ in den Mund zu nehmen – es passte nicht, vor allem nicht zu der aktuellen Situation. „Dafür sollten wir allerdings zum Anwesen aufbrechen. Am besten morgen früh – heute Abend würde ich gern einen ruhigen Abend verbringen und unsere Gedanken sortieren.“
„Ich habe meine ersten Jahre auf dem Anwesen verbracht, mich würde es wundern, wenn es keine Aufzeichnungen über mich gibt – auch wenn mir nicht alle wohl gesonnen waren!“ antwortete Atheris und trank einen tiefen Schluck aus dem Glas. „Gabhan, ich hatte tatsächlich bisher nie gedacht, dass meine Abstammung eine Rolle spielen könnte – zu lange ist es her, dass ich dank der Mutationen als Sonderling abgestempelt wurde.“, er nahm einen weiteren tiefen Schluck aus seinem Glas. Es würde ein interessanter Tag werden und er war gespannt, wie das Wiedersehen mit seiner Familie verlaufen würde.
„Deine Abstammung sollte auch keine Rolle mehr spielen,“ knurrte Gabhan nur leise und richtete sein Augenmerk wieder auf Grazyna. „Sag‘s ihm. Sag es ihm oder ich tue es – das alles ist doch völliger Unfug. Atheris ich beschwöre dich. Das ist keine gute Idee. Vor deiner Frau Mama wollte ich es nicht sagen. Es erschien mir unhöflich. Kalt und herzlos. Aber das ist doch Wahnsinn. Selbst wenn es diese Aufzeichnungen gibt, was dann? Du bist ein Hexer. Niemand wird dir irgendetwas geben. Du bist noch nicht einmal mehr ein Mensch. Du kannst nicht erben und du kannst nicht mehr vererben. Wieso die Ehre einer Familie beschützen, die dich zum Sterben an die Hexer gegeben hat?“
„Weil Familie etwas zu bedeuten hat, Gabhan“, erwiderte Grazyna an Atheris‘ Statt und erhob sich wieder von ihrem Platz, nur um in einem der Regale eine zweite Weinflasche hervor zu ziehen und diese auf den Tisch zu stellen. Sie wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass sie heute Abend mehr als nur eine einzige Flasche benötigen würde. „Es tut mir leid, dass du das nicht nachvollziehen kannst, aber du hast dich für deinen Weg entschieden. Gib anderen eine Gelegenheit, sich auch selbst entscheiden zu können“, führte sie fort und füllte ihr eigenes Weinglas noch einmal auf, die Augen nicht von Gabhans zerfurchtem Gesicht lassend. „Dein Weg ist nicht immer der einzig richtige in dieser Welt.“
„Oh bei den Göttern, den Geistern und allem anderen was man so anrufen mag – ich hoffe doch sehr, dass mein Weg nicht der einzig richtige in dieser Welt ist, sonst kämen wir ja alle am selben Ziel an…“ knurrte Gabhan. „Aber mein Weg ist der des Hexers und auch Atheris ist einer. Atheris ich beschwöre dich. Spiele nicht den Ritter in edler Rüstung. Das bringt dich um. Wir sind was wir sind!“ er fing erneut Grazynas Blick auf, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Wollte nicht mehr diesen Blick sehen. „Glaubt nicht ich wüsste nicht was Familie bedeutet. Töricht ist es allemal. Das macht kein Blut dieser Welt wett. Ich kenne diese Welt lang und gut genug um zu wissen wie es endet und mir gefällt dieses Ende nicht.“
„Ich verstehe deinen Standpunkt, Gabhan! Ich habe über die Jahre viele tapfere Männer kennengelernt, die genauso denken wie du – vor allem Hexer. Aber im Vergleich zu dir war ich den Großteil meines Lebens kein Vatt’ghern, ich war Soldat und habe trotz meiner Mutationen viele Freunde und Kameraden kennengelernt. Ich kenne nicht die Beweggründe meines Vaters, warum ich damals weggegeben wurde, aber meine Mutter wurde durch die Familie du Lac immer bestens versorgt und das ist mir einiges wert. Ich meine, Gabhan! Wir Hexer setzten in der Regel unser Leben aufs Spiel, für Leute die wir kaum oder gar nicht kennen und wofür? Für Geld -verständlich, wir benötigen es um zu überleben – aber Hand aufs Herz mein Freund, wie oft hast du Aufträge unter Wert angenommen? Ich für meinen Teil habe das Gefühl hier das Richtige zu tun!“ Atheris griff nach seinem Weinglas, das Grazyna liebenswerter Weise während seiner Antwort bereits wieder gefüllt hatte – da war sie wieder … wie vor so vielen Jahren, diese Vertrautheit! Sie wusste, was er jetzt brauchte! Sein Blick wanderte zu der Zauberin und dann hinüber zu Gabhan.
„Wenn du einen weiteren Ansatzpunkt brauchst, um uns zu unterstützen“, hob Grazyna noch einmal die Stimme und fixierte den Bärenhexer ihr gegenüber. Gabhan sah beständig aus, als habe er in eine Zitrone gebissen, doch für den heutigen Abend schien diese Zitrone die sauerste zu sein, die er jemals versucht hatte. Nur ganz kurz huschte ihr Blick hinüber zu Atheris und der kurze Anflug eines Lächeln schob sich über ihre Züge, als wäre es Antwort auf ihre eigenen Gedanken. „Dann nenn mir eine Summe und ich bezahle dich dafür. Du wirst dafür bezahlt, Monster auszuschalten – nur haben die dieses Mal menschliche Gestalt und bedrohen eine Familie“, vollendete sie ihren Satz und hob die Augenbrauen.
„Nein,“ erwiderte Gabhan knapp und schüttelte widerwillig den Kopf. Er war knapp bei Kasse, ja aber das? Das ging zu weit. Selbst er hatte seine Grenzen. Er war kein Auftragsmörder. Er tötete nicht Widersacher und Kontrahenten gegen Geld. Es musste Grenzen geben. Winzige zumindest. Hexer töteten Monster. Keine Menschen, egal wie literarisch man es ihm auch verpacken mochte. „Ich helfe euch nicht gegen Geld. Keine Chance. Der Kodex verbietet es. Diesmal wirklich,“ auch diesmal war es eine Lüge, denn es gab noch immer keinen Kodex. Keinen echten zumindest. „Wenn es dein innigster Wunsch ist Atheris…“ hob er jedoch an. „Dann sorge ich zumindest dafür, dass du nicht draufgehst. Ich habe eine Verantwortung für dich und ich muss dich heil wieder zu den Greifen bringen. Ich habe ja kaum eine Wahl, denn ohne meine Hilfe…“ er schüttelte den Kopf. „Nein. Du brauchst meine Hilfe!“
Atheris hatte im Gesichtsausdruck von Gabhan lesen können, wie er mit sich kämpfte bei seiner Antwort. „Ich freue mich über deine Hilfe, Gabhan! Und keine Sorge, niemand hat hier ein Attentat vor, das hast du missverstanden! Aber Grazyna hat Recht, es gibt diese Monster in menschlicher Gestalt – und auch wenn in Toussaint die Ehre hochgehalten wird, kann es für diese ‚Monster‘ ein gefundenes Fressen sein, wenn ein Hexer versucht die Familienehre wieder herzustellen … wir müssen also gewappnet sein!“
„Gewappnet…“ Gabhan spie das Wort beinahe aus, als wäre es etwas sehr Übelschmeckendes, das er möglichst schnell loswerden wollte. Er ließ die Schultern sinken und betrachtete Atheris eine ganze Weile, ehe er langsam nickte. „Gut. Dann wappne dich. Auf deine Art – ich werde dich auf meine Art wappnen,“ versprach er und warf Grazyna einen langen und bedeutungsschwangeren Blick zu. Er brauchte Informationen. Informationen über jene, die hier etwas zu sagen hatten und die zeitgleich beeinflussbar waren. Auf die eine oder andere Art. Wobei Gabhan eine bestimmte Art lieber gewesen wäre.
Familie
Atheris beobachtete wie in dem Becher vor ihm das Wasser langsam anfing zu kochen und der Dampf in seine Nase stieg. Zufrieden ließ er die Energie, die durch seinen Körper in die Hände strömte, versiegen. Die kleinen Flammenstrahlen die aus seiner Handfläche waberten und den Becher einhüllten, erloschen wie eine Kerze im Wind. Zufrieden gab der Hexer eine Kräutermischung hinein und verrührte diese im Wasser. Valerian hatte ihm verschiedene Übungen gezeigt, die im alltäglichen Gebrauch nützlich waren und gleichzeitig seine Fähigkeiten in den Hexer-Zeichen verfeinerten. Genüsslich nahm er den ersten Schluck zu sich und fühlte, wie die heiße Flüssigkeit in seinen Magen floss. Die aufputschende Wirkung würde ihm helfen die Müdigkeit abzuschütteln, die ihn umfing. Es war eine unruhige Nacht gewesen, eher untypisch für Atheris, aber die Gedanken um seine Familie beschäftigten ihn mehr, als er gedacht hatte.
Wenig später war es das Stampfen von Gabhans Stiefeln, die an sein Ohr drangen und den grummeligen Bärenhexer ankündigten. In voller Montur betrat er auch wenig später die Küche und der Blick seiner mutierten Augen fanden sofort seinen Zunftbruder an dem kleinen Tisch sitzend, der eigentlich für die Bediensteten des Hauses vorgesehen war. Atheris betrachtete, wie sich Gabhan auf den Stuhl neben ihm sinken ließ, wobei der hölzerne Stuhl ob des Gewichtes der Rüstung protestierend knarrte. Mit den Fingern angelte er sich ein Stück Wurst von dem Teller, der vor ihm stand. „Guten Morgen, Gabhan! Bereit den noblen Teil meiner Familie kennen zu lernen?“ begrüßte Atheris seinen Freund.
Die Kerzen in dem großen Leuchter flackerten in dem seichten Wind, der durch die geöffneten Fenster in den Raum wehte, weil das fahle Licht des Vollmonds nicht genug Licht spendete. Silbrig glänzte der Metallbeschlag der weißen Feder, die über das teure Pergament kratzte und Namen in schwarzer Tinte darauf schrieb, kurz innehielt während von draußen leise Stimmen in den Raum getragen wurden – kaum mehr als noch ein Flüstern begleitet von schweren Schritten – torkelnd, wankend. Niemand gab sich die Mühe besonders leise zu sein und trotzdem sorgten die Stimmen und die Schritte dafür, dass die Hand mit der Feder zwischen den Fingern innehielt und jene beinahe wütend zur Seite legte.
Raschelnd vermeldeten feine Stoffe das Aufstehen der Person, deren Schatten jetzt im Licht zu tanzen begann während sie sich in Richtung des Fensters bewegte und die Hände auf dem Fensterbrett abstützte. Eine ganze Weile lang wanderten die hellen Augen über die dunkel dar liegende Straße außerhalb, fixierten zwei Männer in einfacher Kleidung, die lachend und singend ihren Weg nach Hause zu suchen schienen – weit später, als sie zuhause sein sollten. Kopfschüttelnd ließ sie den Blick hinauf zu den Sternen wandern, die sich hell vom dunklen Himmel abhoben, ab und an verdunkelt von ein paar trotzigen Wolken, die ebenfalls ihren Weg suchten und vom Wind vorangetrieben wurden, der jetzt auch ihr um die Nase wehte und ein paar widerspenstige schwarze Locken in ihre Stirn schob, die sie mit einer kurzen Kopfbewegung wieder an Ort und Stelle brachte.
Was tat sie hier? Sie verhalf jemandem, der ihr sehr viel bedeutete, in ein Korsett, das er noch gar nicht erkannte, weil die Schönheit dieses Landstrichs ihn so sehr blendete. So sehr, wie sie einst als sie hierhergekommen war, geblendet von den hohen Weinbergen und den malerischen Städtchen, der Ritterlichkeit in den Männern, deren Weg sie kreuzte und in den hübschen Gesichtern der Damen. Alles hier wirkte wunderschön und trotzdem kamen die Momente immer häufiger, in denen es sich falsch anfühlte. Unwirklich, so als sei es nur eine Geschichte, in die sie hinein gesogen worden war und in der sie nach und nach vergessen hatte, dass sie hier nicht hergehörte.
Die Geschichte, die jetzt aufgesprengt worden war und deren ganze Wirklichkeit jetzt ausgebreitet vor ihr lag. Die Kämpfe um Land und Lehen, um Einfluss und Reichtum, die sich ganz und gar nicht von dem Norden unterschieden. Kämpfe, in die sie jetzt hineingezogen worden waren. Die Freiheit, jetzt plötzlich klar zu sehen, fühlte sich an, als habe jemand die Schnüre dieses engen Korsetts durchgeschnitten – das Atmen war klar, gierig sog die Lunge nach der benötigten Luft, die Kälte trieb Tränen in die Augen.
Verkrampft ballte sie die Finger um das weiße Holz der Fensterbank und schloss die Augen, konzentrierte sich auf das Atmen, wie sie es einst gelernt hatte, um jene unseligen Kräfte zu kanalisieren, die ihr dieses Leben erst eingebracht hatten. Sie war verraten und verkauft worden. Nilfgaard hatte sie betrogen – sie hatten gewusst, wo er gewesen war und aus purer dummer Hoffnung war sie wie eine Marionette gefolgt. Sie hatten es genutzt, wann immer es notwendig gewesen war und ihr letztlich gar nichts für Loyalität und Treue gegeben. Es war ein anderer Hexer gewesen, ob Zufall oder Vorsehung, machte keinen Unterschied.
Die Frage, die blieb und die ihr unter den Nägeln brannte und Übelkeit in ihr hervorrief, war eine einzige. Ihr Verstand schrie sie beinahe, jetzt viel lauter als über all die Zeit zuvor. Willst du das wirklich? Wollte sie wirklich weiterhin an Fäden hängen, wenn sie wusste, dass die Freiheit vor ihr lag und sie so einfach zu bekommen war, wie jetzt die Luft in ihren Lungen?
Langsam öffnete sie die Augen wieder und löste den verkrampften Griff, streckte die Finger aus, um die Gelenke wieder zu entspannen, weil die Antwort so einfach war. „Nein.“ Sie flüsterte das Wort, um es über die eigenen roten Lippen kommen und in der Nacht verklingen zu hören. Von jetzt an würde es keinen Faden mehr geben, an dem sie hing – keine falschen Versprechungen und hübsche Worte, denen sie erliegen würde, weil sie süß wie Gift in ihr Ohr geträufelt wurden. Es hatte bislang nur wenige Menschen in ihrem Leben gegeben, die ehrlich zu ihr gewesen waren – Gabhan war einer davon und sie hatte sich dem anderen gegenüber nicht ruhmreich verhalten, hatte ihm wenig Grund gegeben freundlich zu ihr zu sein und seine Reaktion als Grundlage für ihr eigenes Verhalten genommen. Es wurde Zeit, dass sie auch das änderte. Erneut raschelten die teuren Stoffe ihrer Kleider leise als sie zurück zu dem Tisch trat und die Finger über die Aufzeichnungen wandern ließ. Die Tränke der Hexer, die Unterschiede in den einzelnen Mutationen, all das Wissen, das sie über die Jahre errungen hatte und das sich in ihrem eigenen Kopf befand. Sie hatte es aufgezeichnet, um es weiterzugeben und an der Forschung teilnehmen zu können, aber es würde nur eine weitere Bezahlung ohne Gegenleistung werden.
Langsam schob sie die Unterlagen in eine Tasche an ihrer Seite und lächelte für sich selbst. Sie konnte die Dinge genauso gut anders nutzen. Die Kopien gerieten in ihre Hände und nur für eine Sekunde wanderte ihr Blick darüber, dann hob sie den Stapel der Papiere an und hielt sie über eine der großen Kerzen. Gierig leckten die Flammen an dem Pergament und fraßen Löcher hinein. Langsam färbte sich das Papier schwarz, rot glommen die Ränder in dem Feuer bis der Windstoß kleine Fetzen in dem Raum verteilte und der Rauch beißend in ihre Nase stieg. Loyalität war solch ein fragiles Konstrukt. Sie hatte schon einmal ein Land verraten, schon einmal eine Heimat hinter sich gelassen und sich einer neuen angeschlossen. Wahrscheinlich hatte niemand erwartet, dass sie loyal sein würde und als Grazyna die Reste des Pergaments losließ und den Ruß an ihren eigenen Fingern betrachtete, lächelte sie erneut. Es würde niemanden wundern, wenn sie nicht loyal war.
Ihre Gedanken glitten das Haus hinab, die langen Stufen bis hinunter in die Küche, in der sie noch am vergangenen Abend gesessen hatten und für einen kurzen Moment kehrte der Stich wieder zurück und ließ sie zusammenzucken. Seit damals war viel Zeit vergangen, der Umgang miteinander war schwieriger geworden – nicht so leicht und unbedarft wie es früher einmal gewesen war. Hatte sie sich so sehr verändert, wie sie es ab und an in seinem Blick zu erkennen glaubte? Unweigerlich führten ihre Schritte sie zurück zum Spiegel. Ihre Augen betrachteten das Gesicht, das ihr dort entgegenblickte und das blass und erschöpft wirkte – eingepresst zwischen Schmuck und Tand, von dem sie nicht wusste, ob sie ihn benötigte. Stück für Stück von dem Schmuck wanderte jetzt in ein kleines gläsernes Schälchen. Sie hatte die falschen Prioritäten gesetzt, hatte sich von Reichtum und Prunk blenden lassen. Wieder kam die Frage auf, die erneut gegen ihre Schläfen drückte – willst du das wirklich? Wieder war die Antwort ein leises geflüstertes „Nein.“ Sie war keine Gouvernante, wie sie es in Gabhans Gedanken immer wieder hörte und sie war bei weitem noch nicht alt genug, um sich zu benehmen, wie eine alte Frau. Wieder fühlte sich die Freiheit besser an, ließ sie erneut aufatmen und den Rücken straffen.
Sie war eine Zauberin, sie verpflichtete sich niemandem – es sei denn, sie wollte es. Ob sie sich freiwillig verpflichten würde, würde sie herausfinden, wenn sie diese Tür hinter sich ließ und die Stufen betrat, die sie jetzt hinunter in das Erdgeschoss führten. Dort, wo zwei Hexer gerade im Dunkeln miteinander sprachen und auf deren Gesichtern Kerzen Schatten malten. Die Gesichter der beiden wurden dunkler und härter gezeichnet – die Narben auf Gabhans Gesicht wirkten tiefer, machten sein Gesicht düsterer, die katzenhaften Augen schienen im Halbdunkel unnatürlich zu leuchten und sorgten jetzt dafür, dass ihr ein eisiger Schauder über den Rücken fuhr.
„Guten Morgen“, hob sie die Stimme als sie sich einen Stuhl bei Seite zog und sich darauf sinken ließ. „Wir hatten einen schlechten Start, Gabhan. Es tut mir leid. Ich habe dir Unrecht getan und ich hätte das Gift nicht von dir nehmen sollen und …“ Damit wanderte ihr Blick kurz hinüber zu Atheris und ihr Blick wurde wieder weicher. „über das uns würde ich gern sprechen, wenn die Angelegenheit mit deiner Familie geklärt ist. Das hat erst einmal Vorrang, falls das für dich in Ordnung ist“, fuhr sie fort und brachte wieder ein Lächeln auf ihre Lippen. „Das wollte ich sagen, bevor wir aufbrechen.“
Gabhan hatte sich umgeblickt, als die Tür hinter ihm geknarzt hatte. Doch schon zuvor hatte sich Grazyna durch das immer stärkere Zucken des Bärenmedaillons angekündigt, welches dem Hexer sowohl Gefahr als auch Magie untrüglich anzuzeigen mochte. Bisher war Gabhan immer davon ausgegangen, dass es ihn bei Grazyna von Strept vor beidem warnte.
Doch als die Zauberin hier und jetzt den Raum betrat stockte etwas in Gabhan – die andere trug ein hübsches Kleid mit teurer Borte, dessen Ärmel mit zu goldenen Rosenblüten stilisierten Knöpfen geschlossen wurde und dessen ausladend Schultern die mit viel zu viel Stoff versehen waren in einen Ausschnitt übergingen, der ein Perlenbesetztes Unterkleid offenbarte welches zu Gabhans Überraschung nicht bis unter den Hals zugeknöpft war. Ebenso verwunderte ihn das Fehlen von Ohrringen und Haarnetz. Einzig ihr Perlenhalsband mit dem schwarzen Stein wähnte noch von Schmuck und Prunk vergangener Tage. Sie trug die Haare offen. All das hatte den Bärenhexer bereits über alle Maßen gewundert, doch man stelle sich seiner Verwunderung vor, als Grazyna das Wort erhob. Verdattert starrte er sie an und wurde sich zu spät bewusst, dass er für einige Herzschläge seine Maske aus Missgunst hatte fallen lassen, die er nur mühsam und langsam wieder aufgriff, die jedoch in diesem Moment nicht mehr recht zu passen schien. Sie entglitt ihm und er legte sie vorerst ganz bei Seite. Bei der großen Melitele – sie hätte ihm genauso gut ins Gesicht spucken können – das hätte ihn weniger verwundert. Und da war noch etwas. Eine andere Begebenheit neben der Entschuldigung, die seinen Blick zwischen Atheris und Grazyna wandern und das letzte Puzzel-Teil an seinen vorbestimmten Platz fallen ließ. Er hatte schon zu einer Antwort angesetzt, machte dann jedoch eine wegwerfende Bewegung. „Vergeben und vergessen,“ murrte er gleichmütig und zuckte mit den Schultern. Er würde später noch einmal mit ihr Reden müssen.
Die drei Gefährten saßen bis zum Morgengrauen an dem kleinen Tisch in der Küche und unterhielten sich. Mit den ersten Sonnenstrahlen, die über den herbstlichen Weinbergen durch das Fenster schienen, machten sie sich auf zum Stall. Der schwarze Hengst Ker’zaer begrüßte Atheris mit einem freudigen Schnauben. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte er, als er den schweren Sattel anheben wollte und seine Brustmuskulatur das mit einem stechenden Schmerz quittierte. Grazyna hatte ihn gewarnt, dass trotz der eingesetzten Magie und seines guten Heilfleisches, es dauern würde, bis er wieder voll einsatzfähig war – aber hatte er diese Zeit? Beim zweiten Versuch war Atheris auf den Schmerz innerlich vorbereitet und er schaffte es Ker’zaer zu satteln. Die fragenden Blicke seiner Gefährten im Rücken hatte er wahrgenommen- aber weder Grazyna noch Gabhan äußerten erneut ihre Bedenken.
Wenig später waren sie auf ihrem Weg durch die Weinberge. Die Ländereien der du Lacs lagen einen halben Tagesritt weiter südlich von Beauclair. Auch wenn Atheris seit seiner Kindheit nicht viel Zeit auf dem Familiensitz verbracht hatte, kamen ihm die bewaldeten Hügel und kleinen Wäldchen vertraut vor. Als sie ihr Weg über den letzten Hügelkamm geführt hatte, eröffnete sich eine kleine Ebene vor ihnen, die an einem großen blauen See mündete. An dem Ufer des Sees lag das romantische Dorf Avallach, von dessen Dorfmitte eine schmale Landzunge zu einer kleinen Halbinsel führte. Dort mitten im See thronte der alte Stammsitz der du Lacs über dem Wasser. „Vom See!“ kommentierte Gabhan mit seiner brummigen Stimme. „So ist es, Gabhan!“ stimmte ihm Atheris zu.
Die Burg hatte schon bessere Tage gesehen stellte Atheris fest, als sie sich durch das Dorf näherten. Bei seinem letzten Besuch herrschte sowohl im Dorf als auch auf dem Weg zur Burg ein reges Treiben – nun begegneten sie lediglich dem örtlichen Müller, der mit seinem Eselkarren auf dem Rückweg von der Burg war. Er konnte sich auch nicht daran erinnern, dass er die Zugbrücke jemals hochgezogen und die Tore geschlossen vorgefunden hatte – unter seinem Vater und seinem Halbbruder standen die Tore für gewöhnlich offen und lediglich zwei Wachen hatten dafür gesorgt, dass im friedvollen Toussaint keine ungebetenen Gäste die Burg betraten. Als sie den Graben nun erreichten waren es auch tatsächlich zwei Wachen, die sie von den Zinnen des Burgtores begrüßten. „Das ist alles sehr ungewöhnlich!“ flüsterte Atheris seinen Begleitern zu.
„Ja, mir gefällt es auch nicht,“ erwiderte Gabhan, wenngleich sich der Bärenhexer auch sicher war, dass seine Missgunst durch andere Umstände ausgelöst wurde als jene von Atheris. Es war ein hübsches Schlösschen. In einem hübschen Dorf an einer hübschen Straße und selbst die Bauern waren seltsam hübsch. Die Blumen auch und die Katze, die herumstreunte … war hübsch. Gabhan zog die Nase kraus. Er ließ die Schultern sinken, betrachtete das geschlossene Tor und er warf einen kurzen Blick zu Grazyna. Selbstverständlich könnte die Zauberin das Tor desintegrieren, könnte ein Loch in die Wand sprengen, die Wachen bezaubern oder sie womöglich einfach ins Innere der Burg teleportieren. Aber das hätte sie wohl als unschicklich empfunden, darum fragte er gar nicht erst nach solch magischen Kinkerlitzchen. „Na dann,“ grummelte er. „Also ich werde nicht fragen ob sie uns einlassen. Mein Charme lässt mich heute irgendwie im Stich.“
Bevor Atheris was erwidern konnte, öffneten sich die Tore mit einem lauten Knarzen und sie ritten über die Zugbrücke ins Innere der Anlage. Auch hier bemerkte Atheris sofort die Veränderung. Der einst schöne und gepflegte Innenhof mit den Blumenbeeten wirkte verwahrlost, das Moos fing an die beiden stolzen Marmorlöwen die den Eingang zum Haupthaus säumten zu befallen – Wo waren alle, die Knechte, die Gärtner und der Rest der Bediensteten, stand es wirklich so schlimm um die Finanzen der Familie? Endlich kam der Stallbursche angerannt – der kleine Blondschopf mit seinem strahlenden Lächeln und der dadurch entblößten Zahnlücke war der erste, erfreuliche Anblick, der sich ihnen bot. Eine der Wachen vom Tor erreichte sie und geleitete die drei zum Arbeitszimmer seines Vaters, das er noch nie betreten hatte. Während sie warteten, schaute sich Atheris in dem Raum um. Vieles hatte sich über die Jahrzehnte hier angesammelt, neben den für adlige üblichen Jagdtrophäen reihten sich viele sonderbare Dinge aus aller Welt in den Regalen – Mitbringsel die seine Vorfahren als fahrende Ritter von ihren Reisen nach Hause gebracht hatten. Sein Blick verharrte auf einem großen Portrait. Bis auf die dunkelbraunen Augen, die ergrauten Schläfen und die prachtvolle Rüstung hätte es sein eigenes Ebenbild sein können. Er hatte seinen Vater seit dem Tag als er von ihm zu den Vatt’ghern gesendet worden war nicht mehr gesehen. Das Bild zeigte ihn deutlich älter als er ihn in Erinnerung hatte – stolz … edel … der Inbegriff eines Ritters aus Toussaint. In der Hand hielt er das Familienschwert, ein schöner Anderthalbhänder mit vergoldetem Parier und Knauf. Atheris Mine verfinsterte sich, als er die Frau neben seinem Vater betrachtete, die alte Gräfin. Es waren gut fünf Jahrzehnte vergangen, aber der Groll gegen diese Frau hatte sich tief in seine Seele eingebrannt. Wie oft hatte er als Kind nachts im Bett gelegen und sich ausgemalt, wie schön sein Leben hätte sein können, wenn dieses gehässigste Weib nicht gewesen wäre. Mit ihrem Auftauchen am Hof hatte sich sein Leben schlagartig verändert. Er verbrachte keine Zeit mehr mit seinem Vater und er und seine Mutter wurden vom Bediensteten Trakt der Burg ins Dorf umquartiert. Er merkte wie Zorn in ihm aufkam und er wendete sich ab, schüttelte all die Erinnerungen ab und lächelte Grazyna und Gabhan an, die sich leise unterhielten.
Eine ganze Weile lang hatte Grazyna das alte Familienportrait angesehen und die Gesichtszüge des Mannes betrachtet, der Atheris‘ Vater gewesen war. Er hatte ihm ähnlicher gesehen, als sie es erwartet hatte – nur die Züge um seinen Mund waren härter gewesen als die des Hexers, den sie kennen und lieben gelernt hatte. Die Frau an seiner Seite war hübsch und trotzdem war da ein eisiger Ausdruck in ihren Augen gewesen, irgendetwas, das Grazyna selbst hatte schaudern lassen und dankbar hatte sie den Punkt aufgenommen, an dem Gabhan das Wort ergriffen hatte, um sie abzulenken.
Gabhans Aufmerksamkeit glitt von der Zauberin und ihrer wirklich sehr an- und für ihre Verhältnisse aufgeregten Unterhaltung – fort und hin zu einem Knecht, der nun die Tür öffnete und seine Augenbrauen wanderten nach oben. Er hatte Stroh im Haar, roch ein klein wenig nach Dung, hatte eine Kochschürze umgebunden und einen Staubwedel im Gürtel stecken. Es fiel dem Hexer nicht schwer zu antizipieren welche Rollen der Knecht hier einnehmen musste. Vielseitig, das musste er ihm lassen. Aber kein gutes Zeichen. „Die Herren,“ flüsterte er leise und als sein Blick auf Grazyna glitt wurde er bleicher. „Und… die hochgelehrte Dame! Die Damen des Hauses sind nun bereit sie zu empfangen!“ Gabhan zog die Nase hoch, blickte zu Grazyna. Er würde nicht antworten. Fürchtete, er wäre nicht in der Stimmung um freundlich zu wirken.
Grazyna folgte wie die anderen dem Knecht. Alles in diesem Anwesen wirkte alt und benutzt und schien nicht so recht zu dem Toussaint zu passen, das sie kennen gelernt hatte. Als wäre dieses Anwesen in einen langen Schlaf gefallen und gerade erst wieder aufgewacht, als Atheris mit seinen Begleitern das Anwesen betreten hatte. Der Knecht, der sie durch die Gänge führte, schien überfordert mit seiner neuen Position, wirkte fahrig und so, als wäre er bereits wieder bei drei weiteren Aufgaben in seinem Verstand, noch während er an einer vierten Aufgabe beschäftigt war und dann traten sie in den Raum, in dem die drei Schwestern warteten. Sie hatten sich wie die Schicksalsschwestern vor ihnen aufgebaut und es entlockte Grazyna ein schmales Lächeln als sie sich höflich vor den Damen des Hauses verneigte.
„Sei mir willkommen, Atheris!“ begrüßte Sophie ihren Halbruder.
„Ich danke dir, Sophie!“ antwortete Atheris, nachdem er sich wiederaufgerichtet hatte. „Dies sind meine Freunde – die Gelehrte Grazyna von Strept und der Hexer Gabhan!“ er zeigte auf seine Begleiter wobei er bewusst nicht die magischen Fähigkeiten von Grazyna erwähnte.
„Was verschafft uns die Ehre deines Besuches … Vatt’ghern!“ Emilia, trat an Atheris heran und musterte seine Erscheinung von oben bis unten. Richtig, seitdem er sich den Greifenhexern vor vier Jahren angeschlossen hatte, war er nicht mehr hier gewesen. Er musste in ihren Augen heruntergekommen aussehen, zwar trug er noch im wesentlichen die Uniform und die Rüstung eines kaiserlichen Offiziers, aber sie war in letzter Zeit ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden, zudem entsprach der Rest seiner Ausrüstung mitnichten der Standartausrüstung eines Soldaten und zuletzt trug er seine beiden Klingen nach Art der Hexer auf seinem Rücken und nicht mehr an der Seite. „Richtig erkannt Emilia – und ich werde dir die Geschichte gerne erzählen, aber zunächst möchte ich den Grund für unseren Besuch nennen. Ich habe von meiner Mutter erfahren, dass ihr in großen Schwierigkeiten steckt – und wir sind gekommen um euch zu helfen, sofern ihr uns lasst!“
Keine von ihnen schien mit Atheris oder unerwarteten Hilfe gerechnet zu haben. Sophie war schließlich diejenige, die die offizielle Begrüßung zu Ende gebracht hatte und die noch am gefasstesten wirkte. „Wir verlangen dafür nichts“, setzte Atheris seinen Worten nach und neigte noch einmal leicht den Kopf, um jene dunkle Befürchtung zu negieren, die im Gesicht von Emilia aufgetaucht war. „Es ist ein reiner Dienst an Atheris‘ Familie.“ ergänze Grazyna seine Worte.
Formalitäten
Atheris blickte durch die schmalen Fenster auf den Weinberg, der in der abendlichen Sonne märchenhaft wirkte und einige längst vergangene Glücksmomente hier auf dem Anwesen in sein Gedächtnis rief. Es war Grazynas Stimme, die seine Aufmerksamkeit zurück auf das lenkte, was hier an der langen Tafel besprochen wurde. Sein Blick viel auf Sophie, die nach anfänglicher Skepsis gegenüber den Hexern, inzwischen mit Feuer und Flamme dabei war, eine nachhaltige Lösung zu finden. Neben den drei Schwestern, Grazyna und Gabhan hatte sich inzwischen auch der alte Berater der Familie eingefunden. Gemeinsam gingen sie immer und immer wieder die Möglichkeiten durch. Im besten Fall würde Atheris als Streiter für die Familienehre beim herzoglichen Herold gemeldet werden. Zwei Wochen hatten dann etwaige Herausforderer Zeit sich offiziell bei Hofe zu melden und Atheris auf ein Duell auf Leben und Tod zu fordern. Sollte sich kein Herausforderer melden, würde das als Wiedererlangung der Familienehre durch den Herold bestätigt und offiziell verkündet werden. Im schlimmsten Fall würden sich viele Kombattanten einfinden und somit könnte sich der Prozess über mehrere Wochen hinziehen. Unabhängig davon war es notwendig, dass Atheris als unehelicher Sohn des Grafen offiziell durch die Familie du Lac beim Herold anerkannt werden musste, was nach dem Dahinscheiden des Vaters formell nicht ganz so einfach war, wie sie der alte Berater aufklärte. Klar gab es als Zeugin seine Mutter, aber sie war nicht vom Stand und ihr Wort hatte somit nur bedingt Gewicht. Sollte die Anerkennung nicht klappen, gab es noch Möglichkeiten zum Beispiel eine Heirat. Zunächst würde aber am morgigen Tag eine Delegation beim Herold vorstellig werden.
Es war schon später Nachmittag, als Atheris seinen schwarzen Hengst vor den Toren Beauclairs zügelte. Schwungvoll glitt er aus seinem Sattel und betrachtete Sophie, wie sie aus der Kutsche vor ihm stieg. „Kaum zu glauben, dass ihr Verwandt seid!“ vernahm er Gabhans stimme, der neben ihn getreten war. Nachdem Grazyna ebenfalls ausgestiegen war, gesellten sich die beiden Hexer zu ihr und folgten Sophie in den Palast. Ihr Weg führte sie durch lange Hallen, vorbei an alten Wandteppichen, deren Bilder die Heldentaten fahrender Ritter erzählten, vorbei an Marmorbüsten längst vergangener glorreicher Zeiten. Eine lange weiße Treppe führte sie in die oberen Etagen des Seitenflügels, wo die herzogliche Verwaltung ihre Räume hatte. Schließlich gelangten sie vor eine große rote, mit kunstvollen Beschlägen verzierte Tür. Atheris betrat den Raum als letztes und stellte sich hinter Grazyna und Sophie, die vor dem großen Schreibtisch des Herolds auf zwei einladend wirkenden Sesseln platzgenommen hatten. Der Herold war ein stattlicher junger Mann, ganz anders als es Atheris erwartet hatte. Sein Gesicht wirkte aufgeweckt und seine Augen strahlten eine Schärfe aus, die Atheris nur von Raubtieren kurz vor dem Beutesprung kannte. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und für einen kurzen Moment schien es ihm so, als würde er den Mann kennen. Sophie unterbrach den Moment, indem sie den Herold begrüßte und anfing ihr Anliegen vorzutragen.
Gabhan wusste nicht was er hier tat. Manche böse Stimmen mochten behaupten, dass dies stets und ständig der Fall war. Eine böse Stimme die Unrecht hatte. Doch diesmal war er sich wahrlich nicht sicher was er hier eigentlich tun sollte. Der Bärenhexer ließ seinen Blick durch den Raum streifen, der voller Pomp und Pathos nur so strotzte. Bis hin zu dem gewaltigen Gemälde einer hübschen Frau in einem Meer aus Rüschen, welches an der Wand hing. Er beugte sich ein wenig in Atheris Richtung und flüsterte, so leise, dass es nur der befreundete Hexer vernahm: „Hast du überhaupt eine Ahnung in was für ein Wespennest wir hier stechen?“ doch der Blick seines Gegenübers verriet ihm das schlimmste – Atheris wusste was er damit lostrat und Gabhan wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Das einzige Glück, das der Greifenhexer hatte saß dabei vor dem Herold, lächelte lieblich und hörte auf den Namen Grazyna.
Grazyna, zuvor noch im Gespräch mit Sophie und dem Herold, wandte sich nur kurz über die Schulter zurück, als sie Gabhans leise Stimme hinter sich vernehmen konnte. Es würde noch eine Zeit dauern, dessen war sie sich sehr wohl klar, weil es Dutzende von winzigen vertraglichen Bedingungen gab, die geklärt werden mussten und die wahrscheinlich nur dafür sorgen würden, dass Gabhan schlechte Laune bekommen und Atheris über die Einzelheiten verwirrt sein würde.
„Warum sucht ihr beide nicht, während wir alles klären, bereits ein hübsches Gasthaus, in dem wir im Anschluss etwas essen können?“, fragte sie mit einem sehr weichen Lächeln auf den Lippen. Gern hätte sie dem Bärenhexer gesagt, er solle etwas Nützliches tun – Mäuse jagen oder etwas ähnliches, aber sie saß vor einem Herold und an der Seite einer adligen Dame. Sie würde sich benehmen. „Wir lassen uns zur Feier des Tages überraschen. Ihr genießt unser vollstes Vertrauen“, schob sie nach. „Danke.“
Atheris war nicht unglücklich darüber, dass Grazyna ihnen die Möglichkeit eröffnet hatte, die politischen Spielchen vorzeitig wieder zu verlassen. Auch der Gabhan schien sichtlich erleichtert – keine Frage, Atheris hatte sich sowieso gewundert gehabt, dass der Bärenhexer mitgekommen war. „Komm mit, Gabhan! Ich kenne ein nettes Plätzchen, an dem es sich wunderbar warten lässt!“
Wenig später standen die beiden im Hafenviertel vor einem alten Wirtshaus. Es war sicherlich nicht das feine Restaurant, dass sich Grazyna und Sophie gewünscht hätten, aber für zwei wartende Vatt’ghern war es bestens geeignet. Eine junge Maid führte sie beide auf die kleine Terrasse vor dem Gebäude, wo sie es sich auf einer Bank gemütlich machten. Ihr Platz bot ihnen freie Sicht über den kleinen Hafen von Beauclair und die vielen Menschen, die ihrem Tagewerk nachgingen. Der Wirt brachte auf ein Zeichen von Atheris zwei Becher mit einer heißen Flüssigkeit. „Versuche es zu genießen, mein Freund!“
Gabhan hob die Augenbrauen und ließ seinen Blick über das Land wandern, welches womöglich wirklich eine gewisse Schönheit in sich trug. Doch es war falsch. Kein Land war so perfekt. Und es war zu heiß. Er atmete tief ein und aus, fuhr sich über die rasierten Seiten seines Schädels und betrachtete Atheris. „Du glaubst auch wirklich ich wäre immer nur schlecht gelaunt, oder?“ hakte Gabhan nach und schüttelte den Kopf. „Ich bitte dich. Ich kann durchaus auch Dinge genießen. Nur ist mir noch nichts davon hier begegnet…“ er grinste schief. „Ich drücke dir übrigens die Daumen. Was diese ganze Ehrenhändel-Sache angeht. Und in der Zwischenzeit überlege ich mir bereits eine gute Ausrede, die ich Valerian auftischen kann, weshalb ich deinen Leichnam mitbringe!“ das Grinsen wurde breiter und Atheris musste lachen.
Die Sonne berührte bereits den Horizont, als Atheris die beiden Damen erblickte. Sie hatten sich nach der langen Sitzung wohl gegen die Kutsche entschieden und so näherten sie sich zu Fuß den beiden Hexern. Ihre Gesichter wirkten erschöpft, aber zufrieden. „Es scheint gut gelaufen zu sein!“ merkte Atheris an, als es sich Grazyna neben ihm bequem machte.
Gabhan wog den Kopf hin und her, während er Grazyna und ihre Begleiterin erblickte. Wahrlich – Grazyna hatte ein dezentes, aber nicht weniger selbstgerechtes Lächeln auf ihren Lippen. Andererseits sah sie ja beinahe immer so selbstgerecht aus. Nein – er korrigierte sich selbst. Sie hatte noch am Morgen zu ihm gesagt, dass sie etwas ändern wollte und womöglich könnte sie wirklich einmal nützlich sein – und Feinde hatte er genug. Wenn er die Chance hatte eine von der Liste zu streichen, dann sollte er sie ergreifen. Und das fing nun einmal schon bei den eigenen Gedanken an. Gedanken, die er nun zu kontrollieren suchte. „Scheint so,“ stimmte der Bärenhexer zu. „Aber ich weiß nicht, was das für uns bedeutet. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn es nicht gelungen wä- oh, hallo Grazyna. Kann man dir etwas zu trinken bestellen?“
„Natürlich ist es gut gelaufen“, antwortete Grazyna mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, als sie sich neben Atheris sinken ließ und einen Stuhl zurückzog, damit auch dessen Schwester Platz an ihrer Seite nehmen konnte. „Du hast eine überaus fähige und versierte Schwester. Ich habe beinahe nichts mehr tun müssen. Du bist jetzt in jedem Fall anerkannt und darfst auch offiziell für deine Familie streiten – wir haben allerdings einen engen Zeitplan. Es war wichtig, dass sich die Duelle nicht mit einigen Feierlichkeiten der Herzogin überschneiden“, begann sie dann zu erzählen und wandte sich erst dann hinüber zu Gabhan.
„Wir haben etwas zu feiern, Gabhan. Überrasch uns mit etwas Geschmackvollem“, wies sie den Bärenhexer an und wandte sich dann wieder zurück zu Atheris. „Jedenfalls – der Zeitplan – wir müssen es binnen der nächsten sieben Tage geklärt haben, sonst wird der Besitz wieder zurück an die Herzogin fallen und neu vergeben werden. Wir haben versichert, dass es innerhalb der Frist erledigt sein wird.“
Sie schickte ihn also fort? Gut, sollte ihm recht sein. „Ich suche was Geschmackvolles,“ gelobte er und richtete sich auf, zögerte einen Moment und nestelte dann an seinem Schultergurt, löste diesen und hängte ihn über die Lehne seines Stuhl, warf Atheris einen unmissverständlichen Blick zu und ging in das Innere des kleinen Gasthauses. Hier drin war es deutlich kühler als außen und Weinreben hingen von der Decke. Es hatte schon einen gewissen Charme, wie Gabhan zugeben musste. Er ging zum Tresen und räusperte. „Tut mir leid Meister. Will nicht lange stören – ich brauch was Geschmackvolles zum Trinken. Etwas, das einem… feierlichen Anlass angemessen ist!“ er hatte für einen kurzen Augenblick überlegt Bitterwein zu bestellen, doch bei einem Blick über die Schulter, wo er den lächelnden Atheris sah entschied er sich dagegen. Er würde heute Abend einfach mal nicht die Sturmkrähe spielen. Sollte Atheris seinen Spaß haben. Sollte er sich freuen. Die Wahrheit würde noch früh genug mit brachialer Gewalt zuschlagen. Wahrscheinlich würde er die Wahrheit sein, die zuschlug. Fest. Mit einem nietenbesetzten Handschuh. In die Nieren jener Kontrahenten, die Atheris besonders gefährlich werden konnten. In sieben Tagen wäre Atheris nicht einsatzbereit. Und wenn es schlecht lief, dann würde er wahrlich die Radieschen von unten betrachten. Aber darum würde sich Gabhan ab morgen Sorgen machen. Wenn der Greifenhexer schon so blauäugig war sich über diesen Unsinn zu freuen, dann würde er es ihm nicht wegnehmen.
Einige Augenblicke später kam Gabhan zurück an den Tisch. In den Händen den Wein, der ihm von dem Wirt empfohlen worden war. Irgendwas Süßes. Mehr hatte er nicht verstanden.
Vorbereitungen
Drei schnelle Hiebe prasselten auf Atheris ein und er hatte alle Mühe sie mit seiner Klinge zu parieren. Mit einer halben Körperdrehung wand er sich um den Stahl, der die Luft an der Stelle zerschnitt, an der er soeben noch gestanden hatte. Er nutzte die sich ihm nun bietende Blöße und ließ sein Schwert diagonal von unten in Richtung der Brust seines Angreifers schnellen, aber er war zu langsam – zum wiederholten Male fiel es seinem Gegenüber überraschend leicht seinen Konter abzuwehren. Es musste ihm keiner sagen, es war zu offensichtlich, dass er seine gewohnte Schnelligkeit und Kraft noch nicht wiedererlangt hatte nach der schweren Verletzung und Gabhan demonstrierte es ihm während der Übungen immer und immer wieder. Mit einem letzten kräftigen Hieb, der den Schmerz durch seine Brust schießen ließ, beendete der Bärenhexer auch diese Sparringsrunde.
„Verflucht Atheris. Ich muss dir nicht mehr sagen, dass du dich verdammich überschätzt hast. Das merkst du gerade selbst, oder? Wenn sogar ich schneller als du bist, hast du noch einen verdammt weiten Weg zur alter Größe. Und dieser Weg ist zu weit für die Zeit die du noch hast…“ Gabhan, noch außer Atem von den Übungen mit Atheris, spuckte einen Klumpen zähflüssigen Speichel auf den schönen Holzboden. „Wir sollten Grazyna fragen, ob sie dir nicht doch noch irgendwie mit Zauberkunst helfen kann. Ich weiß was sie über die Nutzung von Magie zur Heilung sagt. Weiß wie vorsichtig sie ist, gerade bei uns. Aber du bist am Arsch Atheris. Da lässt sich nichts beschönigen…“ er hatte es befürchtet, aber nun wusste er es und was das bedeutete graute bereits seit einer ganzen Weile in seinem Verstand. Er würde mit Grazyna reden müssen. Denn Atheris würde nicht hören. Das tat der andere nie. Es war ebenso frustrierend wie auch angenehm. Etwas, auf das man sich verlassen konnte.
Atheris hatte sich auf einer Bank am Rande des Übungsplatzes niedergelassen und erfrischte sich gerade mit einem großen Schluck Rotwein. Gabhan hatte nicht Unrecht mit seiner Aussage, aber er hatte noch vier Tage Zeit und dank seines mutierten Körpers kehrten seine Kräfte schneller zurück als bei einem normalen Menschen. Auch die Pilze und Kräuter, die er nach Valerians Rezepten morgens und abends zu sich nahm, mussten bald ihre volle Wirkung entfalten. Er nahm einen weiteren tiefen Schluck, während Gabhan ihm sorgenvolle Blicke zuwarf. Der Bärenhexer hatte sein Herz am rechten Fleck, auch wenn er es selber nicht mehr wahrnahm. Es war die Wache vom Burgtor, der das Eintreffen des alten Berater der du Lacs verkündete. Atheris folgte dem Bärenhexer in Richtung Tor. Dort angekommen warteten bereits Grazyna und die drei Schwestern auf sie – ihren Gesichtsausdrücken entnahm er dieselbe Spannung, die er selbst verspürte.
Der alte Mann brachte auch tatsächlich Neuigkeiten vom Herold. Sechs Herausforderer hatten sich in den letzten Tagen beim herzoglichen Hofe eingefunden und formal Ansprüche erhoben. Einer dieser Ansprüche wurden als unzureichend zurückgewiesen, zwei weitere zogen ihre Herausforderung zurück, als sie erfuhren, dass ihr Gegner ein Vatt’ghern sein würde. Es blieben somit drei Herausforderer übrig. Der junge Baron Erwan de Sausaché war ein bekannter und erfolgreicher Ritter, der bei den Turnieren im vergangenen Sommer ungeschlagen geblieben war. Der zweite Herausforderer war ebenfalls kein unbekannter Mann auch wenn Atheris ihm bisher nicht begegnet war- der alte Marquise Pierrey Gérin-Lajoie. Der Marquise war seinem Ruf nach alles andere als ein Kämpfer, eher von gedungener, schwächlicher Gestalt. Sein Reichtum und der damit verbundene Einfluss waren die bevorzugten Waffen seiner Wahl. Der Marquis würde aber nicht selber das Duell ausfechten, sondern sein unbekannter Neffe aus dem Süden Nilfgaards. Der alte Berater beschrieb diesen als großen, kräftigen Mann, von dem der Volksmund behauptete, er würde Riesenblut in sich tragen. Als Letzter hatte sich Sir Valentin Baimencet beim Herold gemeldet, ein fahrender Ritter, über den der alte Mann weiter nichts berichten konnte.
„Hätte schlimmer kommen können!“ meinte Atheris – doch der Blick der anderen verriet ihm, dass sie seine Meinung nicht teilten. Gabhan tat seinem Unmut kund, indem er knurrend Atheris zurück aufs Trainingsfeld jagte.
Später am Abend saß Atheris frisch gebadet in der Gesindeküche und betrachtete die kleine Truhe vor sich. Er nahm zwei der seltsam geformten Pilze heraus und betrachtete sie für einen kurzen Moment, dann gab er sie in den köchelnden Sud. Wieder prüfte er das Rezept, das Meister Valerian ihm gegeben hatte und fügte zufrieden eine Kräutermischung hinzu, die ihm Gabhan aus seinem persönlichen Vorrat überlassen hatte. Wieder betrachtete er die bräunliche Flüssigkeit vor ihm in dem kleinen Kessel. Erst als das letzte Korn durch die Sanduhr gefallen war, nahm er den Kessel vom Feuer und füllte den Sud in eine hölzerne Schüssel und machte sich auf den Weg in sein Zimmer, legte sich in das für ihn etwas zu kleine, aber dennoch gemütliche Bett und trank den Inhalt in einem Zug. Der Schlaf setzte wie im Rezept beschrieben augenblicklich ein und Atheris übergab sich den Albträumen, die ihn nach der Einnahme des Gebräus für gewöhnlich heimsuchten. Die Schatten, welche derweil ins Zimmer getreten waren, bemerkte er nicht mehr.
„Er wird es nicht überleben,“ flüsterte Gabhan leise, wenngleich er auch wusste, dass der Trank, den sich Atheris zugeführt hatte, dafür Sorge tragen würde, dass sie mit einer Parade durch sein Zimmer hätten ziehen können, ohne dass der andere es bemerkte. Er brauchte die Ruhe. Sein Körper musste jede Anspannung verlieren, die den Hexern inne war und die dafür sorgen mochte, dass sie erwachten ehe sie etwas im Schlaf töten konnte, die jedoch in einem solchen Heilungsprozess eher hinderlich war. Er sah zu der Zauberin neben sich, die sich mittlerweile ihres Kragens und ihrer Handschuhe entledigt hatte. „Er ist stark. Und ein guter Kämpfer. Womöglich ein besserer als ich. Aber die Wunden der letzten Wochen und die eine im besonderen…“ er schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht wert. Die Ehre einer Familie die ihn nie wollte ist sein Leben nicht wert.“ „Das ist aber nicht unsere Entscheidung, Gabhan. Ich weiß, wie gefährlich all das ist, aber es ist seine Entscheidung und ich habe nicht das Recht, dazu etwas zu sagen.“
Gabhan schnaubte nicht gerade begeistert. „Wenn irgendwer das Recht dazu hat etwas zu sagen, dann du. Ach schau mich nicht so an. Ihr seid kaum nur alte Freunde. Das rieche ich…“ er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wie kannst du ihn das tun lassen? Wo er dir doch offensichtlich etwas bedeutet? Ich verstehe es nicht. Ich verstehe es wahrlich nicht.“ „Weil ich weder seine Mutter bin, noch sonst jemand, der über sein Leben bestimmt. Er ist erwachsen und ich kann nicht mehr tun als da sein und zu versuchen das zu versorgen, was dann noch übrig ist. Wie wäre es, wenn du damit ebenfalls beginnst, Gabhan? Andere als erwachsen wahrzunehmen?“ – „Werde ich, sobald ich mir sicher sein kann, dass er sich auch so benimmt. Du bist erwachsen. Deswegen rede ich mit dir. Wie mit einer Erwachsenen. Atheris glaubt an Ritterlichkeit, das Gute im Menschen und daran, dass eine Schale Milch die Kobolde fernhält. Klingt das für dich erwachsen? Also tue ich das was ich tun muss. Ich beschütze ihn.“ „Ist es das, was du dir einredest, Gabhan? Denn besonders gut hat dein Plan bisweilen noch nicht funktioniert.“
Gabhan lachte kurz auf. Ein knappes, bellendes Lachen. „Nein. Nicht wirklich. Haben meine Pläne so an sich. Irgendwie komme ich durch, aber ich bekomme nie das, was ich mit dem Plan eigentlich erreichen wollte!“ er ließ den Kopf in den Nacken sinken und betrachtete die kleine Decke mit dem weißen Putz und dem dunklen Holz. „Gut. Meine Pläne sind Scheiße. Notiert. Also, dein Plan? Denn du hast einen. Du lässt den gutaussehenden Idioten nicht sterben. Glaube ich dir nicht.“ „Werde ich auch nicht“, antwortete sie und schüttelte den Kopf. „Deshalb werde ich den Kampf auch beobachten, um im Notfall einzugreifen und für alle anderen Optionen gibt es dich.“ – „Mich?“ hakte er nach und legte eine Hand auf seine Brust und gab sich redliche Mühe überrascht und möglichst unschuldig auszusehen. „Was willst du damit andeuten? Solange keine Nekker, Ghule oder Tschorte in die Arena steigen bin ich wohl raus.“ „Männer mit Riesenblut in ihren Adern fasse ich durchaus als Monster auf, für die zu zahlen ich bereit bin.“ „Blödsinn. Weißt du wie Riesen aussehen? Das würde einen verdammt mutigen und Schmerzbefreiten Mann, oder eine wirklich arme und sehr tote Frau voraussetzen!“ er schüttelte den Kopf. „Die Sache mit dem Riesen ist gewaltiger Quatsch und das weißt du auch!“ er kratzte sich an der unrasierten Wange. „Aber gut. Reden wir Klartext. Ich nehme dafür kein Geld. Der Kodex verbietet es. ich bin kein gedungener Schläger, entgegen dem wie ich wohl erscheinen mag. Aber ich werde ihn wieder zurück zur Greifenschule bringen. Bei Möglichkeit mit allen Gliedmaßen.“
„Wieso denn Greifenschule?“, stellte sie die Frage und runzelte die Stirn. „Das ist überhaupt nicht die passende Ausbildung und nicht die entsprechende Mutation. Die Tränke wirken viel schlechter.“ Gabhan blinzelte und seine Pupillen weiteten sich um möglichst viel Licht in dem dunklen Raum einzulassen und Grazyna möglichst gut betrachten zu können. Jede Regung in ihrem Gesicht wahrzunehmen. „Wovon sprichst du? Er gehört zur Greifenschule. Wie du vielleicht an seinem Amulett gesehen hast? Sein Meister ist Valerian ‚Draugr‘ von Novigrad“ erhob eine Hand, während sich seine Gedanken drehten und er wieder an die Sache mit den Tränken damals in den kleinen Dorf dachte. „Erzähl mir davon.“
„Schlangenschule“, antwortete sie, die Stirn über die Worte des Bärenhexers runzelnd, weil sie keinen Sinn ergaben. „Ich habe die verschiedene Tränke probiert und rumexperimentiert bis sie geholfen haben – aus seinen Halluzinationen nach Sodden versucht ich mir eine grobe Orientierung zu verschaffen. Die Tränke, die ich bei mir hatte, waren für ihn.“ Gabhan zog die Nase hoch, was ein Geräusch gab, dass für ihn so unfassbar typisch klang. Dann trat er zu dem nahen Fenster und schloss die Läden, ließ sie in absoluter Finsternis zurück, wenngleich das auch nicht für ihn galt. „Schlangenschule…“ knurrte Gabhan düster und schloss die Augen. Ihre Tränke im Bodenwald, die viel zu heftig waren. Die Tränke, die Atheris zu sich nahm und die bei ihm häufig erst einige Augenblicke später zu wirken schienen als eigentlich gedacht. „Und er hat dir die Zutaten und Rezepte für die Tränke gegeben? Bei Freyas Titten! Weißt du was Lado mit dir getan hätte, wenn er davon wissen würde?“ er schluckte heftig. „Und was macht er dann bei der Greifenschule?“
„Hat er nicht. Ich habe es selbst rausgefunden, als ich versucht habe ihn am Leben zu halten … und was seinen Valerian angeht? Er hat ihn offensichtlich aufgegabelt und ausgebildet. Er hat etwas davon erzählt, als er wieder auf den Beinen war“, begann sie und hob eine Hand, um sich damit über das Gesicht zu fahren und dann schließlich schwer zu seufzen. Es fühlte sich nicht gut an, über jemanden zu sprechen, der nicht weit entfernt war – die Dinge auszusprechen, die sie nichts angingen, die Gabhan nichts angingen und über die sie hier jetzt trotzdem sprachen. „Und was Lado anbelangt? Dein Lado ist mir gleichgültig.“ „Mein Lado?“ Gabhan brummte. „Er ist nicht mein Lado. Mir geht es darum, dass dir etwas hätte geschehen können und ich hätte noch nicht einmal gewusst warum!“ er griff Grazyna an den Schultern. „Gut. Ich sehe. Noch mehr Geheimnisse die Atheris hatte. Aber sei es drum. Das ändert nichts. Das macht nichts aus. Was wichtig ist, ist wie wir mit der Sache nun umgehen. Wer wird ihm gefährlich werden?“
Machte er sich gerade Sorgen um sie? Grazynas Augenbrauen wanderten ein Stück in die Höhe während sie den Bärenhexer betrachtete und dann automatisiert die Namen derer vortrug, die gegen ihn in die Arena gehen würden. „Was ist mit deinen Geheimnissen?“, stellte sie die Frage. „Wirfst du jemandem wirklich vor Geheimnisse zu haben während du selbst kaum etwas preisgibst? Was ist mit der anderen Frau, von der Leto gesprochen hat? Mach ihm keine Vorwürfe für Geheimnisse, wenn du selbst keinen Deut besser bist.“ – „Meine Geheimnisse sorgen jedoch nicht dafür, dass meine Tränke nicht richtig funktionieren. Sie sorgen nicht dafür, dass es zu einem Krieg der Schulen kommen könnte. Ist ja nicht gerade so, als ob es so viele von uns gäbe.“ Er fuhr sich einmal über die Stirn, blieb dabei an den Narben hängen, die sich dort entlang zogen und ihn an eben jene Frau erinnerten, welche ihm die Wunde nicht versorgt hatte. „Und die andere Frau ist fort. Sie hat mir viel bedeutet. Mehr musst du nicht wissen. Aber es wird mich nicht in dieser Sache behindern. Zufrieden?“
„Gabhan“, führte sie an und seufzte noch einmal. „Ich bereite einige der Tränke vor und gebe sie dir. Solltet ihr wieder gemeinsam unterwegs sein kannst du besser helfen und was die Geheimnisse angeht? Jetzt haben wir drei eines, das wir gemeinsam tragen und niemand wird auch nur einen einzigen Ton davon erfahren.“
„Besser wäre es…“ erwiderte Gabhan und massierte sich die Nasenwurzel. „Es ist verdammt gefährlich Grazyna. Verflucht gefährlich. Hexer Geheimnisse … dahinter sind aktuell einige her. Also schweig darüber und ich tue es auch. Ich danke dir für dein Angebot. Ich danke dir sehr und ich werde es auch annehmen. Aber darum soll es nicht gehen. Ich werde dafür sorgen, dass zwei der Herausforderer nicht erscheinen werden. Dann muss er nur gegen einen antreten. Wenn alle drei verschwinden kommt es zu vielen Fragen. Habe ich schon gehabt, brauche ich nicht wieder.“ „Transmutation war mein Fachgebiet, Gabhan. Ich kenne eure Verwandlung sehr gut – ich weiß grob, wie es von Statten geht, allerdings fehlt viel Wissen. Die Tränke habe ich nicht, um sie zu verkaufen oder jemand anderen zu übergeben, sondern um zu helfen. Entschuldige, dass ich jetzt deine Ansicht über mich ändern muss. Ich werde den Mund über alles halten, so wie ich es die letzten Jahrzehnte auch getan habe.“ Die Augen des anderen wanderten einen kurzen Augenblick über ihre Erscheinung, die wie immer stolz ausstrahlte. Dann erwiderte er ihren Blick, schien in ihren Augen etwas zu suchen. Dann, ganz langsam, nickte er. „Gut. Ich glaube dir. Ich weiß, dass du … Atheris niemals etwas antun würdest. Und weißt du was? Ich will noch nicht einmal wissen warum. Es ist in Ordnung. Jeder von uns hat Recht auf Geheimnisse, nicht wahr?“ er zuckte mit den Schultern. „Dann hat jeder seine, wir haben zu dritt eines und nun werden wir beide uns ein weiteres erschaffen – ich werde Atheris Gegner aus dem Weg räumen und du wirst dafür sorgen, dass er für den letzten Kampf bereit ist!“ er streckte die Hand aus, zog seinen fingerlosen Handschuh aus und hielt ihr die Hand hin. Langsam ergriff Grazyna die Hand des anderen und umfasste sie. „Einverstanden.“
Gabhan lächelte knapp und schräg, während er seinen Handschuh wieder anzog. Dankbar nahm er die kleinen Kerzen, die Grazyna ihm kurz darauf reichte und deren Wachs so ganz und gar nicht wie jenes Bienenwachs wirkte, welches er einst im Dorf der Atherion gesehen hatte. Derart bewaffnet verabschiedete sich der Bärenhexer und trat leise wie ein Schatten in Atheris Zimmer, stellte die Kerzen dort auf und entzündete sie mit Feuerzeug und Zunderkasten.
Gabhan überprüfte noch einmal den Draht, welchen er wenige Stunden zuvor bei einem Händler gekauft hatte. Es war ein hübscher, grüner Draht, denn er sollte nicht auffallen. Normalerweise kamen diese Art von Drähten recht häufig in Weinbaugebieten vor, wo er die Weinreben an den langen Stöcken aufrecht hielt. Das war wichtig. Immerhin legten die Bewohner Toussaints großen Wert auf ein einheitliches Bild ihres pittoresken Reiches, da durfte ein Draht nicht auffallen. Auch Gabhan konnte diese Eigenschaft nun gut gebrauchen. Das feine Grün würde auch im Wald nur schwer zu sehen sein. Noch einmal überprüfte Gabhan den richtigen Zug des Drahtes, welcher sich um den halben Baumstamm spann und, kaum gezogen, straff über den ganzen Weg bis zur anderen Seite spannte. Es war perfekt.
Gabhans Raubtieraugen weiteten sich, ließen mehr Licht hinein und erlaubten ihm auch im grünen Dämmerlicht des kleine Wäldchens perfekt zu sehen. Er hatte sich in den Straßen umgehört und den Weg des täglichen Jagdritts von Sir Valentin Baimencet herausgefunden. Er wartete. Er war es gewohnt zu warten. Doch der Ritter zeigte sich schneller als ein Tschort – auch wenn er nicht bedeutend kleiner schien, auf seinem Fuchs den er im schnellem Galopp vorantrieb. Gabhan spannte den Draht. Spürte den Ruck. Das Sirren und Singen, dass durch Metall und Arm lief, seine Sehnen und Muskeln die spannten, protestierten. Dann hörte der Ruck auf und ein dumpfer Schlag war zu hören. Er hörte Schreie, das Krachen von Knochen und Metall. Gabhan musste nicht hinsehen um zu wissen was passiert war. Wahrscheinlich würde der Ritter überleben. Sehr wahrscheinlich sogar. Doch seine Verletzungen würden auch Atheris Überlebenschancen steigern – wenn er denn überhaupt antrat.
Wieder zurück im Gesindehaus auf dem Anwesen der du Lacs, welches momentan ihr Quartier war, zog Gabhan seine Lederhandschuhe aus und wusch seine gereizten, leicht blutigen Hände, die der Draht mehr als gedacht mitgenommen hatte, in eisigem Wasser.
Der Schweiz floss ihm über die Stirn, sein Atem war tief und gleichmäßig – der Rhythmus seines Herzen war langsam aber kräftig. Atheris sah inzwischen das Anwesen der du Lacs und bewegte sich im Laufschritt auf sein Ziel zu. Nach der alptraumhaften Nacht fühlte er sich körperlich deutlich besser, die Substanzen entfalteten ihre Wirkung und so war er in der Früh zu einem Lauf aufgebrochen. Der Pfad der Qualen, hatte Meister Valerian ganz nach der Tradition der Hexer den Trainingspfad der Greifenhexer um Kaer Iwhaell genannt – und das war er auch gewesen. Hier und heute war es eine deutlich leichtere Strecke gewesen, aber es tat gut sich zu bewegen. Als er die Tore einige Zeit später passierte, wartete bereits Gabhan mit zwei Übungsschwertern auf ihn. Atheris kam neben seinem Zunftbruder zu stehen, der ihm zur Erfrischung einen Kelch Wein reichte. Dankend nahm Atheris das Getränk entgegen, wobei ihm ein frischer Verband um Gabhans Hand ins Auge fiel. „Was ist mit deiner Hand passiert?“ fragte er ihn und nahm einen tiefen Schluck.
„Ist nichts Wildes, ich war nur etwas unvorsichtig!“ fiel die knappe Antwort des Bärenhexers aus. Selbst wenn Atheris hätte nachhaken wollen, wäre er dazu nicht mehr gekommen, denn Gabhan begann ohne Vorwarnung mit seinen Attacken.
Erst als Atheris zufrieden mit seinem Trainingsfortschritt beim gemeinsamen Abendessen saß, stürmte ein Bote des Herolds herein und berichtete, dass ein weiterer Kontrahent nach einem schweren Reitunfall zurückgezogen hatte.
Gabhan hob die Augenbrauen und nahm einen Schluck aus dem großen Krug neben sich, warf Atheris einen knappen Blick zu. „Ich dachte in Toussaint sind die Straßen gut ausgebaut!“ erklärte er erschüttert und schüttelte den Kopf. „Wir sollten ihm irgendwas zur Aufmunterung schicken. Irgendein Zeichen der ritterlichen Anteilnahme, wenn du mich fragst. ist doch bestimmt üblich in diesen Landen, nicht wahr? Solch Ritterlichkeit. Blumen womöglich?“ er stellte den Becher ab. „Aber sehen wir es positiv – ein Problem weniger um das du dich kümmern musst!“
Insomnia
Mit einem leisen Pfeifen bahnte sich ein Luftzug seinen Weg durch die alten Fensterläden des Gesindehauses. Es war das einzige Geräusch, das Gabhans feine Ohren wahrnahmen. Atheris und Grazyna waren bereits früh zu Bett gegangen, sie wollten für den großen Tag morgen ausgeruht sein. Auch er hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen, jedoch ließen ihn seine Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Wie hatte es nur soweit kommen können, dass er sich erneut um die Probleme anderer mehr sorgte, als um seine eigenen. Familie…pah! Für die Ehre…pah! Das alles führte zu Problemen und schlaflosen Nächten. Genervt setzte er sich auf und ging zu seiner Tasche, die achtlos auf einer Kommode lag. Seine Hände fanden das kleine Kästchen, nachdem er gesucht hatte, er öffnete mit einem leisen Klicken den Verschluss und zog mit zwei Fingern ein kleines Fläschchen mit einem feinen, schneeweißen Pulver raus. Nach einem prüfenden Blick zog er mit seinen Zähnen den Korken raus und hielt inne – beruhigte seinen Atem, bis dieser fast vollends zum Erliegen kam. Keine Bewegung. Er schloss die Augen und ließ seine anderen Sinne schweifen. Gleichzeitig begann er Energie aus seinem Körper in die linke Hand fließen zu lassen. Erneut pfiff ein Windzug durch die geschlossenen Fensterläden – dann war sich Gabhan sicher, er ließ sich über seine rechte Schulter zur Seite kippen – keinen Augenblick zu früh, denn er spürte wie der kleine Bolzen die Luft an der Stelle zerschnitt, an der vor wenigen Momenten noch sein Kopf gewesen war. Ohne sich auf die Landung zu konzentrieren, drehte er sich in der Luft, hob seinen Arm in die Höhe und formte mit sicherer Hand das Zeichen Aard. Die in Lumpen gekleidete Gestalt war inzwischen durch das Fenster in das Schlafgemach gestürmt, die scharfe Klinge im Mondlicht zum tödlichen Stoß bereit. Mit einer kaum merklichen Handbewegung vollendete Gabhan das Hexer Zeichen und entließ die gesammelte Energie aus seinem Körper. Die Druckwelle schien den Angreifer nicht zu überraschen, denn die zerlumpte Gestalt wich im letzten Moment zur Seite aus. „Scheiße!“ entfuhr es dem Bärenhexer, während er sich zur Seite rollte um nach dem kleinen Stuhl zu greifen, der an seinem Bett stand. Wie ein Raubtier schnellte der Schatten auf ihn zu … Parade…Parade…“Scheiße!“ entfuhr es ihm erneut, als er zwar die Klinge mit dem Stuhl abwerte, sie aber vom Holz abglitt und dann ein neues Ziel in seiner Schulter fand. Er spürte, wie Fleisch und Muskelgewebe zertrennt wurden und erst der Knochen dem Eindringen der Waffe ein Ende setzte. Aber da war mehr…viel mehr…Schmerz…lodernder Schmerz…ein kaltes Brennen…Gift…“Scheiße!“ schrie Gabhan wütend. Mit seiner freien Hand bekam er den Nacken seines Angreifers zu fassen, spannte seine Muskeln an und während er mit einem kräftigen Ruck seinen Gegner zu sich herabzog, schoss sein Kopf in entgegengesetzter Richtung nach oben. Er verspürte eine gewisse Zufriedenheit, als er mehrere Gesichtsknochen brechen hörte, die nicht die seinen waren. Es war ein ordentlicher Wirkungstreffer, denn der Angreifer ließ Gabhan genügend Zeit einen zweiten etwas schwächeren Kopfstoß direkt hinterher zu setzten um dann den erschlafften Körper von sich zu ziehen.
Vielleicht wäre es klüger den Mistkerl am Leben zulassen. Er wusste, dass dieses verdammte Arschloch vermutlich nicht alleine gehandelt hatte. Dass es einen Mittels- und einen Hintermann geben musste. Er wusste es, während er mit seinem Knie immer weiter auf den Hals des Angreifers drückte, spürte wie der Kehlkopf unter seinem Knie zerbrach. Der Attentäter hätte nichts gesagt, ganz gleich was sie versucht hätten und es war Gabhan auch herzlich egal. Er wollte in diesem Moment nur noch Rache. Das dumpfe Kribbeln in seinem Arm konnte nichts Gutes bedeuten. Was auch immer sein Gegenüber ihm da verpasst hatte, er war auf Hexer vorbereitet gewesen. Nur das erklärte das starke Gift, dass sogar bei ihm anschlug. Warum sollte ihn überhaupt jemand angreifen – außer – „Atheris!“ brüllte er so laut er konnte.
Er kämpfte gegen den aufkommenden Schwindel und das unkontrollierte Zucken seines Armes an…“Scheiße!“ fluchte er ein drittes Mal laut. Sein Blick fiel auf seine Klinge, die am Kopfende seines Bettes lehnte. Ungeschickt zog er das Schwert aus seiner Scheide und fixierte die Wand an der sein Bett stand. Erneut sammelte er die Energie in seinem Körper – zumindest das was noch übrig war und formte das Zeichen Aard. Er wusste nicht ob der Windstoß reichen würde, aber er hatte keine Zeit mehr zu warten, er spürte wie sich ein Taubheitsgefühl in seinem Körper ausbreitete und ein immer dichter werdender Sternennebel seine Sicht einschränkte. Die Energie formte erneut eine unsichtbare Faust, die er gegen die Wand sendete. Er sah den zweiten Angreifer sofort als er durch die geschwächte Struktur brach, er war bereits über Atheris gebeugt, aber etwas stimmte nicht, etwas schien ihm von dem tödlichen Streich abzuhalten. Gabhan spürte, wie ihn seine Kräfte verließen, es war egal, jetzt war alles egal! Er nahm sein Schwert auf Schulterhöhe, richtete den Ort auf sein Ziel aus und stürmte auf seinen Gegner zu. Mit einer letzten Genugtuung sank er zusammen mit dem durchbohrten Assassinen zu Boden – wie aus weiter Ferne meinte er Grazyna etwas rufen zu hören, die er mit erhobenen Händen im Türrahmen erblickte.
Von all dem bekam der sich im Tiefschlaf befindende Atheris allerdings nichts mit.
Tag der Entscheidung
„Du musst versuchen es auszublenden, Atheris! Grazyna hat ihr bestes gegeben ihn zu retten – mehr können wir im Moment nicht für ihn tun!“ Sophie reichte dem Hexer das Schwert, der es wortlos am Sattel befestigte. Gabhan zahlte den Preis für das aus seiner Sicht törichte Unterfangen von Atheris und diese Tatsache lastete schwer auf seinem Gemüt. Seine Schwester hatte allerdings Recht, er musste sich zusammenreißen, in wenigen Momenten könnte jede Unachtsamkeit tödlich enden. Der Hexer schwang sich unter den Blicken seiner Begleiter in den Sattel von Ker’zaer, der unruhig anfing auf der Stelle zu treten. Der junge Stallknecht reichte Atheris seinen schwarz-goldenen Helm. Er hielt ihn kurz in der Hand und betrachtete die Kerben und Dellen – oft hatte das gute Stück ihn vor so manch tödlichen Hieb geschützt. Er setzt ihn auf – es war kein unangenehmes Gefühlt wie er sich selbst eingestand. Durch die schmalen Sehschlitze und den geringeren Lärmpegel wirkte die Szenerie fast surreal. Sein Blick fiel auf die große Gestalt, die auf der anderen Seite der Arena auf einem grauweißen Streitross thronte, das Ker’zaer um einiges überragte. Atheris nahm seinen Schild und die Lanze entgegen. Letztere war etwas länger als die üblichen Kriegslanzen, die in der kaiserlichen Armee verwendet wurden. Sie war gut ausbalanciert und für den Tjost über Jahrhunderte optimiert worden. „Gloir aen Ard Feainn! Mein Bruder!“ flüsterte ihm Sophie zu, während er seinem Pferd die Sporen gab und sich auf den Weg in die Mitte der Arena machte.
Es war ein ungewohntes Gefühl, die Blicke der Schaulustigen in seinem Rücken zu spüren und das Gefühl wurde noch verstärkt, als er sich neben seinem Kontrahenten stellte und zum Herold hinüberblickte, der auf feierliche Art und Weise den Anwesenden von einer langen Rolle Pergament vorlas, was der Anlass des heutigen Tages war. Atheris hörte nicht zu, er kannte den Grund warum er hier war. Er konzentrierte sich darauf seinen Gegner zu mustern … welche der typischen Schwachstellen offenbarte seine Rüstung … wie saß er im Sattel … wie war sein emotionaler Zustand? Waren da Anzeichen von Furcht? Furcht konnte einen Kämpfer daran hindern, das Notwendige zu tun.
Die Rüstung entsprach nicht den hohen Ansprüchen eines Ritters aus Toussaint, sie war eher der Art, wie sie auf den Schlachtfeldern der Welt gängig war. Die Teile wirkten zusammengewürfelt und waren nicht auf seine große Statur angepasst. Sofort erkannten seine geübten Augen diverse Schwachstellen, auf die er sich im folgenden Kampf konzentrieren konnte. Auch die Art und Weise, wie sich der Mann im Sattel bewegte, verriet ihm, dass er im besten Fall ein passabler Reiter sein durfte. Das Alter des Mannes, in dessen Bart sich die ersten weißen Haare abzeichneten verrieten, dass er kein unerfahrener Kämpfer sein konnte, er wusste sicherlich um den Zustand seiner Ausrüstung und um seine eigenen Fähigkeiten – er war ohne Zweifel gefährlicher als ein junger naiver Ritter, der für Ruhm und Ehre stritt. Die Fanfare riss Atheris aus seinen Überlegungen und unter dem Gegröle des Publikums ritt er im leichten Galopp zu seiner vorgegebenen Ausgangsposition.
Die Beschrankung aus weiß angemalten Holzplanken bildete eine gerade Linie zu seinem Gegner. Das letzte Mal als er auf so einer Bahn geritten war, war an der kaiserlichen Militärakademie gewesen und sie diente damals als Erleichterung für die Rekruten um das Pferd nahe genug an den Gegner zu führen um mit der Lanze angreifen zu können – es entsprach aber kaum der Realität, da auf dem Schlachtfeld es eher selten vorkam, dass man seinem Gegner frontal im Kampf begegnet … aber das war jetzt auch egal. Mit einer weiteren Fanfare ließ der Herold das blutige Spektakel beginnen. Atheris ließ Ker’zaer wie immer vor einem Kampf kurz steigen und ließ dann den schwarzen Hengst scharf angaloppieren.
Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit näherte er sich dem Gegner, der trotz seines großen Schildes viele Angriffspunkte bot. Der Hüne hatte einen langen Oberkörper und ragte mit dem Bauchnabel weit über den Efter, zudem wies der Brustharnisch seines Gegenüber keine Keilform auf, weshalb sich Atheris einen Punkt auf der rechten Seite der Brust des Gegners als Ziel auserkor. Wenn er diesen Punkt mit genügend Wucht treffen würde, wäre es ein Wunder, wenn er sich im Sattel halten würde. Leicht nach vornegebeugt mit der Lanze fest unter dem Arm verkeilt hielt der Hexer auf sein Ziel an, tauchte unter der gegnerischen Lanzenspitze hindurch, führte seine Waffe in das Ziel und legte sich mit allem was er hatte in den Stoß…aber der harte Aufprall blieb aus, da seine Lanze widererwartend brach und die Wucht somit nicht in den Körper des Gegners übertrug. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte er, während er Ker’zaer zügelte, den Schaft seiner zerbrochenen Lanze unter dem Raunen der Zuschauer zur Seite schleuderte und mit der nun freien Hand nach seinem Schwert griff. Erneut preschten die beiden Streiter aufeinander zu. Atheris konnte nur hoffen, dass sein Widersacher erneut die Lanze nicht ins Ziel bringen konnte, ansonsten könnte sein Ansturm ein böses Ende nehmen. Konzentriert beobachtete der Hexer die Körperhaltung seines Kontrahenten … „Was hast du vor?“ entfuhr es ihm überrascht, als er sah, wie der Riese – bewusst oder unbewusst – sein Pferd näher an die Beschrankung führte. „Umso besser!“ dachte sich Atheris und hob seine Klinge zum Stich. Dann passierte das Unerwartete – das mächtige Schlachtross seines Gegners durchbrach im letzten Moment vor dem Aufeinanderprallen die Holzplanken und rammte Ker’zaer im vollen Galopp. Die Pferde und Reiter stürzten in einem wilden Knäul zu Boden. Auskeilende Hufe – ein schwerer Körper, der über Atheris hinwegrollte und ihm die Luft aus den Lungen presste – zwei Schläge mit einem gepanzerten Handschuh gegen seinen Helm, die ihm fast die Besinnung raubten – dann ein brutaler Zug an seinem Bein, der ihn für einen Moment aus dem Staub der Arena aufsteigen ließ, nur um gleich darauf wieder unsanft auf dem Rücken zu landen. Es dauerte einen Moment, bis sich Atheris orientiert hatte und feststellen musste, dass er mit seinem rechten Fuß im Steigbügel steckengeblieben war und nun von seinem Hengst durch die Arena geschliffen wurde. Der Versuch an sein Stiefelmesser zu gelangen scheiterte kläglich, als Ker`zaer vor der Arenabegrenzung einen scharfen Hacken schlug. Er musste sein Streitross beruhigen, also formte er mit der rechten Hand das Hexer Zeichen Axii und richtete seinen Konzentration auf das treue Tier. Atheris hatte das Zeichen noch nie erfolgreich bei einem Menschen anwenden können, aber es war nicht das erste Mal, dass er diesen Zauber auf ein Pferd anwendete. Durch ein kurzes aufblitzen der Augen löste sich der Zauber und fast augenblicklich beruhigte sich Ker’zaer, so dass der Hexer an sein Messer kam und zügig anfing den Steigbügelriemen zu durchtrennen. Keinen Augenblick zu früh befreite Atheris sein Bein, denn der Riese war bereits mit seinem erhobenen Kriegshammer und dem riesigen Schild an ihn herangetreten.
Grazyna hatte ihre Hände fest um die Armlehnen des Stuhls geschlungen, den Blick unaufhörlich hinab auf den Platz gerichtet, auf dem Pferd und Reiter miteinander fochten. Als Atheris gefallen war, hatte sie die Luft scharf eingesogen, bereit einen Zauber zu sprechen, um den anderen davor zu schützen sich erneut zu verletzen, wie er es sonst so gern tat. Sie tat es am Ende nicht – er würde es bemerken und es ihr übelnehmen und sie wollte ihm den Sieg nicht durch fremde Hilfe erkaufen, so dringend Sophie und ihre Geschwister ihn auch brauchten, doch gefallen … gefallen tat es ihr nicht.
Mit hämmerndem Herzen betrachtete sie den Hünen mit dem großen Kriegshammer und dem Schild, mit dem er jetzt auf den Hexer zutrat und ertappte sich dabei, dass sie für seinen Sieg zu welchen Göttern auch immer betete. „Er wird gewinnen“, hörte sie neben sich Sophie sagen und die leise Stimme der Frau brachte sie aus ihren Gedanken, ließ sie jetzt den Blick wieder heben und zu ihr hinüberlenken. „Natürlich wird er das“, versicherte Grazyna ihr und brachte ein weiches Lächeln auf ihre Züge, eine Hand von ihrer Lehne lösend und sie auf die der Schwester legend. „Er ist ein Ritter“, fügte sie hinzu als sei es Erklärung genug.
Das Splittern von Holz und ein metallenes Geräusch, als der Hammer die Rüstung traf, ließ nur wenige Sekunden später die Köpfe der beiden Frauen ruckartig zurück zum Turnierplatz fahren. Grazyna sah noch aus den Augenwinkeln, wie Sophie die Hände vor den Mund schlug, als der große Hammer auf die schwarze Rüstung traf und den Hexer ein Stück fortschleuderte. „Tu was!“, hörte sie Sophie neben sich mit erstickter Stimme flüstern. „Bitte…“, folgte es, als Grazyna zögerte, dann nickte die Zauberin nur knapp. Verborgen unter einem Schluck aus ihrem Weinglas verengte sie die Augen, flüsterte leise Worte und federte den Sturz ein wenig ab – gerade genug, damit es keinem Zuschauer auffiel.
„Danke …“, wisperte Sophie erneut neben ihr, aber Grazyna schüttelte den Kopf, wehrte den Dank wortlos ab, sich mit zitternden Händen wieder auf das konzentrierend, was dort unten vor sich ging. Sie hatte ihn schon einmal verloren, sie würde das nicht noch einmal zulassen. „Du liebst ihn noch, oder?“, fragte die Schwester dann mit einem Mal und seltsam ertappt machte Grazynas Herz einige Stolperer bevor sie versonnen in sich hinein lächelte und dann leise antwortete. „Ich habe nie damit aufgehört.“
Hitze wallte in Gabhans Gesicht auf. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, doch er verbot sich vom Fenster zu entfernen. Er keuchte, während sich die Zunge in seinem Mund anfühlte wie eine verdammte haarige Pflaume. Sein Blick wanderte hinab zu seiner Seite, wo ein dicker Verband ihn zusammenhielt und das verbarg, was darunter lag. Er wusste nicht genau was darunter lag, doch er ahnte die Farbe dessen und es war keine gute Farbe. Er war sich ziemlich sicher, dass diese Farbe auch nicht in der Natur vorkam. Der Hexer schüttelte den Kopf und sah wieder auf, ließ seinen fiebrigen Blick durch das Fenster wandern. Dort, auf der anderen Seite der Scheibe, auf dem von hier nur unzureichend zu erkennenden Turnierplatz überschlug sich Atheris gerade. Sah aus als würde es wehtun. Gabhan hoffte fest, dass es wehtat. Womöglich würde ihm das ein wenig Verstand einbläuen. Eine Scheißidee war das. Immer gewesen. Doch als der Riese nun auf Atheris zukam klammerte sich Gabhan doch noch an das Fensterbrett, hoffte das der verdammte Greifenhexer das hier überleben würde. Er konnte es kaum glauben – sie hatten gemeinsam einen Waldschrat besiegt, die Antherion zurückgeschlagen. Und nun würde er auf dem Feld der Ehre sterben? Vollidiot. Verdammter Vollidiot. Und er konnte diesem Vollidiot noch nicht einmal helfen. In was für einem erbärmlichen Zustand er nur war. „Komm schon Atheris…“
Der Hammer traf ihn wie ein Rammbock und wieder wurde er durch die Luft geschleudert und fand sich nach einem harten Aufschlag erneut im Staub wieder. Er schmeckte Blut im Mund … kein gutes Zeichen. Er versuchte sich zu erheben, aber er hatte Probleme sein Gleichgewicht zu finden. „A d’yaebl aép arse!“ schrie Atheris, als er sein rechtes Bein belasten wollte. Der Schmerz schoss durch seinen Körper wie glühende Lava und ein verdammt unangenehmes Pochen ging von dem inzwischen angeschwollenen Knöchel aus. Mit einem Schritt nach hinten wich der Hexer dem Hammer aus, der sich erbarmungslos in Richtung seinen Schädel senkte. Der lädierte Knöchel versagte ihm den Dienst und Atheris geriet ins Straucheln. Der Hüne erkannte dies noch im Schwung seiner Vorwärtsbewegung und nutzte diesen um den Hexer mit dem großen Schild nieder zu rammen. Ein drittes Mal fand er sich im Dreck wieder und ein drittes Mal musste er kämpfen um nicht sein Bewusstsein zu verlieren. Wäre sein Gegner wendiger gewesen als dieser Möchtegern-Riese wäre er vermutlich nicht mehr auf die Beine gekommen. Dem Schmerz trotzend richtete er sich vor seinem Gegner auf. Entschlossen blickte er dem Hünen in die Augen, in denen keine Freude, kein Vergnügen, sondern nur berechnendes Kalkül zu sehen war – er würde nicht leichtsinnig werden. Atheris unterdrückte den Impuls das Igni-Zeichen zu wirken – es ging um die Ehre und das offensichtliche Wirken von Magie würde den Ruf und die Ehre seiner Familie vermutlich nicht wieder herstellen – er musste auf profane Art und Weise siegen. „Ker’zaer…ratreut! Ratreut!“ schrie er aus voller Kehle, als er am Rande seines Blickfeldes den schwarzen Hengst entdeckte. Das treue Tier kam auf das Kommando sofort angaloppiert. Während der Hüne zögerte, ergriff Atheris das Sattelhorn mit seiner rechten Hand und hielt sich fest. Ker`zaer brachte den Hexer am Sattelhängend aus der Reichweite des mörderischen Hammers. Erst als sie die Mitte der Arena passiert und Atheris sein Schwert im Sand der Arena entdeckte ließ er den Sattel los und kam humpelnd zum Stehen. Er bückte sich und ergriff die Klinge – es fühlte sich gut an, das vertraute Gewicht der Waffe wieder in der Hand zu spüren. Drei Mal ließ er die Klinge vor sich die Luft zurrend zerschneiden und ging dann in Kampfstellung während sich der Riese mit großen Schritten näherte – „Se’ege na tuvean!“ schrie Atheris ihm entgegen.
Sein Gegner ließ sich nicht auf ein Geplänkel ein, sondern attackierte sofort mit einer Reihe von schweren Hieben. Links…zurück…nochmal nach links und abtauchen nach rechts…dann zwei halbe Schritte zurück um eine sichere Distanz zu erreichen – endlich war Atheris wieder im Kampf angekommen…die Schmerzen spielten keine Rolle mehr … die Ehre … die Familie … die Liebe … alles war in diesem Moment vergessen … nur die unzähligen Stunden auf dem Trainingsplatz, die Erfahrungen aus den Schlachten die er geschlagen hatte und die langen, aber lehrreichen Lektionen von Meister Valerian schossen ihm durch den Kopf. Wieder prasselten die Angriffe des Hünen auf ihn ein … er widerstand der Versuchung seine Klinge zum Parieren des schweren Kriegshammers zu verwenden, sondern pendelte die Schläge erneut aus. Im Vergleich zu Gabhan war sein Gegner deutlich langsamer, seine Angriffe mehr mit roher Gewalt geführt als mit Präzision – nur der riesige Schild schützte seinen Gegner vor einem schnellen Tod durch die Hexer Klinge.
Ein drittes Mal startete sein Kontrahent einen Angriff und wieder fuhr der schwere Hammer durch die Luft, mit dem Ziel seinen Kopf zu zermalmen. Von oben … er griff am liebsten von oben an … kein Wunder bei seiner Größe und seiner Reichweite musste er so unzählige Helme und deren Inhalt zermalmt haben. Zwar nicht so tänzerisch wie er es gewohnt war, dafür aber einfach und effektiv wich Atheris dem Schlag nach links aus, ließ aber dieses Mal seine Klinge wie eine Schlangenzunge nach vorne schnellen. Die scharfe Spitze seines Schwertes fraß sich durch die Kettenringe, welche die Schwachstelle zwischen Panzerhandschuh und Ellenbogenkachel schütze. Zufrieden sah Atheris, wie sich das rote Blut des Hünen seinen Weg durch den Gambeson und die gesprengten Kettenringe suchte und auf den gelben Sandboden der Arena tropfte.
Es war kein schwerer Treffer gewesen, dessen war sich Atheris sicher, aber sein Gegner schien nun die Taktik zu ändern und nahm zum ersten Mal in diesem Duell eine passivere, abwartende Haltung ein. ‚Ard‘ wäre die logische Wahl gewesen, eine gezielte Druckwelle auf den Schild und er hätte die Lücke in der Verteidigung, die er benötigte um den Kampf zu beenden. Wie aus dem Nichts schoss auf einmal der Schmerz zurück in seinen Knöchel…wieder setzte der Schwindel ein und lies die Welt um ihn herum verschwimmen … wie konnte das nur sein? Fragte er sich, als seine Beine unter ihm nachgaben und er anfing rückwärts zu stolpern. Sein Kontrahent brauchte nur einen kurzen Augenblick um die Lage zu erkennen und ging sofort wieder zum Angriff über.
Es war die zum Teil zerstörte Beschrankung, die den Sturz von Atheris verhinderte … es war der verzweifelte Versuch den tödlichen Schlag des Hammers zu blocken, der seine Klinge zerspringen ließ … es war seine Schulterpanzerung, welche die restliche Energie des Hiebes zum Teil absorbierte … letztendlich war es seine linke Schulter, die unter dem Gewicht des Kriegshammers brach. Wahnsinnig vor Schmerzen wollte sich Atheris wegrollen, wurde aber durch den jetzt noch riesiger wirkenden Schild fixiert – dann sah er sie, die Lücke in der Deckung seines Gegenüber. Ohne zu zögern und mit allem was er noch an Kraft aufbringen konnte, ließ er das kurze Stück, welches noch von seiner Klinge übrig geblieben war zur Seite und dann schräg nach oben schnellen. Er fühlte nur einen kurzen Widerstand bevor sich das Metall seines Schwertes seinen Weg durch das Fleisch, die Muskeln und Sehnen suchte. Mit einem tiefen, grollenden Schrei wich der Hüne schwer getroffen von Atheris zurück. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte er unter großen Schmerzen und raffte sich ein letzte Mal auf die Beine, wobei er ein Stück Holz zur Hilfe nahm, welches seine Hand im Sand ertastet hatte.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er die Distanz zu dem Hünen überwunden hatte, der inzwischen auf den Knien im rotgefärbten Stand kauerte. Der Schild lag achtlos neben ihm am Boden und lediglich der Kriegshammer diente dem Mann noch als Stütze, so dass er seinem vermeintlichen Ende entgegenblicken konnte. „Visse gead’tocht gaedeen! Du hast dich gut geschlagen!“ sprach Atheris so laut es ihm möglich war. „Der Kampf ist beendet, lege deine Waffe nieder! Morthwyl rhyfel vort!“ fügte der Hexer hinzu und richtete das Stück Holz in Richtung seines Gegners. Die metallene Spitze seiner abgebrochenen Lanze spiegelte die Sonne wider, während der Hüne den Hammer fallen ließ und in sich zusammensackte.
„Schwingen der Andacht, strebet empor, naht euch der Sonne goldenem Tor; Bringet ihr Grüße dankender Welt, die sie geboren, die sie erhält! Berge und Täler schmücket ihr Strahl, Trauben und Ähren reift sie zum Mahl; Farbiger Blüte würzt sie den Saft, weckt im Gemüte schaffende Kraft: Mutter des Lebens, preisen dein Licht, ist uns die erste kindliche Pflicht! Aen Ard Feainn!“ zitierte Atheris die alte kaiserliche Danksagung, die er an der Akademie gelernt hatte und die er in den nördlichen Kriegen so häufig nach einer überlebten Schlacht rezitiert hatte.
Während der Herold das Ergebnis des Duells offiziell bekannt gab, sah er wie Grazyna und Sophie zu ihm gestürmt kamen … natürlich war sie zur Stelle … sie war es immer um ihn zu beschützen. Mit einem Lächeln im Gesicht nahm er sie und seine Schwester in Empfang … die fluchenden Worte Grazynas, die sich sofort an die Versorgung seiner Wunden machte, störten ihn dabei keines Wegs.
Minus Heros
„Es ist nicht so schlimm wie es aussieht!“ beruhigte Grazyna die Anwesenden, „aber er wird Zeit brauchen um wieder in die Arena zurückzukehren!“ fuhr sie fort. „Zeit die wir nicht haben!“ entgegnete Sophie mit einem sorgenvollen Blick auf Atheris. Der Hexer lag auf einem Feldbett in einem Zelt gleich außerhalb der Arena und verfolgte das Gespräch der beiden Frauen. „Ich sehe keine andere Möglichkeit … Grazyna, kannst du noch etwas machen, das mir kurzfristig helfen kann?“ fragte er, während er vergeblich versuchte sich aufzusetzen, von der Magierin aber sanft zurückgeschoben wurde. „Es gibt verschiedene Ansatzmöglichkeiten, Atheris!“ rang sich Grazyna die Antwort ab. Sie wollte ihn auf keinen Fall in seinem jetzigen Zustand erneut auf dem Feld der Ehre erblicken, „aber … keinen Ansatz der schnell wirken würde ohne mit extremen Nebenwirkungen verbunden zu ist. Atheris, dein Körper war bereits durch eine schwere Verletzung geschwächt. Ich habe dir zuliebe schon mehr an deinem Körper magisch manipuliert, als es für einen normalen Menschen gesund ist – aber auch deinem Metabolismus sind Grenzen gesetzt … und die sind erreicht! Aen Ard Feainn! Atheris – ich will nicht als Nekromantin enden!“
„Dann werde ich für ihn antreten!“ ertönte Gabhans Stimme vom Zelteingang. Der Bärenhexer hatte eine Weile gebraucht um von seinem Krankenbett ins Zelt zu gelangen.
Er hatte keine Begeisterungsstürme erwartet, aber dass ihn alle nur mehr oder weniger anstarrten, kam auch für Gabhan überraschend. Zugegeben, er war nach dem Attentat letzte Nacht sicher nicht in bester Form …, sondern eher das Gegenteil. Aber er hatte den Kampf von Atheris aus dem Fenster verfolgt und seine Befürchtungen bestätigten sich – sein Freund lag übel zugerichtet vor ihm auf dem Feldbett und war sicher noch weniger in der Lage, dass zweite Duell zu bestreiten. Letztendlich war es Grazyna, die an Atheris Seite saß, die das Wort erhob. „Es wäre zumindest das kleinere Risiko Gabhan für den Kampf bereit zu machen!“
Ob die Magierin das nur gesagt hatte um ihren ach so lieben Atheris zu schützen wusste Gabhan nicht, aber er nickte zustimmend, worauf eine kurze aber lautstarke Diskussion entbrannte, bei der sie schnell wieder an dem Punkt waren, dass Gabhan als Kombattant wohl nicht zugelassen werden würde.
Der Bärenhexer hob eine Hand, um den Redeschwall der Anwesenden zu beenden. Er hatte sich schon durchdringen müssen dieses Wagnis einzugehen. Eine Idiotie, dessen war er sich bewusst. Sie hätten diesem vermaledeiten Versuch der Ehrenrettung von Anfang an den Rücken kehren sollen, doch dafür war es nun so oder so zu spät. Seine orangenen Augen wanderten von einer zur anderen und dort wo sein Handzeichen nichts zu bewirken vermochte, wirkte der Blick wunder. Es musste ein unangenehmer Blick sein, starr und ohne die Möglichkeit irgendein Gefühl hinein zu legen. Nur Grazyna hielt diesen Augen stand. „Wir reden hier nicht darüber, ob wir dieses Wagnis eingehen sollen. Denn ich sehe, dass wir es eingehen müssen. Atheris wird nicht wieder aufs Feld können, wenn sein nächster Gegner mit auch nur einem Funken mehr Talent als ein Kürbis gesegnet ist …. Ich hingegen … ich habe Tränke. Ich kann mich auf den Beinen halten. Und das länger als der Große…“ der Bärenhexer schüttelte den Kopf. „Anstatt also darüber zu reden wieso wir es nicht können will ich, dass wir etwas tun, damit ich es eben doch kann. Grazyna. Atheris. Irgendeine Möglichkeit wird es doch geben, oder? Ein altes Gesetz. Eine Weise, ein Ritterspiel, dass umzudeuten ihr in der Lage seid. Kommt. Ich will Ideen und keine langen Gesichter – und das schnell, ehe mein Verstand mir doch dazu rät diese Torheit sein zu lassen, denn eine solche ist es.“
Eine ganze Weile lang nagte Grazyna unruhig auf ihrer Unterlippe – eine lästige Eigenart, die ihr aus der Zeit ihrer eigenen Schülerschaft an der Akademie übriggeblieben war und die sie einfach nicht loswurde. Eine Eigenart, die sie immer dann wählte, wenn sie nicht wusste, ob das, was sie gleich sagen würde, nicht doch in einer völligen Katastrophe enden würde. „Die Antwort wird keinem von euch gefallen“, hob sie die Stimme, eine Hand ausgestreckt und sie auf Atheris Schulter gelegt, bereit ihn im Notfall auf dem Feldbett halten zu können, bevor er aufsprang und mehr an seinem eigenen Körper kaputt machte, als es jetzt bereits war.
„Die einzige Option, wie Gabhan antreten könnte, wäre, wenn er Teil der Familie wäre“, begann sie dann auszuführen, betrachtete, wie das Gesicht des Bärenhexers langsam wächserner wurde, als ihm dämmerte, was sie in Begriff war auszusprechen. „Beispielsweise als Verlobter einer deiner Schwestern“, sprach sie das aus, was sich in ihrem Kopf befand und hob die zweite Hand, noch bevor der Schwall der Empörung sie treffen konnte. „Eine Verlobung ließe sich im Nachhinein leicht wieder lösen. Es muss nur glaubhaft für die Adligen wirken, damit sie es nicht anzweifeln.“
„Oh ja, weil ich ja auch so verdammt gutes Heiratsmaterial bin!“ lachte Gabhan trocken und beißend auf. „Nein! Ich bin nicht irgendeine verdammte Dirne, die ihr an jemanden verschachern könnt. Oh, ich wusste, dass es eine dumme Idee war auch nur darüber nachzudenken hier zu helfen. Ehre, Familie. So ein…“ er schüttelte den Kopf. Nein. Nein, das war keine Option. Wie konnte er sich hergeben, wenn es SIE noch gab? Wenn SIE irgendwo dort draußen war? Was würde das für ihn bedeuten, für sein Ziel? Doch dann stockte er, sah in die Augen der Schwestern, in jene von Atheris, der seinem ersten Blick zumindest für den Bruchteil einer Sekunde auszuweichen schien. Dann in jene von Grazyna, die ihn aufspießte und einen Stich durch sein Herz schickte, dass er für den Bruchteil einer Sekunde als magisch wähnte, ehe er das Gefühl einordnen konnte – ein alter Bekannter, den er geglaubt hatte vor vielen Jahren losgeworden zu sein: Scham.
„Verzeiht. Ich sehe schon, was ich sehen muss und verstehe, was es zu verstehen gibt. Aber wie wollt ihr den Adligen weismachen, dass …“ er knirschte mit den Zähnen, rutschte eine Oktave tiefer, „dass eine der edlen Damen sich in so etwas wie mich verlieben könnte? Diese Scharade benötigt wahrlich viel kreative Eigenleistung. Ganz zu schweigen von dem Gesichtsverlust der edlen Dame, wenn es nicht zur Vermählung kommt…“ doch dann sah er den verzweifelten Blick der Schwestern, spürte Grazynas musternden Augen und die Bitte im Gesicht seines Zunftbruders. „Na gut…“ er ließ die Schultern sinken, fuhr sich über das Gesicht und spürte die Unregelmäßigkeiten und Narben in seinem Gesicht. „Gut. Gut, wir werden eine Lösung finden. Welche der Damen würde sich denn am besten für diese Scharade eignen?“ Grazynas Zungenschnalzen stand einer Peitsche in nichts nach und der Hexer hob abwehrend die Hände. „Ich meinte, welche Dame hat niemanden, der aktuell um sie wirbt?“
Für die Ehre
Es hatte sich eine Dame gefunden. Nicht zuletzt hatte Atheris drei Schwestern – und eine von ihnen würde sich für diesen Coup hergeben müssen. Das war eine unumstößliche Wahrheit, auch wenn die jüngste von ihnen – auf die die Wahl und die Vernunft gefallen war – wahrlich versucht hatte an dieser Wahrheit zu rütteln. Noch immer erkannte Gabhan den Schmerz in Emilias Augen. Eine Traurigkeit, die selbst den sonst so gefühlskalten Hexer nicht gänzlich unberührt ließ.
„Es ist die einzige Möglichkeit,“ hörte er noch Grazyna sagen, die dem Mädchen Wein und Taschentücher gereicht hatte, um diese bittere Medizin leichter verträglich zu machen. Gabhan wandte den Kopf ab. Um gegen die Tränen in diesen großen Augen anzukommen hätte er etwas Stärkeres benötigt als Wein. Auch er verspürte keine Lust seine eigene Freiheit in die Waagschale zu werfen – und seinen Ruf dazu. Diese Verlobung mochte nach dieser Scharade aufgehoben werden, doch sein Ruf als Hexer könnte irreparable Schäden davontragen, wenn man erst einmal erfuhr, dass es da eine edle Dame in Toussaint gab. Hexer waren Mordmaschinen ohne Gefühle – dafür wurden sie angestellt und bezahlt. Deshalb traute man ihn übermenschliche Dinge zu. Eine einzige menschliche Gefühlsregung mochte ausreichen, um Zweifel in anderen zu säen. Zweifel, die ihn einen Auftrag kosten, ihn um Geld und damit vielleicht sogar einen weiteren Winter bringen mochten. Doch das war nicht der einzige Grund, weshalb Gabhan es verabscheute. Alles in ihm wehrte sich mit Händen und Füßen. Denn wenn SIE erfahren würde, dass er sich verlobt hatte… was würde SIE nur denken? Würde SIE glauben, dass er SIE vergessen, einfach abgeschlossen und weitergemacht hatte? Niemals. Niemals durfte auch nur der Hauch einer Befürchtung entstehen, dass er womöglich nicht mehr weitermachen würde. Und doch… und doch war es Atheris einzige Chance um das Familienerbe zu behalten. Was für eine sinnbefreite Welt. Wie hoch konnte in Toussaint schon die Ehre stehen, die sie alle vor sich her trugen wie Standarten?
Noch einmal warf der Hexer einen Blick zu der Jüngeren der beiden Schwestern, die ihre Fassung wieder gewonnen hatte. Wie mochte es ihr erst gehen? Sie verlobte sich mit einer Missgeburt. Selbst wenn sie sich trennten, würde dieser Makel für immer an ihr haften bleiben. Sie würde gewiss eines Tages einen Mann finden der sie aufnahm. Aber es würde schwer werden. Keine gute Partie. Er würde ein Fleck auf ihrer weißen Weste sein. Eine Scharte in ihrer Ehre, die tief und gut sichtbar war. Sie würde ihre persönliche Ehre für die ihrer Familie aufgeben müssen. Wenn er darüber nachdachte, dann war es für sie wohl deutlich schlimmer als für ihn. Und dennoch war sie bereit es zu tun. War bereit sich selbst in die Waagschale zu werfen. Mutig genug für jenes ungleiche Tauschgeschäft. Was bedeuteten da schon seine eigenen Zweifel? Atheris war es wichtig. Und auf eine seltsame Art und Weise war Atheris ihm wichtig. Verfluchte Gefühle. Besser wäre es gewesen, sie hätten wahrlich alles in ihm abgetötet. Wie viel einfacher wäre es.
„Gebt dem Herold Bescheid,“ hob Emilia schließlich die Stimme. „Wir werden es tun. Nicht wahr, Meister Hexer?“ Gabhan lächelte nur müde. „Natürlich werden wir, meine Liebe. Es geht doch um die Familie. Natürlich werden wir.“
Obwohl ihm die schwere Plattenrüstung von Atheris zu groß war, fühlte er sich ziemlich eingeengt. Sicher war er als Bärenhexer an schwere Panzerung gewöhnt und er hatte sein Leben lang nichts anderes getragen, aber seine Ausrüstung war für den Kampf gegen allerlei Monstrosität ausgelegt – nicht für den frontalen Stoß einer Lanze. Er hatte sich lange geweigert, aber letztendlich war es Atheris gewesen, der ihn überredet hatte – wieder einmal – aber er hatte Recht, zumindest das erste Aufeinanderprallen sollte er wenigstens überleben und die schweren Platten waren seine beste Lebensversicherung.
Beinahe wie der Ritter, der er in einem anderen Leben womöglich geworden wäre, gerüstet verließ er das Zelt und schritt die wenigen Meter zu Ker’zaer hinüber, der von einem Stallburschen gehalten wurde. Über eine kleine hölzerne Treppe mit drei Stufen stieg er empor, begleitet von den einsetzenden Fanfaren aus der nahen Arena, wo die Schaulustigen sich für das Spektakel einfanden – er hasste es. Dankbar registrierte er die hohe Rückenlehne des Gestechsattels, der sich als überraschend bequem herausstellte. Emilia, seine Verlobte trat an ihn heran und überreichte ihm ein Tuch, dass mit schöner Spitze verziert war. Er steckte es wortlos, aber mit einem gequälten Lächeln in seinen Panzerhandschuh, dann ging es los – die Menge jubelte laut, vermutlich hatte sein Kontrahent soeben die Arena betreten.
Der Jubel brach ab, als er den Platz betrat – ob vor Erstaunen oder Missbilligung vermochte er nicht zu sagen – verwundert war er aber nicht und als er den Ritter in seiner vergoldeten Rüstung mit dem bunten Federschmuck auf seinem Kopf erblickte … einen strahlenden Ritter in glänzenden Rüstung, auf seinem schneeweißen Streitross … wurde ihm nochmal verdeutlicht, dass er so ziemlich das Gegenteil von dem war, was die Leute in Beauclair von einem Helden erwarteten.
„Wartet nur ab, bis ich mit eurem Ritter fertig bin!“ brummte Gabhan mehr für sich als für einen möglichen Zuhörer, die ohnehin zu sehr damit beschäftigt waren sich die Seele für jenen seelenlosen Abklatsch eines Märchenritters auf der anderen Seiten des Platzes aus dem Leib zu schreien, während er sein Visier runterklappte und Lanze und Schild entgegennahm und sich dann auf den Weg zum Herold begab.
Nun konnte Gabhan einen genaueren Blick auf sein Gegenüber werfen, auf die feinen Ziselierungen und Ätzungen in der Rüstung. Für Pomp und Tand, der über jeden Zweifel erhaben schienen und dafür sorgten, dass sich der Hexer in der eingedellten und schlechtsitzenden Rüstung seines Waffenbruders nur noch sinnloser fühlte.
Der Herold begann erneut den Grund für den Kampf und dessen Regeln zu erläutern. Gabhan hörte ihm nur mit einem Ohr zu, zu sehr damit beschäftigt die Schwachstellen seines Feindes zu analysieren und sich vorzustellen, wie er mit einer verdammten Lanze irgendwas Sinnvolles ausrichten sollte, als seine Gedanken auf einmal durch einen aufkommenden Jubel der Schaulustigen unterbrochen wurde. Die hörbar verunsicherten Fanfarenbläser kündigten durch ihr verspätet einsetzendes Signal einen weiteren Streiter an, der die Arena im leichten Galopp betrat. Die schwarz-goldene Rüstung sah mitgenommen aus … musste in den letzten Jahren viel mitgemacht haben. Das Wappen, dass er auf dem Schild trug verriet Gabhan, wer es sein musste…“Aramis!“ Wie in einer Märchengeschichte für Kinder betrat der strahlende Held im letzten Moment den Schauplatz um den Tag zu retten.
Gabhan fühlte sich endgültig fehl am Platz, als Aramis seine Stimme lautstark erhob und vor dem Herold und den Bewohnern Beauclairs seine Rechte einforderte. Nein…Gabhan hatte kein Problem damit, seinen Platz für Aramis zu räumen … dieses Duell um Ehre und Familie war eh nur eine Farce gewesen. Wie war er nur in diese Situation gekommen…warum hatte er sich nochmal darauf eingelassen? Sein Blick wanderte zur Tribüne, wo Sophie, Atheris und SEINE Verlobte ungläubig dastanden und auf Aramis starrten … keiner schien ihn auch nur mit einem Blick zu würdigen … ihn, der wider eigenen Willen hier in geborgter Rüstung auf einem Streitross saß das nicht seines war, bereit sein Leben gegen jede Vernunft aufs Spiel zusetzten, seinen Ruf zu riskieren und SIE unter Umständen für immer zu verlieren. Jedwede Aufmerksamkeit war nun von ihm abgefallen, das Tuscheln und Raunen auf den Zuschauerrängen kannte nur einen Namen und es war nicht der seine. Er hätte erleichtert sein sollen, doch ein schwelender Knoten bildete sich in seinem Magen. Mit einer abwinkenden Geste wendete er Ker’zaer ab und verließ den Platz der Ehre … jenen Platz, auf dem ein Hexer ohnehin nichts verloren hatte. Außer womöglich Atheris, aber der war in dieser Hinsicht ein hoffnungsloser Fall.
Atheris saß auf der Tribüne bei seinen Geschwistern und schaute Gabhan wehmütig hinterher. Wie ein räudiger Köter, der mit eingezogenem Schwanz von dannen zog, aber das Bild täuschte. Sein Zunftbruder war bereit gewesen für etwas einzustehen, was seinem Freund wichtig war, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, ohne dass er selber an diese Art der Ehre glaubte und wohl wissend, dass er in dieser speziellen Form des Duells leicht den Tod hätte finden können. Gabhan war sicher nicht der Held aus den Kindermärchen und sicherlich auch nicht der romantische Held aus den Liedern der Barden … aber er tat das, was Helden im echten Leben taten … auch wenn es wider seinem Willen war.
Die Fanfaren rissen Atheris aus seinen Gedanken und er richtete seine Aufmerksamkeit auf seinen jüngeren Halbruder Aramis. Neben ihm zuckte Sophie zusammen, als die beiden Kämpfer krachend aufeinandertrafen. Der junge Baron Pierrey Gérin-Lajoie wurde seinem Ruf gerecht, als begnadeter Tjostier und Gewinner der letzten großen Turniere in Toussaint führte er seine Lanze sicher ins Ziel. Sein Bruder fing die gegnerische Lanze jedoch geübt mit dem Schild ab und ließ die tödliche Stahlspitze an diesem abgleiten, was er mit einer leichten Drehung seines Oberkörpers unterstützte, während er zeitgleich seine eigene Lanze zwar nicht mit der gleichen Wucht ebenfalls auf den Schild seines Gegners platzierte. Die Kombattanten wendeten ihre Pferde und preschten erneut aufeinander zu – erneut schrien die Schaulustigen vor Begeisterung auf. Beim dritten Aufeinandertreffen passierte es schließlich, die Lanzen fanden ihr Ziel nur diesmal lehnte sich Aramis mit aller Kraft in seinen Stoß, wobei er den gegnerischen Angriff komplett ignorierte. Schwer getroffen landete der Herausforderer im Sand der Arena, während Aramis sich mit Mühe im Sattel halten konnte. Sophie schrie auf, während Emilia von der Bank aufsprang – die Menge tobte! Es war eben doch ein Unterschied, ob man bei einem Turnier antrat, bei dem es Ziel war seine Lanze auf dem Schild seines Widersachers zu brechen oder aber mit scharfen Waffen auf Leben und Tod zu kämpfen. Diese Lektion, hatte der junge Baron soeben schmerzhaft erfahren müssen, stellte Atheris zufrieden fest.
„Ist es vorbei?“ fragte Emilia mit heiserer Stimme. „Nein! Noch nicht!“ antwortete Atheris, der sich ebenfalls von der Bank erhoben hatte, da ihm die Leute vor ihm die Sicht versperrten. „Sie nur, er kommt wieder auf die Beine! … aber was macht Aramis da?“ kommentierte Sophie das Geschehen auf dem Platz. „In der Tat, was macht er da?“ fragte sich auch Atheris, der wie alle anderen sah, wie sich der Ritter in der schwarzen Rüstung von seinem Streitross gleiten lies und mit einer fließenden Bewegung die Klinge aus der Schwertscheide zog, die seitlich am Pferd befestigt war. Aramis schritt langsam auf seinen Gegner zu und gewährte diesem somit die nötige Zeit ebenfalls an seine Waffe zu gelangen. Wieder jubelte die Menge, als die beiden wie wild aufeinander eindroschen … wobei das nicht ganz stimmte. Atheris sah sofort, dass der Baron große Probleme hatte, vielleicht lag es auch an dem schweren Treffer verbunden mit dem Sturz, oder aber er war mit dem Schwert bei weiten nicht so gut wie mit der Lanze … egal, seine Aktionen wirkten in Summe wild und ungestüm. Aramis war hingegen absolut Herr der Lage und kontrollierte seinen Gegner mit seinem Schild wie er es wollte. Vielleicht tat es Aramis um es nicht zu leicht aussehen zu lassen … vielleicht aber auch um die Ehre seines Herausforderers zu wahren und ihn zumindest gut aussehen zu lassen – zumindest für das ungeübte Auge.
Atheris fuhr zusammen, als seine Schwestern mit einem ohrenbetäubenden Kreischen, was so gar nicht erhaben wirken wollte, den absehbaren Sieg ihres Bruders kundtaten. Dieser hatte in einer schnellen Abfolge zunächst seinen Gegner durch eine Finte ins Leere laufen lassen, dabei seinen Schild fallen gelassen, den Panzerstecher an seinem Gürtel rausgezogen und diesen seitlich an den Hals seines Gegners platziert, der wiederum sein Schwert fallen ließ und somit anerkannte, dass er verloren hatte und damit einverstanden war, das sein Leben geschont wurde.
„Was habe ich verpasst!“ knurrte Gabhan, der hinter Atheris schwer atmend und mit eingedelltem Helm unter dem Arm auf die Tribüne getreten war. „Nur das Ende dieser verfluchten Zeit, Gabhan!“ antwortete er Atheris mit einem breiten Lächeln im Gesicht.
Epilog
Die Frühlingssonne kitzelte Atheris in der Nase, als er auf dem Rücken von Ker’zaer durch die blühenden Weinberge in Toussaint ritt. Nach dem langen aber milden Winter, den er bei Grazyna und seiner Familie verbracht und seine Wunden gepflegt hatte, war es nun auch für ihn an der Zeit es Gabhan gleich zu tun.
Der Bärenhexer hatte sich noch vor Einbruch des Winters auf den Weg zum Winterquartier seiner Schule auf Yngvars Zahn, jenem kleinen Archipel der Skelliger Inseln begeben. Atheris hatte die Gesellschaft seines Zunftbruders genossen und das obwohl Gabhan alles andere als ein geselliger Zeitgenosse war.
Auch der Abschied von seiner wiedergefundenen Liebe Grazyna war Atheris schwergefallen, aber er hatte schwere Eide abgelegt, die es zu erfüllen galt. Die Magierin selbst hatte ebenfalls Verpflichtungen gegenüber einer reichen Patrizier Familie, die auch ihm ein Begriff war. Die Familie Groll war in Toussaint mehr als nur bekannt und zogen im Kaiserreich viele Strippen im Hintergrund.
Als Atheris eine Hügelgruppe überquert hatte und sich vor ihm eine blühende Ebene auftat, erblickte er einen einsamen Reiter, der langsam dem sandigen Weg folgte. Als er sich dem Unbekannten näherte, erkannte er die riesige Silhouette wieder, es war sein Gegner aus der Arena, er hatte sich von der schweren Verletzung offensichtlich erholt. „Wohin des Weges?“ fragte Atheris den Mann, als er diesen eingeholt hatte. „Wohin mich der Weg führt!“ antwortete dieser wortkarg. Der Hexer betrachtete den Mann, er wirkte deprimiert, nichts war mehr von dem fürchterlichen Krieger geblieben, als den er ihn das erste Mal getroffen hatte. Er reiste ähnlich wie Atheris selbst mit wenig Gepäck…nur das Nötigste. Vielleicht lag es daran, dass Atheris nicht gerne alleine war … vielleicht war es aber auch die Angst davor, genauso gefühlskalt zu werden wie die meisten anderen Zunftbrüder die er kennen gelernt hatte … es war letztendlich auch egal. „Wir können eine Weile dem Weg gemeinsam folgen?“ fragte Atheris nach einer Weile, woraufhin der Riese sich zu ihm umdrehte. Er war von den freundlichen und gütigen Augen des Mannes überrascht, der ihm mit einem leichten Nicken antwortete.
Nachspiel
Der Wind hatte sich gedreht und trug den Geruch nach kalter Luft und gefrorenen Wiesen mit sich. Wie es schien, herrschte in Toussaint also doch, entgegen der Behauptung der Dichter, kein ewiger Frühling. Gabhan blickte von seinem Versteck auf dem kleinen Hügel auf das herrschaftliche Haus herab, welches dort – umgeben von hohen Mauern gut sichtbar war. Die gelb getünchten Wände verstanden sich hervorragend mit den sie erklimmenden Weinreben, deren Blätter sich bereits rötlich gefärbt hatten, in Vorahnung auf das Kommende.
Es war gar nicht so schwer gewesen den Namen des Drahtziehers zu erfahren. Jenes reichen Adligen, der mit Vorliebe das Gehöft von Aramis Familie in Anspruch genommen und dafür auch das Leben von weit mehr Rittern geopfert hätte, als jene die er mit Versprechen auf Ehre ins Feld geführt hatte. Ein bitteres Lächeln umspielte Gabhans Lippen. Er hatte gewusst, dass all dies hier mehr gewesen war als der einfache Versuch einzelner Ritter eine weitere Zeile für ihr eigenes Epos zu erstreiten. Es gab immer jemanden dahinter. Einen Mann im Schatten. Und dieses Mal schien dieser das Leben in der Sonne zu genießen. Denn er saß auf dem großen Balkon seiner Villa, nippte an einem Wein, dessen Bouquet Gabhans feiner Nase bereits aus dieser Entfernung auffiel.
Der Bärenhexer hatte sich viele Gedanken gemacht. Hatte sich einen stilechten Auftritt überlegt. Hatte sich vorgestellt, wie er in voller Rüstung an das schmiedeeiserne Tor trat, der ersten Wache seinen Hodendolch kurz unter dem Kehlkopf in den Hals stieß, den nächsten mit einem Schlag gegen die Rippen gegen die Reben aus Eisen stieß, die das Tor zierten und seinem Leben mit einem einfachen Genickbruch beendete. Wie er das Tor mit Aard aufbrechen, die wohl sicherlich marmorne Treppe im Inneren entlang schreiten und auf den Balkon treten würde. Wie er dem dort sitzenden eine Rede über Moral, Ritterlichkeit und jenem Ruf halten würde, der in den Wald hinein und auch wieder herausschallen konnte, ehe er ihn mit einer schnellen Drehung enthaupten würde.
Doch er hatte diese Gedanken wieder verworfen. Es war ein unfassbarer Aufwand, konnte leicht schief gehen und war von einem Pathos geprägt, der ihm nicht hätte zu eigen sein sollen und den wohl dieses Land in ihn eingepflanzt hatte. Er hatte sich für eine andere Methode entschieden. Eine, die nicht auf einen Hexer deutete und die vor allem Dingen schneller war. Und schnell musste er sein, um Toussaint rechtzeitig vor den Winterstürmen zu verlassen und nach Skellige übersetzen zu können.
Aber zumindest ein wenig Pathos musste es wohl sein. Denn als er die Armbrust hob, die er einem reisenden Händler abgekauft hatte, glitzerte das Sonnenlicht auf jener Bolzenspitze, die Atheris beinahe das Leben gekostet hätte. Gabhan hatte sie aufgehoben und würde ihr nun, auf einem neuen Bolzen, einer neuen Bestimmung zuführen. Denn mochte Aramis auch den Tag gerettet haben, sobald er das Land wieder für längere Zeit verließ und nicht zurückkehrte, würde dieser Adlige, der da Wein schlürfte, wieder an der Pforte stehen. Doch diesmal nicht. Ehre und Ritterspiele mochten den Anschein erweckt haben, als hätten sie etwas geändert und irgendwelche Auswirkungen. Aber das hatten sie nicht. Sie waren nicht mehr als der Wunschtraum von Atheris. Wenn man wollte, dass etwas endgültig beendet wurde, dann musste man einen harten Abschluss ziehen. Dann musste man sich die Hände schmutzig machen. Und wenn Atheris das nicht einsehen wollte, dann musste Gabhan eben ran.
Die Armbrust wog ungewohnt schwer und der Hexer fragte sich, wie Reynek mit so etwas effektiv kämpfen konnte. Natürlich, er hatte solche Waffen schon mehr als einmal genutzt, aber sie nie lieben gelernt. Er hob die Armbrust, stützte das Gewicht an die Schulter und schoss.
Der Pathos verfehlte sein Ziel nicht, forderte aber seinen Tribut. Womöglich hätte er keine gebrauchte Spitze nehmen sollen. Womöglich hatte er auch einfach nur schlecht gezielt. Der Bolzen verzog leicht im Flug und traf nicht, wie vorgesehen den Kopf, sondern drang tief in den Hals des Mannes ein, der nur noch einen erstickten Laut von sich geben konnte, ehe er zu Boden fiel, dort versuchte aufzustehen und sich im Todeskampf wandte. Gabhan verzog das Gesicht. Es hatte schnell gehen sollen. Das war ihm nicht gelungen. Aber es half nichts, die Bewegungen des Mannes wurden langsamer, ehe sie gänzlich erstarben. Das Bouquet vermischte sich mit dem Geruch nach Blut und formten so einen Geruch, der dem Hexer deutlich bekannter war. Wenn Ehre so roch, dann konnte er darauf verzichten. Lässig warf er die Armbrust in ein Gebüsch und verließ den Platz. Es war Zeit nach Skellige zurück zu kehren und dieses verfluchte Land zu verlassen.
Die Rache des Waldes
Die Rache des Waldes
Metagame von Yannic und Peter
Prolog
Der Weg war schlammig, machte das voranschreiten des Pferdes hinderlich. Der Mann auf dem Rücken des Pferdes zog seinen Umhang fester und hoffte, dass der Loden den hier anbrausenden Sturm möglichst von ihm und seiner wertvollen Ware abhalten mochte. Der Reiter rutschte ein wenig auf dem Pferd hin und her um eine angenehmere Position zu finden. Ein Unterfangen, dass nach den Stunden im Sattel ebenso bemüht wie zwecklos war.
Es war ungewöhnlich dunkel für diese Tageszeit befand der Reiter nach einem Blick in den von dunklen Wolken gänzlich verschluckten Himmel, aus dem es mehr Wasser goss als in Wyzima an einem guten Waschtag aus den Fenstern geschüttet wurde. Der Mann auf dem Rücken des Pferdes hieß Godwin Birnbaum. Sein Name stand in weißen Lettern aufgestickt auf seiner Brust, direkt über einem darunter stehenden Stickwerk, dessen Buchstaben das Wort ‚Vattweir Botendienste‘ bildete. Godwin hasste diese Aufschrift auf seiner Brust, denn wenngleich auch Menschen dazu neigten sich nichts merken zu können – den Namen eines Dienstleisters, der sie nicht zufrieden stellte, den merkte sich jeder. Und Menschen die auf Post warteten waren selten zufrieden. Sie ignorierten den Fakt, dass die Straßen mit all ihren Passierwegen, Schlagbäumen und Zöllen nicht mehr so einfach zu bereisen waren wie dereinst unter König Foltest Zeiten. Ja, damals unter Foltest war das Leben noch einfacher gewesen. Damals hatte er als königlicher Bote gedient, hatte Befehle des Königs ausgeliefert, an jeder Herberge ein frisches Pferd verlangen können und war stolz auf seinen Beruf gewesen. Heute gab es keinen Foltest mehr. Keine königlichen Boten, keine Befehle die er ausliefern konnte. Statt einem frischen Pferd an jeder Herberge durfte er nur an genau bestimmten Wegposten sein Pferd wechseln. Wegposten, die als Außenstellen zu den ‚Vattweir Botendiensten‘ gehörten. Es gab genau zwei davon in ganz Temerien.
Aber die Zeiten änderten sich. Einst war er ein königlicher Bote gewesen. Aber einst war sein Weib auch schön, die Kinder brav und seine Manneskraft unvorstellbar gewesen. Die Welt änderte sich. Er wurde alt, sein Weib runzelig und seine Kinder Tyrannen, die ihm auf der Tasche lagen. Also musste er weiterarbeiten und da er nie etwas Anderes gelernt hatte, war er zu den ‚Vattweir Botendiensten‘ gegangen. Aber die Zeiten änderten sich nunmal. Und das Gehalt. Meistens zum schlechteren.
Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken, die sich in behäbiger Regelmäßigkeit um den Körper seines Weibes vor mehr als dreißig Jahren oder die Körper anderer Weiber, die heute keine dreißig waren, drehte. Er blickte sich in dem kleinen Waldstück um, welches sie nun erreicht hatten. Sein Pferd und er. An den Rändern des Weges lagen hohe Baumstämme, gefällt und aufeinandergeschichtet, weitere Bäume am Rande waren mit weißer Farbe markiert. Der Regen hatte zugenommen, zog lange Flüsse aus braunem Schlamm durch die Rillen am Wegesrand. Ein Rascheln war zu hören. Godwin sah in die Richtung des Raschelns, doch nichts zeigte sich. Godwin hätte schon geglaubt, dass er sich getäuscht hatte, dass er von der Reise müde und erschöpft war. Erneut wollte er das Pferd antreiben, doch der alte Gaul bewegte sich nicht. „Komm schon du verdammtes…“ er trieb die Fersen in die Flanken, doch das Tier scheute nur auf, warf Godwin von sich, der mit einem krachen auf dem Boden aufschlug und schrie, als er sah was der Sturz mit seinem Bein angerichtet hatte. Er schrie, als er sah was sich ihm nährte. Schrie, als die Wurzeln ihn packten, schrie als sich die Raben auf ihn stürzten. Er schrie nicht mehr als die Wölfe kamen. Konnte nicht mehr schreien.
Vorbei an Brugge
Sie hatten das Dorf der Antherion bereits seit mehr als einer Woche hinter sich gelassen, doch Gabhan war noch immer nicht bester Laune. Womöglich war er niemals wirklich bester Laune, doch seine Stimmung zeigte sich ganz eindeutig wesentlich gedrückter als zu Anfang der Reise. Der Hexer, der sich beständig weigerte auf Atheris Gaul aufzusteigen verzögerte die Reise, wenngleich er auch abends und am Lagerfeuer ein wenig aufzutauen schien. Dann, wenn die Flammen fast gänzlich heruntergebrannt und die Sterne hell waren, erzählte er Atheris von den besten Möglichkeiten ein Silberschwert zu führen, von den Vergiftungen, die Monster herbeiführen konnten oder aber von dem direkten Zweikampf gegen übermächtige Gegner. Er zeigte ihm jene, wuchtige Hiebe, die den Bärenhexern zu eigen waren und die wenig mit der tänzerischen Eleganz von Atheris Greifenstil gemein haben wollten, dessen weite Schwünge weniger dem Schaden als der Verwundung vieler Gegner zur gleichen Zeit golt.
Doch an den darauf folgenden Morgen war Gabhan wieder ganz der Alte. Hing seinen eigenen Gedanken nach und sprach nur das notwendigste. Andererseits beteiligte er sich an der Jagd, gab Atheris von seinem Essen ab und erwies sich auch sonst als durchaus nützlicher Reisegefährte. Es war der Morgen des zehnten Tages, als Gabhan Atheris schließlich festhielt. „Wir überqueren bald die Grenze zu Temerien,“ erklärte er leise und bedacht. „Tu mir einen gefallen und gehe nicht zu sehr auf die Eroberung Nilfgaards bezüglich Temerien ein. Nach allem was ich weiß ist das ein Thema auf das niemand gut zu sprechen ist – und das womöglich bei weitem noch nicht so klar ist wie du glaubst. Partisanen sind eine scheußliche Angelegenheit und ich würde mich gerne dieses eine Mal nicht mit einem ganzen Dorf anlegen.“
„Werde ich nicht, Gabhan!“ antwortete Atheris. Es war der letzte Feldzug gewesen, an dem der nilfgaarder Hexer als Soldat des Kaiserreichs teilgenommen hatte. Beim dritten Versuch hatte Nilfgaard das einst so stolze Temerien bezwungen und zu seiner nördlichsten Provinz gemacht. Dennoch wehrten sich auch nach all den Jahren noch vereinzelte ehemalige Anhänger des verschiedenen König Foltests gegen die Besatzung. Atheris hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass es diese Meinung gab und da er als Hexer nun versuchte, sich aus der Politik rauszuhalten, sah er kein Problem darin. „Lass uns weiterziehen, Gabhan!“
Der angesprochene Hexer zog eine Augenbraue nach oben, nickte dann aber. Es war nie eine gute Idee mit Leuten über gewissen Dinge zu sprechen. Wenn man Freunde bleiben wollte, so waren Themen wie Religion und Politik immer auszusparen. Immer. Die Straße unter ihnen wurde mit jedem Schritt breiter, während sich die Straße von Brugge zu jener Temeriens formte. Mit jeder Meile die sie zurücklegten wurde es kälter, die Wolkenformationen dichter und die Luft drückender. Es würde bald ein Gewitter geben. Das Zweifellos – woran Gabhan jedoch Zweifel hatte war an der genauen Wegrichtung. Natürlich, wenn sie zur Hauptstadt wollten mussten sie nur der Straße und den Schildern folgen. Aber dort wollten sie nicht hin. Sie mussten Richtung Vattweir – dort irgendwo auf dem Weg war jenes Dorf, von dem der Aushang sprach, den er gelesen hatte. „Wenn ich das richtig sehe,“ murrte er leise und blinzelte gegen den anbrausenden Sturm. „Dürften wir in weniger als zwei Tagen das Dorf erreichen, wo die Menschen verschwinden. Laut Aushang soll es 250 Orens für die Beseitigung des Problems geben. Zu wenig, wenn du mich fragst. Wir sind zwei Leute. Nicht weniger als 400 Orens. Hier geht es um das Leben von Menschen, die Leute sind dann in der Regel bereit zu zahlen. Vor allem, da auch unseres auf dem Spiel steht.“
Der folgende Tag war verregnet und der kalte Herbstwind sorgte für keine gute Laune unter den Zunftbrüdern. Tief in ihre Mäntel gehüllt folgten sie dem schlammigen Pfad. Der Norden … unzivilisiert und rau, dachte sich Atheris. Im Kaiserreich waren die meisten Wege gepflastert und sorgten für ein besseres Vorankommen. Als das Unwetter immer schlimmer wurde, passierten sie ein altes Gasthaus…klein und nicht im besten Zustand … aber aus den Fenstern schien ein warmes Licht. Hier im Niemandsland der temerischen Wälder, war es aber schon ziemlich viel. Atheris blickte von Ker’zaer hinab zu Gabhan und ihre Blicke begegneten sich. Sie wechselten kein Wort, sondern bogen gemeinsam durch das kleine Tor auf den Hof des Gasthauses.
Das kleine Gasthaus im Niemandsland kam Gabhan gerade recht, während sich der Regen des nahen Sturms tief in dem Fell seines großen Mantels verfangen hatte. Der Bärenhexer hatte den, aus dutzenden Fellresten zusammengestückelten Mantel noch nicht abgelegt, kaum die Verschnürung am Hals gelöst, als eine tiefe Stimme aus dem Inneren der Taverne ihn innehalten ließ. „Solchen Abschaum bedienen wir hier nicht!“ die Stimme war rau und unfreundlich. „Hey, Mutant! Hörst du schlecht?“ Gabhan verharrte weiter in der Bewegung, die Hand noch immer am Knoten in Hals höhe. „Hat man Töne? Nicht nur ein dreckiger Hexling, nein – jetzt sind sie auch noch zu den schwarzen Übergelaufen!“ eine andere Stimme, deren Besitzer offensichtlich Atheris entdeckt hatte, der nun nach Gabhan die Taverne betrat, nachdem er Ker’zaer irgendwo angebunden haben musste. „Was hat der Kaiser euch Geschmeiß versprochen? Ein eigenes Königreich wie den Spitzohren?“ Gabhan verharrte noch immer, während er seinen Blick über die Anwesenden schweifen ließ. Der Wirt und mehrere Männer, die anhand von Kleidung und Geruch professionelle Holzfäller waren. Männer, deren Statur den Begriff „Holzfällersteak“ geprägt hatten und die dem Geruch und der Anzahl an Bierkrügen nach zu urteilen wohl allein dafür verantwortlich waren, dass die Taverne hier wirtschaftlich rentabel war.
„Das geht ja gut los, Gabhan!“ flüsterte Atheris seinem Zunftbruder zu und zog weiter seinen nassen Umhang aus. Er hatte keine Lust auf Streitigkeiten, er wollte einen warmen Eintopf und ein Wein…oder Bier…vermutlich Bier – es war das falsche Publikum für Wein. Er betrachtete die Männer, die sich inzwischen erhoben hatten und die beiden hasserfüllt anstarrten. „Vorurteile, Unwissenheit, Alkohol und Gruppendynamik!“ meinte er zu seinem Zunftbruder.
Atheris sah, wie ein rothaariger, sehr breit gebauter Jüngling sich erhob und auf Atheris mit dem Bierkrug in der Hand zu schwankte. „Überlege dir genau, was du vorhast. Wenn du auch nur einen kleinen Teil der Geschichten über Hexer und ihre Fähigkeiten kennst, dann weißt du, dass es keine gute Idee ist!“ warnte Atheris den Herannahenden. Leider blieb die Warnung ungehört – der Jüngling holte zu einem mächtigen Schwinger mit der Faust aus und schlug zu. Atheris sah den Schlag kommen, was auch kein Kunststück gewesen war und machte einen Schritt zurück. Der Hieb, der sein Ziel verfehlte und nur die Luft durcheinanderwirbelte, brachte den jungen Holzfäller aus dem Gleichgewicht, so dass er taumelnd gegen einen Tisch krachte, sich den Kopf ordentlich anschlug und bewusstlos liegen blieb. Sofort war der ganze Schankraum auf den Beinen und stürmten auf Atheris los. „Zumindest wird es uns aufwärmen, Gabhan!“ seufzte Atheris, formte mit seinen Händen das Zeichen Aard und entfesselte die Druckwelle gegen die Beine, der heranstürmenden Männer. Als ob man ihnen einen großen Teppich unter den Füßen weggezogen hatte, stürzten die Holzfäller übereinander. Atheris blickte noch einmal über die Schulter von Gabhan und begann dann mit seinen zwei schlagenden Argumenten die Männer eines Besseren zu belehren.
Es gab viele Geschichten über die verschiedenen Hexerschulen. Die Schule des Wolfes galt als eine der klassischen Hexerschulen – sie hatten für so ziemlich jedes Monster ein Hausmittel, jagten ihre Beute unerbittlich und sollten, so sie denn mal zusammenkamen, auch im Rudel gegen ein starkes Ungetüm ankommen. Über die Schule des Mantikors war wenig bekannt, die Schule der Schlange waren für außerordentliche Mutationen und den gezielten und perfektionierten Einsatz von Giften und Tränken bekannt. Die Greifen kannten sich wie kein zweiter in der Nutzung der Zeichen aus, fochten auch mit Leichtigkeit gegen viele Gegner und wählten, so der Ruf, meistens Worte statt Taten. Die Schule des Bären indes war grobschlächtig, steckte viel ein, teilte viel aus und war rauflustig. Soweit die allgemeine Meinung.
Und dennoch – dennoch hätte Gabhan auf diese Schlägerei verzichten können. Er hatte vorgehabt Atheris zu sagen, dass es das nicht wert war. Dass sie sich ihren gesamten Ruf bereits im vornherein ruinierten und mit einem ruinierten Ruf würde das Folgende nur noch schwieriger werden. Doch Atheris, der Hexer der Greifenschule, schien sich ein wenig zu sehr von dem vermeintlichen Temperament der Schule des Bären abgeschaut zu haben und noch ehe Gabhan sich Fragen konnte wie es so weit gekommen war, flogen die Fäuste.
Der Bärenhexer ließ seinen schweren Mantel los, welcher mit einem satten und hörbar platschenden Geräusch auf den Boden fiel. Dann war schon einer der Holzfäller bei ihm, schlug ihm zwei Mal satt in den Magen, doch der Bärenhexer bewegte sich nicht. Ging nicht, wie vom Holzfäller erwartet in die Knie. Gabhan ballte nur die Hand zur Faust und ließ diese krachend mitsamt den Nieten gegen den Schädel des Angreifers donnern, dass dieser das Bewusstsein verlor. Der nächste war schon heran, Fäuste und Flaschen flogen, krachten gegen Gabhans Scheitel und zerbarsten. Splitter setzten sich, glitzernd wie kleine Sterne, im Haar des Hexers fest. Gabhan machte einen Schritt nach vorne, hob die Fäuste, täuschte an. Seine flachen Hände knallten seitwärts an die Ohren des Angreifers, der die Orientierung verlor und von einem Tritt auf den Tavernen Boden zurückgeschleudert wurde.
Gabhan wandte sich um, sah wie Atheris zwei weitere mit einem Fuß Feger auf die Bretter schickte, dann zitterte sein Amulett und er blickte nach links. Der größte der Angreifer hatte ein Messer gezogen und Gabhan hob die Hand. „Das war bisher ja ganz lustig,“ knurrte er tief und kehlig. „Aber jetzt steck das Messer weg Hundsfott. Ich zähle bis drei. Wenn du den Zahnstocher dann nicht weggesteckt hast bring ich dich um. Eins…“
Atheris ärgerte sich über die unnötige Schlägerei und hätte sie am liebsten vermieden, wäre der Jüngling nicht aufgestanden, hätte er Gabhan vorgeschlagen, es Gut sein zu lassen. Mit einem Fuß Feger schickte er zwei der Raufbolde unsanft zu Boden – es waren keine kampferprobten Männer … soviel war klar. Dann hörte er das Zählen und wendete sich in Richtung Gabhans. „Sheyys!“ fluchte er, als er das Messer sah und den ernsten Blick in den Augen des Zunftbruders. Schnell griff er einen Stuhl, der neben ihm am Boden lag und schleuderte diesen gegen den Angreifer mit dem Messer. Atheris sah, wie der Stuhl den Mann hart in der Magengegend erwischte und dieser zu Boden sackte und dabei das Messer sowie seinen Mageninhalt verlor.
Ruhe kehrte ein – Atheris blickte zu Gabhan, dessen Haare merkwürdig im Kerzenschein glitzerten. Ansonsten schien der Bärenhexer unverletzt zu sein. Mit einem Kopfnicken deutete Atheris zum Tresen. Gabhan zuckte kurz mit den Schultern und folgte ihm. Der Wirt, mit Abstand der kleinste und schmächtigste Mann hatte sich vor dem Kampf gedrückt. Als Atheris ihn hinter einem Bierfass kauern sah, fragte er trocken: „Willst du uns jetzt bedienen, oder bleibst du bei deiner Meinung?“
Der Mann hinter dem Tresen zitterte noch immer vor Angst, während sich der große nilfgaarder Hexer in den Schankraum beugte und ihn mit seinen schlangenhaften Augen musterte. Gabhan trat nach vorne und legte Atheris eine Hand auf die Schulter. „Lass gut sein,“ murmelte er leise und griff in seine eigene Tasche, spürte die wenigen Orens die er noch darin hatte und legte diese auf die Theke. „Guter Mann, verzeiht bitte. Das alles ist ein wenig außer Kontrolle geraten…“ erklärte Gabhan leise. Er hasste es. Hasste sich für das dumme Verhalten dieser Halsabschneider entschuldigen zu müssen, aber er wusste was geschehen würde, wenn sie blieben. Was es nach sich ziehen würde. „Nehmt das hier als Entschädigung für die Möbel und die Gläser,“ bat Gabhan. „Es ist nicht viel, aber mehr als wir uns momentan leisten können. Wir wollten nur ein Bett für die Nacht und etwas zu trinken am Kamin, denn es ist scheußlich draußen. Ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagt. Aber Hexer natürlich schon. Ich verstehe. Ich verstehe gut. Daher nehmt das Gold und ersetzt was wir zerbrochen haben. Nur eine Frage beantwortet mir noch – in welche Richtung liegt Carunwan?“ der Mann auf dem Boden deutete zitternd in jene Richtung, die Gabhan und Atheris eingeschlagen hatten und bestätigte damit wenigstens den Verdacht des Hexers, dass sie auf der richtigen Spur waren. „Dank dir, guter Mann“ Gabhan wandte sich um, stieg über einen der sich noch immer am Boden windenden Holzfäller und hob seinen Mantel auf. „Atheris, wir gehen. Wir sind hier nicht willkommen.“
Verlassen
Atheris war immer noch sauer, dass sie die Möglichkeit einer warmen Mahlzeit ausgeschlagen hatten. Gabhan mochte Recht haben, sie waren nicht willkommen … Hexer waren bei den Menschen in den Nördlichen Reichen schon lange nicht mehr gern gesehen gewesen … im Kaiserreich sah die Sache anders aus, die Menschen waren aufgeschlossener und gingen mit Anderlingen anders um – sicher auch nicht immer zum Guten, aber nicht wie hier. Das es seit Jahren im Norden brodelte und es zu mehr als einem Pogrom gekommen war – vor allem in Redanien – ist die Folge dieser Intoleranz und Unwissenheit.
Es war jetzt anderthalb Tage her, dass sie ein Zeichen von Zivilisation angetroffen hatten und seit ebenso langer Zeit hielt das miese Wetter an…kalt…nass…windig. Er blickte hinab zu Gabhan, der Bärenhexer schien weniger schlecht gelaunt zu sein, er war für die Wildnis gemacht worden … kein Wunder, dass sich die Bärenhexer auf den rauen Skelliger Inseln niedergelassen hatten, sie passten dahin. Ein Grund mehr für Atheris, seinen Meister Valerian davon zu überzeugen, die neue Greifenschule in Toussaint zu gründen und nicht in so einer Wildnis wie hier.
Atheris hing noch eine Weile seinen Gedanken nach, als sie eine größere Lichtung erreichten … ihr Ziel lag vor ihnen. Das Schild am Eingang des Dorfes lag in der aufgeweichten Wiese. Die Häuser sahen heruntergekommen aus, kein Rauch war über den Schornsteinen zu sehen und kein Licht schien aus den zahlreichen Fenstern. Ihr erster Eindruck bestätigte sich, als sie durch das Dorf streiften … es schien komplett verlassen.
Atheris hatte den halben Weg über die sonst so schlechte Laune des Bärenhexers übernommen, hatte in der aufkommenden Kälte und der überbordenden Nässe gezittert, während diese Gabhan selbst kaum etwas ausgemacht hatte. Und dennoch – dennoch hatte er sich über das nahende Dorf gefreut. Er hatte sich gefreut, sehr sogar. Nun, beim Anblick des Dorfes, freute er sich nicht mehr. Es war viel mehr die Sorge, die in sein Gesicht geschnitten war, tiefer als die hässlichen Narben, die seine rechte Gesichtshälfte entstellten. Da war kein Rauch mehr in den Kaminen, kein Kerzenschein in den Fenstern, kein Kinderlachen hinter verschlossenen Türen. Gabhan betrat gemeinsam mit Atheris den Dorfplatz und blieb stehen, drehte sich einmal im Kreis, während sein Mantel den dunklen Schlamm in sich aufsog. „Das hatte ich nicht erwartet,“ meldete sich schließlich der Hexer zu Wort und betrachtete die untergehende Sonne im Westen. Betrachtete ihre letzten blutroten Strahlen, die sich von der Welt verabschiedeten. „Tut mir Leid Atheris. Mir scheint, ich habe uns in die Irre geführt. Zu einem aussichtslosen Unterfangen. Wir kommen zu spät. Was auch immer die Dorfbewohner geholt hat, es ist über sie einhergefahren wie der Deibel. Sie sind geflohen oder tot. Sei es das Eine oder das Andere – sie sind nicht mehr da. Und jemand der nicht da ist, der kann uns nicht bezahlen. Verzeih den langen Weg und verzeih die Umstände,“ Gabhan kniete sich nieder, als er etwas im Schlamm entdeckte und hob es auf. Das, was er da aus dem Schlamm zog trug ein rotes Kleidchen über kleinen Ärmelchen und Haare aus Kordelfäden. Hornknöpfe bildeten Augen, ein knapper Strich einen Mund. Das einst hübsche rote Kleidchen war nass und braun geworden. Gabhan betrachtete das Püpplein, während der Regen heftiger wurde. „Wir sollten uns in eines der Häuser für die Nacht zurückziehen und morgen brechen wir wieder auf. Suchen uns eine andere Beschäftigung.“
„Musst dich dafür nicht entschuldigen, Gabhan. Sowas kann niemand ahnen. Schau das große Haus dort hinten, das sieht doch noch brauchbar aus!“ antwortete Atheris.
Wenig später hatten sie es sich im Haus gemütlich gemacht. Es war groß genug um sogar Ker’zaer einen warmen Unterschlupf zu bieten. Trockenes Holz fanden sie auch noch und so hatten sie es zum ersten Mal seit Tagen etwas gemütlich. Nachdem sie aus ihrem Proviant eine leckere Suppe zubereitet hatten, setzten die beiden Hexer ans Feuer. „Was wohl den Bewohnern zugestoßen ist, Gabhan?“ begann Atheris und blickte auf die Puppe, die Gabhan achtlos – oder vielleicht auch nicht – in die Nähe des Feuers gelegt hatte.
„Es ist egal Atheris,“ erwiderte der angesprochene und schüttelte den Kopf. „Sie sind tot – zumindest die meisten von ihnen. Ich glaube nicht, dass alle von ihnen gestorben sind. Oder zumindest habe ich noch Hoffnung und Hoffnung ist alles was sie gebrauchen können… Was sie gebrauchen konnten. Aber es ist gleich. Völlig gleich…“ er ließ die Schultern sinken. „Was ändert es noch?“ hakte er leise nach und stand auf, trat zu dem großen Fenster und stieß es auf, ließ sich den Sturm für einen kurzen Moment um die Nase wehen. Es tat gut. Die kalte Luft half beim Nachdenken. Er atmete tief ein und aus, warf einen Blick nach hinten zu dem Hexer, der am Feuer saß. „Oh bitte nicht,“ er fuhr sich durch den Bart. „Atheris bitte sag mir nicht, dass du all dem hier nachgehen willst.“
Atheris blickte von der Puppe in seiner Hand auf zu Gabhan, der zum Fenster gegangen war. Er wusste selber nicht, warum er die Puppe überhaupt vom Boden aufgehoben hatte. Jetzt wo ihn sein Gefährte aber darauf ansprach, musste er zugeben, dass er daran gedacht hatte. „Wir sind den ganzen weiten Weg hierhergekommen, was schadet es uns ein bis zwei Tage hier zu bleiben um den Ereignissen auf den Grund zu gehen?“ Atheris machte eine Pause und starrte die Puppe an, dann fuhr er fort, „Wenn auch nur einer der Bewohner noch am Leben ist … wenn nur einer von ihnen verzweifelt auf Hilfe hofft … Hoffnung Gabhan, es geht mir um die Hoffnung! Ich kann den Gedanken nicht ertragen, hier im Nirgendwo jemanden im Stich zu lassen … vielleicht ist es ein Kind, vielleicht auch ein Greis – egal! Es ist es Wert ein wenig Zeit zu investieren! Und Gabhan, ich bin bereit dafür zu zahlen!“ bei den letzten Worten hob er den Blick erneut zum Bärenhexer.
Hoffnung. Solch ein großes Wort. Hoffnung. Es kam ihm so einfach über die Lippen. Hoffnung. So hatte sie es immer genannt. „Ein Feuer in der Finsternis…“ flüsterte er leise, so leise, dass Atheris es über den Sturm kaum verstehen konnte. Sie hätte ebenfalls gewollt, dass sie die Kinder hier retteten oder es zumindest versuchten. Hoffnung spenden. Sie hätte gewollt, dass er es tut. Mein treuer Ritter. Ihr Ritter. Hexer. Er war ein Hexer.
„250 Oren,“ hob er schließlich die Stimme. „Du willst, dass ich helfe? Dann zahlst du den Preis!“ er war ein Hexer. Er brauchte seinen Preis. Er war nicht mehr ihr Ritter. Sie war fort. Weit, weit fort. „Wir bleiben den Abend hier. Draußen ist es verdamm mich dunkel und nass. Wir finden heute Abend nicht mehr als wir morgen früh finden werden. Wir sollten etwas essen und uns aufwärmen. Morgen früh finden wir dann raus was hier geschehen ist.“
„Abgemacht, Gabhan!“ antwortete Atheris und legte die Puppe bei Seite. 250 Oren war eine stattliche Summe, aber es ging Atheris nicht ums Geld – dass hatte es nie. Es ging darum den Unterschied auszumachen, etwas zu bewirken was zählte! Er hätte sich schon vor Jahren in sein kleines Häuschen in Toussaint zurückziehen können, um dort von seiner Pension, die er als ehemaliger Offizier der kaiserlichen Armee erhielt leben können, aber das war es nicht was er wollte … das war nicht das Ziel seines Lebens! Wenn eines Tages der Sensenmann an seiner Türklopfen sollte, wollte Atheris die ihm gegebene Zeit genutzt haben, er würde mit erhobenen Haupt diese Welt verlassen. Atheris zog sich seine Decke enger um die Schultern und lächelte den Zunftbruder an. „Setzt dich wieder ans Feuer, Gabhan! Du siehst aus, als ob du einen Geist gesehen hast!“
„Nein, kein Geist,“ erwiderte Gabhan und schüttelte den Kopf. „Nur ein Echo. Mehr nicht Atheris, nichts worüber du dir Gedanken machen musst. Nichts was diese Mission gefährden wird…“ er schluckte die Bitterkeit seiner eigenen Worte hinunter und wandte sich um, nachdem er die Läden wieder geschlossen hatte. Die Kälte draußen konnte er wenigstens aussperren. Wenigstens diese. Er ging langsam auf Atheris zu, ließ sich neben ihm auf den Boden sinken und warf einen Blick hinüber in das Feuer. In die Flammen. „Wir werden dein verdammtes Dorf retten. Ganz den ritterlichen Tugenden gleich denen du so anhängst. Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich dir wenn all das vorbei ist sagen werde ‚Ich hab’s dir ja gesagt‘, nur damit wir uns verstehen.“
„Und dennoch hoffe ich, dass du Unrecht hast, Gabhan!“ erwiderte Atheris und starrte wieder in das Feuer.
Gegenwart – Nacht
Der Mond hatte seinen Zenit überschritten und der Regen hatte endlich aufgehört gegen das Dach zu prasseln. Atheris wachte auf, die Natur rief ihn – nein, nicht, dass er etwas gehört hatte, dass ihn aufschrecken lies – nein, es war viel trivialer, er musste Austreten. Er schälte sich aus seinen warmen Decken, schnappte sich seine Silberklinge und schlich sich zur Tür – Es war Meister Valerians oberstes Gebot, dass ein Greifenhexer nie unbewaffnet umherziehen durfte, und diese Regel hatte ihn mehr als einmal das Leben gerettet. Gabhan schnaubte einmal kurz auf, als Atheris eine Holzdiele erwischte, die unter seinem Gewicht furchtbar knarzte. Nachdem sich sein Zunftbruder jedoch ohne Aufzuwachen zur Seite gedreht hatte, öffnete er die Tür und schlüpfte nach draußen. Die frische Luft war eine wohltuende Abwechslung zur rauchigen Luft im Inneren des Hauses und jetzt wo auch der Wind aufgehört hatte zu wehen, waren auch die herbstlichen Temperaturen ganz angenehm. Er ging über die kleine Holzveranda zur Hausecke, wo ein noch kleiner Haselnussbaum wuchs, öffnete seinen Schamlatz und lies der Natur seinen freien Lauf.
Als er fertig war und sich gerade daran machen wollte wieder ins Bett zu gehen, fing sein Medaillon an leicht zu vibrieren – Magie!? Atheris schaute sich mit seinen scharfen Augen um, die Dunkelheit machte ihm wenig aus, er sah gut – aber auch nichts. Seine empfindlichen Ohren – hörten nichts! Atheris schreckte auf … nichts? Wo waren die ganzen Geräusche der nachtaktiven Waldtiere geblieben, die er noch beim Verlassen des Gebäudes gehört hatte. Bodennebel breitete sich vom Waldrand her in die Gassen des kleinen Dörfchens aus – unheimlich, wenn auch nicht zwingend ungewöhnlich. Dennoch glitt die Hand des Hexers zu seiner Silberklinge und zog sie leise aus der Schwertscheide. Das ziehen des Medaillons wurde stärker – er konnte den Ursprung nicht ausmachen. Er ging langsam drei Schritte rückwärts bis zum Fensterladen, öffnete ihn leise … bückte sich nach einer Haselnuss, die zu seinen Füßen auf der Veranda lag und warf sie auf Gabhan – sie traf ihn leicht am Kopf.
Nass
Der Boden war durchnässt. Durchnässt waren die teuren Vorhänge, deren einst so samtenes rot sich vollgesogen hatte und die nun wie blutige Stränge schwer von den sich biegenden Gardinenstangen hingen.
Gabhan irrte durch die langen Korridore. Diese unendlich langen Korridore. Er kannte sie. Kannte sie schon immer. Aber nie waren sie so lang gewesen. Nie so weit. Nie. Seine kleinen Füße rutschten immer wieder beinahe auf dem nassen Marmor aus, dessen Oberfläche glatter als jeder Spiegel geworden war. Er hörte Rufe. „Flieh“ riefen die Stimmen. „Flieh kleiner Page, flieh. Dreh dich nicht um, niemals. Niemals!“
Gabhan rannte. Er floh, floh weiter und weiter, doch der Gang wollte nicht enden. Niemals. Niemals. Nie. Da waren Ritter blau und weiß, der Drache auf der Brust. Doch sie standen nicht. Hatten immer dort gestanden. Doch sie standen nicht. Sie lagen. Hier. Und dort lagen sie auch. Und dort ebenfalls. Einer von ihnen lag an zwei Orten zu gleich. Wie konnte jemand an zwei Orten zu gleich liegen? Da war Blut. Gabhan stürzte. Blut. Überall Blut. Es läuft ihm über die Hände, übers Gesicht. Es fließt in die Rillen im Marmor. Wie Blut das durch Venen fließt. Es fließt, fließt hinab, den Gang hinab, dort wo er herkam. Dort wo das Blut seinen Ursprung hatte. Das Blutbad. Der Tod. Tod. Tod überall, Gabhan versucht aufzustehen, aber es gelingt ihm nicht. Er hört Schritte. Schritte hinter ihm. Hinter ihm? Über ihm. Eine starke Hand die ihn hochzieht ihn aufrichtet. Augen. Diese Augen. Diese furchtbaren, alten Augen. Kalt. Kalt wie der Tod. Ohne Mitgefühl. Ohne Reue. Abschätzig. Taktierend. Starke Hände halten ihn. Halten ihn fest. Und er kann sich vor Angst nicht bewegen. Hängt da, wie ein Lumpenmännchen, während der Mann mit der langen Robe ihn hochhält. Ihn ansieht. Flieh rufen die Stimmen. Flieh kleiner Page, flieh.
Er lässt los. Gabhan wird losgelassen. Gabhan fällt. Der Boden tut sich auf und er fällt. Tief fällt er und schnell. Ungeheuer schnell. Flieh kleiner Page, flieh. Dreh dich nicht um niemals. Du darfst dich niemals umdrehen. Denn wenn du dich umdrehst, dann wird er da sein. Er mit den bösen Augen. Den kalten Augen. Flieh kleiner Page, flieh. Soweit du kannst.
Tiefe Nacht
Die Haselnuss flog einen weiten Bogen. Flog über das Stück Stoff, dass die einstigen Besitzer des Hauses zurückgelassen und in ihrer Rückständigkeit als ‚Teppich‘ bezeichnet hatten. Flog über die Risse im Boden, in denen Holzwürmer lebten und ihrem Tagwerk nachgingen und dann, in einem eleganten Bogen, traf es den Kopf des Bärenhexers. Dieser schlug, wie auf ein geheimes Signal die Augen auf, schoss nach oben und hatte bereits eine Klinge aus dem Stiefel gezogen, die halbe Drehung vollführt und beinahe – beinahe – die Klinge losgelassen. Doch er ließ sie nicht los. Er hing an Atheris Leben und am eigenen, wenn die Greifen von solch einem Missgeschick erführen. Er nahm einen tiefen Atemzug, während er die Situation in sich aufnahm. Dann, sehr leise und sehr ruhig, sagte er: „Atheris. Beweg deinen Arsch hier rein du Hundsfott. Langsam und ruhig. Keine hektischen Bewegungen. Und mach kein Geräusch. Nicht das geringste. Wage nicht einmal zu atmen. Komm durch die Tür. Langsam. Bei allen Göttern, langsam sage ich. Dann schließen wir alle Fenster. Jetzt!“
Atheris vernahm was ihm der Zunftbruder gesagt hatte und begann sich rückwärts der Tür zu nähern. Der Nebel wurde schnell dichter … das Medaillon riss förmlich an der Kette um seinen Hals. Gabhan schien zu ahnen, was hier los war – er selber wusste es nicht! Leise schloss er die Tür von innen. Der Bärenhexer war bereits auf der anderen Seite des Raumes und stand am gegenüberliegenden Fenster, die scharfe Klinge gezogen. Atheris nahm die Position an dem Fenster neben der Tür ein und schaute durch die kleinen Ritzen nach draußen. Inzwischen war der Nebel so dicht, dass man die anderen Häuser nicht mehr sehen konnte. Unheimlich … so fühlte es sich an! Der geisterhafte Nebel suchte sich seinen Weg durch die Spalten und trat in kleinen Wölkchen zu den Hexern ins Innere. Atheris blickte zu Ker’zaer der unruhig wurde aber still hielt – zum Glück war das treue Tier in der Hohen Schule der Reitkunst in Toussaint ausgebildet worden, denn er blieb auch in diesen Stresssituationen außergewöhnlich ruhig. Dann … auf einmal war da was … Atheris hatte es für einen Moment im dicken Nebel gesehen! Da draußen war jemand! Das Adrenalin schoss in seine Adern. Ruhe. Nichts. Auf einmal bewegte sich der Riegel der Tür, langsam schob er sich zur Seite. Atheris machte drei kleine vorsichtige Schritte zur Tür und hob die silberne Klinge über den Kopf. Gabhan hatte es auch gesehen und beobachtete aufmerksam die Tür. Der Riegel öffnete sich und langsam schob sich etwas durch die Tür. Atheris spürte, wie sich seine Muskeln anspannten und zum Angriff bereitmachten, noch einen Schritt und dann … blickte ein kleines ängstliches Gesicht in seine Augen!
Ein Kind. Gabhan hätte Fluchen können. Kinder machten immer alles komplizierter. Aber ihm blieb keine Zeit darüber nachzudenken. Keine Zeit um zu Fluchen. Keine Zeit. Der Bärenhexer machte einen schnellen geräuschlosen Schritt nach vorne, übersprang dabei jenes knarzende Brett, welches Atheris bei seinem Gang nach draußen aus seinem hölzernen Schlaf erweckt hatte und zog den kleinen Menschen am Kragen hinein, presste ihn an eine Wand und hielt ihm mit der Hand den Mund zu. Er spürte den Widerwillen des Kindes, doch er konnte jetzt keine Rücksicht darauf nehmen. Auch das was da draußen wartete würde keine Rücksicht auf sie nehmen.
Gabhan sah wie Atheris den Mund öffnete, wie er protestieren wollte. Doch in Gabhans Augen lag ein Ausdruck, der dem anderen unmissverständlich klarmachen sollte, dass er es nun nicht wagen sollte einen Zank vom Zaun zu brechen. Noch immer hielt Gabhan das Kind fest, schloss die Tür so leise er es vermochte. Seine Augen wanderten fieberhaft in dem Raum umher, der einst so viel Leben beinhaltet haben musste, so viele Geschichten und schöne Momente, nun aber kalt und leer war. Gabhan formte mit dem Mund das Wort Nägel und hoffte, dass Atheris verstand. Einer alten Sage nach sollte man den Teufel des Waldes, Ihn der aus dem Wald kam, mit eisernen Nägeln vom eigenen Hause abhalten können, wenn man diese über die Pforte in den Türrahmen schlug. Er wusste nicht ob es stimmte, war diesen Wesenheiten bisher nur mit dem Silberschwert entgegengetreten, aber er hatte keine Rüstung. Keine Tränke und vor allem Dingen hatten sie keinen Plan. Es war ihre einzige Chance den heutigen Abend zu überleben um zu planen. Zu erforschen. Wenn dies nicht gelang? Dann lag ihr Leben in den Händen der Götter. Und an die glaubte Gabhan ebenso wenig wie an eine Chance hier raus zu kommen.
Atheris wollte fluchen, aber der Blick Gabhans erinnerte ihn daran, dass es nicht der Zeitpunkt war. Verdammt, was machte das Kind alleine da draußen? … Egal, sie waren in Schwierigkeiten. Vielleicht auch in großen Schwierigkeiten. Dann sah er wie Gabhan etwas sagte … meinte er Nägel – ja Nägel, ganz sicher. Aber warum? Atheris ließ seinen Blick durch den Raum schweifen bis er das knarzende Brett erblickte. Leise schlich er zu der Stelle – lose. Es knarzte weil die Nägel nicht mehr fest im Brett waren. Schnell zog er sein Messer aus dem Beinholster und hebelte drei dicke eiserne Nägel aus dem Brett. Es ging schnell und fast lautlos. Zufrieden blickte er zurück zu Gabhan und dem Mädchen. Letztere schien sich etwas beruhigt zu haben, zumindest hielt sie still. Der Bärenhexer zeigte mit dem Schwert auf den dicken Balken oberhalb der Tür. Vorsichtig durchquerte Atheris erneut den Raum und blieb an der Tür stehen. Er nahm den ersten Nagel und rammte ihn so hart er konnte gegen den Balken … dann nochmal … und ein drittes Mal. Die Nägel steckten mit der Spitze fest … aber das Reichte vermutlich nicht. Langsam verstand er auch, was er da machte. Er kannte ein Märchen, in dem ein böser Waldgeist durch eiserne Nägel vor dem Betreten des Hauses gehindert werden konnte – aus der Sicht und mit den Erfahrungen eines Hexers hätte Atheris gesagt, dass es Humbug ist – aber Gabhan schien es ernst zu meinen und nun ja, er schien mehr zu ahnen als er. Der Greifenhexer holte das nun lose Brett, hielt es quer über die Nägel und mit drei Schlägen rammte der Hexer die Nägel bis zu Hälfte ins alte Holz der Hütte. Ruhe.
Es begann mit einem komisch kratzenden Geräusch – leise war es, aber für ein Hexerohr gut zu hören. Dann nochmal, auf der anderen Seite des Hauses – diesmal lauter. Von allen Seiten kam das Geräusch und es wurde noch lauter. Ein Poltern – da war etwas Schweres auf die Veranda gestiegen. Schritte. Schwere langsame Schritte. Die Tür! Atheris hob sein Schwert und blickte angespannt zur Tür. Das Mondlicht warf einen Schatten von dem Etwas, das da auf der anderen Seite stand durch die Tür Ritze.
Gabhan hatte Atheris beobachtet, während er selbst seine Atmung so flach wie möglich angesetzt hatte. Das Kind hatte noch ein wenig gezappelt und beinahe hätte Gabhan es geschüttelt, als ihm auffiel, dass er es ein wenig zu gut gemeint hatte, als er dem Kind die Hand auf Mund und Nase gepresst hatte. Er lockerte die Hand ein wenig, was das mittlerweile hochrote Kind mit einem leisen japsen kommentierte. Doch es schien wenigstens zu verstehen – oder wenigstens zu ahnen – dass es nun galt still wie eine Maus zu sein.
Der Schatten kroch langsam durch die Ritze der Tür, schien zu flackern, sich zu verändern, die Formen von Menschen und Tieren anzunehmen. Ein Brüllen. Ein ohrenbetäubendes Brüllen. Der Waldteufel, der Lesovoi war wütend. Dann krachte es erneut und Gabhans Blick huschte zu den Fenstern, deren Läden nun heftig gegen die Mauern schlugen. Die Fenster. Der verdammte Nilfgaarder hatte die Fenster vergessen. Gabhan fluchte, stieß das Mädchen von sich, in Atheris Richtung und zwang diesen damit das Kind aufzufangen. „Vernagle die Fenster!“ brüllte er, dann rannte er zu einem der eben erwähnten Öffnungen und schwang sich selbst hinaus.
Er landete im Schlamm. Der Boden war weich und er sank tief. Seine große graue Hose, die er bequemerweise angezogen hatte. Seine lange, blaue Tunika. Keine Rüstung. Kein Leder. Keine Kette. Keine Tränke. Nur er, das Monster und das Silber. Zeit. Atheris brauchte nur Zeit. Gabhan erhob sich, ließ sein Schwert kreisen. Er hörte den Wolf heulen. Atheris sollte sich lieber beeilen.
Atheris fing das Mädchen auf und musste tatenlos zuschauen, wie Gabhan nur mit der Silberklinge bewaffnet durch das Fenster sprang. Die Fenster! Die Kindergeschichte ging nie so weit, dass man auch einen Nagel über den Fenstern einschlagen musste, aber klar … wenn es denn funktioniert, musste man alle Eingänge mit Eisen absichern. Atheris setzte das verängstigte Kind auf seine Schlafstätte und warf ihm die Decke über dem Kopf … natürlich war das kein Schutz, aber es konnte dem Kind etwas die Angst nehmen! Schnell trat er zu der Stelle, an der er bereits das erste Brett aus dem Boden gezogen hatte, überlegte kurz und formte dann das Zeichen Aard. Mit einem Zeichen der linken Hand entfachte er aus kurzer Distanz die Druckwelle, die stark genug war um das Brett zu zerstören. aus den Resten konnte er die zwei benötigten Eisennägel ohne größere Probleme mit dem Dolch lösen. Er sprang auf und beeilte sich zum ersten Fenster zu kommen und schlug mir aller Kraft den Nagel in den Fensterrahmen – er hielt. Dann rannte er zum zweiten Fenster, durch das Gabhan hinaus gesprungen war … und sah ihn nicht. Wo war er nur? Der Nagel! Schoss es ihm wieder in den Kopf und erneut rammte er das kleine spitze Ding in das Holz. Nach dem er fertig war, schaute er noch einmal zum Fenster hinaus … wo war er nur?
Nebel. Eisige Finger die an seinen Waden emporkrochen. Humusgeruch. Nasses Fell. Gabhan sah nichts mehr außer dem alles umfassenden Nebel. Eine weiße Wand, geformt aus Boshaftigkeit. Er sah nichts mehr. Konnte nichts mehr sehen. Also tat er das Einzige was vernünftig war. Er schloss die Augen. Er musste nichts sehen.
Kälte umschloss ihn. Der Nebel umschmeichelte seine Haut wie die feuchte Hand eines Toten. Der Hexer kontrollierte seine Atmung. Spannte die Muskeln an. Lauschte. Ein schneller Hieb, eine Halbpirouette. Er spürte wie das Schwert auf Fleisch traf, wusste was er aufgeschlitzt hatte, noch ehe er das erbärmliche Wolfsgeheul hörte. Er atmete tief ein und aus. Ein Rudel. Es war immer ein Rudel. Eine erneute Ahnung, ein Zittern des Medaillons. Schon wieder eine Halbdrehung, Schritt zur Seite, Schwert nach oben. Muskeln rissen, Fleisch platzte auf, Blut spritzte. Zwei Angreifer ohne den geringsten Kratzer. Mehr Glück denn können. Es konnte kein drittes Mal gelingen. Es gelang ein drittes Mal und Unruhe griff nach Gabhans Herz.
Er wusste, dass es kommen würde, noch bevor er es spürte. Er brauchte kein Hexermedallion, keine Zauberei und keine Mutationen um es zu wissen. Es war die Erfahrung des Kriegers, der viele Kämpfe geschlagen und viele Wunden erlitten hatte. Und es traf. Die Wucht riss ihn von den Füßen. Schleuderte ihn beinahe drei Meter in die Luft. So schnell und so heftig, dass er sein Silberschwert verlor. Der schlammige Morast bremste einen Aufprall. Aber nicht sehr. Gabhan schmeckte Blut und bittere Galle. Da war ein weiterer Wolf. Zähne. Fell. Klauen. Antherion? Nein Gabhan, nein. Wölfe. Stinknormale Wölfe. Wie erbärmlich. Sie waren da. Überall. Bissen zu. In Waden, Arme. Den Hals beschützen. Immer den Hals beschützen. Schlamm. Überall Schlamm. Etwas Festes, er brauchte etwas Festes. Da. Er spürte es. Holz. Ein schwerer Griff. Gabhan packte danach, schwang es durch die Luft. Die Axt begrüßte gierig den Schädel des Wolfes. Ein zweiter Hieb. Und ein dritter. Immer mehr Hiebe. Stinkendes Fell. Blut, dass ihm in die Augen lief. Gabhan rollte den Wolf von sich hinunter, stand auf so schnell er es konnte. Alles schmerzte. Es war noch da draußen. Kein Silber. Keine Rüstung. Keine Tränke. Keine Kraft. Gabhan drehte sich um sich selbst. Wo war Atheris? Verflucht. Wo war überhaupt irgendwas? Weißer Nebel. Brauner Schlamm. Alles schien sich gegen ihn verschworen zu haben und ihm die Sicht zu nehmen. Und dann sah er es. Ein kleiner Schein Feuer, der durch einen halb offenen Fensterladen fiel. Atheris! Gabhan rannte los, konnte nur hoffen, dass er dem anderen genug Zeit verschafft hatte. Wenn er das Monster zum Haus lockte und sie es nicht vorbereitet hatten. Nein. Er durfte nicht daran denken.
Atheris blickte in den dichten Nebel, es war ruhig, zu ruhig … keine Spur von Gabhan! Aber die Gefahr war da, er konnte sie förmlich spüren und das Medaillon um seinen Hals verriet ihm, dass er sich nicht irrte. Dann hörte er was – platschende Geräusche im aufgeweichten Boden – das gurgeln eines sterbenden Tieres – dann war wieder Ruhe. Wo steckte nur Gabhan? Atheris wollte hinausstürmen und ihm zu Hilfe eilen, aber das ging nicht, er konnte das Kind nicht alleine … ungeschützt lassen. Ein dumpfes Geräusch gefolgt – etwas Schweres fiel in den Schlamm – fletschende Zähne – Wölfe! Dumpfe hiebe und das scherzhafte Jaulen von mindestens einem Tier – dann wieder Ruhe. „Atheris!“ drang es an sein Ohr und dann sah er ihn! Sein Zunftbruder rannte mit einer kleinen blutigen Axt auf ihn zu, aber da war noch etwas, ein großer Schatten war ihm auf den Fersen … es holte auf … es würde nicht reichen! Er formte mit seiner Hand das Igni-Zeichen, sammelte Energie – „Gabhan, runter!“ und Atheris entfachte aus seiner Handfläche einen Feuersturm unter dem der Bärenhexer im letzten Moment durchtauchte. Es war dem Greifenhexer klar, dass sein Zeichen den Gegner, was immer es auch war nicht aufhalten würde, dafür war er in der Magie zu schwach und die Entfernung zu groß – aber er konnte Zeit gewinnen, Zeit für seinen Zunftbruder das Fenster zu erreichen.
Gabhan sah den Feuerball auf sich zukommen, warf sich zu Boden und schlitterte über den morastigen Boden, dieses eine Mal froh darum, dass der Boden derart schlammig war. Ebenso froh war er darum, dass seine Kleidung feucht und seine Haare durchnässt waren. Nachdem sein Körper am heutigen Tag bereits unangenehme Bekanntschaft mit Ästen, Reißzähnen und anderen spitzen Gegenständen zweifelhafterer Natur gemacht hatte, konnte er darauf verzichten nun auch noch wie ein Stréimännchen in Brand gesteckt zu werden.
Kräftig erhob sich Gabhan wieder, ignorierte den Schlamm der in alles eingesogen war. In Kleidung, Ritzen, Haare, Schuhe. Das waren andere Probleme für einen anderen morgen, wenn er denn noch einen erleben würde. Dann war er da – er sprang und flog wie eine Schwalbe durchs Fenster. Eine sehr ungelenke, besudelte und viel zu schwere Schwalbe. Wie er aufkam, würde Atheris in Zukunft nur mit einem anderen Vogel beschreiben: Einer Blei-Ente.
„Schließ die Fenster!“ brüllte Gabhan, Blut spuckend, nachdem er sich auf die Zunge gebissen hatte. Atheris tat wie geheißen und dann… herrschte stille. Gabhans Muskeln waren angespannt. Er spuckte eine Mischung aus Blut und Schlamm aus, angespannt wie eine Feder und doch geschah nichts. „Ich will verdammt sein…“ flüsterte der Bärenhexer. „Der Scheiß funktioniert…“
Ruhe … nach Gabhans unsanfter Landung im Inneren des Hauses und dem Schließen der Fensterläden herrschte wieder eine unheimliche Ruhe. Atheris fühlte wie sein Medaillon noch vibrierte – der Waldgeist oder was auch immer da draußen sein Unwesen trieb, war noch da … aber es passierte nichts. Lange saßen die beiden Hexer jeweils unter einem der Fenster und wachten, während das kleine Mädchen Seelig zwischen den Decken schlief. Atheris wollte sich nicht mal vorstellen, was sie die letzten Tage durchgemacht haben musste – aber jetzt schlief sie fest und er hoffte, dass sie nichts von dem Horror mit in ihre Träume genommen hatte.
Als die Herbstsonne über dem Horizont aufging und die warmen Strahlen der Sonne den dichten Nebel vertrieben, hörte auch endlich das Medaillon auf zu vibrieren. Atheris blickte zu Gabhan und sah in den müden Augen des Hexers, dass er ebenfalls gemerkt hatte, dass die Gefahr für den Moment gebannt zu sein schien. Gerade als sich die beiden entschlossen auch die Augen für eine kurze Weile zu schließen, erwachte die Kleine und lächelte die Hexer an.
Guinevere
Gabhan wandte den Kopf, als er das Geräusch vernahm. Ein leises Geräusch. Das Geräusch eines erwachenden Kindes. Ein Geräusch, dass Gabhan mehr als alles andere auf der Welt schmerzte. Er zuckte beinahe zusammen, konnte sich nur mit Mühe zusammenreißen.
„Sie ist wach…“ sprach Gabhan das Offensichtliche aus und warf Atheris einen Blick aus von dunklen Ringen gezeichneten Augen zu. Alles schmerzte ihm. Der Waldschrat war vertrieben aber Gabhan hätte sich lieber einem weiteren Kampf mit dem Ungetüm gestellt, als sich nun um ein Kind zu kümmern. Er konnte den Anblick von Kindern nicht ertragen. Nicht mehr seit…
Er riss seine Gedanken los, als die helle Stimme des Mädchens sich beinahe überschlug, als es zu ihm sah. „Guinevere!“ Gabhan hob die Augenbrauen. Nein. Das war nicht sein Name. Erneut vernahm er den Namen ‚Guinevere‘ da stand das Mädchen auf und tapste auf ihn zu, deutete in Gabhans Richtig und wiederholte erneut. Da verstand er, schob das Bein bei Seite und gab die kleine Puppe frei, die dort unter seinem Knie gelegen hatte. Zumindest dieses Rätsel war gelöst. „Hör mal zu Rotznase,“ brummte Gabhan und hielt ihr die Puppe vor die Augen. „Du kriegst deine Guinevere. Dafür musst du aber auf uns hören. Hast du verstanden? Wenn wir was sagen, hörst du auf uns!“ und bei den Göttern, sie mussten die kleine schnellstmöglich in das nächste Dorf bekommen. „Hast du Verwandte, Rotznase? Irgendwo in der Nähe?“
Atheris sah, wie das kleine Mädchen zu Gabhan ging und ihre ‚Guinevere‘ in die kleinen, vor Schmutz starrenden, Arme schloss. Sie sprach nicht – sie weinte nicht! Atheris ging zu seiner Satteltasche und holte etwas Proviant heraus – naja trockenes Brot und Trockenfleisch – nicht unbedingt die Lieblingsspeise von Kindern. Der Greifenhexer ging zu der Kleinen rüber und gab ihr das Essen und sie nahm es gierig an sich. Dann setzte er sich neben Gabhan.
„Ein Waldschrat also, Gabhan!“ er schaute zu dem verschmutzten Bärenhexer neben sich.
Gabhan blieb eine Zeit lang ruhig und erst langsam, ganz langsam blickte er zu Atheris hinüber. Der Blick war teuflisch, ein düsteres Feuer brannte in diesen Augen, eines von jener Art, das warnte. So sehr warnte wie es ein Waldbrand vermochte, der einen so gut wie eingekreist hatte. „Dein Ernst?“ Gabhans Stimme grollte, nahm den ganzen Weg tief aus dem Brustkorb des Hexers, dann warf er dem Kind einen kurzen Blick zu, machte eine eindeutige Kopfbewegung in seine Richtung. „Nicht hier!“ er stand auf und ging, drehte sich nicht einmal in Richtung Atheris um. Er würde folgen, da war Gabhan sich sicher. Aber er würde nicht vor einem Kind über die Grausamkeiten des Leshen oder den Verbleib der übrigen Bewohner diskutieren.
Atheris blickte zu dem Kind – es schaute ihm direkt in die Augen – schien keine Furcht vor ihm zu haben – biss gierig noch ein Stück vom Brot ab. Der Greifenhexer folgte Gabhan raus auf den Dorfplatz. Er hatte sich bereits zum Brunnen begeben und fing gerade an, sich mit dem kühlen Wasser das Gesicht von Blut und Schlamm zu säubern, als Atheris eine Lichtreflektion am Boden sah. Er ging hinüber und fand die Klinge von Gabhan. Er beugte sich runter und hob die Waffe auf – es gab kaum Spuren im Schlamm … zu feucht. Dennoch konnte er tiefe Abdrücke erkennen groß und schwer musste das Wesen gewesen sein, dass hier mit Gabhan gekämpft hatte. Atheris wandte sich ab und ging hinüber zum Bärenhexer und reichte ihm sein Schwert. „Also Gabhan, was ist mit den Leshen? Ich kenne nur die Märchen über die Waldgeister!“
Gabhan griff nach dem Schwert, welches Atheris ihm reichte, während das Wasser aus seinem Bart lief und in langen Tropfen auf den Boden fiel. „Danke Atheris. Ich hatte schon fast befürchtet, dass es nicht mehr aufzufinden wäre…“ er nahm noch einen Schluck aus dem Brunnen, dessen Wasser rein und klar war und sehr gut schmeckte. Er reichte den Eimer an Atheris weiter.
„Ich nehme an, dass es ein Leshen ist. Auch Borovoi genannt. Gayevoil, Lesno Duk – er hat viele Namen je nachdem wen man Fragt. Der Herr des Waldes…“ er blickte sich in der kleinen Siedlung um. „Die meisten Geschichten sind wahr – auch, dass er nicht zu töten ist, solange sein Herz noch im Wald existiert. In alter Zeit haben die Leshen durchaus auch wohlwollend auf Menschen reagiert, die ihnen Respekt entgegengebracht haben. Was mich aber wirklich verwundert ist, wie dieser Leshen reagiert. Ja, es verschwinden Menschen im Wald. Reisende die den Weg verlieren – die Geschichten sind ebenso alt wie bekannt. Aber er kam ins Dorf. Hat die Grenze überschritten. Irgendwas muss ihn so sehr gereizt haben, dass er offensichtlich vergessen hat an welche Regeln er sich zu halten hat. Regeln die uns auch gerettet haben – zu meiner Überraschung. Schau nicht so. Nein, ich wusste nicht ob es funktioniert. Hatte nur Märchen gehört, aber es gibt ja immer ein Funken Wahrheit und einen besseren Plan hatte ich nicht.“
Atheris hörte sich an, was Gabhan erzählte und blickte zurück zu den tiefen Spuren im Schlamm und dann wieder zu seinem Zunftbruder. „Dann sollten wir hier im Dorf mit unserer Suche beginnen!“ dachte Atheris laut – „und wir sollten unsere Vorbereitungen treffen! Geben die Märchen noch weitere Hinweise, was wir machen können, außer rostige Nägel in die Wände zu schlagen?“
Gabhan hielt in der Bewegung inne und starrte sein Spiegelbild in dem Wassereimer an, welches ihm grimmig und nass entgegenblickte. „Schauermärchen vor allen Dingen. Es heißt er führt Bauern in die Irre, versteckt die Äxte von Holzfällern oder kitzelt Kinder zu Tode. Was schaust du so? Gibt wohl kaum eine bessere Möglichkeit Rotznasen davor zu bewahren zu tief in einen Wald zu rennen, der auch ohne Monster genug Gefahren bereithält. In einigen Geschichten heißt es, dass man ein Gebet sprechen sollte. Nutzlose Zudichtungen der Kirchen, ohne jeden Zweifel. Andere Legenden sagen man kann seine Pläne durchkreuzen, wenn man alle Kleider auf Links und seine Schuhe an den verkehrten Fuß anzieht. Wirkt auf mich auch nicht vielversprechend. Du hast noch nicht genug? Nun, dann kannst du gerne versuchen ihn zu vertreiben indem du das Lied ‚Schafskrug, Schafswolle‘ singst. Kennst du nicht? Ich auch nicht, also werden wir das wohl leider nicht ausprobieren können…“ er spuckte aus. „Eine Methode kenne ich. Die ist bestimmt narrensicher – man fackelt seinen ganzen Wald ab. Aber wenn das nicht richtig funktioniert. Wenn er den Wald löschen kann ehe wir hundert Meilen fort und über alle Berge sind, haben wir ein gewaltiges Problem…“ er zuckte mit den Schultern. „So wie ich das sehe, bleibt uns nur eine Methode. Eine gute. Eine ehrliche. Die Methode des Hexers. Wir werden die Gegend auskundschaften müssen. Seine Totems finden und sie zerstören. Wir brauchen Relikt Öl, wenn wir ihn bekämpfen wollen und am besten noch Lampen Öl. Für den Fall der Fälle. Du verstehst?“
„Ja!“ war die knappe Antwort die Atheris über die Lippen brachte.
Die Suche
Nach einem spärlichen Frühstück, versuchten die beiden Hexer mehr über das Schicksal des Dorfes von dem Mädchen zu erfahren – erfolglos. Atheris vermutete, dass es noch unter Schock stand und zudem den unbekannten Männern nicht vertraute – zumindest noch nicht. Somit blieb ihnen nichts weiter übrig, als sich selber ein Bild über die Ereignisse zu machen und gleichzeitig mit den Vorbereitungen für die Jagd nach dem Leshen zu beginnen.
Gabhan holte aus seiner Reisetasche ein altes, vergilbtes Buch hervor und drückte es Atheris in die Hand. „Während du dich um das Klingenöl kümmerst, schaue ich mich im Dorf um – vielleicht finde ich einen Hinweis, was den Waldschrat so erzürnt hat!“ knurrte er und schloss die Tür von außen. Atheris schaute zu dem Kind, dass ihn mit großen Augen anstarrte, während es sich noch ein Stück von dem trockenen Brot in den Mund stopfte, dann wendete er seine Aufmerksamkeit dem alten Buch in seinen Händen zu. Im Vergleich zu vielen Lehrbüchern die Valerian in der Bibliothek in Kaer Iwhaell für den Unterricht seiner Schüler angesammelt hatte, war dies hier kein gedrucktes Buch, sondern eine Ansammlung von wild zusammengewürfelten handschriftlichen Notizen zu Klingenölen und Tränken. Immer wieder gab es Passagen, die mit zusätzlichen Informationen nachträglich verfeinert worden waren oder komplett gestrichen worden waren. Die unterschiedlichen Handschriften deuteten darauf hin, dass dieses Buch durch viele verschiedene Hände gegangen war – was Atheris aber positiv sah, persönliche Erfahrungen im Umgang mit der Jagd nach Monstern war viel Wert – vor allem, wenn man den Unterschied zwischen Theorie und Praxis betrachtete – wann hatte man denn wirklich einmal alle Ingredienzien für den perfekten Trank zur Hand. Valerian war bei seinen Aufträgen auch immer wieder auf alternative Zutaten ausgewichen, in der Hoffnung sie würden einen ähnlichen Effekt erzielen.
Bald fand er die Stelle mit der Überschrift ‚Reliktöle‘ und begann zu lesen.
Gabhan hatte sich dazu entschlossen Schwertgurt, Kettenhemd, Gambeson und Rüstteile in dem soweit gesicherten Haus zu lassen. Sie würden ihn bei der kommenden Aufgabe vermutlich nur behindern. Zudem hatten sie den Leshen gestern Abend fürs erste zurückgeschlagen. Gabhan zweifelte nicht daran, dass er wiederkommen würde. Zweifelte nicht im Geringsten. Aber hier und jetzt hatten sie wertvolle Zeit gewonnen.
Die Vorsicht des Hexers ging jedoch nicht soweit, als dass er sich vollkommen ohne Schutz aufgemacht hätte. Über der Schulter lief ein deutlich dünnerer Schwertgurt, aus dessen Ende jenes große zweihändige Schwert aus Stahl hing, dass ihm bereits im Kampf gegen Maeven gute Dienste geleistet hatte. Es war ihr letztes Geschenk gewesen.
Die Schritte führten den Hexer über den schlammigen Boden, der noch immer die Spuren des Kampfes der vergangenen Nacht verzeichnete, der jedoch sonst erstaunlich wenig zu erzählen vermochte. Nachdem sie am Abend nicht mehr dazu gekommen waren den Boden einer genaueren Untersuchung zu unterziehen hatte Gabhan insgeheim gehofft, dass ihnen hier womöglich Spuren auffallen würden. Spuren der Flucht, von Wagenrädern, Eselskarren, festen Stiefeln und nackten Füßen. Doch nichts dergleichen war zu sehen und das beunruhigte ihn. Es beunruhigte ihn sogar sehr.
Das Dorf war nicht übermäßig groß, es zählte mit seinen guten Dutzenden Häusern, einer Schmiede und einer großen Scheune zu den eher kleineren seiner Art und dennoch fielen dem Hexer einige Kleinigkeiten ins Auge. Der Großteil der Häuser war aus Holz, was nicht ungewöhnlich für diese Gegend war, jedoch wirkten sie alle erstaunlich neuwertig. Das Holz war frisch gekalkt. Zum kalken, das wusste Gabhan, benötigte man am besten Eichenholz. Ulme und Esche waren auch möglich, doch das Holz, aus dem diese Häuser waren schien eher Ulme denn Eiche zu sein. Er wunderte sich. Er wunderte sich sogar sehr.
Auf dem Weg hierher waren sie immer wieder Mischwäldern aus Esche, Fichte, Kiefer, Lärche und Eiche begegnet, doch Ulmen waren selten gewesen. Ulmen waren seit Jahren selten. Und gerade hier bauten sich die Menschen Häuser aus diesem Holz? Gabhan entschied sich das Dorf zu verlassen und schritt etwas näher in Richtung des Waldes, wenngleich er auch in weiser Voraussicht großen Abstand zum dräuenden rot und gelb hielt, welches sich düster vor dem Horizont abzeichnete. Und wahrlich, überall hier wuchsen Ulmen. Das war nicht gut. Gabhan machte noch einen Schritt nach vorne, spürte unter seinem Stiefelabsatz etwas unangenehm knirschen. Er sah hinab. Dort, unter seinen Stiefeln hatten sich viele kleine Pilze im diesigen Herbstwetter ihren Platz erkämpft und umringten einen Setzling. Gabhan war kein Botaniker, konnte einige ausgewachsene Bäume unterscheiden, hatte jedoch keine Ahnung zu was dieser Setzling werden könnte. Doch er hatte eine dumpfe Ahnung. Eine Ahnung, die sich erhärtete, als er seinen Blick genauer auf den Boden richtete und sich langsam hinab kniete, den Torf bei Seite wischte. Ihm entgegen blickte etwas, das einst ein Gesicht gewesen sein musste, ehe Wurzelwerk sich in die noch vorhandenen organischen Schichten geschlagen hatte. Langsam, ganz langsam erhob sich Gabhan und sah sich um. Hier und da waren Baumstümpfe zu sehen, dazwischen immer wieder Pilzkulturen und Setzlinge. Und dort – war das nicht eine Hand die aus dem Boden hervorragte? Dort ein Zeh? Der Hexer nickte grimmig und zog sich langsam zurück.
Die Tür zu dem kleinen Haus wurde langsam aufgeschoben und Gabhan steckte seinen Kopf hinein, musterte den Innenraum, das kleine Mädchen und den Greifenhexer. „Atheris,“ der Bärenhexer räusperte sich. „Wir müssen reden. Draußen…“ er wartete bis der andere hinaustrat, zog ihn an die Seitenwand der Hütte. „Ich weiß was hier geschehen ist,“ knurrte Gabhan leise. „Das Dorf hier ist noch nicht sehr alt. Die Menschen haben den Wald hier abgeholzt um ihr Dorf zu errichten. Haben dafür die Ulmen im nahen Wald verwendet. Ulmen sind Schutzbäume Atheris und die alten Bauern hatten recht, wenn sie einen Ulmenbaum vor ihren Bauernhof pflanzten. Waldgeister leben oft in Ulmen. Sie müssen ihn geweckt haben. Keine Ahnung ob sie seinen Baum gefällt oder nur seinen Zorn geweckt haben, indem sie all die anderen Bäume für Holz genutzt haben. Aber ich weiß was mit den Dorfbewohnern geschehen ist. Der Leshen ist der Herr des Waldes. Er forstet auf. Und die Dorfbewohner sind hervorragender Dünger…“ blieb nur eine Frage – woher kam das Mädchen und wieso hatte es überlebt?
„Hast du sonst noch eine Spur gefunden … irgendetwas, dass Hoffnung auf weitere Überlebende macht?“ Atheris blickte zum Haus in dem das Mädchen saß und fuhr dann fort „Ich möchte hier keinen zurücklassen! Wir sind im Zweifel ihre letzte Hoffnung!“ Er schwieg einen Moment und schaute Gabhan an. „Sagen die Legenden etwas, ob die Leshen Gefangene nehmen oder einen besonderen Rückzugsort haben?“ Atheris blickte erneut zum Haus – es musste einen Grund geben, warum das Mädchen überlebt hatte.
Gabhan schnaubte. Überlebende. Die Chance war unfassbar gering und selbst wer jetzt noch lebte, der war womöglich tot, wenn sie ihn endlich gefunden hätten. Das hier war ein Glücksspiel und Gabhan wusste, dass die Bank am Ende immer gewann. Sie würden hier ihr Leben riskieren für eine unfassbar geringe Wahrscheinlichkeit. Dazu kam noch, dass die Menschen hier in Gabhans Augen schon fast selbst schuld gewesen waren. Er konnte sich vorstellen was geschah, wenn sie die Bauern retteten. Sie würden das Weite suchen, oder den Wald abfackeln. Wahrscheinlich beides. In dem einen wie dem anderen Fall würden sie keinen müden Heller für ihre Retter übrighaben. Auf der anderen Seite – hier war Atheris sein Auftraggeber. Er war derjenige der bezahlte. Das war der Handel gewesen. Und außerdem…
Gabhan spürte Atheris Blick auf sich, realisierte, dass er viel zu lange geschwiegen hatte und verzog das Gesicht, als habe er große Schmerzen. „Womöglich…“ das Wort zwang sich geradezu über seine Lippen. „Ich habe nur einige wenige Leichen gezählt. Im Dorf werden mehr als fünf Leute gelebt haben. Womöglich ist der Rest noch in den Wäldern und wird dort gefangen gehalten um dem Leshen als Nahrung zu dienen. Als Wintervorrat. Womöglich ist der Rest aber auch geflohen und wir kämpfen für nichts. Womöglich könnten wir dies herausfinden indem wir die nächsten Dörfer abklappern und nach Flüchtlingen fragen, womöglich raubt uns das aber auch die Zeit die gefangenen Dörfler zu befreien, die es nunmal womöglich gibt. Vielleicht hat der Leshen aber auch schon alle umgebracht und wir jagen Geistern nach. Atheris ich weiß es nicht. Schau nicht so. Ich kann es nicht leiden, wenn du so schaust. Ich weiß du wünschst dir von mir, dass ich ein alter und erfahrener Hexer bin der auf alles eine Antwort hat. Aber das habe ich nicht. Manchmal weil ich es nicht weiß, manchmal, weil ich es nicht sagen will und manchmal, weil es keine Antwort gibt. Was hätte Valerian denn gesagt? Ziehen wir doch die Worte des weisen alten Greifen zu Rate. Womöglich hat er ja mal selbst was zu so einer Begebenheit gesagt. Überrasch mich, ich bin für alles offen.“
Atheris verstand, dass es nur noch wenig Hoffnung gab, aber was immer hier sein Unwesen trieb, war in ein mehr oder weniger schutzloses Dorf gekommen und hatte deren Einwohner massakriert – zumindest einen Teil von ihnen. Selbst wenn sie den hiesigen Dorfbewohnern nicht mehr helfen konnten, so gab es auch in diesem abgelegenen Teil von Temerien noch einige andere Dörfer in der Nähe und deren Holzfäller, Jäger und Marktleute und viele andere, die durch diesen Wald mit diesem Unwesen kamen – weitere unschuldige Seelen, die nur ihre Familie ernähren wollten. „Gabhan, ich weiß du bist nicht sonderlich begeistert von all dem hier, aber wir können hier nicht den Leshen gewähren lassen, das Risiko ist zu groß!“ Atheris machte eine kurze Pause und schaute Gabhan in die Augen, er sah die Entschlossenheit des Bärenhexers – ob es die Orens waren, die Atheris ihm zahlen würde oder aber ob er in seinem tiefsten Inneren wusste, dass es richtig war, hier aufzuräumen, konnte Atheris nicht sagen. „Wir hatten einen Plan und an dem hat sich aus meiner Sicht nichts geändert! Das Klingenöl werde ich bald fertig haben und ich könnte mir vorstellen, dass die Totems nicht weit von der Stelle entfernt sein werden, wo der Leshen die Ulmen aufgeforstet hat – zumindest würde ich dort mit der Suche fortfahren – oder siehst du das anders?“
„Nein,“ Gabhan schüttelte den Kopf. „Ich sehe es genauso – so lange es auch nur den Funken einer Hoffnung gibt werden wir helfen,“ er warf einen Blick hinüber zu dem Haus, in dem das kleine Mädchen saß und wohl mit seiner Puppe spielte, dem einzigen Ding das der Kleinen in dieser Welt noch geblieben war. „Wenn es schlecht aussieht,“ hob Gabhan die Stimme. „Wenn es so aussieht, als würde es einer von uns nicht schaffen, dann lassen wir ihn zurück und kümmern uns um das Kind. Was soll denn jetzt schon wieder dieser Blick. Weich mir nicht aus. Wir wissen beide, dass es das Vernünftigste ist. Wenn einer von uns im Kampf gegen den Leshen sehr schwer verwundet wird, dann flieht der andere. Schnappt sich das Kind und läuft als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Wenn wir da draußen bei einem Kampf sterben, dann ist sie des Todes. Wenn es der Leshen und die Wölfe nicht tun, dann wird es der Hunger sein…“ und das konnte und wollte Gabhan nicht geschehen lassen. Er konnte und wollte nicht den Tod eines weiteren Kindes auf den Schultern tragen. Seine alten Augen sahen zu Atheris, dann nickte er. „Antworte mir nicht Atheris. Nicht jetzt. Ich will, dass du handelst, wenn es soweit ist. Was den Leshen angeht, geh du und mach das Klingenöl fertig, du bist darin besser als ich. Ich werde mich umsehen. Habe das ein oder andere entdeckt, das mich hat aufmerken lassen. Bolzen zum Beispiel. In den getünchten Wänden der Häuser am äußeren Rand des Dorfes…“ und das war seltsam. Denn ein Waldgeist nutzte keine Armbrüste und auch die einfachen Bauern besaßen sowas normalerweise nicht. Wer auf die Jagd ging, der tat das gewöhnlich mit Pfeil und Bogen. Nicht mit einer schweren Armbrust. Und eine solche hatte er bei keiner der Leichen gefunden. „Und Atheris – ich weiß, dass du auf dich aufpassen kannst. Aber verdammich, pass auf dich auf!“ er wandte sich zum Gehen.
„So machen wir es!“ stimmte Atheris zu und machte sich zurück zur Arbeit an dem Klingenöl. An der Tür drehte er sich nochmal zu Gabhan um „Gabhan! Keiner geht alleine in den Wald“ hole mich, bevor du das Dorf verlässt!“ rief er dem Bärenhexer hinterher, der sich bereits zielstrebig zu einem der Häuser aufgemacht hatte.
Atheris betrat das Haus, indem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten und sah, wie das Mädchen, dessen Namen sie immer noch nicht kannten, mit ihrer Puppe spielte – sie schien langsam aufzutauen, dachte sich der Hexer. Auf einem kleinen Tisch hatte Atheris sein kleines Alchemie-Labor aufgebaut. Es war nicht viel, aber für die meisten einfachen Tränke und Öle reichte die Ausrüstung aus. Für die einfachste Variante des Reliktöls waren die Hauptzutaten Hundetalk und Mistelzweige. Beides waren weit verbreitete Ingredienzien und die meisten Hexer hatten diese bei ihren Reisen immer dabei – so auch Atheris. Das Mädchen gesellte sich zu ihm, als er anfing die Zutaten zu verarbeiten. Gabhan hatte sowas von Unrecht gehabt! Er war mit Nichten besser in der Herstellung von Ölen – er war nicht untalentiert, wie Meister Valerian immer wieder betonte, aber es fehlte ihm die jahrelange Erfahrung, die der Bärenhexer hatte. Während die Mixtur auf einem kleinen Feuer köchelte, erzählte er dem Mädchen eine Geschichte über zwei Hexer, die ein Dorf von einem uralten Problem befreit hatten.
Der Schütze
Es war später Nachmittag als Gabhan wieder zurück ins Haus kehrte. Er wirkte müde und schien das diesige Wetter von draußen mit nach drinnen zu nehmen. Sowohl mit seiner Kleidung, die das feuchte Wetter bereits aufgesogen hatte, als auch mit seiner Laune die eher verregnet wirkte. Der Hexer schloss die Tür hinter sich, drehte sie ins Schloss und überprüfte noch einmal Fenster, Tür und Ausgänge auf Nägel, ehe er seinen Schultergurt ablegte und sich selbst in die Nähe des Feuers verzog, Knochen und Laune wieder aufwärmend.
Er warf einen Blick hinüber zu Atheris, der die letzten Tropfen Öl in zwei Flaschen abfüllte, während das Mädchen neben ihm mit der Puppe spielte und dabei auch Atheris Knie und Schultern als Spielfläche missbrauchte. Ein sanftes Lächeln weichte die Züge des Bärenhexers auf, während er sein Silberschwert aus dem große Schultergurt, den er zurückgelassen und an einen Nagel neben dem Kamin gehangen hatte und zog in beständige Regelmäßigkeit einen Schleifstein über die Klinge. Diese stetige Bewegung, der Klang auf dem Metall und das Prasseln des Feuers brachten ihn in eine beinahe meditative Stimmung und seine Schultern entspannten sich. „Acht Dörfler,“ hob er die Stimme. „Acht Dörfler wurden zum Aufforsten verwendet,“ er vertraute darauf, dass das stumme Mädchen diese Begriffe nicht verstand, wenn sie überhaupt ihre Sprache sprach. „Hier müssen mindestens zwanzig gelebt haben. Habe die Betten in den Häusern gezählt. Und hier hat ein Kampf gegen den Schrat stattgefunden. Derjenige, der gegen ihn gekämpft hat, verwendete Fernkampfwaffen. Kann noch nicht lange her gewesen sein, ich nehme an das.…“ er verstummte, als mit einem Mal das Kind vor ihm stand und ihm die Puppe entgegenstreckte. Stumm, wie immer. Gabhan betrachtete die Kleine. Die Puppe. Die Kleine. Dann, ganz langsam nahm er die Puppe, bewegte diese ein wenig hin und her und tat so, als würde er die Nase der Kleinen stehlen. Diese lachte kreischend auf, entriss ihm die Puppe wieder und rannte in eine Ecke, wo sie sich selbst wieder beschäftigte. Gabhan wurde leichter ums Herz und er atmete erleichtert aus. „Wie lief es bei dir?“
„Bei mir war es ziemlich ruhig, Gabhan. Das Relikt Öl ist fertig!“ Atheris überreichte eine der gerade frisch abgefüllten Fläschchen. „Und die Kleine ist auch etwas aufgetaut. Leider hat sie immer noch kein Wort gesprochen.“ Atheris schaute zu dem spielenden Kind. „Das mit dem Schützen ist interessant – vermutlich hat er den Auftrag angenommen und zu spät gemerkt, was hier vorgeht. … Was ist unser nächster Schritt?“
Gabhan betrachtete das Öl, welches ohne jeden Zweifel seinen Dienst tun würde. Es war solide hergestellt und er hatte kein Recht sich zu beschweren. Natürlich mit Bärenfett, Wasserweibzähnen und noch einigen anderen Ingredienzen wäre es besser geworden, aber was man nicht hatte, hatte man eben nicht. Es würde seinen Dienst tun, ohne jeden Zweifel. Er schwang die Flasche einmal in geübter Bewegung zwischen Daumen und Zeigefinger, ehe er sie neben sich stellte und etwas näher ans Feuer rutschte.
„Was den Schützen angeht gehe ich mit deiner Theorie. Wobei sich die Frage stellt, ob der Schütze denn nur den Leshen verfehlt hat oder der Leshen auch ihn…“ er knirschte mit den Zähnen, sein langer Oberlippenbart strich über seine Lippen, kitzelte am Mund und er wischte sich diesen fort, schob die Haare bei Seite, während er weiter nachdachte und eine wegwerfende Handbewegung machte. Unwichtig. Es änderte jetzt nichts. „Und was wir tun werden? Wir werden uns heute Abend noch einmal hier verbarrikadieren. Werden unsere Schwerter und unsere Sinne schärfen -und dann morgen früh auf die Jagd gehen. Hast du schon einmal einen Leshen gejagt Atheris? Dem Herrn des Waldes in die Augen geblickt?“ er zog die Nase hoch.
„Alles was ich von den Leshen weiß sind alte Märchen – gesehen habe ich bisher aber keinen!“ antwortete Atheris während er sich zu Gabhan setzte. Gerade als er weiterreden wollte, setzte sich das kleine Mädchen zwischen die beiden Hexer und zog sich eine Decke enger um die Schulter, lehnte sich mit dem Köpfchen an das Bein von Atheris und schloss die Augen. Leise fuhr der Nilfgaarder fort. „Wenn sich der Schütze auf den Fernkampf beschränkt hat, könnte er sich noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben. Vielleicht war es auch ein Waldläufer oder Jäger, in beiden Fällen würde er sich in den Wäldern und mit den Legenden vermutlich auskennen und somit gute Chancen haben, dem Waldgeist zu entkommen … ich meine uns haben nur drei rostige Nägel gerettet!“ Atheris blickte zur Tür, die Sonne ging unter und er war gespannt, was die Nacht bringen würde.
„Vorläufig,“ stimmte Gabhan zu. „In dieser Gegend gab es unter König Foltest einst königliche Jäger, die sich um wilde Wölfe, Bären und ab und an auch mal um einen Nekker gekümmert haben. Womöglich hat er wirklich überlebt, ich würde jedoch keinen müden Oren darauf verwetten,“ erwiderte Gabhan und zuckte mit den Schultern. „Ich selbst habe bislang zwei Mal gegen einen gekämpft und eigentlich gehofft, dass ich es kein drittes Mal machen müsste. Vor allem nicht für müde 240 Orens. Da habe ich echt ein Schei…“ er besah sich das Kind, schien widerwillig sein Wort zu verschlucken, „ein mieses Geschäft mit dir gemacht. Aber seis drum. Wir werden morgen früh nach ihm und jeder anderen armen Seele suchen können. Vielleicht finden wir ihn ja. Deinen Jäger. Vermutlich zwar als abgerissenes Stück Fl…. ziemlich angeschlagen. Nehm ich an. Wenn wir ihn überhaupt an einem Stück finden.“
Eine ganze Weile saßen die Drei noch so am Feuer und harrten der Dinge. Atheris wusste nicht genau wann er eingeschlafen war, aber das vibrieren seines Medaillons weckte ihn aus seinem traumlosen Schlaf. Er sah wie sich Gabhan ebenfalls leise erhob und nach seinem Schwert griff. Atheris zog seine Silberklinge und stellte sich an das Fenster. Durch ein kleines Astloch im Fensterladen lugte er nach draußen. Erneut war dichter Nebel aufgezogen – unnatürlich dicht. Er war da draußen, der Leshen … Atheris fühlte die unheimliche Präsenz, aber er sah und hörte nichts. Das Zittern des Medaillons wurde stärker – Atheris kniff die Augen zusammen und dann sah er ihn … den Geist des Waldes. Das Wesen stand keine zehn Schritt von ihm entfernt auf dem Dorfplatz in der Nähe des Brunnens. Groß war es, mindestens drei Schritt … Rinde – seine Haut erschien rindenartig. Anstatt Fingern besaß er lange Klauen, die wie Äste gebogen waren und anstelle eines Gesichtes war da nur der Schädel eines Hirsches mit samt seines einst mächtigen Geweihs. Zu seinen Füßen schlichen zwei große Wölfe umher. Die großen Augenhöhlen des Schädels blickten in seine Richtung – es war ein kalter grausiger Blick, als wenn er in Atheris Seele blicken konnte. „Ich kann ihn sehen, Gabhan! Er ist hier und beobachtet uns!“ flüsterte er leise.
„Seh‘ ich“, Gabhan beugte sich nach vorne und fuhr mit den Fingern über die Maserung des Holzes, während er durch eine Ritze zwischen den Fensterläden nach draußen starrte und den Leshen dort beobachtete. Eine Sache hatte er Atheris nicht gesagt. Es war kein Geheimnis, aber Gabhan hatte sich auch nicht die Mühe gemacht gesondert darauf hinzuweisen. Leshen waren nicht nachtaktiv. Nach allem was Gabhan wusste mussten sie genauso wenig schlafen wie Bäume oder Büsche schlafen mussten. Der Leshen mochte hier nicht hineinkommen können. Aber das musste er nicht. Er könnte sie auch einfach aushungern. Sie konnten jedoch Glück haben. Vielleicht hatte der Leshen kein so großes Interesse an ihnen. Oder aber er hatte woanders zu tun. Gabhan schnaubte. Was auch immer ein mordendes Monster das aus dem Überlebenswillen des Waldes und der Natur selbst bestand auch woanders zu tun haben konnte.
„Wir sollten leise sein,“ hauchte er mit einem seltenen Kratzen in der Stimme, das ihm selbst im Hals stach und dass er der Kälte und Nässe in diesem verfluchten Bauernhaus zu verdanken hatte. Krank konnten Hexer nicht werden, aber Unannehmlichkeiten, nein die hatte man natürlich nicht von ihnen abgehalten. „Und wenn du an irgendwas glaubst wäre jetzt der Zeitpunkt zu beten!“
Die ganze Nacht hielten die beiden abwechselnd Wache – ob es nötig war, hätte Atheris nicht sagen können, aber er fühlte sich zumindest sicherer. Es war ein seltsames Gefühl! So musste es wohl einer Maus ergehen, die von einer Katze in ein Loch getrieben wurde und nun belauert wurde. Zumindest das Kind schien nichts davon mitzubekommen, die Kleine schlief seelenruhig zwischen den Decken. Erst als die Sonne über dem herbstlichen Wald aufging und ihre warmen Strahlen den Nebel in nichts auflösten, verschwand der Leshen wieder in den Wald. Gabhan hatte es nicht ausgesprochen, aber sogenannte Relikte mussten in den seltensten Fällen ausruhen, also warum zog sich dieses Wesen erneut bei Anbruch des Tages in den Wald zurück? Er ging zum schlafenden Gabhan hinüber und weckte den Zunftbruder auf.
Gabhan schlug die Augen auf, schob den Mantel aus Fellresten, der ihm als Decke gedient hatte, bei Seite und stand ächzend auf. „Weg?“ Atheris nickte, was Gabhan ein erleichterndes Schnauben entlockte. „Kommst du?“ fragte er leise und trat zur Tür, durchmaß diese und stiefelte erneut zum großen Brunnen hin. Knattern. Ring um Ring schob sich nach oben. Ein lautes Knacken, als die Winde einrastete, ein Platschen. Gabhan gönnte sich einige Sekunden, ehe er den pitschnassen Kopf aus dem Bottich zog. „Besser! Viel besser. Die Klarheit des Wassers bedingt die Klarheit des Kopfes. „Atheris!“ er wischte sich den tropfnassen Bart mit dem Ärmel ab. „Sprechen wir Klartext. Im Dorf können wir nicht bleiben. Denn sonst verlassen wir es niemals. Wir müssen in den Wald. Müssen die Totems finden. Und die Dörfler. Und den Jägersmann. Einiges zu finden, wenn du mich fragst. Aber während wir all das suchen und hoffentlich auch finden, dürfen wir eines nicht verlieren. Das Mädchen. Wir können sie nicht hierlassen und wir können sie nicht mitnehmen. Was schaust du so? Ja. Nein, natürlich ist das Haus sicher, aber glaubst du die Rotznase würde sich daranhalten, wenn wir ihr sagen, sie soll die Türen und Fenster geschlossen halten? Da draußen wartet der Leshen und Wölfe und weiß der Deibel was noch alles!“ er formte aus seinen Händen einen Trichter, nahm Wasser auf und trank einige tiefen Schlucke Wasser und warf Atheris einen Blick zu, der ihn über die Vorteile aufklärte, die es haben würde, wenn sie das Kind hier in Sicherheit ließen. Gabhan war nicht überzeugt. War nicht überzeugt, dass er das Kind nicht dem Tod anheimfallen ließ, aber bei ihnen war es auch nicht sicher. Verflucht, kein Kind schien bei ihm sicher zu sein, zuletzt die Antherion… und andere. Er wollte diese Liste nicht noch weiter fortsetzen. „Wie bitte?“ er hob den Blick, als ihm bewusst wurde, dass Atheris weiterhin gesprochen, er aber nicht zugehört hatte. Verflucht, das geschah ihm öfter. Es war unhöflich und konnte tödlich enden. Er hatte auch Grazyna nicht zugehört. Hatte sie ihn damals vor dem Grab warnen wollen? Vor Maeven? Wohl eher nicht. Glaubte er. Musste er glauben. Oder wollte es zumindest. „Na gut. Lassen wir das Rotzgör hier. Passt schon“
Der Fuchs
Als sie kurz darauf den Waldrand erreicht hatten, schaute Atheris noch einmal zurück zur Hütte. Sie hatten das Kind und Ker’zaer zurückgelassen, in der Hoffnung, dass sie hinter den verschlossenen Türen sicherer sein würden. Dann wandte er sich wieder dem Wald zu und folgte Gabhan. Ihre Suche wollten sie bei der Stelle fortsetzten, an der Gabhan die sterblichen Überreste der Dorfbewohner entdeckt hatte.
Atheris gefiel der herbstliche Wald mit dem bunten Farbenspiel. Wenn hier nicht eine solch tödliche Gefahr lauern würde, hätte es eine schöne Wanderung werden können – so aber stapfte er angespannt hinter Gabhan her, der mit sicheren Schritten einem Wildpfad folgte.
Atheris wollte Gabhan gerade fragen, ob er eine Vorstellung hatte, wie die Totems eines Leshen aussehen, als der Bärenhexer plötzlich stehen blieb. „Was ist los, Gabhan?“ fragte er nach einigen Momenten. „Dahinten!“ Gabhan zeigte auf einen großen Baum, „Ich bin mir sicher da war jemand!“ fuhr er fort. Was auch immer sein Zunftbruder gesehen haben mochte, Atheris sah es nicht. Dennoch warteten sie, hockten sich zwischen den hochgewachsenen Waldfarn und beobachteten.
Da war etwas. Verflucht, er hatte etwas in dem Herbstlaub gesehen. Er hasste Wälder. Überall vor ihnen wuchs Farn, Heidekraut und Weißdorn. Der Herbstwind raschelte im Laub und Gabhan nutzte die Geräuschkulisse, um sein Silberschwert zu ziehen und hob einen Finger an die Lippen, blickte zu Atheris. Dann zuckte er zusammen. Alles verfiel in Zeitlupe. Das Rascheln aus dem Wald, das Aufblitzen von Stahl zwischen Heidekraut. Gabhan dachte nicht mehr darüber nach. Es war keine Zeit mehr für einen Gedanken. Er musste schneller sein als ein Gedanke. Und das war er. Sein Schwert umkreiste eine halbe Finte, drehte sich in seiner Hand entgegengesetzt zu seiner Fußbewegung. Ein stechender Schmerz zog sich über seinen Oberschenkel, dann erst vernahm er den Knall. Das Aufschlagen des Bolzens in einen Baumstumpf hinter ihm. Sein Oberschenkel blutete, seine Hose war zerrissen. Aber der Bolzen steckte nicht. Hatte nur eine Fleischwunde gerissen. Der Bolzen. Armbrust. Das Arschloch brauchte eine Ewigkeit diese erneut zu laden. Gabhan sprintete los, hörte hinter sich Atheris durch das Unterholz krachen, während er zuvor eine Schneise schlug und sich schließlich auf den Mann stürzte, der geschossen hatte. Geschossen haben musste. Sie beide stürzten, purzelten einen Hang hinab. Die Welt drehte sich, wand sich und Gabhan spürte, wie Hagebutte sein Gesicht zerkratzte, ehe der weiche Waldboden den Sturz des Schützen dämpfte. Der Schütze indes dämpfte Gabhans Sturz. Der Hexer hob die Faust mit den nietenbesetzten Handschuhen, ehe Atheris Ruf ihn innehalten ließ.
„Warte! … Warte. Gabhan!“ Atheris erkannte den Schützen, den der Bärenhexer unter sich begraben hatte. Zum Glück hörte sein Zunftbruder seinen Ruf und hielt mitten in der Schlagbewegung inne. „Reynek! Was machst du in dieser verlassenen Gegend und warum hast du uns angegriffen?“ Atheris lief zu dem am Boden liegenden Mann und half ihm auf die Beine. „Atheris! Bin ich froh dich zu sehen!“ begrüßte ihn der Jäger sichtlich erleichtert, als er den Nilfgaarder erkannte. Sie hatten sich beide vor einigen Jahren bei einer Expedition getroffen, bei der sie sich angefreundet hatten. Es war schon faszinierend, dass er den Mann gut leiden konnte, obwohl sie sich einst bei der Schlacht von Brenna als Feinde gegenüberstanden, aber Zeiten ändern sich und so auch die Menschen. Atheris schaute zu Gabhan, der angefangen hatte sein Bein zu verbinden. „Gabhan, du kennst doch Reynek! Er ist mit uns letzten Winter in das Lager der Kultisten geschlichen, um unsere Blutproben zurückzuholen!“
Gabhan klopfte sich Dreck und Blätter von seinem langen Gambeson und musterte Reynek. Der hochgewachsene Jäger trug ein langes blaues Hemd, darüber eine hübsch gesteppte braune Jacke mit den Lilien Temeriens und auf dem wettergegerbten Gesicht ein Hütchen, das Gabhan lächerlich fand. Er hatte es nicht lächerlich gefunden als sie sich das erste Mal begegnet waren und beim nächsten Mal würde er es auch nicht mehr lächerlich finden. Doch er war gereizt. Sein Bein schmerzte. Doch ja, er erkannte den Jägersmann. Er war ein teuflisch guter Schütze. Auf diese Präsentation seiner Künste hätte Gabhan jedoch verzichten können.
„Ich erinnere mich,“ erwiderte er, trat auf den anderen zu, musterte ihn von oben bis unten. Sein Bein Schmerzte. „Hast wohl gedacht wir wären dieses Drecksvieh in den Wäldern, hm? Tja falsch gedacht. Verflucht falsch…“ dann geschah alles blitzschnell. Der Jägersmann taumelte, hielt sich an einem Baum jedoch aufrecht und das Hütchen segelte zu Boden. Als Gabhan das Hütchen nun aufnahm und ihm reichte wirkte es weniger lächerlich. Deutlich weniger. „Jetzt, da wir wieder Freunde sind, magst du uns erklären was du allein im Wald machst? Und wieso du die Frechheit besitzt noch zu leben? Verflucht ich habe zwei Orens gegen den Langen gewettet, dass der Jäger aus dem Dorf tot ist.“
Atheris hörte sich die Schilderungen von Reynek gespannt an. Der ehemalige königliche Jäger am Hofe Temeriens war auf der Durchreise gewesen, als er von einem fliehenden Dorfbewohner von den seltsamen Ereignissen erfuhr. Er hatte eigentlich nur vorgehabt sich ein Bild von der Situation zu machen, um gegebenenfalls Hilfe zu organisieren, aber er traf schon in der ersten Nacht auf den Waldgeist, als dieser durch das Dorf wandelte. Seine Bolzenangriffe zeigten kaum eine Wirkung, aber zumindest verschaffte er einigen Bewohnern genug Zeit zu fliehen, bevor er selber von den Wölfen des Leshen gejagt wurde. In dieser mächtigen alten Ulme, unter der sie jetzt saßen, hatte er Schutz gefunden und er war nicht alleine. Die letzten Tage hatte er damit verbracht die im Wald verstreuten und vom Leshen gejagten Dörfler hierher in die vermeintliche Sicherheit zu bringen.
Auch Gabhan hatte zugehört und sich die Ausführungen des Jägers durch den Kopf gehen lassen. Die Ausführungen des anderen waren ungewöhnlich und weckten Zweifel in dem Bärenhexer. „Du hast also die letzten Tage in diesem Wald überlebt, hier auf dieser Lichtung?“ hakte Gabhan nach und Reynek nickte geflissentlich. Der wachsame Blick des Hexers wanderte über die Lichtung, vorbei an Farn und Heidekraut, welches sich in einem symmetrischen Kreis um die Lichtung erstreckte. Perfekte Formen waren in der Natur nichts Ungewöhnliches, auch wenn Menschen dies gerne glaubten. Die Menschen hatten ihren Drang nach Perfektion nur von der Natur übernommen und das auch noch deutlich weniger als die Elfen oder andere der Alten Völker; und dennoch. Dennoch war etwas seltsam. „Ich habe versucht den Wald zu verlassen,“ Reyneks Stimme riss Gabhan aus den Gedanken. „Aber es gelang mir nicht. Zumindest nicht wann immer ich die versprengten Dorfbewohner aus dem Wald herausführen wollte. Wenn ich allein auf der Jagd war, dann schien es kein Problem zu sein. Doch die Wege und Gebüsche, die ich zuvor so gut kannte scheinen undurchdringlich zu werden, wenn ich auch nur einen von ihnen mitnehme!“ er deutete hinter sich, wo einige verdreckte und verängstigte Menschen die Hexer betrachteten und um ein kleines und trauriges Feuer versammelt waren, das sie nur mit feuchten Blättern und Zweigen füttern konnten und das zum Gotterbarmen stank und rauchte. „Und ich konnte sie ja schlecht zurücklassen, daher bin ich noch immer hier,“ schloss Reynek seinen Bericht. „Nobel,“ kommentierte Gabhan ohne deutlich machen zu können, ob Sarkasmus oder Lob in seinen Worten mitschwang. „Der Leshen will Rache an den Bewohnern. Deswegen lässt er sie nicht gehen. Aber wieso greift er sie nicht hier an?“ dieses Geheimnis gab ihm Rätsel auf.
Er betrachtete mit Sorge die Bewohner des Dorfes, die sich unter seinem Blick nur noch tiefer in Richtung der Ulme drückten. Verflucht. Sogar in diesem Wald des Todes hatten sie noch Angst vor ihm. Er konnte es ihnen kaum verübeln, so wie er hier aufgeschlagen war. Wahrscheinlich hätten sie sich am liebsten in den hohlen Stamm der Ulme verdrückt. „Natürlich!“ Gabhan sprang auf und eilte in Richtung der Dorfbewohner, die erschrocken auseinanderwichen. „Reynek du weißt es wohl nicht, aber verteufelt noch eins du bist ein Genie!“ er winkte den Jäger und Atheris heran. „Der Leshen greift nicht an. Mitten im Wald. Die Frage ist warum. Die Antwort ist einfach. Weil er es nicht kann. Oder zumindest nicht riskieren kann!“ er deutete in den hohlen Stamm der Eiche, wo Stroh und Knochen lagen. „Hier. Das hier ist eines seiner Totems. Wenn er hier wütet, würde er riskieren es zu zerstören! Wir wissen nun wie seine Totems aussehen!“ grimmige Freude war es, die in Gabhans Gesicht aufflammte. Er wollte verdammt sein, hatte es nicht für möglich gehalten, aber Atheris hatte Recht behalten. Sowohl der Jägersmann, als auch die Dorfbewohner waren noch am Leben – und nicht nur das, sie hatten sie auch noch – wenn auch unwissentlich – direkt zum Herz dieses Ungeheuers geführt und damit die Waage wieder zu ihrer Seite ausschlagen lassen. Gabhan glaubte nicht an eine übergeordnete Gerechtigkeit oder daran, dass die Vorsehung ihnen irgendetwas schenkte. Noch immer erwartete er Unheil, denn Unheil kam immer. Und dennoch, entgegen seines eigenen Willens keimte etwas in ihm auf, dass er seit über einem halben Jahr nicht mehr gespürt hatte. Hoffnung. Eine falsche Hoffnung, da war er sich sicher. Das redete er sich ein. Musste es sich einreden, denn Hoffnungen mussten enttäuscht werden. Aber dennoch glomm sie. Wie ein Feuer in der Dunkelheit. „Vielleicht kommen wir hier tatsächlich alle Lebend raus…“ brummte er und besah sich Reynek und Atheris. „Aber dafür brauche ich eure Hilfe. Wir müssen hier zusammenarbeiten – ich habe keine Ahnung wie viele Totem dieser Leshen hat. Aber so alt wie er ist, würde ich vermuten, dass es drei oder vier sind. Wir müssen den Wald absuchen und diese Totem zerstören. Das Totem hier, selbstredend, als letztes. Wenn dieses Totem fällt werden die Bauern angegriffen werden können. Wir müssen diese Stätten seiner Macht vernichten und mit den Bauern aus dem Wald fliehen, ehe wir auch diese Ulme zerstören. Werden in Richtung des Dorfes fliehen müssen. Die Zeit ist dabei entscheidend. Kriegen wir das hin?“
Atheris schaute sich das Totem in der alten Ulme genau an, es war nicht sonderlich groß und trotzdem so entscheidend für ihr bevorstehendes Vorhaben. „Wenn wir dieses Totem als letztes zerstört haben, werden wir den Leshen stellen können und so den Bewohnern die Flucht ermöglichen … ja, ich denke wir bekommen das hin, Gabhan!“ antwortete Atheris zuversichtlich. „Die Frage ist nur, wo finden wir die anderen Totems, habt ihr eine Idee?“ fragte er in die Runde.
Nach einer kurzen Diskussion war klar, dass ihnen nichts Anderes übrigblieb, als die nähere Umgebung abzusuchen. Gabhan schätzte den Leshen als relativ alt ein und dem entsprechend hatte er vermutlich ein ziemlich großes Revier, in dem er sein Unwesen trieb. Die Hoffnung des Bärenhexers war aber, dass der Waldgeist seine Totems nicht zu weit voneinander entfernt aufbewahrte – sozusagen im Herzen seines Waldes. Allerdings bedeutete das auch, dass er sich vermutlich in ihrer Nähe rumtrieb und sie auf der Hut sein mussten.
Im Herzen des Waldes
Die Sonne stand hoch am Firmament, Atheris gönnte sich einen Schluck Wasser und beobachtete wie Reynek seinen Kopf passender Weise in einen Fuchsbau steckte. „Aen iarean nyald aep kroofeir!“ fluchte er, wie sollten sie die verdammten Totems nur finden. „Gabhan, es muss doch etwas geben, was uns bei der Suche weiterhelfen müsste!“ fragte er seinen Zunftbruder.
„Wir könnten den Wald anzünden,“ erwiderte Gabhan trockener als das Laub, dass den gesamten Waldboden bedeckte. „Dann schauen wir in welche Richtung der Leshen rennt um seine Totem zu beschützen. Der einzige Nachteil ist, dass wir dabei vermutlich selbst elendig verbrennen werden – und wenn nicht das, dann würde uns der Leshen an seinen Totems in Brennholz verwandeln…“ der Bärenhexer atmete tief ein und aus, nahm den frischen Herbstduft auf. „Die Totems müssen eine magische Eigenstrahlung haben. Aber nur eine sehr, sehr geringe…“ ob sie ihre Medaillons darauf einstimmen konnte? Schwierig. „Du hast nicht zufällig De’Vries Extrakt bei dir? Nein, dachte ich mir schon…“ Gabhan legte den Kopf in den Nacken und hielt inne. „Er wird sie schützen…“ dämmerte es ihm langsam. „Er konnte sein Totem bei dem wir die Dorfbewohner zurückgelassen haben nicht schützen, weil er uns sonst damit darauf aufmerksam gemacht hatte. Aber die anderen? Die sollte er unter Beobachtung stellen…“ er deutete nach oben. „Vögel. Wir müssen den Vögeln folgen. Den Raben vor allen anderen!“
„Die Vögel!“ Atheris schaute in die Baumwipfel – was Gabhan gesagt hatte, konnte tatsächlich der Wahrheit entsprechen. Die wenigen alten Kindermärchen, die Atheris kannte, erzählten immer von Raben, die den Waldgeist begleiteten und oftmals als seine Augen dienten. Es war Reynek, der alles mit angehört hatte und nun das Wort ergriff. „Es gibt hier in der Nähe einen kleinen Teich, dort habe ich gestern drei Raben gesehen!“ sagte er und zeigte mit seiner Rechten in Richtung Norden. „Ich würde das eine erste Spur nennen!“ lächelte Atheris und Gabhan nickte zustimmend als sie sich daran machten dem Jäger zu folgen.
Der Teich befand sich auf einer kleinen, fast wie aus einem Märchen wirkenden Lichtung. Lediglich eine alte Trauerweide ließ ihre langen Äste in den See ragen. Der längliche Teich war umsäumt mit dickem Schilf. Lediglich an der Stirnseite des Teiches fiel Atheris ein großer viereckiger Stein auf, der fast zur Gänze im Boden eingelassen war. Dort saß ein großer pechschwarzer Raabe, der sie aus seinen dunklen Augen zu beobachten schien. „Intelligente Tiere!“ flüsterte Reynek und schaute sich weiter um. Atheris starrte immer noch das Tier an – er war sich sicher, dass der Leshen in der Nähe war. Als er sich dem Stein näherte, auf dem der Vogel saß, quittierte es dieser mit einem lauten Krächzen und flog dann auf einen dicken Ast der Trauerweide. Er stellte sich auf den Stein und dann war da, ein ganz leichtes vibrieren an seinem Hals. Der Teich selber … er starrte auf das Wasser, es war kristallklar und da war was. Vorsichtig stieg er in das Wasser und watete hinein. „Ich habe es!“ rief er seinen Gefährten zu.
Auch Gabhans Medaillon ruckte. Silberne Kettenglieder klirrten auf dem gehärteten Lederkragen seiner Rüstung, vibrierten bis in die Knochen. Atheris hielt etwas in der Hand, das aussah als hätte es eine gigantische Katze hervorgewürgt, nachdem diese Gräser und Vögel gegessen hatten. Er glaubte beinahe es pulsieren zu sehen. Das war nicht gut. Gabhan sah sich um, sah den Raben aber keinen Leshen. Auch Reynek hob die Armbrust, beide drehten sich um sich selbst. Das Rascheln wurde lauter, das Ruckeln des Amuletts stärker. „Atheris, raus aus dem Wasser, sofort!“ brüllte Gabhan, doch in dieser Sekunde sah er nur noch wie Atheris verschwand, eine Fontäne dort wo er gestanden hatte, während das Wasser über ihm zusammenschlug.
Atheris hörte noch die Warnung von Gabhan, als sich etwas Schlangenartiges blitzartig durch das Wasser bewegte und sich um seine Beine schlang. Mit unerwarteter Kraft wurden ihm die Beine unter dem Körper weggerissen und er stürzte ins Wasser. Die Wasseroberfläche schloss sich vor seinem Gesicht. Atheris wusste das der Teich nicht sonderlich tief war und sein erster Impuls war es sich sofort wieder aus dem Wasser zu erheben, aber gerade als er sich auf den Bauch gewendet hatte und sich mit den Armen abstoßen wollte, wickelte sich etwas um seinen Brustkorb und zog ihn mit gnadenloser Kraft auf den Teichgrund. Panik stieg in ihm auf. Luft! Er brauchte Luft zum Atmen! Seine rechte Hand tastete nach dem Messer in seiner linken Armschiene … und fanden die scharfe Klinge. Er tastete nach dem Ding, was sich um seinen Rumpf geschlungen hatte und fing an zu schneiden.
Reynek hatte bereits seine Armbrust abgelegt, und war drauf und dran ebenfalls in den Tümpel zu waten um Atheris zu retten, doch Gabhan griff nach dem Arm des Schützen und schüttelte den Kopf. „Nicht. Noch nicht,“ brummte er und ließ seinen Blick dann wieder auf den Teich wandern. Der Teufel wusste welche Grausamkeit dort in diesem Gewässer lauerte, welches nun spritzte und brodelte wie ein dreimal verfluchter Hexenkessel. Schlick wurde aufgewirbelt und man sah einen Scheiß. Wenn Reynek nun auch noch hineinsprang, dann waren sie im schlimmsten Fall beide fort. „Warte… er hat noch Luft…“ presste Gabhan hervor, wenngleich er auch nicht wusste, ob er nun Reynek oder sich von dem Wahrheitsgehalt überzeugen wollte. Dreißig Sekunden gab er ihm noch. 29 Sekunden. 28 Sekunden.
Erneut schoss ein Schwall seltsam stinkender Brühe auf und ging auf Gabhan und Reynek nieder, da tauchte Atheris wieder auf – Schlickverschmiert, prustend und nass wie ein Otter, aber am Leben.
So schnell er konnte, sprang Atheris mit drei Sätzen aus dem verfluchten Teich. Reynek und Gabhan waren sofort bei ihm und nahmen ihn schützend in die Mitte, während er noch nach Atem rang und das letzte Wasser ausspuckte. Eine ganze Weile warteten die Drei auf das Ding aus dem Teich … aber es kam nichts. Atheris näherte sich vorsichtig dem Stein am Ufer und schaute auf die inzwischen wieder spiegelglatte Fläche. Er suchte nach dem Totem, er hatte es bei dem Angriff fallen lassen, was ihn mächtig ärgerte. Ein weißer Schimmer im Schilf ließ ihn auf einmal lächeln. „Was ist, Atheris?“ fragte Reynek mit inzwischen angelegter Armbrust. Atheris angelte sich den Schädel mit dem merkwürdigen Gras und zeigte es seinen Gefährten. Dann legte er es auf den Stein … formte das Igni-Zeichen und nachdem er genügen Energie gesammelt hatte, ließ er den Flammenstrahl auf das Totem nieder, dass sofort in grünlichen Flammen aufging … der Rabe schrie wütend, bis ihn Reyneks Bolzen zum Schweigen brachte.
Gabhan stierte dem Totenschädel tief in die leeren Augenhöhlen, bis die grünen Flammen fauchend verglühten. Der Geruch biss in der Nase, das helle Feuer brannte in den Augen, doch er wollte sicher sein. Sicherheit war das, was sie brauchten. Erst als er sich sicher war, dass das Totem endgültig all seiner Macht beraubt worden war, sah Gabhan den Größeren an. Betrachtete ihn knapp. Nickte. „Gut gemacht“ brummte er, blinzelte dann gegen das Licht der im Zenit stehenden Sonne. „Einer hin, zwei im Sinn – ich glaube im Norden sind noch einige andere Rabenschwärme…“ überlegte er laut und auch Reynek nickte. „Nordosten von unserer Position aus – sie drehen dort bereits seit Tagen ihre Runden. Wir sollten jedoch achtsam sein, der Waldweg in diese Gegend ist steil und voller gemeiner Wurzeln!“ Gabhan nickte. „Kannst du vorangehen? Du klingst, als kennst du den Weg gut. Besser als ich zumindest auf jeden Fall und ich kann mir schöneres vorstellen als mir die verfluchten Haxen zu brechen!“ Reynek nickte und ging voraus. Gabhan wartete kurz bis der andere aus direkter Hörweite war, ehe er das verbesserte Gehör der Hexer ausnutzte. „Bist du verletzt“ eine einfach, knappe Frage. Er musste es wissen. Blut würde Feinde anlocken und er konnte nicht gebrauchen, dass Atheris nicht in Topform war. Purer Überlebensinstinkt. Es war ganz sicher purer Überlebensinstinkt.
Atheris blickte auf und schaute zu seinem Zunftbruder, „mir geht es gut, Gabhan! … lass uns Reynek folgen!“ Als der Bärenhexer sich abgewendet hatte glitt seine Aufmerksamkeit noch einmal zum verfluchten Teich – das war verdammt knapp.
Das dunkle paar Augen, dass die Drei aus dem Schilf beobachtete, bemerkte er nicht.
Gegenwart – Das Rabennest
Die beiden Hexer folgten bereits eine ganze Weile dem temerischen Jägersmann, der sie sicher durch das Unterholz des Waldes lotste. Es war inzwischen später Mittag und die Sonne, die durch das bunte Blätterdach brach, lies Atheris Kleidung zwar nur langsam trocknen, aber sie spendete zumindest genügend Wärme, um nicht zu frieren. Der Nilfgaarder konnte nicht mehr sagen, wann es ihm aufgefallen war, aber der Wald wurde auf einmal still … unheimlich still. Reynek schien es auch zu bemerken und hielt inne, ging auf die Knie und spannte die Armbrust. Atheris Griff schloss sich fester um seine Klinge und er schloss zu dem Jäger auf. „Siehst du was, Reynek?“ flüsterte der Greifenhexer, während sich Gabhan zu ihnen gesellte.
„Ich hätte es zumindest schwören können…“ antwortete Reynek und ließ damit Gabhan schnauben. „Wenn du es hättest schwören können wird da was gewesen sein. Denn auch ich spüre es. Diese Augen im Nacken. Reynek, sag, ist dir noch was aufgefallen?“ – „Ist es. Und so wie du schaust, dir auch, nicht wahr?“ – „Wahr“ – „Das habe ich befürchtet. Zum vierten Mal?“ – „Ich hätte gesagt zum dritten, aber vielleicht habe ich auch nicht so gut aufgepasst wie du. Ganz gleich wie oft, es ist zu Oft“ – „Stimmt.“
Gabhan beugte sich hinab und wischte mit einem Handschuh die Blätter vom Waldboden. „Hundsfott,“ fluchte Reynek und Gabhan konnte sich eines anerkennenden Grinsens nicht erwehren, welches ihm erneut im Gesicht schmerzte. Dort, unter den Blättern waren die Fußspuren von drei Männern zu erkennen, die sich mehrfach kreuzten. „Es hat uns irgendwie im Kreis geführt,“ schlussfolgerte der temerische Jägersmann und Gabhan nickte. „Hat es. Und nicht irgendwie. Es hat den Wald um uns verändert. Aber das ist gut. Sehr gut sogar. Solch eine Macht kann es nur haben, wenn es einen Fokus in der Nähe hat. Das bedeutet…“ Reynek nickte, „Das das Totem in der Nähe sein muss!“ der Bärenhexer richtete sich langsam auf. „Das Totem und noch etwas Anderes…“
„… etwas Unnatürliches, ich spüre es auch!“ stimmte Atheris zu, seine linke Hand war zu seinem Medaillon gewandert, es vibrierte … wenn auch nur leicht. Er ging einige Schritte vorsichtig nach vorne – es wurde schwächer. Vier Schritte nach links – das Medaillon in Form eines Greifenkopfes hörte auf an der Kette zu ziehen. Atheris wendete sich nach rechts und ging los – da war es wieder, das vibrieren. Vorsichtig schritten die drei Gefährten durch das Unterholz, wohl wissend, dass jeden Moment die grüne Hölle über sie hereinbrechen konnte.
Jeder Schritt konnte Tod oder Gewinn bedeuten. Die Luft prickelte vor Anspannung und Gabhan genoss diesen Geruch. Ein Teil von ihm wünschte sich geradezu, dass sich der Klimax nährte. Dass jemand sie Angriff. Das Blut floss. Aber der weitaus größere, vernünftigere Anteil von ihm, wollte dies lieber nicht riskieren. „Ruhig. Ruhig…“ knurrte Gabhan. „Dann sei auch ruhig!“ zischte flüsternd Reynek und Gabhan musste anerkennen, dass er Recht hatte. Er folgte den andren beiden, während sie über braune Blätter und knisternde Äste stiefelten. „Dort!“ Gabhan hätte bei Reyneks Ruf beinahe sein Schwert gezogen, doch er folgte zuvorderst dem Fingerdeut des Jägers. Und wahrlich – dort, in der Baumkrone, hing ihr gemeinsames Anliegen. Es hing unschuldig, beinahe unauffällig dort. In den Ästen einer großen Ulme, deren knorriger Stamm sie aus tausend bösartigen Augen anzustarren schien.
„Ziemlich hoch!“ stellte Atheris leise fest, als sie den Fuß der Ulme erreicht hatten. Er schaute fragend zu seinen beiden Gefährten. „Ich bin raus!“ schüttelte Gabhan nur leicht den Kopf, während er an sich runter schaute – er hatte recht, mit seiner schweren Rüstung würde er nicht hochklettern können und die Rüstung abzulegen war eine deutliche Schwächung in ihrer jetzigen Situation. Atheris schaute an sich runter, er war immer noch nass von seinem ungewollten Tauchgang im Teich und selbst wenn er trocken gewesen wäre, war er mit seiner muskulösen Statur zwar durchaus in der Lage auch mit seiner Rüstung zu klettern, jedoch würde er bei der Höhe seinen Kragen nur ungerne riskieren. So blieb nur noch einer im Bunde übrig.
Reynek merkte sofort, dass die beiden Hexer ihn anblickten und er sah ein, dass er wohl diese heldenhafte Aufgabe in Angriff nehmen würde. Er legte seine Armbrust, den Bolzenköcher und sein Schwert ab und behielt lediglich seinen langen Dolch am Gürtel. Atheris stellte sich noch als Leiter zur Verfügung, so dass der Jäger den dicksten unteren Ast des Baumes ergreifen und sich hochziehen konnte. Reynek war schon oft in seinem Leben auf einen Baum geklettert und so kam er gut voran. Nach einigen Augenblicken hatte er so an Höhe gewonnen, dass er einen guten Blick auf das Totem werfen konnte, es befand sich in einer Art großem Nest – ein Rabenschädel … einen verdammt großen Rabenschädel zusammen mit diesem komischen Gras-Zeug, dass auch bei den anderen beiden Totems anzufinden gewesen war. Gerade als er sich der Astgabel näherte um nach dem Nest zu greifen, nahm er eine schnelle Bewegung in der Peripherie seines Blickfeldes wahr.
Auch Gabhan sah es. Sah dieses Ding, welches sich aus dem Baum selbst zu schälen schien. Sich aus der Rinde Wand, aus den Blätter tropfte und sich zu einem Konstrukt formte, dass jeder Beschreibung spottete. Reynek war tot. Gabhan war sich sicher, dass der Jäger des Todes war. Sie würden nicht rechtzeitig nach oben kommen und der Jäger war niemals schnell genug. Konnte es nicht sein.
Das Wesen sprang auf Reynek zu. Die kleinen Klauen, dornenreich nach vorne gestreckt. Die Augen wie große Beeren, die Haare aus Moos und Blattwerk. Es gab einen Knall, ein Zischen und Reynek überraschte Gabhan. Er hatte das Totem noch immer in der Hand und mit einem Tritt auf den ein Maulesel stolz gewesen wäre pflückte er das Wesen aus der Luft, welches mit einem hohen Schrei aus dem Baum stürzte und direkt vor Gabhan und Atheris krachte. Zuckend blieb es liegen, röchelte. Gabhan warf Atheris einen kurzen Blick zu und zuckte mit den Schultern.
Atheris zog seine Klinge aus dem kleinen aber furchterregenden Relikt, welches vor ihre Füße gestürzt war. Sicher war sicher. Gabhan zeigte mit einem kurzen Nicken seine Zustimmung und richtete seinen Blick wieder auf Reynek, der hoch oben im Baum gerade dabei war das Totem an sich zu nehmen. Atheris Augen weiteten sich, als er eine weitere Bewegung im Baum wahrnahm…und noch eine. „Dein Umhang Gabhan … schnell!“ rief Atheris und der Bärenhexer schien sofort zu verstehen. In einer flüssigen Bewegung warf er den Umhang von seinen Schultern und die beiden Hexer spannten ihn zwischen sich auf. Es war vielleicht nicht die beste Idee … aber sie schrien nach oben „spring!“
Gabhan machte einen halben Schritt nach hinten und spannte die Muskeln im selben Maße an wie seinen Mantel. Dann kam Reynek. Nicht sehr elegant, aber auf geradem Weg und schnell nach unten. Gabhan spürte den Ruck und sah auch wie Atheris die Backen aufplusterte, als Reynek in den streng riechenden, aus hunderten Fellen zusammengestückelten Mantel von Gabhan fiel. Kaum das der Jäger auf dem improvisierten Spannlaken gelandet war ließ Gabhan diesen auch schon los. Der letzte halbe Schritt würde Reynek schon nicht umbringen und sie brauchten beide Hände gegen die Wesenheiten, die sich nun auf sie stürzten. „Scheiße…“ es waren dutzende und unangenehme Erinnerungen an Nekkernester keimten in ihm auf. Doch das hier waren keine Nekker, das hier war etwas Anderes. Etwas Kleineres. Etwas von deutlich größerer Zahl. Mit spitzen Zähnen. Spitzen Klauen. Verfluchte scheiße alles an diesen Wesen war spitz oder scharf oder brannte wie Nesseln.
Immer wieder zuckte die Silberklinge durch die Luft, aber für jedes Relikt, das Atheris niederstreckte folgten zwei neue … der ganze Baum schien aus diesen Viechern zu bestehen. „Wir müssen hier weg!“ schrie Atheris über die grellen Geräusche der Wesen hinweg. Gabhan hatte vermutlich den selben Gedanken gehabt und löste mit dem Zeichen Aard eine Druckwelle um sie herum aus, welche die kleinen Wesen zu Boden schickte. „Los jetzt!“
Sie rannten. Gabhan hatte seinen Umhang in letzter Sekunde noch mitgezogen, da er nichts was ihm gehörte in diesem verfluchten Wald zurücklassen wollte. Die Gefahr war zu groß. Er sah vor sich Reynek, der das Totem noch immer an sich presste. Sah Atheris, dessen lange Beine ihn weit trugen. Gabhan war kleiner als die Beiden. Sein schweres Kettenhemd klapperte und raschelte bei jedem Schritt. Seine schweren Knieplatten schnitten ihm in die Kniebeugen. Er konnte rennen, wenn es sein musste. Vor allem auf kurze Distanz. Aber sie hetzten wie die Wahnsinnigen durch den Wald, hinter ihnen das irre Sirren der Wesen, wie von tausenden hungrigen Wespen. Der Oberschenkel, der durch Reyneks Bolzen veletzt worden war schmerzte höllisch und Gabhan glaubte beinahe zu spüren, wie das Fleisch bei jeder Bewegung weiter aufklaffte. Er fiel zurück. Die Schmerzen wurden heftiger, seine Rüstung schwerer. Atheris und Reynek bogen ab, auch Gabhan versuchte zu folgen, doch da war eine Wurzel und er fiel. Stürzte. Die Wesen waren über ihm, zerkratzten ihm das Gesicht, versuchten sich unter seine Rüstung zu schieben, doch diese widerstand ihnen. Gabhan knurrte, griff eines der Wesen und zerdrückte es zwischen den Fingern, spürte die Dornen die hier und da sogar durch das weiche Leder der Handschuhe stachen. Er tastete an seine Seite, zog dort das Seil von seiner Hüfte und schlug mit diesem nach links und rechts, fegte wie mit einer Peitsche die Wesen zur Seite und er stemmte sich auf. Verflucht. Wo waren der Greifenhexer und der Jäger? Er hatte keine Zeit darüber nachzudenken, da waren wieder die Dornenwesen. Er ließ sein Schwert kreisen. Weglaufen war keine Lösung. Nicht so früh. Er musste sich Zeit verschaffen. Diese Wesen loswerden. Wo waren Atheris und Reynek? Nicht nachdenken. Kämpfen. Überleben.
„A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris, als er sah, wie Gabhan stürzte und sich diese kleinen Monster sofort über ihn hermachten. Als er gerade kehrt machten wollte um seinem Zunftbruder zur Hilfe zu eilen, hielt ihn Reynek am Arm fest. „Warte Atheris … wenn wir ihm helfen wollen müssen wir das Totem zerstören!“ erklärte er hektisch als er sah, wie sich die Meute der kleinen Biester aufteilte und auf sie zustürmte. „Du könntest Recht haben!“ antwortete Atheris, als er dem Jäger das Totem aus der Hand nahm, auf den Waldboden legte, sich konzentrierte, die Energie aus seiner Umgebung sammelte um sie dann in einem Feuerstrahl auf das Totem durch das Igni-Zeichen zu entfesseln. Auch diesmal brannte es in einem grünlichen Feuer … aber nicht schnell genug. Im letzten Augenblick schaffte es Atheris mit dem Schutzzeichen Quen einen magischen Schild um sie herum aufzubauen, der die erste Woge der angreifenden Dornenwesen abwehrte, bevor er unter der Belastung zusammenbrach. Dornen überall waren Dornen und die Gegner wuselten überall zwischen ihm und Reynek umher. Mit kurzen letalen Hieben, verschaffte sich der Greifenhexer etwas Platz um sich … wo war das Totem … verdammt! Er schaute sich um und sah einen besonders hässlichen Artgenossen, der mit seiner Beute triumphierend über dem Kopf in Richtung alter Ulme losrannte. Atheris ging in die Knie, baute die Spannung in seinen Muskeln auf, stieß sich ab und vollführte einen Hechtsprung nach vorne. Mit seiner Linken bekam er das Totem zu fassen und wurde sogleich von den kleinen Monstern begraben. Die Rüstung schützte ihn vor den Dornen, aber er verfluchte die Tradition, dass Hexer keine Helme trugen. Endlich schaffte er es sich aus dem Gewühle zu erheben und begann mit dem Totem auf die Schädel seiner Feinde einzuschlagen. Immer wieder und wieder senkte sich der verkohlte Schädel auf die Wesen herab, die ihn beschützen wollten. Wie lange es so ging hätte Atheris nicht mehr sagen können, aber als er wieder einen wuchtigen Schlag ausführte, gab das Totem in seiner Hand nach und zerbrach. Augenblicklich herrschte Ruhe unter den kleinen Wesen und sie blickten ihn mit ihren kleinen Augen an … dann auf einmal, wie auf einen unsichtbaren Befehl hin, wendeten sie sich ab und gingen zurück zu ihrer Ulme. Ihre zahlreichen Toten nahmen sie – fast wie bei einer Prozession – mit.
Überall waren Dornen und Klauen und Zähne gewesen. Überall Schmerz und Reize und Wald. Verdammt viel Wald. Dann war es fort gewesen. Die Zähne, die Klauen und Dornen. Alles tat ihm weh. Und noch zerkratzter als sein Gesicht war nur noch sein Ego als er sich wieder aufrappelte und schwer atmend gegen einen Baumstamm lehnte. Die Rinde war hart und bot damit einen angenehmen Kontrast zum viel zu weichen Waldboden, der ihn vor wenigen Augenblicken beinahe verschlungen hatte. Der Hexer stieß sich vom Baum ab und begab sich auf die Suche nach Atheris und Reynek, welche er beide recht schnell fand. „Da seid ihr ja…“ befand Gabhan und spuckte Blut und Galle aus, wischte sich durch das zerschlissene Gesicht. Er betrachtete die verkohlten Überreste in der Nähe und nickte langsam. „Danke…“
Aller guten Dinge sind drei
Mühsam schleppten sich die drei Gefährten zurück zu den Dorfbewohnern und somit zu ihrem Ziel – dem Totem. Wie mächtig diese Dinger waren, hatten sie leidlich erfahren. Schmerz … Müdigkeit … Erschöpfung, all das las Atheris in den Gesichtern seiner Gefährten, und ihm selber ging es nicht besser. Das vermeintlich letzte Totem wartete auf sie und wider die äußeren Umstände empfand Atheris eine aufkeimende Euphorie, dem Waldschrat endlich direkt entgegenzutreten. Sollte Gabhan Recht behalten und mit der Zerstörung des letzten Totems, ein Großteil der Macht dieses Unwesens gebrochen sein, würden sie es gemeinsam zur Strecke bringen. Zuversichtlich betrat Atheris als erster die kleine Lichtung mit den Dorfbewohnern.
Gabhan war müde. So unendlich müde. Sie hatten seine Beinwunde provisorisch mit einigen Stofffetzen verbunden in der frommen Hoffnung, dass es halten würde. Keine raffinierte Methode, doch eine die wirkte. Zumindest für den Moment.
Doch nicht nur sie waren am Ende ihrer Kräfte. Auch die Dorfbewohner waren ausgelaugt – und sie hatten Angst. Angst, die aus purem Überlebenswillen geboren war und die – jenem Überlebenswillen folgend – nicht weniger wurde, als sie ihre vermeintlichen Retter zerschunden aus dem Wald kommen sahen. Nicht weniger werden konnte. „Reynek, sprich du mit ihnen. Beruhig sie. Auf dich hören sie am ehesten,“ bat Gabhan den Jäger, welcher nickend zustimmte. Reynek musste für sie alle ein wahrer Held sein. Ein königlicher Jäger, angetan mit den Wappen alter Zeit beschützte sie seit Tagen vor dem Bösen das dort draußen lauerte. So musste es sein. Die Angst der Menschen galt nicht nur dem Wesen des Waldes, sondern auch den beiden Hexern, die ebenso widernatürlich anmuteten wie Waldschrate und Sumpfweiber. Reynek sprach mit den Dorfbewohnern und versprach ihnen, dass sie alle wohlbehalten hier herauskommen würden. Gabhan hoffte, dass Reynek hierbei nicht zu viel versprach.
„Atheris, wir müssen reden…“ flüsterte Gabhan und hielt Atheris am Arm fest, verhinderte, dass er Reynek folgte. „Du wirst dir die Dorfbewohner und Reynek schnappen und ins Dorf abziehen. Sobald wir dieses Totem zerstören wird der Leshen mit Sicherheit angreifen – und dann sollten sich die Dorfbewohner nicht mehr im Wald aufhalten. Alles hier im Wald ist auf seiner Seite. Er ist der Herr dieser Wälder, vergiss das nicht. Er mag geschwächt sein, aber wenn wir ihn besiegen wollen, dann müssen wir ihn aus dem Wald herauslocken. Die Dorfbewohner müssen weit fort sein – am besten in dem Haus das wir geschützt haben, es dürften alle hineinpassen. Ich werde abwarten und wenn ihr weit genug entfernt sein solltet das Totem zerstören.“
„Du hast Recht, Gabhan!“ antwortete Atheris und schaute sich seinen übel zugerichteten Zunftbruder an. „Aber ich habe einen Gegenvorschlag … ich hole Ker’zaer aus dem Haus und dann ziehst du mit den Bewohnern los zum Dorf … schau mich nicht so an, du mit deinem Bein wirst den Gefahren zu Fuß nicht entkommen können … bist du vorhin auch nicht … und falls der Leshen direkt die Bewohner angreift, brauchen sie dich an ihrer Seite!“ fuhr der Greifenhexer fort.
Gabhans Raubtieraugen begegneten Atheris Schlangenaugen und er stockte für einen winzigen, kaum wahrnehmbaren Moment. Der Leshen würde – sobald sie das Totem entzündeten – nicht die Dorfbewohner angreifen, sondern denjenigen der das nunmehr bereits dritte Totem zerstört hatte. Gabhan plante gar nicht fortzulaufen. Er wusste wie diese Sache hier enden würde. Wusste es seit dem Moment, als er diesen Auftrag für 240 Oren von Atheris angenommen hatte.
„Wir haben keine Zeit,“ versuchte er zu intervenieren. „Der Leshen wird bereits jetzt so ungehalten sein wie ein Bär mit Dünnschiss…“ er verzog den Mund, warf einen kurzen Blick zu Reynek dem es tatsächlich zu gelingen schien den Dorfbewohnern etwas von jenem Mut zurück zu geben, den sie zwischen dichtem Gestrüpp und feuchten Nächten verloren hatten. Gabhan bewunderte ihn hierfür. „Du wirst niemals rechtzeitig mit Ker’zaer wieder da sein. Wir müssen jetzt aufbrechen. Jetzt die Dorfbewohner fortbringen – und sie werden nur aus dem Wald entkommen, wenn die größte Macht der Totems gebrochen ist…“ er wollte nicht, dass Atheris alleine gegen den Herrn des Waldes kämpfte. Wollte nicht, dass der andere sein Leben wegwarf. Denn er war sich beinahe sicher, dass es so enden würde. Wie sollte es auch nicht? Gabhan wusste, dass er auch selbst wenn überhaupt nur eine verteufelt geringe Chance hatte alleine gegen diesen Waldschrat zu bestehen. „Was schaust du so?“
Was plant Gabhan? Diese Frage schoss Atheris durch den Kopf. Der Bärenhexer musste doch auch die Fakten richtig zuordnen können. Wenn er das Totem vernichten würde und nicht schnell genug das Dorf erreichen konnte … müsste er sich allein dem Waldschrat stellen. „GABHAN, sei vernünftig, ich werde nicht lange brauchen und schnell wieder zurück sein und wenn du darauf beharrst, dass es jetzt sein muss, werde ich derjenige sein, der hierbleibt!“ versuchte Atheris seinen Zunftbruder zu überzeugen.
Der Bärenhexer starrte Atheris für einen kurzen Moment an. Das Gesicht zu einer wächsernen Maske verzerrt. „Du bist ein Narr, wenn du glaubst, dass das gut ausgeht!“ knurrte Gabhan nur und schüttelte den Kopf. „Ein Kopfloser Irrer der sich selbst überschätzt!“ er stieß ihn vor die Brust. „Du hast es echt dringend nötig hier drauf zu gehen was? Brauchst noch meine verdammte Hilfe beim Schuhe zubinden, glaubst aber, dass du allein gegen den Leshen ankommst?“ erneut stieß Gabhan Atheris vor die Brust. Wollte ihn provozieren. Ihn dazu bringen das zu tun was klug war – wollte ihn dazu bringen Gabhan zum Teufel zu wünschen, die Bewohner zu schnappen und zu gehen. Aber Atheris sah ihn nur an. Mit dieser Entschlossenheit in den Augen, die Gabhan an guten Tagen im Spiegel sehen konnte. „Vollidiot…“ diesmal klangen die Worte versöhnlicher. „Gut. Ich halte dich nicht auf – aber passt verflucht noch mal auf dich auf! Mach mir kein schlechtes Gewissen indem du es wagst den Löffel abzugeben!“
Erleichtert, dass Gabhan endlich eingelenkt hatte, machte sich Atheris auf den Weg zurück ins Dorf um Ker’zaer zu holen. Als er das Dorf endlich erreichte, war es bereits später Nachmittag … er hatte nicht mehr viel Zeit. Die Bewohner im Dunkeln durch den Wald zu führen würde noch schwerer werden, als es jetzt schon war. Die Tür zu dem Haus war geschlossen … gut! Im inneren fand er das Mädchen vor, dass in Seelen Ruhe mit ihrer Puppe spielte. Sein treues Streitross stand in der anderen Ecke des Raumes und begrüßte ihn mit einem freundlichen wiehern. Zügig sattelte er das Tier und versuchte dem Mädchen zu erklären, dass er gleich wieder mit den anderen Dorfbewohnern zurückkehren würde – sie schien zu verstehen. Dann gab er dem Streitross die Sporen und jagte zurück zu seinem Zunftbruder.
Reynek hatte die Dorfbewohner organisiert. Hatte ihnen gut zugesprochen und alles dafür getan, dass sich die Überlebenden weniger ängstlich fühlen mussten. Gabhan bewunderte eine solche Fähigkeit, die er sich selbst nur zu gerne attestiert hätte, doch er wusste es besser. Also hatte er das getan was am klügsten gewesen war. Er hatte es sich auf einem Baumstumpf gemütlich gemacht und auf Atheris Wiederkehr gewartet. Als Pferd und Reiter wie der Stolz der nilfgaardischen Kavallerie angesprengt kamen richtete sich Gabhan wieder auf und nickte dem anderen zu. „Hast dir ganz schön Zeit gelassen…“ befand er und stieß einen kurzen Pfiff in Reyneks Richtung aus. „Zusammenpacken die Damen! Es geht los!“
Der Zug setzte sich lärmend in Bewegung, angeführt von Reynek, der den Weg zum Dorf noch immer kannte. Gabhan plante die Nachhut zu werden und betrachtete daher die vorbeiziehenden. Viele waren es nicht mehr. Aber jeder einzelne Überlebende war ein gutes Zeichen. Vorausgesetzt sie führten sie nicht alle in den Tod. „Gib uns zehn Minuten!“ Gabhan wandte sich an Atheris. „Dann sollten wir nahe genug am Rand des Waldes sein. Wenn du das Totem zerstörst hört hoffentlich der Zauber des Leshen auf und die Bewohner können den Wald verlassen. Wenn du das Totem zerstört hast, dann reite zu uns – so schnell als würde der Kaiser persönlich die Peitsche hinter dir schwingen! Reynek und ich werden die Dorfbewohner ins Haus bringen. Dort dürften sie sicher sein. Und wenn du den Leshen auf den Dorfplatz gelockt hast. Ja… dann beten wir wohl, nehme ich an.“
Atheris schaute den abziehenden Tross nach. Gabhan blickte sich als Letzter noch einmal kurz um, bevor er ebenfalls hinter den Bäumen verschwand … die Zeit lief. Atheris platzierte das Totem vor sich auf den Waldboden … bildete mit einigen Faustgroßen Steinen einen Kreis um das Totem und kniete sich hin, holte seine Silberklinge aus der Rückenscheide hervor und aus seiner Gürteltasche das Fläschchen mit dem Relikt Öl. Mit einem sauberen Leinentuch fing er an, dass Öl auf der Klinge zu verteilen. Nachdem er das Gefühl hatte, den Dorfbewohnern genügend Vorsprung gelassen zu haben, sammelte er erneut aus der Umgebung die Energie, ließ diese durch seinen Körper in seine linke Hand wandern, konzentrierte diese dort … und ließ das kleine Inferno mit dem Igni-Zeichen auf das Totem nieder. Mit einem lauten Zischen fing es Feuer und ging in den gleichen grünen Flammen auf, wie die Male zuvor. Zufrieden schwang sich Atheris zurück in den Sattel und wartete. Außer dem zischen des Feuers war nichts mehr zu hören … der Wald, so erschien es ihm, hatte seinen Blick auf ihn geworfen. Das Feuer brannte noch, als Atheris das Laub in den Bäumen rascheln hörte … sein Blick fiel auf das Totem, die Flamme tanzte nicht … es war … windstill. Die Äste in den angrenzenden Bäumen bewegten sich und das Rascheln wurde lauter. Ker’zaer wurde zunehmend unruhig und begann auf der Stelle zu treten, er wollte genauso wie Atheris das Weite suchen … aber noch nicht, noch brannte das Feuer. Dann sah er Bewegungen … graue Schatten, die sich zwischen den Bäumen hin und her bewegten und langsam näher kamen … ein Heulen … noch eins … Wölfe! Mindestens zwei. Es wurde langsam Zeit, aber er konnte noch nicht weg, das Totem war noch nicht vollständig verbrannt. Dann war da ein großer Schatten … dort zwischen den beiden alten Bäumen. „A d’yaebl aép arse!“ entfuhr es Atheris, als der Leshen aus dem Schatten trat. Der Kopf hinter dem Schädel eines Hirsches versteckt, so wie ihn die Legenden beschrieben und so wie Atheris ihn nachts durch das Fenster erblickt hatte. Ihn jetzt in voller Größe zu sehen … als ein Wesen, dass Irgendetwas zwischen Baum und … er kam nicht mehr dazu den Gedanken zu Ende zu bringen, der Waldschrat hatte seine Hand gehoben und irgendeine Art Laut von sich gegeben. Der Boden unter Atheris fing an sich zu bewegen, die alten Wurzeln der Ulme schossen hervor und suchten nach den Fesseln seines Pferdes … es war höchste Zeit! Der Greifenhexer lies Ker’zaer steigen und dabei leicht drehen, so dass die Hufe des Pferdes auf das brennende Totem niedergingen und den Schädel laut knackend in tausend Stücke zermalmten. Er brauchte dem Streitross nicht die Sporen zu geben, ein leichtes Zucken seiner Schenkel reichten dem Tier, um mit wenigen kräftigen Sätzen in einen gestreckten Galopp zu verfallen. Ein lauter, wütender Schrei erklang in seinem Rücken und er hörte, wie sich gefühlt der ganze Wald hinter ihm in Bewegung setzte um ihn zu verfolgen. Mit dem Kopf dicht an den Hals des schwarzen Hengstes gelegt rasten die beiden mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den Wald. Immer wieder schien es dem Hexer, dass die Bäume vor ihm mit ihren alten knorrigen Ästen und Wurzeln versuchten ihn zu ergreifen … zu Fall zu bringen! Atheris vertraute den Instinkten des Tieres … es blieb ihm aber auch wenig Anderes übrig. Ein Schatten brach aus dem Unterholz neben ihm hervor … einer der Wölfe … oder ein Dritter? Atheris wusste es nicht … musste es auch nicht wissen. Er zog seine Klinge nach oben. Er spürte, wie sich die scharfe Schneide ihren Weg durch das dicke Fell, die Haut und die Sehnen suchte. Mit einem jaulen brach der Wolf seinen Angriff ab und nur wenige Augenblicke später durchbrach er den Waldrand. Hier im Freien konnte Ker’zaer noch mehr Tempo zulegen und Atheris hielt, wie mit Gabhan vereinbart, auf den zentralen Dorfplatz zu. Ein Rudel von vier großen Wölfen schoss ebenfalls wenige Sekunden nach Atheris aus dem Wald und folgten ihm ins Dorf. Als er das Ende des Platzes erreichte, wendete er sein Streitross und stellte sich dem Rudel entgegen … „A d’yaebl aép arse!“ fluchte der Greifenhexer erneut … wo verdammt nochmal war Gabhan?
„Gabhan wir müssen reagieren!“ flüsterte Reynek, während er und Gabhan sich auf dem Vorsprung eines der Dächer versteckt hielten. Unter ihnen, in dem Haus hielten sich die Dorfbewohner versteckt, beschützt durch eiserne Nägel und viel guter Hoffnung. „Nein,“ Gabhans Stimme war ruhig, während er sich tiefer auf das Dach presste. „Er wird Atheris zerfleischen!“ fluchte Reynek und war kurz davor aufzustehen. „Nein. Ich sagte noch nicht!“ knurrte er und schüttelte den Kopf. „Erst wenn er die besprochene Linie überquert hat!“ – „Der Waldschrat wird ihn vorher in Stücke reißen!“ – „Er kannte das Risiko Reynek! Wenn wir zu früh handeln ist der ganze Plan verloren! Er wird es schaffen. Er muss es schaffen!“ die Sekunden vergingen. Reynek neben ihm wurde ganz offensichtlich unruhig, spannte sich an, dann sprang Gabhan vom Dach und gab damit das Signal.
Gabhan landete schwer auf dem Boden und fluchte – egal wie gut sowas immer aussah, es ging furchtbar auf die Knie. Keine Zeit darüber nachzudenken – er musste los. Über ihm hörte er das surren eines Bolzen. Atheris rauschte an ihm vorbei und der brennende Bolzen über sie beide Hinweg. Der Waldschrat sprang ihnen hinterher, landete mitten unter ihnen. Dann landete der Brandbolzen am geplanten Ort – und entfachte das Öl und Fett, welches Gabhan und Reynek zuvor im Kreis um die Dorfmitte ausgestreut hatten und welches nun ein flammendes Rondell bildete. Eine Arena, in der sie mit dem Waldschrat eingeschlossen waren.
In der Arena aus Feuer
Der Leshen hatte zum Rudel aufgeschlossen und näherte sich Atheris. „Se’ege na tuvean!“ schrie er, als er sich aus dem Sattel gleiten lies und Ker’zaer mit einem Klaps fortjagte. Keinen Moment zu früh, denn von einem der Dächer schoss ein brennender Bolzen in Richtung Dorfplatz und steckte den Boden in Brand. Ein Feuerkreis bildete sich und schloss Atheris mit dem Leshen und dem Rudel ein – wie passend, dachte sich Atheris und sein Griff schloss sich fester um die Silberklinge in seiner Hand. Bevor sich der Feuerkreis schloss, traten Gabhan und Reynek an seine Seite. Die Zeit war reif, dem Spuk ein Ende zu bereiten.
Gabhan rollte sich noch einmal kurz ab, als er mit einem Hechtsprung in den flammenden Kreis kam. Der Bärenhexer erhob sich langsam, das kurze Silberschwert in einer flotten Drehung in Stellung bringend, auf dem sich der rötliche Schein spiegelte. „Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt wir ließen dich im Stich?“
Gabhan brachte sich in Stellung, kontrollierte den Atem und verengte seine Augen um nicht durch die Flammen geblendet zu werden. Die Wölfe heulte, schossen in ihre Richtung, doch Gabhan und Atheris drehten sich Rücken an Rücken gegeneinander, ließen die Schwerter blitzen – das lange von Atheris, das kurze von Gabhan, während hinter Ihnen das Sirren eines weiteren Bolzen simultan zu ihren Klingen erklang. Die ersten beiden Fellbündel fielen – dann kam der Waldschrat auf sie zu und der wahre Kampf begann.
Der erschlagene Wolf hatte noch nicht einmal den Boden berührt, als der Waldschrat zum Angriff ansetzte. Er kam mit großen Schritten auf ihn zu … holte mit seinen langen Klauenbewerten Händen aus und schlug zu. Im letzten Moment wicht Atheris dem Hieb aus und dort wo er soeben noch gewesen war, hatte sich ein beachtlicher Krater gebildet … den Treffer hätte er mit Sicherheit nicht überlebt. Nun war er aber an der Reihe, bevor sich das Monster zu ihm orientieren konnte, führte er drei schnelle Streiche auf dessen entblößte Seite aus. Seine mit dem Relikt Öl behandelte Klinge zerschnitt einiges an organischen Materials, von dem Atheris aber nicht wusste, was es war. Zumindest machte ihm der Leshen die Freude und quittierte die Treffer mit einem böse klingenden Schrei. Tänzelnd brachte sich der Greifenhexer aus der Schlagdistanz und schaute sich nach seinen Gefährten um.
Gabhan griff sein Schwert fester, wartete stets bis zur letzten Sekunde um mit kräftigen und wenig eleganten Hieben die Wölfe zur Strecke zu bringen. Da waren sie wieder. Geifernde Bestien. Zähne wie Dolche. Fell und Klauen. Erneut stieß Gabhan nach vorne, erwehrte sich des nächsten Angriffes. Stich; Schlag; Ausweichschritt. Zur Seite. Zur Seite! Puh, gerade noch geschafft. Von Links, ein Schrei. Nein, kein Schrei – ein Brüllen. Blut pulsierte in seinen Adern, schmerzte im selben Impuls in seinem verletzten Bein. Neben ihm schnarrte es, doch es war ein freundliches schnarren. Das einer Armbrust. Der Leshen brüllte, als der Bolzen ihn traf. Wandte sich zu ihm um. Gabhan spannte seine Muskeln an. Spannte alles an. Er musste Reynek davor bewahren zerfleischt zu werden. Dann sprang er – schoss mit dem Schwert in der Hand nach vorne und drang tief in den Brustkorb des Feindes ein. Spürte wie der Widerstand brach und sein Schwert bis zum Heft in die Brust eindrang. Das Relikt Öl auf der Klinge zischte als es die Brust durchschlug. Doch da war er nun. Auge in Auge mit dem Leshen. Seine Klinge im Körper des Feindes. „Atheris! Einen Hieb hier! Ich brauche mein Schwert!“ brüllte er, duckte sich unter einer Klaue hinweg.
Atheris sah, wie sich Gabhan auf den Leshen stürzte und sein Schwert in dessen Brust eindrang … und stecken blieb. Mit vier schnellen Schritten überwand er die Distanz zwischen ihm und dem Monster, wobei er einem wilden Klauenhieb ausweichen musste, in dem er Richtung Boden abtauchte. Er legte alle Kraft in einen Hieb, der so hoffte er, die Klinge seines Zunftbruders befreien würde. Wie drang die behandelte Silberklinge in den Körper des Waldschrates ein. Laut schrie das Wesen auf … dann wurde es Atheris kurz schwarz vor Augen … nicht, weil er getroffen worden war, sondern weil sich das verdammte Viech in Rauch aufgelöst hatte … ein Schwarm schwarzer Krähen schoss aus der Wolke hervor und griffen Atheris an.
Gabhan hatte auf solch einen Augenblick gewartet. Der Nebel entließ sein Schwert aus der Umklammerung, welches er in einem schnellen Wirbel wieder in die richtige Position brachte. Er sah die Krähen, die Atheris angriffen und die drohten ihm die Augen auszuhacken. Dann tat Gabhan das einzige, was er in diesem Moment tun konnte. Das Zeichen Yrden flammte auf und zwang den Leshen wieder in seine natürliche Form. Noch immer zuckend – und für wenige Sekunden an Ort und Stelle gefesselt. Wichtige Sekunden, die sie zum Angriff nutzen konnten.
Die spitzen Schnäbel der Raben hämmerten auf seine Rüstung und auf seinen schutzlosen Kopf und versuchten zu seinen Augen zu kommen. Er wollte ein Igni-Zeichen wirken, um diese verdammten Krähen zu verbrennen, aber er hatte keine Gelegenheit die Hand von seinem Gesicht zu nehmen. Er bemerkte das lilane Schimmern aus dem Augenwinkel und so schnell wie die Raben gekommen waren, so schnell waren sie wieder verschwunden. Er erkannte, was Gabhan getan hatte – er hatte das Zeichen Yrden gewirkt! Es ging verdammt schnell, die Raben verschwanden, der schwarze Nebel verdichtete sich … Atheris erhob seine Klinge und spannte sich an, wie ein Raubtier vor dem Sprung wartete er darauf, dass sich der Leshen erneut materialisierte … und dann war es soweit … Atheris zögerte keine Sekunde, schnellte nach vorne und ließ seine Klinge in einem weiten Schwung auf den Schädel des Monsters niederfahren. Er traf das Wesen genau im richtigen Moment und er spürte wie die scharfe Schneide sich ihren Weg durch den Knochen suchte und diesen sauber spaltete.
Gabhan sah, wie das Schwert seines Freundes tief in das Wesen eindrang. Spürte die Welle, die über sie hinwegfegte. Die dafür sorgte, dass die Wölfe davonstoben, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her. Erschöpft ließ Gabhan das Schwert sinken, warf Reynek einen knappen Blick und ein anerkennendes Nicken zu. Es war vorbei. Atheris richtete sich auf, zog sein Schwert aus dem Kopf des Leshen und schulterte dieses wieder. „Verflucht…“ der Bärenhexer schüttelte den Kopf. „Wir hatten verdammt viel Glück!“ und das hatten sie wahrhaft gehabt, denn das Öl war mittlerweile vollends heruntergebrannt, der Kreis erloschen. Hinter ihnen öffnete sich die Tür des Hauses wieder und die Dorfbewohner strömten hervor. Wollten sich den Leichnam ihres Peinigers ansehen. Vorne mit dabei war das kleine Mädchen, dass seine Puppe noch immer ganz fest umklammert hielt, welche einen knappen Riss über dem Bauch aufwies, aus dem die Füllung ragte. Gras und Stroh. Gabhans Lächeln erstarrte. „Oh…. ich bin so ein Idiot…“ seine Augen wurden größer, während er sich umdrehte. Da stand Atheris, beugte sich hinab um seine Trophäe zu erbeuten. „Atheris! NEIN!“ er streckte die Hand nach vorne aus und Aard erfasste den Freund, schleuderte ihn fort, nahm dabei Schlamm und Steinchen mit. Atheris richtete sich schwankend auf und starrte Gabhan wie von allen guten Geistern verlassen an. „Das Kind! Wieso kam der Leshen in das Dorf Atheris?“ fragte Gabhan und hob beide Hände. „Verstehst du es denn nicht! Oh ich war so ein Dummkopf! Es war so klar – die ganze Zeit vor meinen Augen! Unter meiner Nase!“ er griff sein Schwert fester. „Dem Leshen ging es nicht einfach darum, dass man seinen Wald abgeholzt hat. Dann hätte er viel früher eingegriffen. Nein. Sie haben ihm eines seiner Totems abgenommen…“ er hatte es nicht gesehen. Nicht sehen wollen. Er musste nicht hinsehen um zu wissen was geschah. Er hörte es. Hörte, wie der Schädel sich wieder zusammensetzte. „Atheris. Verschaff mir Zeit…“ bat er den Anderen und rannte zu den Dorfbewohnern, die erschrocken zurückwichen.
„A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris als sich der Leshen erneut vor ihm anfing aufzubauen. Kein Zögern, dachte er sich nur, noch ist er womöglich geschwächt! Atheris sprang nach vorne und zielte mit einem Stich zischen die Augen des Unwesens … zu spät! Die Knochenplatte schloss sich just in dem Moment, als die Spitze sein Ziel fand. Trotz der Wucht glitt sie nach oben ab, rutschte über den Schädel und hinterließ lediglich eine ziemlich tiefe Kerbe. Atheris hatte sein ganzes Gewicht in den Angriff gelegt und verlor für einen kurzen Augenblick das Gleichgewicht … und dennoch zu lange. Der schlag des Leshen raubte Atheris den Atem und ließ ihn mehrere Meter hoch in die Luft wirbeln und dann einige Meter weiter unsanft auf dem Boden wiederaufkommen. Er musste für einen Moment das Bewusstsein verloren haben … als er die Augen öffnete, sah er nur den riesigen Fuß des Leshen, der ihn zermalmen würde. Atheris rollte sich zur Seite und entkam nur knapp dem Aufprall. In einer fließenden Bewegung brachte er sich hinter den Leshen und sprang. Atheris bekam eine Art hervorstehenden Ast an der linken Schulter des Wesens zu greifen, zog sich hoch und fing an seine Klinge immer wieder auf das Genick seines Widersachers einprasseln zu lassen. Wie wild schüttelte sich das Wesen … warf sich zu Boden und fing an sich hin und her zu rollen … der Hexer hielt sich fest … „Verschaff mir Zeit…!“ hatte Gabhan gefordert … hoffentlich ließ er sich nicht Zuviel Zeit!
Er hörte hinter sich den Kampf zwischen Monster und Hexer toben, hörte Reynek fluchen, der die wenigen zurückgekehrten Wölfe mit Bolzen weiterhin auf Abstand hielt. Schlitternd kam Gabhan vor dem Mädchen zum Stehen. „Hör mal Kleine! Ich weiß, das dir Guinevere wirklich viel bedeutet, aber ich muss hier ein Dorf retten. Und den Idioten da drüben!“ er deutete hinter sich. „Bitte. Gib sie mir!“ er betete darum, dass sie ihm die Puppe gab, denn er wollte kein kleines Mädchen prügeln müssen. Das Kind zögerte. Hinter sich hörte er Atheris schreien. Dafür hatten sie wirklich keine Zeit. Er hatte sich bereits damit abgefunden dem Rotzgör die Lichter auszublasen, da streckte sie ihm die Puppe entgegen. „Danke!“ er küsste sie auf die Stirn, griff nach der Puppe und wandte sich um.
„Hey Kumpel!“ er verstärkte den Griff um die Puppe und der Leshen hielt mitten in der Bewegung inne. „Weißt du, was das hier ist?“ er wackelte mit Armen und Beinen des Püppleins und bereitete sich im Inneren auf starke Schmerzen vor. „Komm und hols dir Arschloch…“ Gabhan griff noch fester zu und entzündete Igni. Grüne Flammen loderten aus der Puppe hervor. Der Schrei des Waldschrates überschlug sich, während er den Kopf senkte und wie ein wütender Hirsch auf ihn zustürmte. Gabhan sah, wie Atheris abgeschüttelte wurde und im Schlamm landete. Er selbst sprang zur Seite, wurde jedoch noch vom Fuß an der Seite erwischt. Alles um ihn herum drehte sich. Er spürte, wie er auf Widerstand prallte, der unter ihm brach. Hustend erhob er sich aus einem Haufen zerstörter Fester, während der Leshen sich vor ihm aufbaute, brüllte – und dann in der Bewegung stehen blieb. Erstarrt. Schwankend. Aus der leeren Augenhöhle ragte ein blauweiß gefiederter Bolzen. Der Leshen sackte in die Knie, während ihn Wurzeln langsam umschlossen, ihm das Leben auspresste.
Epilog
Die Wunden, die sich die Hexer im Kampf gegen den Leshen zugezogen hatten, verhinderten eine schnelle Weiterreise und so verbrachten sie noch eine Woche als Gäste im Dorf. Ein wenig Normalität zog relativ schnell wieder ein, das lag aber, wie Atheris beobachtete weniger daran, dass die Leute das vergangene vergaßen, sondern vielmehr daran, dass das Leben in dieser Wildnis hart und entbehrlich war und nur wenig Zeit blieb um zu trauern. Traurig stimmte Atheris auch, als sich ihre Befürchtung bestätigte und die Eltern des kleinen Mädchens tatsächlich dem Waldschrat zum Opfer gefallen waren. Von einer Frau erfuhr er, dass die Tante des Mädchens in der Provinzhauptstadt Wyzima lebte. Atheris war überrascht, dass er Gabhan nicht erst sonderlich überreden musste, als er den Vorschlag machte, dass Mädchen zu ihrer Tante zu bringen.
Es war ein sonniger Herbsttag, als die Gefährten endlich aufbrachen. Ihr Weg führte sie durch den friedlich wirkenden Wald, nichts war mehr von dem Schrecken zu spüren, der hier noch vor einigen Tagen geherrscht hatte. Obwohl Gabhan mit seiner brummeligen Grundstimmung nicht gerade für die größte Unterhaltung auf dem Marsch sorgte, taute das kleine Mädchen immer mehr auf und am dritten Tag war es ein Ding der Unmöglichkeit den Redeschwall zu stoppen … aber Atheris wollte das auch nicht, es tat gut zu sehen, dass trotz des harten Schicksaals, das Kind Freude fand, vor allem, wenn es auf den Rücken von Ker’zaer reiten durfte.
Am Abend des dritten Tages erreichten sie ein stattliches Gasthaus, in dem es sich die Gefährten für die Nacht gemütlich machen wollten. Reynek, der sich aus Gewohnheit die Anschlagtafel durchlas, entdeckte ein Schreiben, dass er sogleich Atheris unter die Nase hielt.
„Schütze gesucht!“ stand in dicken Lettern über dem Bild eines Bogenschützen. „Die Hexer der Greifenschule sind auf der Suche nach einem erfahrenen Schützen, welcher bereit ist, sich in der gefährlichen Ungeheuer Jagd zu verdienen. Wer sich dazu berufen fühlt und unseren Spuren folgen kann, wird uns finden!“ gezeichnet war das Schreiben von Meister Valerian von Novigrad. Atheris kannte es, hatte er doch auf seinem Weg nach Cintra die Flugblätter verteilt gehabt, dass sie ihren Weg bis nach Temerien gefunden hatten, wunderte Atheris zwar, aber warum auch nicht, er hatte genug Kleingeld für Botenjungen ausgegeben, die sich um die Verteilung kümmern sollten. Nachdem Reynek Interesse äußerte, erklärte Atheris ihm in einem Gespräch die Hintergründe und was er bei den Hexern zu erwarten hatte … und der ehemalige königliche Jäger war begeistert und besiegelte per Handschlag sein Interesse.
Einige Stunden fanden sich die drei Gefährten im Baderaum des Gasthauses wieder. In drei mit warmen Wasser gefüllten Zubern genossen sie ausgelassen das Ergebnis der örtlichen Ernte in ihrer reinsten Form. Die weiße Möwe, die Gabhan in den Schnaps gegeben hatte, zeigte auch langsam Wirkung, so dass auch der sonst so mies gelaunte Gabhan in die wundervollen Balladen von Reynek und Atheris einfiel. So kam es, dass keiner von ihnen bemerkte, wie sich das kleine Fenster in der Dachschräge öffnete. Ein zischen gefolgt von einem dumpfen Aufschlag ließ Gabhan aus dem Zuber fahren.
Atheris blickte an sich runter und sah den blauweiß gefiederten Schaft aus seiner nackten Brust ragen … das rote Blut lief in Strömen seine feuchte Brust hinunter und färbte das Wasser rot … er konnte sich nicht bewegen … der Pfeil musste ihn an den Zuber genagelt haben. „Gabhan!“ war das letzte, was er von sich geben konnte, bevor sein Blick brach und er in eine bodenlose Dunkelheit stürzte.
Verfluchte Zeiten
Verfluchte Zeiten
Metagame von Yannic und Peter
Spätsommer
Kapitel 1 – Spätsommer
Im Jahre 1280 – in der nördlichen Provinz Cintra des Kaiserreichs Nilfgaard
„Die Sonne – in der Älteren Rede auch feainn genannt, war schon immer ein Sinnbild für Wachstum und Leben. Die Sonne ermöglicht mit Ihrer Wärme das Leben auf dieser Welt. Dies ist nur sinnig, braucht doch alles die Sonne, um zu gedeihen. Kein Wunder also, dass viele Religionen die Sonne zu einem wichtigen Teil ihrer mythischen Auseinandersetzung gewählt haben. Angefangen bei den zuvor erwähnten Elfen – denn auch der sechste Saveaed im elfischen Kalender wird feainn genannt und beginnt mit der Midaëte – der Sommersonnenwende. Und von den Elfen haben auch die Menschen diesen Brauch mit dem Johannisfeuer übernommen. Die Sonne ist ein Geschenk – und so ist es auch Nilfgaard“
– Aus dem Tagebuch des Atheris von Toussaint
Die Sonne schien über Cintra. Wie ein Brennglas schien sie vom Himmel und versengte die versprengten Grasbüschel am Wegesrand. Und sie schien von dem geteilten Wappen, dass immer wieder am Wegesrand der großen Straße aufgestellt worden war: Eine goldene Sonne auf schwarzem Grund auf der einen, drei goldene Löwen auf Blau auf der anderen Seite. Die Flaggen, Fähnlein und Wimpel waren ausgebleicht, die Hellebarden und Stöcke brüchig – doch sie hielten weiterhin die Fahne hoch. Niemand hatte in einem Anflug von Trotz oder fehlgelenktem Patriotismus gewagt die neuen Fahnen abzureißen.
Der Hexer wusste nicht, seit wann die Fahnen dort hingen – er konnte nur Vermutungen anstellen. Seit dem offiziellen Friedensvertrag? Seit der Heirat Emhyr var Emreis mit Cirilla von Cintra? Oder womöglich später bei irgendeinem anderen großen Fest, dass es notwendig machte eine der größten Straßen in einen Anschein von Einigkeit zu tauchen? Der Hexer wusste es nicht und es war ihm ehrlich gesagt auch egal. Seine Füße schmerzten, sein Magen knurrte und seine Geldkatze fühlte sich zu leicht an, um effektiv gegen das eine oder das andere vorgehen zu können.
Der Schultergurt drückte auf die verspannten Schultern, das dunkle Fuchsfell hatte er bereits in einem Beutel verstaut, die Riemen der Lederrüstung geöffnet. Doch diese minimalen Maßnahmen halfen nur wenig gegen die pralle Sonne, die unbarmherzig auf ihn niederbrannte und die Ringe seines Kettenhemdes aufheizte. Gabhan ließ sich auf einem Stein am Wegesrand nieder und genoss für einen kurzen Moment den Schatten, den eine der Fahnen-Sonnen warf. Er verfluchte in diesem Moment seine eigenen Mutationen und fuhr geistesabwesend über die feinen Rillen und Linien des Medaillons mit dem aufgerissenen Bärenmaul. Er war für derart heiße Temperaturen nicht geschaffen.
Wie lange er im Schatten gesessen hatte wusste der Hexer nicht, er musste eingedöst sein und erwachte nun von dem Ruck seines Medaillons. Schlagartig öffnete Gabhan die Augen – die Sonne war ein gutes Stück tiefer gesunken, verschwand nun hinter dem Horizont und hüllte die Straße, die er hinaufgekommen war, in blutrotes Licht. Blutrot war auch der Wagen, der ihm mit halsbrecherischem Tempo entgegenkam. Blutrot war der Mann, der den Wagen lenkte und bei dem er das Weiß in den Augen erkennen konnte. Blutrot war die Flanke des Pferdes, dessen Schweiß Gabhan bis hierher riechen konnte. Blutrot war das Blut.
Ein erneuter Ruck seines Hexer-Medaillons und Gabhan war auf den Füßen, das Silberschwert schnell wie ein Gedanken gezogen. Er lief dem Wagen nicht entgegen, sondern grub seine Füße fester in die Erde, kontrollierte seinen Atem – verengte die Augen zu Schlitzen, um gegen das Sonnenlicht blicken zu können.
Dann war das Ding schon bei ihm – die Sonne spiegelte sich golden auf dem schwarzen Chitin-Panzer, aus dem an allen möglichen und unmöglichen Stellen Gelenke und spitze, bewegliche Dornen ragten. Gabhan zog in einem schnellen Ruck die Silberklinge nach oben, spürte den erwarteten Widerstand und stemmte sich mit ganzer Kraft dagegen. Doch die Wucht, welche das Monster in seinen Sprung gesetzt hatte riss Gabhan mit. Er schlug hart auf dem Boden auf, spürte wie die Luft drohte aus seinen Lungen gepresst zu werden, doch er hielt dem Drang des plötzlichen Ausatmens stand. Ehe er wieder auf den Beinen war sah er das hintere Ende seines Feindes an ihm vorbeiziehen und griff nach einen der aus dem Ende ragenden gegabelten Dornen, vergrub seine Füße gegen den Schotter der Straße und zog. Ein Kreischen – ein Fipsen entrang dem Ungetüm, ehe es von dem Wagen abließ und sich nun Gabhan zuwandte, mit klackerndem Kieferwerkzeug auf ihn niederstieß. Der Hexer formte mit einer Hand das Zeichen Quen, um sich unter dem tosenden Knallen des Wesens gegen seine Barriere wieder aufrichten zu können. Er wartete einen weiteren Angriff ab, löste das Zeichen auf und sprang zur Seite. Mit einem berstenden Geräusch kollidierte der Kopf des Ungetüms mit dem Boden. Gabhan griff nach seinem Silberschwert, dass noch immer zwischen einigen Segmenten der insektoiden Bestie steckte und riss dieses mit einem Ruck nach rechts, tauchte unter den wild zuckenden Beinchen hinweg und zerteilte die Bestie knapp Oberhalb dessen, was er als Rumpfmitte auszumachen glaubte. Die Bestie erschlaffte und auch Gabhan stolperte von dem Schwung nach hinten, hielt sich jedoch auf den Beinen und betrachtete den Riesentausendfüßler vor sich, dessen Kopfhälfte sich zusammengekringelt hatte wie die Zimtschnecken in den Auslagen der Zuckerbäcker.
„He, Meister!“ Gabhan erschrak über seine eigene Stimme, die noch rauer und ausgetrockneter Klang als normalerweise. „Geht es euch und den Pferden gut?“ er machte einen Schritt auf den Wagen zu, der Abseits des Weges zum Stehen gekommen war. Sein rechter Arm schmerzte, sandte ein dumpfes Pochen aus, dass der Bärenhexer noch nicht ganz einordnen konnte. Als er schließlich den Wagen erreicht hatte, saß dort der Kutscher zusammengesunken auf dem Bock. Gabhan roch das Blut, noch ehe er es sah: Eine dunkle Pfütze, die aus dem Fußtritt der Kutsche lief und im staubigen Sand des Wegrandes versickerte. Der Mann selbst war bleich wie Schnee. Seine Haut grenzte sich so nur umso stärker von dem schwarzen Rock und dem schwarzen Hemd ab, an dessen Ärmel goldene Sonnen genäht worden waren. Seine Kleidung und die Bauweise seines Wagens wiesen ihn als nilfgaardischen Boten aus – nur die groben und blutigen Striemen an Hals und an der Seite seines Brustkorbes nahmen ihm jeglichen Ausdruck edler Bestimmung. Gabhan tastete wider besseren Wissens nach einem Puls. Die Rasiermesserscharfen Füße des Monsters hatten ihn aufgeschlitzt wie eine Mandarine. „Scheiße…“ murmelte der Hexer als ihm bewusstwurde, dass kaum ein Laie diese Wunden von normalen Schwertstreichen würde unterscheiden können. Das Pferd selbst war deutlich besser weggekommen als sein Halter, das war zumindest ein kleiner Trost. Doch was nun? Weit und breit war auf der Straße niemand zu sehen, doch wenn man ihn so aufgriff würde er wohl einiges zu erklären haben. Es ergaben sich nun drei Möglichkeiten – er konnte weiterziehen und mit etwas Glück erreichte er bevor die finsterste Nacht einbrach irgendein Gasthaus, wo er sich frisch machen und seinen Arm anschauen konnte – dann war jedoch die Gefahr groß, dass jemand am Morgen des Weges kam und den aufgeschlitzten Schwarzen fand. Die zweite Möglichkeit wäre gewesen nach einer passenden Stelle im Wald zu suchen und den Nilfgaarder zu verscharren – doch was mit Pferd und Karren anstellen?
Gabhan seufzte schwer, als er den Nilfgaarder vom Bock hievte und hinten auf den Karren verfrachtete. Dann lief er zu dem zerteilten Tausendfüßler, warf sich dessen vielgliedrigen Leib über die Schulter und hievte auch diesen auf den hinteren Teil des Karrens. Er musste sein Glück versuchen. Womöglich glaubte man ihm zur Abwechslung mal die Wahrheit. Der Hexer schnaubte – er glaube selbst noch nicht ganz dran, aber das Pferd musste genauso versorgt werden wie er. Er hatte also keine Wahl. Zumindest redete er sich dies ein, während er den Wagen wieder zurück auf die Straße lenkte und den Weg in Richtung des nächsten Dorfes einschlug.
Kapitel 2 – Bären
Ein kalter Windhauch blies Atheris ins Gesicht und sein ruhiger, stetiger Atem bildete kleine Wölkchen in der Luft. Der Greifenhexer stand am Rande der gut vier Schritt hohen Mauer und starrte auf die große weiße Fläche, die sich auf der Ebene unterhalb der Mauer ausbreitete. Die kleinen Schneeflocken, die tanzend aus dem Himmel fielen, ließen die Szenerie friedlich erscheinen. Dieser schöne Moment des Friedens wurde abrupt durch ein lautes Knacken unterbrochen. Die weiße Fläche barst auseinander, und zwischen den sich bildenden Eisschollen begann sich etwas Riesiges zu erheben. Zunächst waren da nur zwei weiße, pelzige Ohren zu sehen – dann folgte der Rest des gigantischen Bärenkopfes. Der Blick des Bären war nach unten gerichtet, so dass er den Hexer auf der Mauer nicht sehen konnte. Während sich der Oberkörper des Tieres aus dem Eis schälte, wurde Atheris das gewohnte Gewicht seines silbernen Schwertes in der rechten Hand bewusst. Seine Faust umschloss die Klinge noch fester, als der weiße Bär sich fast vollständig erhoben hatte und sein markerschütterndes Brüllen ihm das Adrenalin im Blut kochen ließ. Das Wesen ragte gut zwanzig Schritt hoch in den Himmel und der Hexer bemerkte, wie er sich rückwärts von der Mauer wegbewegt hatte, auf der er noch einige Momente vorher gestanden hatte. Atheris blickte sich zum ersten Mal um und sah einen Bergfried hinter sich aufragen. Ein großer steinerner Adler mit gespreizten Flügeln stand über dem Eingang und blickte in seine Richtung … „A d’yaebl aép arse! – Redanien!“ fluchte der Nilfgaarder-Hexer laut. Verzweifelt schaute er zurück zu dem Bären, dessen schwarze, emotionslose Augen ihn nun fixiert hatten. Wie angewurzelt blieb Atheris in der Mitte stehen und wartete. Der Moment zog sich eine gefühlte Ewigkeit hin, bis schließlich der Bär sein Maul weit aufriss und eine Reihe von mannshohen scharfen Zähnen entblößte. In seinem Rücken erschall gleichzeitig ein lautstarkes „Gaude Mater Redania!“ und in dem vermeintlich rettenden Eingang waren rote Schilde mit einem weißen Adler darauf erschienen und blockierten diesen. Es gab keinen Ausweg aus dieser Zwickmühle, das wurde dem Hexer klar. Langsam hob Atheris seine Klinge und umfasste mit der linken Hand den Knauf. Egal was passieren würde, kampflos würde er nicht untergehen. Es war wieder der Bär, der die Ruhe durchbrach und mit nur einem Satz über die Mauer hinwegsetzte. Das riesige, weit aufgerissene Maul senkte sich über dem Hexer nieder, der wiederum sein Schwert zum Hieb bereit fest umklammert hatte. „Se’ege na tuvean – Sieg oder Tod!“ schrie Atheris noch, bevor ihn absolute Dunkelheit umhüllte.
Sein Puls raste … sein Körper war in Schweiß gebadet … die Laken seines Bettes waren zerwühlt. Ein helles kreischen von einer Frau riss den Hexer aus seinem Alptraum, und er öffnete seine schlangenartigen Augen. Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, wo er sich befand und er schaute neben sich aufs Bett…es war leer. Erst als die Hand von Kathrin, der hübschen Schankmaid des Gasthofes, sich auf dem Laken zeigte, wurde ihm bewusst, dass die Gute sich ziemlich erschreckt haben musste, denn sie war aus dem Bett geflogen. Galant erhob sich Atheris und half ihr wieder auf die Beine. „Verzeih mir…meine Gute! Die Erlebnisse eines Hexers sorgen des Nachts manchmal für unangenehme Träume!“ sagte er, was ihm ein versöhnliches Lächeln von Kathrin einbrachte und dazu führte, dass die beiden wieder im Bett landeten.
Einige Zeit später, die Schankmaid hatte das Zimmer längst verlassen, war Atheris dabei, seine Ausrüstung anzulegen, als ein Tumult von draußen seine Aufmerksamkeit erregte. Er schritt zum Fenster und öffnete die Läden seines Zimmers und blickte hinunter auf den Weg, der durch das Dorf führte. Dort saß ein schwer bewaffneter Mann auf einem Pferdekarren und hatte einen toten nilfgaarder Boten neben sich auf dem Bock sitzen, während hinter ihm auf der Pritsche die Überreste eines großen, zerstückelten Tausendfüßlers lagen. eine Patrouille Soldaten des Kaiserreiches hatten ihn beim Betreten des Dorfes sofort angehalten. „Gabhan?“ entfuhr es Atheris, er hatte den Bärenhexer im Laufe des heutigen Tages wie geplant erwartet gehabt, aber nicht unter diesen Umständen. Er beeilte sich die Treppe hinunter in den Schankraum zu kommen und unter den überraschten Blick von Kathrin aus der Taverne zu stürmen. „E’er y glòir – Que aen suecc’s?“, grüßte der nilfgaarder Hexer seine Landsleute, die sich überrascht umblickten und für einen Moment verdutzt dastanden, als sich ihnen ein zweiter Vatt’ghern näherte, der auch noch die goldenen Insignien des Kaiserreiches auf seiner Kleidung trug. Der Gruppenführer fasste sich zuerst wieder und grüßte Atheris höflich zurück. Bevor der Mann mit einer Erklärung ansetzten konnte, drückte der Hexer ihm ein kleines Stück Pergament in die Hand und sagte: „Visse gead’tocht gaedeen – va vort!“ Es dauerte einen Moment, bis sich der Soldat durch das Schreiben gearbeitet hatte – obwohl da nicht viel Stand – und befahl dann seinen Männern, den Toten vom Wagen zu holen, um dann anschließend zu gehen.
Gabhan beobachtete das Geschehen schlecht gelaunt von seinem Sitzplatz aus und erst als die Patrouille abgezogen war, konnte er sich zu einem kurzen Lächeln hinreißen – „Atheris, schön dich zu sehen!“
Kapitel 3 – Tavernen Geschichten
Die Schwarzen, wie die Nilfgaarder landauf, landab genannt wurden hatten sich entfernt. Waren die lange Straße entlanggelaufen, um irgendwo – wussten die Götter was – zu tun. Fortgetragen von guten Stiefeln, die das kaiserliche Heer jedem Soldaten stellte und fort getrieben von einem kaiserlichen Erlass. Einem Erlass, der sich in der Hand des befreundeten Hexers befunden hatte. Gabhan wunderte sich. Er wunderte sich sogar sehr. Und er hatte allen Grund sich zu wundern, wo doch die meisten anderen seiner Zunft um jegliche Art an Neutralität bemüht waren. Doch die meisten anderen seiner Zunft trugen auch nicht die Sonne des Kaiserreiches auf der alten, benutzten Plattenrüstung. Ja die meisten seiner Zunft trugen noch nicht einmal eine solche Plattenrüstung. Zu schwer war sie für die meisten Hexergeschäfte, auch wenn sie von seiner Schuler, der Schule des Bären gerne getragen wurde. Doch nicht in der Machart, wie sie Atheris trug. Eine Machart, wie sie in den kaiserlichen Schmieden anzutreffen sein mochte. Bei ihrem letzten und bisher ersten Treffen war dieser Umstand Gabhan nicht bewusst aufgefallen, doch nun fiel es ihm auf – und es missfiel ihm, wenn auch nicht sehr. Großes Missfallen konnte er sich nicht leisten. Nicht hier und nicht in solchen Zeiten.
Also brachte er ein Lächeln auf seine Züge, das seine Augen sogar fast erreichte – wenngleich auch die alte Narbe auf seiner rechten Wange teuflisch weh tat, wenn er so lächelte. Weshalb er es selten tat. Dass es ihm schmerzen bereitete, wenn er glücklich war, schien ein grausamer Scherz des Schicksals zu sein, an den er sich jedoch gewöhnt und den er auf seine eigene Art und Weise selbst als amüsant befunden hatte. Wenn auch nicht so sehr, dass man hätte darüber lächeln müssen – aus bekannten Gründen. „Atheris, schön dich zu sehen!“ begrüßte er den nilfgaarder Hexer.
Der Hexer schwang sich vom Kutschbock hinab, kam schwer auf dem staubigen Boden auf und blinzelte gegen das Licht der Sonne an, das um den größeren Zunftbruder einen hellen Kranz bildete. Atheris musste sich vorwerfen lassen, sich mit voller Absicht ins Licht gestellt zu haben. Doch Gabhan ignorierte es geflissentlich und warf noch einmal einen letzten Blick in Richtung der Nilfgaarder, die nur noch als schwarze Schemen in der Ferne zu erkennen waren, und überlegte einen Augenblick, ob er Atheris auf die Depesche ansprechen sollte, mit der er auf so wundersame Art und Weise die Soldaten vertrieben hatte … doch er entschied sich dagegen. Seine Kehle war zu ausgedörrt für lange Gespräche und er hatte in letzter Zeit schon zu viele hohe Meinungen aufgrund zu langer Gespräche revidieren müssen. Er konnte auf eine erneute Darbietung seines knirschenden moralischen Kompasses für den heutigen Tag durchaus verzichten. „Du stinkst nach Sex,“ knurrte er daher nur, umrundete den Wagen und warf selbst noch einmal einen Blick auf das, was er von dem Tausendfüßler übriggelassen hatte und legte dann eine Decke darüber. Der Anblick konnte einem armen Tavernen Besucher den Morgen verderben und Gabhan war zu Rücksichtsvoll, um so etwas zu riskieren.
„Na komm“, wandte sich der Bärenhexer an Atheris und stemmte sich gegen die schwere Tür der Taverne um diese aufzustemmen. Im Inneren roch es angenehm nach Kraut, Bier und Würsten. Eine Kombination die Gabhan schätzen konnte und die eine willkommene Abwechslung zu den Gerüchen war, die ihn sonst umgaben und von denen viel zu viele von jener Art waren, deren Aroma sich in Kleidungen festsetzte und dortblieben, bis man sie verbrannte. „Du bezahlst,“ befand er in Atheris Richtung, nachdem er den Blick der Schankmaid gesehen hatte, der definitiv nicht ihm galt. „Mir scheint, du bist bereits in Vorkasse gegangen…“ er humpelte in eine Ecke der Schenke und achtete dabei penibel darauf, dass es nicht die hinterste war. Denn die hinterste Ecke einer Schenke war, wie jeder wusste, immer Verbrechern, Halsabschneidern oder Pfeife rauchenden Waldläufern vorbehalten und Gabhan sortierte sich in keine dieser Überkategorien ein.
Seufzend ließ sich Gabhan auf den Stuhl sinken, der mehr knarrte als er sollte und massierte sich den noch immer schmerzenden Arm. „Tut mir leid für die Verspätung. Ich… war eine Weile lang unpässlich. Habe länger gebraucht als angenommen … Umwege … Du kennst das…“ er blickte auf und der Blick seiner raubtierhaften Augen wanderte an Atheris entlang, neben dem er sich wie das fühlte, was die Tavernen Katze am Kamin gerade hervorgewürgt hatte. „Wie ist es dir ergangen? Wir haben uns seit Solonia nicht mehr gesehen…“, fragte er den Greifenhexer. Solonia – keine guten Erinnerungen. Eine Welt am Abgrund, dunkle Magie, Konspirationen und ein Warg, dem Gabhan die entstellende Narbe an der Schläfe verdankte. Und das waren noch die schönsten Erinnerungen, die er an das verfluchte Land hatte.
Atheris musterte Gabhan, ihm war das Humpeln beim Absteigen vom Wagen bereits aufgefallen und auch ansonsten schien der Bärenhexer nicht gut drauf zu sein, aber er kannte die Arbeit eines Hexers selber und auch er hatte die letzten Monate einiges erleiden müssen, nur trug er dies nicht zur schau, wie die meisten seiner Zunftbrüder. Als Gabhan das Thema auf Solonia lenkte, musste Atheris kurz schlucken … viel war seit dem letzten Winter geschehen … und der Bärenhexer sollte es wissen, wie es um Kaer Iwhaell, der Greifenhexerschule stand. „Kathrin, ein Kelch vom Hauswein für mich und für meinen Freund … ein Krug Wasser!“ rief Atheris durch den Raum, wobei er während seiner kurzen Pause ein wenig lächeln musste. Er hatte beim letzten Treffen bereits mitbekommen, dass der Bärenhexer fast nur Wasser zu sich nahm, damit ein zu hoher Alkoholkonsum die Wirkung der Hexer-Tränke nicht beeinträchtigte. Nach dem sie ihre Getränke bekommen hatten und Atheris einen großen Schluck aus seinem Gefäß genommen hatte, räusperte er sich, blickte Gabhan aus seinen schlangenhaften Augen an und begann zu erzählen, was in Solonia in den letzten Monaten passiert war.
„Gabhan…bei unserem letzten Treffen hatte Großmeister Valerian bereits angedeutet, dass wir Kaer Iwhaell aufgeben werden müssen. In einer Welt, die dem Untergang geweiht ist, in dem sich gottgleiche Kreaturen bekriegen und der Mond in drei Teile zerbrochen ist und diese hinabstürzen zur Erde … in dieser Welt können wir nichts mehr ausrichten.“ Atheris machte eine kurze Pause, nahm einen weiteren Schluck aus seinem Kelch, während Gabhan zustimmend nickte. „Die Evakuierung lief wie geplant, bis uns die Nachricht ereilte, dass eine größere Gruppe an Fanatikern auf den Weg nach Kaer Iwhaell war, um uns zu vernichten. Seit wir Hexer in ihr Land kamen, hat dieses schreckliche Schicksal begonnen und wir seien an allem Schuld … dass wir alles versucht haben, dieses Schicksal von Solonia abzuwenden, schienen sie nicht begreifen zu wollen … aber so sind Fanatiker nun mal, in Redanien ist es auch nicht anders! Denk nur mal daran, dass sie ihre Magier verbrennen, obwohl diese damals in Sodden den Arsch gerettet haben!“ fuhr Atheris fort. Der Bärenhexer nahm derweil knurrend ein kleines silbernes Kästchen hervor, streute sich etwas von dem Inhalt auf seinen Handrücken und zog den Schnupftabak mit einem lauten Geräusch ein. „Es sind immer die Vorurteile und Pogrome, die uns Vatt’ghern das Leben schwergemacht haben!“ knurrte Gabhan schlecht gelaunt, während Atheris erneut das Wort ergriff: „Während der Schlacht wurden wir Schüler von unserem Großmeister Valerian getrennt und konnten uns gegen die Übermacht der Angreifer nicht lange halten. Nachdem die Fanatiker die Mauern überwunden hatten, konnten wir uns nur noch durch ein Portal retten … und wenn ich dir erzähle, wer das Portal mit den magischen Steinen errichten musste, weil Nella ihr Bewusstsein verloren hatte…richtig…ich, der nachweislich keine Ahnung von derlei Dingen hat!“ Gabhan machte erst große Augen und konnte dann ein kurzes Lächeln nicht unterdrücken „Du lässt auch nichts aus oder? Ich möchte mir nicht mal ansatzweise ausmalen, was alles bei einer unkontrollierten Nutzung eines Portals schiefgehen kann – auch wenn ihr nicht gerade eine Wahl hattet!“ sagte er kopfschüttelnd. „Und Recht hast du Gabhan! Die Flucht klappte zwar, aber der Sprung ins Irgendwo brachte und ziemlich weit weg von unserem eigentlichen Evakuierungsziel der Leuenmark … mitten in eine verlassene Stadt in der ofirischen Wüste! Ob Valerian die Flucht überlebt hatte, konnten wir zu diesem Zeitpunkt nicht sagen, da er sich vor den Mauern Kaer Iwhaells befand. Nach einer Wochenlangen Odyssee durch die verfluchte Wüste, kamen wir in Miklagard an und weißt du, wen wir da getroffen haben?“ Gabhan überlegte kurz und erinnerte sich an die beiden Wissenschaftlerinnen, die er in Solonia getroffen hatte…aber wie hießen die beiden nochmal? „Die beiden Schwestern, diese… Sala und Eva?“ war seine Antwort. „Richtig!“ antwortete Atheris „Die Cousinen SALEHA und EIWA! Nicht nur, dass sie uns in ihrem Stadtpalais aufgenommen und versorgt haben, wir konnten sogar an der Verbesserung der Kräuterprobe arbeiten und ich habe einiges über den Forschungsstand erfahren … aber dazu später mehr! Nachdem die Forschungseinrichtung auch noch überfallen worden war und dabei einige Experimente entlaufen sind … und nein diesmal waren wir Hexer sicher nicht schuld! Haben wir nach einigen Wochen eine Überfahrt nach Nilfgaard und von dort in die Leuenmark klarmachen können. Bei unserem Reiseziel, einer Fischräucheranlage, haben wir dann zu unserer Freude auch Großmeister Valerian antreffen können, der bereits ungeduldig auf uns gewartet hat. Vor zwei Wochen habe ich mich schließlich auf den Weg zu unserem Treffpunkt begeben … wie ist es dir ergangen? Ich habe bemerkt, dass du humpelst? War das der Tausendfüßler?“ beendete Atheris seinen Bericht.
Es war wahrlich viel geschehen seitdem sich die beiden Zunftbrüder getrennt hatten. Sehr viel sogar. Deutlich mehr als Gabhan überblicken und noch mehr als er bereit war preiszugeben. Doch der andere hatte seine Geschichte erzählt. Eine Geschichte, zu der es viele Fragen gab, die jedoch zu einem anderen Zeitpunkt gestellt werden sollten. An einem Ort mit weniger Betrunken und weniger Ohren. Doch Atheris hatte seine Geschichte geteilt und uralte Gepflogenheiten verlangten, dass er nun auch seine eigene Geschichte teilte. Zumindest in Ansätzen. Denn Erklärungen waren nötig, hatte sich doch viel verändert. Und weitere Veränderungen dräuten am Horizont. Es waren wahrlich verfluchte Zeiten.
Gabhan rückte seinen Gurt auf der schmerzenden Schulter zurecht und nickte dann langsam. „Genau. Den Arm habe ich der Myriopoda Maxima zu verdanken,“ erwiderte er leise und blickte auf, als die Schankmaid mit einem Wasser für Gabhan und einem Lächeln inklusive einem Glas Wein für Atheris wiederkam. Der Bärenhexer nahm es hin und der Maid den Krug ab, trank gierig einige große Schlucke, bei denen ihm ein Teil des Wassers in den Bart sickerte und zu Boden tropfte, doch es scherte ihn wenig. „Eigentlich war ich nur auf dem Weg hierher, ehe das Drecksvieh mir den Tag verdorben hat. Andererseits, wenn man sich ansieht was es mit dem armen Boten angerichtet hat, dann bin ich ja noch vergleichsweise gut weggekommen…“ er schnaubte und stellte den Krug auf dem Tisch ab. „Ansonsten habe ich einen kleinen Umweg über Bogenwald gemacht. Hatte da ein paar Probleme mit Sklavenhändlern,“ er blieb einen Moment stumm, spürte Atheris blick auf sich und machte dann eine wegwerfende Handbewegung. „Nicht der Rede wert. Und reden werde ich auch nicht darüber…“
Kapitel 4 – Weitere Tavernen Geschichten
Gabhan nahm noch einen Schluck aus dem Krug. „Und wie waren deine letzten Tage? Angenehme will ich meinen“ er warf einen Blick zu der Schankmaid.
Atheris folgte dem Blick des Bärenhexers zu Kathrin und nickte zustimmend. Seine letzten Tage waren durch aus angenehm gewesen. Die Überfahrt von der Leuenmark nach Cintra war mit günstigen Winden viel kürzer ausgefallen wie ursprünglich veranschlagt. Es blieb ihm sogar genügend Zeit, um die Stadt Cintra zu besuchen und einige seiner ehemaligen Kameraden aus der Armee aufzusuchen und gemeinsam, wie in alten Zeiten, die Tavernen der Stadt unsicher zu machen. Das letzte Mal, wo er in Cintra war, kam er als einer der Eroberer und nun, viele Jahre nach der Eroberung, musste er sagen, dass unter der Herrschaft Nilfgaards die Provinz förmlich aufblühte, aber das interessierte die Nordländer nicht, sie verschlossen in der Regel ihre Augen vor dem Fortschritt, der Wirtschaftsmöglichkeiten und der Kultur des Kaiserreichs. Sie trauerten lieber ihren alten Königen nach, die bei weitem keine moralisch guten Männer gewesen waren … Atheris merkte, wie er mit den Gedanken woanders war und konzentrierte sich wieder auf sein Gegenüber. „Gloir aen Ard Feainn! Ich hatte so gute Winde, dass ich drei Tage früher hier am Treffpunkt ankam und ja, ich habe die Zeit für Studien und … zur Erholung gut genutzt!“ schmunzelte Atheris, bevor er fortfuhr. „Jetzt wo wir beide hier sind, Gabhan – was sind unsere weiteren Pläne für den Herbst?“
„Studien und Erholung. Soso. Deine Erholungen bringen uns hoffentlich nicht in baldige Schwierigkeiten, auf solche könnte ich nämlich verzichten. Nicht verzichten kann ich hingegen auf deine Hilfe!“ er beugte sich über den Tisch, zog eine Kerze heran, deren Duft ihre Herkunft verriet und die etwa eine Meile entfernt lag – auf einem kleinen Bienenhof, der bereits in fünfzehnter Generation geführt von der Familie Rainfarner geführt wurde. All das konnte Gabhan jedoch nicht am Geruch erkennen, sondern an dem Stempel, der in das Bienenwachs gedrückt worden war. Details. Sie machten ihn wahnsinnig. Alles nahm man wahr, wenn man darauf getrimmt worden war.
Er leerte seine Gürteltasche aus, förderte einige Würfel, eine silberne Eichel und zwei Blätter Pergament zu Tage, von denen eines deutlich abgegriffen wirkte. Schnell schob er Eichel und das abgegriffene Pergament zurück, räumte die Würfel wieder ein und strich das übrig gebliebene Papier glatt, welches eine Art Karte zu zeigen schien, wenngleich auch vergilbt, mit Flecken bedeckt und mit Runen beschmiert. Irgendwer schien das Papier sogar mal als Einkaufszettel benutzt zu haben, man hatte Teile der Tinte abgekratzt um neues Papier zu gewinnen und insgesamt war das Papier in keinem guten Zustand. Doch die geübten Augen, denen eben Details mehr als alles andere auffielen, erkannten die Karte darunter. Die elfischen Runen. „Das hier,“ erklärte er schließlich leise und deutete mit den dreckigen Fingern auf das Papier. „Ich suche Runen. Und ich habe Grund zur Annahme, dass der Ort, der auf dieser Karte verzeichnet ist, irgendwo hier in der Nähe ist. Alte elfische Ruinen will ich meinen. Schließlich hat man ganz Cintra auf elfischen Ruinen aufgebaut. Genauso, wie Nilfgaard große Teile dieses Landes auf den Ruinen des alten Cintras aufgebaut hat. So ist der Lauf der Dinge. Und wie es beim Laufen nun mal ist, fallen Dinge zu Boden. Werden festgetreten. Ich hoffe, dass auch diese Runen festgetreten wurden. Ich habe ein paar neue Schwerter und ich brauche Runen um sie zu verbessern“ er sah auf. „Und du? Was versprichst du dir hiervon?“
Atheris hatte die Ausführungen des Bärenhexers interessiert verfolgt. „Meister Valerian hat mich zu dir gesendet, um etwas zu lernen. An eine Schatzsuche habe ich zwar dabei nicht gedacht … aber es hört sich spannend an! Gib mir mal bitte die Karte, Gabhan!“ antwortete der Nilfgaarder auf die ihm gestellte Frage. Gabhan reichte ihm die Karte und er begann sie genauer zu studieren. Er fand es faszinierend, dass der Bärenhexer auf diesem alten Pergament etwas entdeckt hatte, dass von so großem Wert war. Er selber hätte vermutlich diesem Stück Pergament keinen zweiten Blick gewidmet, aber er hatte in seinem Leben auch wenig mit Schatzsuchen oder dergleichen verbracht. Das Schlachtfeld war die meiste Zeit seines Lebens der Mittelpunkt gewesen, um das sich sein Handeln gedreht hatte. Er überlegte kurz, ob er Gabhan von der alten Elfenruine in den grünen Wäldern Temeriens erzählen sollte, in der er vor etwa fünf Jahren unglücklich durch ein Portal gestürzt war und wie die anschließenden Ereignisse sein Leben grundlegend verändert hatten … aber ein Blick auf den übelgelaunten Zunftbruder ließ ihn diesen Gedanken verwerfen, es war nicht die Zeit für Geschichten. „Wie um alles in der Welt, bist du an das gute Stück gelangt und wie wollen wir weiter vorgehen?“ durchbrach Atheris das Schweigen.
„Ich habe gute Verbindungen,“ erwiderte Gabhan schlicht und knapp. Er hatte die Karte von Grazyna von Strept erhalten, doch das wollte er nicht sagen. Er wollte nur so wenig wie möglich mit der Zauberin in Verbindung gebracht werden, hatte er doch mitbekommen was eine Verbindung mit der Frau Zauberin bedeutete. Sie diente den Grolls und der Name Groll war genauso klang, wie unheilvoll. Zumindest wenn er den Reaktionen in Bogenwald glauben durfte. Die Familie war Umtriebig und Umtriebigkeit konnte Gabhan nicht gebrauchen. „Und was wir nun machen? Erst einmal etwas trinken. Dann brauche ich vor allem Dingen eins: Eine verdammte Mütze Schlaf. Ich habe seit fast eineinhalb Tagen nicht geschlafen und ich werde unleidlich, wenn ich nicht gut geschlafen habe. Wir beide wollen nicht, dass ich unleidlich werde“ er grinste schief. Seine Narbe schmerzte nicht nur, sondern verzog sein Grinsen auch stets zu einer Grimasse. Keiner freundlichen.
„Morgen früh brechen wir dann auf, Richtung Süden. Die Richtung gefällt dir sicherlich. Und gefallen wir dir auch das, was du in der Höhle wirst lernen können. Denn was uns erwartet wird verteufelt schwer. Diese Ruine soll einst der Palast der Elfenstreiterin Maeven gewesen sein. Eine große Kriegerin. Große Kriegerinnen wollen große Paläste. Große Paläste bedeuten große Räume. Große Räume werden mit den Jahrhunderten unter der Erde große Stollen. Ich rechne mit Nekkern, mit viel Pech hat auch ein Ekkima dort sein Nest. Verteufelt, wie gesagt. Du solltest den Abend nutzen um einige Tränke herzustellen. Und vielleicht nochmal Spaß zu haben. wer weiß wann du wieder dazu kommst!“ sagte Gabhan.
Die beiden Hexer genossen noch ein reichhaltiges Frühstück, bevor sich Gabhan auf sein Zimmer zurückzog. Atheris stand auf und wanderte zum Tresen, an dem Kathrin ihn bereits mit einem freudigen Strahlen im Gesicht erwartete. Der Nilfgaarder lächelte charmant und beglich ihre Schulden. Mit einem Augenzwinkern verabschiedete sich Atheris von der Schankmaid, verließ das Gasthaus und schlenderte über den Innenhof zu den Stallungen. Ker’zaer, sein treues Streitross begrüßte ihn mit einem Wieren. Er hatte das edle Tier vor zehn Jahren von einem adligen Nilfgaarder Kommandeur als Geschenk erhalten, mit dem er nach dem katastrophalen Ausgang der Schlacht von Brenna, durch die Sümpfe zur Jaruga geflohen war. Nun holte er den Sattle und das Zaumzeug und machte den schwarzen Hengst bereit für den Ausritt. Das Wetter war schön und der Hexer liebte es alleine durch die Wälder zu reiten. Beim Verlassen des Stalles warf er dem Stallknecht noch einige Münzen zu und preschte dann durch das geöffnete Hoftor hinaus auf die Straße.
Kapitel 5 – Allein im Wald
Eine ganze Weile folgte Atheris dem Weg in Richtung Süden. Zunächst tat er das unbewusst und erst nach einiger Zeit wurde im klar, dass er dem möglichen Weg auf der Karte folgte, die er vor seinem inneren Auge sah. Er zuckte mit den Achseln und ließ sein Pferd angaloppieren. Letztlich war es egal, wohin er ritt, der Weg war sein Ziel! Gegen Mittag erreichte er eine kleine steinerne Brücke, die sich über einen gut drei Schritt weiten Fluss spannte. Er lenkte Ker’zaer neben die Brücke zum Wasser und stieg ab. Während das Pferd trank und anschließend anfing das dicke Gras am Fuße der Brücke zu fressen, setzte sich Atheris auf einen Stein, zog aus seiner Tasche das kleine Tagebuch, dass er immer bei sich trug und eine Feder heraus und fing an sich Notizen zu machen. Als er etwas Müdigkeit verspürte, ließ er sich hinab ins Gras gleiten und schloss die Augen für einen Moment.
Aus dem Moment wurden Stunden und als der Hexer wiedererwachte, hatte die Dämmerung bereits eingesetzt. „Nun ja, die letzten Nächte waren nicht gerade die ruhigsten gewesen!“ sprach er mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht zu Ker’zaer, der das mit einem Schnauben kommentierte. In einer fließenden Bewegung schwang er sich auf dessen Rücken und machte sich auf den Weg zurück zum Gasthaus. Er war nicht weit gekommen, als sein Hexer-Medaillon anschlug. „Was zum…!“ wunderte er sich, war er doch erst vor kurzem die gleiche Strecke gekommen. Er stieg vom Pferd ab, nahm das Tier beim Zügel und nutzte das Medaillon wie eine Wünschelrute. Die magische Fährte oder wie man das auch immer nennen mochte, führte ihn vom Weg ins Unterholz. Immer drang er in die Wildnis ein und Atheris wurde unruhig, es musste etwas ziemlich Mächtiges sein, wenn das Medaillon die Magie auf so eine große Distanz aufspüren konnte. Dunkel kamen in ihm die Erinnerungen hoch, als er das Letzte mal auf so eine mächtige Magie gestoßen war, und die Begegnung mit dem Kobold hatte er nur mit viel Glück überlebt. Leise zog er seine silberne Klinge aus der Scheide, die er am Sattel befestigt hatte, und machte sich bereit für das, was ihn erwarten konnte. Inzwischen war es im Wald vollkommen finster, was ihn aber aufgrund seiner mutierten Augen nur bedingt störte. Vielleicht sollte er lieber umkehren, es war auch für einen Hexer nicht ungefährlich, sich unvorbereitet einem Risiko auszusetzen, aber dank seiner großen Neugier verwarf er den Gedanken schnell wieder. Nach einer guten Weile erreichte er eine kleine Lichtung im Wald. Zunächst erschien sie für Atheris unauffällig und erst als er sie überquert hatte, merkte er, wie das Signal vom Medaillon schwächer wurde. Also trat der Hexer zurück auf die Lichtung und schaute sich genauer um. „Gabhan hätte sicherlich schon erkannt, was hier vor sich geht … hmmm!“ dachte sich Atheris, während er die Bäume am Rand und den Boden genauer musterte. „Ein Hexenring … interessant!“ entfuhr es dem Nilfgaarder, als er die Reihe von kleinen, dunklen Pilzen bemerkte, welche die Lichtung komplett umschlossen. So ein Hexenring war eigentlich nichts außergewöhnliches, lediglich der Volksmund sah in diesen natürlichen Kreisen etwas Mystisches, das mit Feen und Hexen im direkten Zusammenhang stand. In Wirklichkeit hatte es meisten nur etwas mit den Nährstoffen im Boden zu tun … aber dieser Kreis war anders, warum war hier in der Mitte die Magie am stärksten und warum hatte er die Magie nicht schon beim Hinweg bemerkt? Suchend schritt Atheris über die Lichtung … er konnte die Quelle der Magie einfach nicht ausfindig machen. Gerade als Atheris sich zu seinem Pferd umdrehte und die Suche aufgeben wollte, gab die Erde unter seinen Füßen nach und er begann zu stürzen. Geistesgegenwärtig umschloss er die Zügel in seiner Hand fester. Den kräftigen Ruck, der über den Zügel an Ker’zaer weitergegeben wurde, quittierte dieser mit einem kräftigen Wieren, aber der kräftige Hengst hatte einen guten Stand und konnte somit den Sturz seines Reiters verhindern. Nun hing der Hexer mit einer Hand am Zügel und der anderen Hand am Rande des Loches, in das er soeben gefallen war. Unter seinen in der Luft hängenden Füßen, öffnete sich ein großes schwarzes Loch. Vorsichtig zog sich der Hexer wieder nach oben und kroch bäuchlings weg von der Stelle an der er eingebrochen war. Nachdem Ker’zaer keine Probleme mit dem Untergrund gehabt zu haben schien, war das Loch vermutlich nur begrenzt groß, aber um kein Risiko einzugehen, führte er das Tier weg von der Lichtung. Zwischen den Bäumen angekommen, löste er das Seil am Sattel, befestigte das eine Ende an seinem Sattelknauf und das andere knüpfte er sich mit einem Knoten um seine Taille. Anschließend zog er eine kleine Sturmlaterne aus der Satteltasche und ein Stück Schnur, dass er zum Fallen stellen dabeihatte. Sein Freund Raaga hatte es ihm vor einem guten Jahr gegeben, nachdem er ihn in dieser Form der Jagd unterwiesen hatte – „Was für eine Verschwendung von Zeit“, dachte sich Atheris, der keinerlei Geduld für sowas hatte und deswegen das Garn immer noch unbenutzt war – bis jetzt zumindest. Auf allen Vieren näherte sich der Hexer erneut dem Loch, befestigte die Schnur an der Laterne und entzündete diese mit dem Hexerzeichen „Igni“ … Atheris lächelte. Es war noch nicht so lange her, dass er die Zeichen von Valerian gelernt hatte und inzwischen klappten sie doch immer besser und erwiesen sich der weilen als äußerst nützlich. Langsam ließ er die brennende Lampe in den Abgrund hinab. Von der Öffnung aus sah Atheris, wie das Licht der Lampe ein kuppelförmiges Gewölbe ausleuchtete. „Definitiv elfisch!“ stellte der Hexer fest, als er die Zeichen an den Säulen des Raumes betrachtete. Dann ging auf einmal alles ganz schnell, etwas bewegte sich am Boden entlang … schnellte nach oben … und riss die Laterne aus der Luft und verschwand darauf hin wieder in der Dunkelheit. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris und rollte sich zur Seite – und das keinen Moment zu früh, denn nur einen Wimpernschlag später zerfetzten scharfe, behaarte Krallen den Rasen an der Stelle, wo er eben noch gelegen hatte. Der Hexer umschloss den Griff seines Silberschwertes fest und Hieb mit aller Kraft auf die Klaue. Die scharfe Klinge zerschnitt Fleisch, Sehnen und Knochen … das Wesen verlor den Halt und stürzte mit einem widerlichen Heulen in die Tiefe. Für einen Moment herrschte Stille, und Atheris konnte nur seinen eigenen Atem wahrnehmen. Er merkte, wie das Adrenalin in seinen Adern kochte und seine Muskeln zum Zerreißen gespannt waren. Dann vernahm er das Wehklagen des Monsters, dass er soeben auf den Boden des Gewölbes zurückgeschickt hatte, und nur wenige Augenblicke später vielen weitere Stimmen in das Wehklagen ein. „Sheyss!“ entfuhr es dem Hexer, der die Laute mit weit aufgerissenen Augen vernahm. Alle Vorsicht vergessend, sprang er vom Boden auf, rannte zu dem schwarzen Hengst, der die immer lauter werdenden Rufe ebenfalls vernahm und nervös anfing auf der Stelle zu treten. Mit einem Streich durchtrennte Atheris das Seil, schwang sich auf das Tier und gab ihm die Sporen. Er brauchte sich im Sattel nicht umzudrehen – was immer auch aus der Ruine an die Oberfläche gelangt war, verfolgte ihn durch das Unterholz. Seine feinen Ohren hörten, wie die Verfolger aufschlossen. Kurz bevor er den Weg erreichte, holte ihn eine der Bestien ein und setzte sich Links neben ihn. Ein unerfahrener Reiter wäre vielleicht in Panik geraten, aber Atheris hatte den Großteil seiner militärischen Laufbahn auf den Rücken eines Pferdes verbracht, und nun tat er das, was er immer in so einer Situation unternahm. Mit dem rechten Schenkel gab er Ker’zaer das Zeichen, nach Links auszubrechen, direkt in den Angreifer hinein. Das Wesen war von dem Manöver überrascht und wich zu spät aus. Der mächtige Körper des Hengstes drückte die Bestie gegen einen Baum, gefolgt von einem Streich der Hexerklinge, der das Wesen für immer zum Verstummen brachte. Kurz darauf erreichte Atheris endlich den Weg und das keinen Moment zu früh. Drei weitere dieser Wesen folgten ihm auf den Weg und setzten weiter nach. Doch ohne das Unterholz konnte Ker’zaer endlich in den gestreckten Galopp wechseln. Die Wesen konnten die Geschwindigkeit für einige Zeit noch mitgehen, aber nach und nach fielen sie weiter ab, bis sie endlich die Verfolgung einstellten. Der Hexer ging kein Risiko ein und ließ den Hengst noch eine Weil im gestreckten Galopp Distanz zwischen sich und die Angreifer bringen. Erst nachdem er sich ziemlich sicher war, dass er nicht mehr eingeholt werden würde, ließ er das Pferd zunächst im versammelten Galopp wechseln, bevor er dann die Zügel lang lies und sich das Tier erholen konnte. Um eine mögliche Verfolgung seiner Fährte zu verhindern, ritt er einen Umweg, der ihn eine Weile durch ein Flussbett führte.
Gegen Mitternacht erreichte der Nilfgaarder schließlich wieder den Gasthof. Als er durch das Hoftor ritt, fiel ihm das im Wind wackelnde, alte Schild in die Augen – ‚Zum treuen Freund‘ stand dort unter dem Kopf eines Hundes in großen Lettern geschrieben. Die dicken Mauern und das schwere Holztor versprachen Sicherheit für die Nacht, die Atheris nach dem erlebten gerne in Anspruch nahm. Nachdem Atheris seinen treuen Begleiter versorgt und mit einer extra Portion Hafer belohnt hatte, machte er sich auf zum Haupthaus. Der Schankraum war leer und so ging er weiter die Treppe hinauf zu den Zimmern. An seiner Tür angelangt, öffnete er diese, zog seine Ausrüstung aus, wusch sich in der kleinen Wasserschüssel, die auf einer Kommode neben dem Bett stand, den Dreck aus dem Gesicht und von den Händen, setzte sich aufs Bett und zog die Silberklinge aus der Scheide. Er reinigte sie gründlich von dem Blut, dass sie vergossen hatte. Jenes Blut sammelte er in einer kleinen Schüssel, vielleicht konnte Gabhan damit etwas anfangen. Gerade als er dabei war, die nun sauberer Klinge wieder weg zu stecken, hörte er, wie sich die Tür hinter ihm öffnete. Er brauchte sich nicht umzudrehen, seine feine Nase verriet ihm, wer ihn da besuchen kam und als sich das hübsche Gesicht in der blanken Klinge spiegelte und die sanften Arme sich um den muskulösen Oberkörper des Hexers schlossen, ließ er sich zurück ins Bett sinken und … nur der Geruch nach Hund verfolgte ihn bis in seine Träume.
Kapitel 6 – Nachtigall
Die Nachtigall trällerte. Gabhan erwachte.
Die wenigen Stunden Schlaf die er bekommen hatte waren mehr als nötig gewesen. Die Tage auf der Straße, die Geschehnisse in Bogenwald und der Kampf gegen den Riesentausendfüßler waren nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Er stöhnte leise, während er sich in dem viel zu weichen Bett umwandte. Sein Hals schmerzte leicht, war noch immer ausgedörrt und seine Mundwinkel waren leicht eingerissen, da er seit Tagen zu wenig getrunken hatte. Mit einem Ächzen erhob sich Gabhan in eine sitzende Position und rieb sich den Schlaf aus den Augen, der sich dort festgesetzt und es für Gabhans Geschmack zu gemütlich gemacht hatte. Er rieb sich noch einmal über die Augen, spürte das schwere Gewicht des Bärenkopfamuletts auf seiner bloßen Brust und beschloss, dass es Zeit war aufzustehen. Mit wankenden Schritten, die jeden Skelliger Seekapitän stolz gemacht hätten nährte er sich dem kleinen Schrank mit eingelassenem Spiegel und Waschschüssel. Er beugte sich über die Messingschüssel und betrachtete sein Gesicht in der polierten Messingscheibe. Er benötigte langsam wieder eine Rasur, sein Schnurr- und Kinnbart waren unordentlich, seine Seiten zu deutlich sichtbar. Aber das war ein Problem, dem er sich nach diesem Abenteuer stellen konnte.
Gabhan spritzte sich Wasser ins Gesicht. Es war kalt, belebend und weckte Erinnerungen an Skellige. Die dumpfen Schritte des Bärenhexers führten ihn zu seinem Seesack, den er in eine Ecke des Raumes gepfeffert hatte. Auf Momente des Suchens folgten Sekunden des Findens und Gabhan zog eine alte, mehrfach geflickte blaue Tunika, sowie gemütliche und weit geschnittene Hosen hervor und zog sich wieder an, rückte danach das Bärenamulett zurecht, welches seine Umgebung mindestens so grimmig betrachtete wie sein Herr und verließ das Zimmer.
Es war später Abend. Der Tag hatte sich selbst überlebt. Die Luft war drückend, die letzten Ausläufer des Sommers beschwerten eine seltsam stehende Hitze, die sich in dem Gastraum festgesetzt hatte wie eine unangenehme Schwiegermutter zu Kaffee und Kuchen. Es waren nur wenige Leute hier im Gasthaus und Gabhan trat zum Tresen, wo der Wirt damit beschäftigt war Krüge aus Messing und Zink zu säubern. „Habt ihr meinen Begleiter gesehen?“ fragte Gabhan dunkel, denn in seinem Zimmer war er nicht gewesen und aus dem Teil des Hauses, in dem der Bärenhexer das Zimmer der Schankmaid vermutete waren keine verdächtigen Laute auszumachen gewesen. Der Wirt blickte auf, warf erst Gabhan, danach seinem Amulett einen düsteren Blick zu. „Er hat das Gasthaus heute recht früh verlassen,“ erwiderte der Wirt dann schließlich doch und Gabhan nickte. Er hatte sich vermutlich ein wenig in der Gegend umgesehen. „Sei‘s drum,“ knurrte Gabhan. Sie würden morgen aufbrechen.
Der Mutant löste sich vom Tresen und verließ das Gasthaus, um sich selbst noch ein wenig die Beine zu vertreten. Die Nachtigall sang.
Auch die umliegenden Gehöfte rund um das Gasthaus zeigten keinerlei Besonderheiten. Allgemein wirkte das ganze Dorf so, als habe jemand in einem alten Lexikon das Wort Dorf nachgeschlagen und den dort zu sehenden Kupferstich mit viel Liebe zum Detail nachgebaut. Der Hexer ließ sich auf einer nahen Bank nieder und betrachtete einige Bauern dabei wie sie Heu mit bronzenen Sensen ernteten. Die Nachtigall sang.
Gabhan hatte sich von der Bank verabschiedet, hatte sich auch von dem Gefühl der Sicherheit verabschiedet, welches er zuvor noch an diesem Ort empfunden hatte. Er durchstreifte das Dorf weiter, spürte die Blicke der Bewohner auf ihm, so wie man allerorten auf ihn blickte. Gabhan schritt vorbei an kleinen, weiß getünchten Häuslein mit Türgriffen aus Messing, Bronzenen Nägeln und Beschlägen aus Zink. Die Nachtigall sang.
Gabhans Blick fiel durch die große Scheune und die dort aufgereihten Werkzeuge zur Feldarbeit. Sensen, Flegel, Harken, Beile, Äxte, Wagenräder. Auch große Bierfässer. Wohin sein Blick auch fiel, alle Werkzeuge waren aus Holz oder, verbunden mit metallenen Teilen aus Messing oder Zink. Eisen, wie es üblich und billig war, fand er nicht. Die Nachtigall sang. Gabhan schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. Verflucht. In was war er da reingeraten? Die Nachtigall sang. Das Licht des Mondes fiel durch die engen Bretter des Daches. Gabhan hörte die sich nährenden Schritte, wandte sich jedoch nicht um. „Wir wollen nichts Böses,“ sprach er leise in die Dunkelheit. Sein Gegenüber antwortete nicht. Er atmete nur. Die Nachtigall sang. „Wieso sollten wir dir das Glauben, Vatt’ghern?“ – „Würden wir etwas Böses im Schilde führen hätten wir euch doch längst angegriffen,“ lautete Gabhans bedachte Antwort, während er seine Arme langsam aus der Verschränkung sinken ließ. „Die Taten deines Freundes lassen anderes vermuten. Wir haben euch durchschaut. Ihr hättet niemals hierherkommen sollen!“ Gabhan antwortete nicht. Eine Antwort war auch nicht nötig. Die Stimme des anderen war lauter geworden, sein Gegenüber nähergekommen und was auch immer Atheris getan hatte, es hatte Geister geweckt, die besser in Ruhe gelassen worden wären. Gabhan spürte im Boden unter seinen Füßen die Vibration, den Absprung des anderen. Schnell wie ein Gedanke zog Gabhan den Hodendolch aus der Scheide an seinem rechten Bein und wirbelte herum. Ein Sprung zurück. Pirouette und zurück in die Ausgangsposition. Der Dolch aus Stahl wirkte wie eine Verlängerung seines Arms und die benötigte er dringend, denn der Arm des Anderen war deutlich länger. Klauen zischten auf ihn zu, Gabhan duckte sich. Beinarbeit, Beinarbeit. Atmung. Immer atmen. Niemals vergessen. Ausweichmanöver. Den anderen näher herankommen lassen. Näher. Näher. Der Feind hatte einen Längenvorteil. Gabhan keine Möglichkeit ihn auszugleichen. Jeder Schritt brachte ihn nur näher an die Wand. Nicht in die Ecke drängen lassen. Ausfallschritt. Pirouette. Nur eine Möglichkeit. Distanz überwinden. Atmen. Einatmen. Die Luft anhalten. Sich wappnen.
Der Schmerz war schlimmer als Gabhan es erwartet hatte, er stach nicht. Er riss. Riss an ihm. An seinem Brustkorb. Gabhan spürte, wie Klauen über Knochen schabten. Keine Panik. Keine Angst. Gewissheit. Nur ein Kratzer. Kaum der Rede wert. Er würde leben. Er. Nicht sein Gegenüber. Der Dolch steckte tief in der Kehle. Ein billiger Dolch. Ein hoher Eisenanteil im Stahl. Er ließ den Dolch stecken. Er musste zu Atheris. Gabhan blutete. Das Monster starb. Die Nachtigall verstummte.
Kapitel 7 – Antherion
Sanfte Finger krochen über Atheris Rücken, krallten sich verlangend in seinen Rücken. Wollten eine zweite Runde. Verlangen. Animalisches Verlangen. Lange Finger krallten. Lange Krallen. Animalisches Verlangen. Welches verlangen sich hier stillen sollte erfuhr Atheris niemals. Zumindest nicht mehr aus dem Mund der Schankmaid. Die Tür zu seinem Raum krachte derart gewaltig, als schwere Stiefel mit einem Tritt gegen das Schloss diese aus den Angeln brachen.
Der Mond beschien die Gestalt Gabhans, gekleidet in etwas was nur entfernt seinem langen Gambeson ähnelte. In den Händen hielt er einen langen Zweihänder. Eine andere Waffe als jene, die er normalerweise trug. Gabhan hatte in Solonia mit Einhändern gekämpft. Und mit Einhändern kämpfte er noch immer gerne. Doch die jetzige Waffe in seiner Hand war länger. Eine einfache Klinge. Nicht sehr elegant. Aber tödlich. Ein schneller Hieb, geführt durch die Hand am unteren Knauf, gelenkt durch eine Leichte Drehung nahe der Parier Stange. Stahl zischte durch die Luft, ehe die Flache Seite der Klinge mit solch einer Gewalt gegen die Schankmaid traf, dass diese von Atheris gerissen wurde und schreiend auf dem Boden aufschlug. Oder das, was einst die Schankmaid gewesen war. Denn hier, im Schein des Halbmondes kauerte eine haarige Gestalt mit ausgeprägten animalischen Zügen. Auch sonst schien alles, was das Mädchen einst ausgezeichnet hatte ausgeprägter und animalischer zu sein. Gabhan warf Atheris keinen Blick zu, ließ das Mädchen nicht aus den Augen, während er das Schwert hob, die Spitze auf das Mädchen gerichtet. Es hieß Hexer hätten zwei Schwerter. Silber für Monster. Stahl für Menschen. Es war ein Ammenmärchen. Beide waren für Monster, gab es doch auch jene, die Stahl und Eisen mehr fürchteten als Silber. Solche, die Messing und Zink benutzten, wenn sie unter Menschen leben wollten.
„A d’yaebl aép arse!“ schrie Atheris, rollte sich vom Bett und hatte innerhalb eines Wimpernschlages ebenfalls seine Silberklinge gezogen. „Kathrin? … Gabhan … was ist los?“ fragte er sichtlich irritiert. Der Bärenhexer, der das Wesen, dass sich Kathrin nannte nicht aus den Augen lies antwortete in einem dunklen, leisen Tonfall: „Antherion, Atheris. Das ganze Dorf…“ Atheris bekam große Augen und sein Blick fiel wieder auf Kathrin, die sich in der Ecke zusammengekauerte hatte und sie aus großen gelben Augen anblickte … diese treuen Augen, wie sie nur ein Hund hatte. „Antherion … Formwandler! Das Gegenstück zum Werwolf, wenn ich mich an Valerian’s Unterricht richtig erinnere! Woher wusstest du …“ Atheris hielt im Satz inne, als er die Blutpfütze bemerkte, in der Gabhan stand und erst jetzt sag er, dass die alte, blaue Tunika, die der Bärenhexer trug an der Brust zerfetzt war und sich drei böse klaffende Wunden zeigten. Er war also auf unliebsame Weise auf das Geheimnis des Dorfes gekommen. Atheris setzte über sein Bett, blickte raus auf den Flur und sah einen erschlagenen Formwandler am Boden liegenden. Er schloss das was von der Tür übrig geblieben war hinter sich, rannte zu seiner Ausrüstung und öffnete eine kleine Holzkiste. Er suchte den Trank mit der Aufschrift ‚Schwalbe‘ und warf sie Gabhan zu. Ohne zu zögern, zog dieser mit den Zähnen den Korken aus der Flasche und leerte den Inhalt in einem Zug. Sogleich fingen seine Adern an zu pulsieren und die Farbe wich aus seinem Gesicht, was denn sonst schon so hellhäutigen Skelliger fast gespensterhaft aussehen ließ. Nachdem Gabhan für den Moment versorgt schien, näherte er sich langsam dem Antherion, den er als Kathrin kannte. „Geht es dir soweit gut?“ fragte er mit ruhiger Stimme und kniete sich vor sie auf den Boden. Atheris konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihm etwas Böses wollte, sie hatte in den letzten Tagen und Nächten genug Möglichkeiten gehabt, ihn zu töten. Das Wesen musterte Gabhan ängstlich und sie brachte nur ein Winseln hervor, dass durch einen kläglichen Laut unterbrochen wurde, als Atheris ihren Arm berührte … er war gebrochen. „Was nun?“ fragte Atheris und schaute zum Bärenhexer auf. „Wir müssen hier verschwinden, solange wir noch die Möglichkeit dazu haben…“ knurrte dieser als Antwort. Recht hatte er, es war keine gute Idee es mit einem ganzen Dorf dieser Wesen aufzunehmen. Was den Greifenhexer allerdings stutzig machte war die Tatsache, dass bisher kein weiteres dieser Wesen bei ihren Zimmern aufgetaucht war! In aller Eile zog sich Atheris das notdürftigste an und holte anschließend aus seinem Holzkästchen eine Flasche mit einer grünlich-kristallinen Flüssigkeit. „Eisensulfat!“ stellte Gabhan fest, nachdem er daran gerochen hatte. „Richtig! Das Klingen-Öl hat Valerian vor einiger Zeit in der Leuenmark hergestellt um eine Bande von Blutkappen zu jagen.“ bestätigte Atheris die Annahme. Beide behandelten ihre Schwerter mit dem Öl, und packten dann ihr Hab und Gut zusammen – zum Glück reisten Hexer in der Regel mit leichten Gepäck.
Als sie an der Leiche des zweiten erstochenen Antherions vorbeikamen, gab Kathrin, die sie mitgenommen hatten, eine Art leises Winseln von sich. Wortlos schritten sie die Treppe hinunter und durchquerten den immer noch leeren Schankraum. So leise wie möglich überquerten sie den Innenhof zum Stall. Der schwarze Hengst begrüßte sie mit einem nervösen Schnauben, auch das Tier merkte offensichtlich, dass etwas nicht stimmte. „Er kann uns für eine Weile beide tragen, Gabhan!“ flüsterte Atheris, als er das gesattelte Pferd beim Zügel nahm und hinausführte. An der Tür wendete sich der Nilfgaarder zu Kathrin um und flüsterte:“ Was auch immer du von uns glauben magst, es war nie unsere Absicht jemanden zu schaden! Unsere Wege trennen sich nun hier, lebe wohl!“
Elegant schwang sich Atheris in den Sattel und reichte Gabhan die Hand um ihn ebenfalls aufs Pferd zu ziehen. Mit einem tiefen brummen nahm dieser die ihm ausgestreckte Hand entgegen und lies sich helfen. Die raubtierhaften Augen des Zunftbruders konnte er deutlich erkennen, dass dieser nur widerwillig Hilfe annahm. Leis schritt der Hengst mit den beiden Hexern auf dem Rücken durch das Hoftor, wobei das Schild mit dem Hund darauf leise im Wind quietschte. Kaum hatten sie das Tor passiert, schlugen ihre Amulette an und wie aus dem Nichts heraus waren sie von den Dörflern umzingelt. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris und Gabhan hinter ihm knurrte“ Die Bastarde haben sich hinter einer Illusion versteckt … diese … Hunde!“ Es war nicht das erste Mal, dass Atheris zu Ross auf eine Schar blickte, die sich mit Sensen, Heugabeln und einfachen Spießen auflehnten. Bei Brenna war es vor allem der Mut dieser einfachen Menschen gewesen, die bereit waren für ihr Land ohne jeden Schutz zu kämpfen … auch wenn sie dies aus falschen Motiven taten. Hier und jetzt war es ähnlich, die Dorfbewohner in ihrer natürlichen Wolfsgestalt hatten sich bewaffnet und stellten sich den Hexern entgegen. „Seltsam … sie bräuchten doch eigentlich keine Waffen!“ stellte Atheris trocken fest. „Sie sind keine Krieger! Es sind Bauern und Handwerker. Man kann ihre Angst riechen“ antwortete Gabhan, der inzwischen in der einen Hand sein Schwert hielt und in der anderen einen Trank mit der Aufschrift ‚Donner‘. Die Zeit schien still zu stehen … Atheris war sich ziemlich sicher, dass sie einen Durchbruch und damit die Flucht schaffen konnten, lediglich die magischen Fähigkeiten konnte er nicht einschätzen. Es war die Stimme von Kathrin, welche die Stille durchbrach. In einer den beiden unbekannten Sprache redete sie auf die versammelte Dorfgemeinschaft ein, was ein paar besonders aggressiven Artgenossen mit einem lauten Knurren quittierten. Immer wieder flogen die Worte hin und her. Ein besonders alter Antherion trat schließlich hervor, was die anderen verstummen lies.
Gabhan hielt sich nur mit Mühe auf dem Rücken des Pferdes. Er war kein geübter Reiter, die Anwesenheit der Ungeheuer machte ihn unruhig und das beständige Zucken seines Amuletts sorgte nicht dafür, dass sich seine Anspannung beruhigte. Viel mehr verstärkte es sie noch, da er befürchten musste, dass er sich in allzu naher Zeit ein für alle Mal beruhigen würde.
Noch dazu war die Schwalbe, die Atheris ihm gegeben hatte nicht sonderlich gut bekommen. Der Schmerz, statt beinahe augenblicklich aufzuhören ebbte nur langsam ab, das Gebräu brannte im Rachen und er spürte, wie sein Organismus Probleme damit hatte den Trank nützlich zu verarbeiten. Er erinnerte sich an Grazynas Kommentar zu diesem Thema. Dass die Tränke der verschiedenen Schulen auf die vorherrschende Mutation angepasst worden und alles, aber nicht identisch waren und er verfluchte sich selbst. Wenn er hier ins Gras beißen würde – und ins Gras beißen musst er, das war so gut wie sicher, dann sollten seine letzten Gedanken nicht der Zauberin gelten.
Ihm gefiel nicht in welche Richtung das hier ging. Gefiel nicht die Mordlust in den Bestienaugen. Gefiel nicht wie sich ihre Lefzen verzogen – und ganz und gar nicht gefiel ihm, dass sie ihnen ausgeliefert waren und das verdammte Tier unter ihm verwehrte ihm jedwedes Körpergefühl, während er kalte Schweiß auf seiner Stirn stand. Seine Tunika konnte das Blut schon lange nicht mehr aufsaugen und er tropfte das Pferd voll, dessen Ausbildung als Schlachtross alleine wohl verhinderte, dass es durchging. Gabhan fluchte.
„Hört mir gut zu…“ begann er leise und seine raubtierhaften Augen glitten über die anwesenden Monster, während er vom Rücken des Pferdes rutschte. Er stieß seinen Anderhalbhänder vor sich in den Boden. „Wir wollten euch nichts. Euer kleines Leben interessiert mich einen Scheiß. Wir wollten hier nur durchziehen. Mehr nicht. Und ich habe keine Ahnung was der große Idiot da entdeckt hat. Und es interessiert mich auch nicht. Ihr habt mich angegriffen. Fein. Euer gutes Recht. Ich habe einen von euch getötet. Und noch einen auf dem Weg zu ihm!“ er deutete mit dem Daumen zu Atheris, verkrampfte die Hand. „Denn ihr lasst eure Finger besser von dem Kerl da. Hey! Schau mich an. Ich bin es, den ihr wollt. Ich bin der Mann mit dem Schwert. Der Mann, der bereits das Blut von zwei von euren Leuten vergossen hat, die geglaubt haben die Helden spielen zu müssen. Ihr wisst ganz genau was ich bin. Und ihr wisst ganz genau was er ist. Ihr kennt uns. Kennt das Medaillon. Wisst, wer euch in die Wildnis getrieben hat, vor all den Jahrhunderten. Ich sehe es in euren Augen. Ihr wisst wozu wir fähig sind. Wir wollen es nicht. Wollen euch nichts antun. Nicht mehr. Nicht heute. Heute ist genug Blut vergossen worden. Aber wenn ihr glaubt – wenn ihr wirklich glaubt, dass Rache nun angemessen ist und wenn eure Eltern euch auch nur eine einzige Geschichte über uns Hexer erzählt haben. Dann tut das einzig vernünftige – und lasst es einen anderen zuerst versuchen.“
Atheris sah mit an, wie Gabhan vom Pferd stieg und mit knurriger Stimme die Wesen einzuschüchtern versuchte … und bei vielen von ihnen sah er tatsächlich die Angst vor den Hexern in den Augen. Einzig die kleinere Gruppe, die immer wieder aggressiv dazwischen Fauchte, bildete eine Ausnahme. Er zählte etwa sieben von ihnen vielleicht auch acht, das war immer noch gefährlich … aber besser wie das ganze Dorf. Drei dumpfe Schläge ließen die Antherion verstummen und Atheris lenkte seine Aufmerksamkeit ebenfalls zu der Quelle des Geräusches. Der Alte hatte mit seinem stützenden Stab gegen ein Fass getrommelt, um endlich für Ruhe zu sorgen. Das Wesen wartete einen Moment und musterte die beiden Hexer. „Vatt’ghern … wir kennen die Geschichten über euch und was ihr seit Jahrhunderten unseres gleichen antut!“ er machte eine kurze Pause und musterte seine Artgenossen, bevor er fortfuhr. „Wir haben uns hier in eine abgelegene Region zurückgezogen und leben friedlich zusammen, Reisenden bieten wir in unserer Taverne eine sichere Unterkunft für die Nacht an und mit den Nachbargemeinden treiben wir Handel! … “ wieder machte der Alte eine Pause und Atheris registrierte, wie die meisten Dorfbewohner zustimmend nickten. „Selbst dich … Atheris … haben wir tagelang in unseren Reihen als Gast aufgenommen und behandelt, obwohl viele große Bedenken bezüglich eurer Anwesenheit in unserem Dorf hatten. Warst du auf der Jagd nach uns? Hast du uns studiert? Wir wissen es nicht, aber es war friedlich und die Frucht legte sich ein wenig …!“ wieder machte der Dorfälteste eine Pause. Atheris lies seinen Blick schweifen, der Alte hatte mit seinem Gerede und seiner ruhigen Stimme dafür gesorgt, dass der Großteil der Bewohner ihre Mistgabeln und Sensen gesenkt hatten … jetzt wäre der optimal Moment für eine Flucht gewesen, aber Gabhan hatte das Pferd verlassen und war bereit sein Leben für den Nilfgaarder zu lassen und zudem glaubte er, dass sie hier durchaus eine Möglichkeit hatten, friedlich aus der Sacher heraus zu kommen … also hieß es abwarten und bereit bleiben. „Warum hast du unsere Leute angegriffen Atheris … was wollt ihr von uns?“ stellte der Alte die wohl entscheidende Frage, wie es weitergehen würde.
Kapitel 8 – Zeit der Wahrheiten
Atheris spürte wie die Blicke des gesamten Dorfes auf ihm ruhten, lediglich Gabhan lies sich nicht beirren und stand breitbeinig vor seinem Schwert und beobachtete die Wesen mit seinen raubtierhaften Augen. Der Nilfgaarder bemerkte, wie sich langsam eine kleine Pfütze unter dem Zunftbruder bildete … Valerian hatte ihm erzählt, dass die Mutationen der Schulen unterschiedlich ausfielen und somit die spezifischen Tränke trotz der Ähnlichkeit zum Teil einen anderen Wirkungsgrad erzielten. Er hatte es am eigenen Leib im Unterricht erfahren, da er seine Mutation bei der damals im Kaiserreich ansässigen Vipernschule die Kräuterprobe durchgemacht hatte. Atheris wendete seinen Blick ab von Gabhan und ließ ihn über die Reihen der Wesen schweifen. In solchen Fällen half erfahrungsgemäß nur die Wahrheit … und er hatte ja auch in der Tat nichts zu verbergen. „Gabhan und ich haben uns vor fast einem Jahr, als wir uns das letzte Mal getroffen hatten, verabredet. Den Treffpunkt haben wir damals mehr oder weniger per Zufall gewählt. Aufträge für unsere Zunft gibt es eher in weniger dicht besiedelten Regionen … wie eurer.“ Jetzt war es an Atheris eine kurze Pause zu machen und die Reaktion der Wesen zu beobachten, bevor er fortfuhr: „Gestern Vormittag haben wir uns dann schließlich getroffen und mein Zunftbruder hier zeigte mir eine alte, verwitterte Karte, die den Weg zu einer alten elfischen Ruine hier in der Gegend beschreibt … wir sind auf einer Schatzsuche … wir suchen nach alten Runen für unsere Silberklingen!“ Atheris zeigte langsam mit seinem Finger auf sein Schwert und die goldenen Runden, die dort eingearbeitet waren, bevor er mit ruhiger Stimme weitererzählte: „Was heute passiert ist, war zu keinem Zeitpunkt eine Absicht von uns. Ich bin heute Morgen zu einem Ausritt aufgebrochen und habe dabei an einer alten Brücke südlich von hier eine Pause eingelegt … beim Rückweg schlug mein Medaillon an … es erkennt gewirkte Magie … ihr kennt vermutlich die Geschichten … ich folgte der Fährte zu einer kleinen Lichtung und dort brach ich in ein Gewölbe ein … ein elfisches Gewölbe.“ Atheris machte eine Pause, weil etwas wie ein Raunen durch die Reihen der Wesen ging. „Ich wollte wissen, was ich gefunden habe und lies eine Laterne in die Dunkelheit herab … und dann folgte der Angriff durch einen von Euch!“ Ein wildes Knurren war nun zu vernehmen, die Gruppe der aggressiven Antherion schien langsam die Kontrolle zu verlieren, lediglich einer von den vorher gezählten blieb ruhig und starrte Atheris geradewegs in die Augen. Erst jetzt bemerkte der Hexer, wie dieser eine seine Klaue unter einem Tuch versteckte. „Ich trennte einem von den Angreifern die Klaue ab, mit der ich angegriffen wurde … und die dadurch gewonnene Zeit nutzte ich zur Flucht, bei der ich wiederum verfolgt und angegriffen wurde!“ Die Unruhe unter den Antherion wurde größer und er fuhr fort. „Nach meiner gelungenen Flucht und der Rückkehr des Gasthauses wurde mein Zunftbruder Gabhan hinterrücks von einem weiteren Antherion angegriffen … und nun sind wir hier!“ Die letzten Worte von Atheris verursachten ein noch größeres Wirrwarr und der Alte schaffte es trotz mehrfacher Schläge gegen das Fass keine Ruhe mehr zu schaffen. Das aggressive Rudel schien sich verbal gegen die übrigen Dorfbewohner zu rechtfertigen müssen … die Aggressionen lagen nun spürbar in der Luft und Atheris schloss seine Hand fester um den Griff seiner Klinge. Der Alte schritt zwischen die sich bildenden Fronten und konfrontierte die auffällige Gruppe in seiner Sprache. Es war der ruhige, zurückhaltende, der auf einmal nach vorne schoss, die eine Klaue die er noch hatte gekrümmt zum Angriff auf den Dorfältesten. Eine im Halbmondlicht aufblitzende Klinge schnitt nicht nur die Luft in Zwei, sondern ließ den einhändigen Angreifer zerteilt zu Boden sinken. Nun brachen alle Dämme, die übrigen der aggressiven Gruppe gingen ebenfalls auf die umstehenden Artgenossen los und das Blutbad, das Atheris und Gabhan vermeiden wollten nahm seinen Lauf.
Es war immer dasselbe. Seit Anbeginn der Zeit schlugen sich vernunftbegabte Wesen aus nichtigen Gründen die Köpfe ein. Jene Wesen ohne Vernunft aber zeigten wenigstens noch den Respekt voreinander sich nur aus guten Gründen zu töten, wenn es solche denn gab: Überleben und Hunger. Und auch die Antherion, so wenig sie auch Menschen sein mochten, ähnelten in dieser Hinsicht den Menschen und allen anderen Vernunftbegabten Wesen: Sie waren klug genug um Waffen herzustellen und dumm genug sie zu benutzen.
Was immer hier gerade geschah, das geschah nicht ihretwegen. Zumindest nicht vorrangig. Sie mochten Auslöser, aber niemals Grund gewesen sein. Das Blutbad, dass sich hier anrichtete war von solcher Art, wie es nur aus lang sitzendem und tiefliegenden Hass erstehen konnte. Ein Hass, der sich tiefer Fraß als die geschlagenen Wunden reichten. So tief, dass selbst das vergossene Blut ihn nicht aus den so vernunftbegabten Wesen herausspülen konnte.
Gabhan sah aus dem Augenwinkel, wie Atheris schon im Begriff war das Schwert zu nutzen um an Seite jener Antherion zu kämpfen, die sich hier nicht gegen sie ausgesprochen hatten. Doch das wiederum war eine ausgesprochen dumme Idee. Gabhan scheute keine Sekunde und schlug dem Hengst seines Zunftbruders auf die Flanke, so dass dieser mit einigen Sprüngen aus der unmittelbaren Front preschte. Gabhan selbst machte eine halbe Pirouette, riss sein Schwert aus dem Boden und war klug genug es in einer flüssigen Bewegung selbst wieder in die Scheide zu stecken um nicht als unmittelbares Ziel zu gelten, während sich hinter ihnen die Antherion gegeneinander bekämpften und mit Fleiß zur der Ausrottung der eigenen Rasse beitrugen.
„Es ist nicht unser Problem Atheris!“ knurrte Gabhan, der sich konzentrierte und mit einer Hand das Zeichen Quen formte, während er Atheris und seinen Gaul an die Seite einer Hauswand zurückdrängte. Ein goldenes Licht ergoss sich aus seiner Hand, formte undeutlich einen Schild um sie beide herum. „Und ich werde nicht zulassen, dass du es zu unserem machst. Töte wer immer sich uns nährt, wenn du musst – aber wir mischen uns hier nicht ein. Viel zu gefährlich. Schau nicht so, steig lieber von dem Scheißgaul, bevor dich irgendwas am Kopf trifft!“ er beobachtete nervös die kämpfenden Wesenheiten, deren Kraft selbst ihm Furcht einflößte. Er erkannte keine Lücke in den sich balgenden Reihen aus Zähnen und Klauen, keine Möglichkeit wie sie entkommen konnten, ohne selbst Gefahr zu laufen in einen Nebel aus Blut verwandelt zu werden. Immer wieder knallten zwei Kämpfende Antherion gegen sein Schild, dass Funken stieben. Er spürte den Druck, als würde ein Rammbock gegen seinen Arm krachen, doch er hielt stand, Schweißperlen auf der Stirn und mit genug Hoffnung im Herzen, dass – sobald sich der Nebel des Krieges lichtete – sich eine Möglichkeit zur Flucht ergab. Doch er spürte, wie er im selben Maß schwächer wurde, wie sich der Boden unter ihm durch sein eigenes Blut aufweichte.
Atheris hasste es neutral zu bleiben, aber Gabhan hatte Recht, dieser Kampf ging sie tatsächlich nichts an. An die Hauswand zurückgezogen beobachtete er an der Seite des Bärenhexers das Gemetzel … und er war froh nicht mitten drin zu stecken. Die animalische Wildheit, mit der die beiden Parteien aufeinander losgingen, hatte er in dieser Form noch nicht gesehen. Gabhans Schild schützte sie vor ungewollten Angriffen. Auf einmal fing der magische Schild an zu flackern, nur um kurz darauf im Nichts zu verschwinden. Atheris wirkte seinerseits das Hexerzeichen ‚Quen‘ – und stellte sich über den inzwischen zusammengeklappten Bärenhexer. „A d’yaebl aép arse!“ schimpfte der Nilfgaarder, als sich das Zentrum des Kampfes immer mehr zu ihnen verlagerte und sie kurz darauf mitten drin waren. Immer wieder prallten die Kombattanten gegen den Energieschild und Atheris, der weit davon entfernt war, das Zeichen wie Gabhan zu wirken, erkannte die Aussichtslosigkeit ihrer Taktik. „Tut mir leid Gabhan!“ stöhnte er und lies das Zeichen zusammenbrechen. Er packte den in seiner eigenen Blutlache liegenden Hexer unter den Armen und stemmte ihn hoch und legte ihn dann über den Sattel seines Pferdes, das verdammt unruhig hinter ihnen auf der Stelle trampelte. Ein Knäul aus zwei ineinander verbissenen Antherion begrub Atheris unter sich. Tritte … Schläge … und Klauen trafen ihn und es dauerte einen Moment, bis er sich von den Beiden wieder trennen konnte. Schnell rappelte er sich wieder auf, griff sich die Zügel und zog seine Silberklinge … Neutralität konnte er sich nicht mehr leisten, er musste Gabhan hier so schnell wie möglich rausbringen. Es fühlte sich unreal an, als er das Pferd mitten durch die kämpfenden Antherion führte und mehr als einmal hatte er Glück, dass ein Angriff ihn verfehlte oder der Hieb von einem anderen Antherion abgefangen wurde. Selbst wenn er gewollt hätte, er konnte die unterschiedlichen Parteien nicht mehr auseinanderhalten. Endlich schafften sie es wie durch ein Wunder zum Tor des Gasthauses mit dem im Wind quietschenden Schild. Er führte das Pferd mit dem Bären auf dem Rücken zum Stall und öffnete die Tore zum Stall. Als er sich wieder zum Pferd umdrehte scheute dieses und wich zurück. Atheris Hand umschloss die Klinge in seiner Hand fester und drehte sich langsam um. Sein Blick wanderte nach oben und dort erkannte er die Ursache für das Verhalten seines Schlachtrosses. Es war ein ziemlich großer, weißer Antherion, der auf dem Vordach sprungbereit kauerte und ihn mit seinen blutroten Augen fixierte. „Se’ege na tuvean“ schrie der Nilfgaarder und machte sich bereit, für das was da kommen mochte.
Das Adrenalin im Blut erreichte seinen Höhepunkt … seine Sinne waren komplett fokussiert auf seinen Gegner … die massiven Muskeln waren wie Drahtseile angespannt und die scharfe Klinge mit den goldenen Runen leuchtete im Mondlicht. Er sah das Zucken der Muskeln unter dem weißen Fell … die roten Augen musterten ihn … seine oberen Lefzen waren gebleckt, um das kräftig Gebiss voll und ganz zur Schau zu stellen, die Ohren als Zeichen der Aggression nach hinten gelegt und der Schwanz steif nach oben gereckt, um Dominanz zu markieren. „Aâ’anval…bleidd!“ flüsterte Atheris laut genug, dass ihn der Antherion gerade so hören musste. Dann ohne Vorwarnung richtete sich der Weiße auf, gab ein ohrenbetäubendes Brüllen von sich und machte sich dann über das Dach des Stalles davon. „Was bei der großen Sonne war das jetzt!“ wunderte sich der überraschte Atheris und bemerkte erst jetzt die Ansammlung der Wesen um ihn herum. Die Schlacht schien entschieden zu sein … und Kathrin trat an ihn heran. „Atheris, wenn du es wünschst, darfst du deinen Freund in die Gaststätte bringen, ich denke er braucht Hilfe!“
Kapitel 9 – Der Fluss der Zeit (Eine Woche später)
Es war hell als Gabhan die Augen aufschlug.
Aber alles mochte ihn in diesem Moment hell vorgekommen sein in diesem, jenem Moment. Seine Augen, die während seines unruhigen Schlafes noch unruhiger als der Rest seines Körpers gewesen waren, hatten sich in ihren Pupillen geweitet – und als nun das klamme Licht durch die schmalen Ritzen der geschlossenen Fensterläden fiel, stach es in die Augen wie tausend glühende Kohlen.
Sein Körper krampfte noch immer leicht nach, doch seine Muskeln waren zu schlaff und zu erschöpft um ihn wirklich noch zu beuteln. Er roch nach kaltem Schweiß. Er kannte den Geruch. Er hasste diesen Geruch. Ein Geruch nach Krankheit. Nach Siechtum. Nach Kräutern und Pilzen. Er kannte den Geruch. Es war der Geruch des Schicksals. Seines Schicksals. Tief in den Katakomben einer alten Höhle.
Der Blick seiner raubtierhaften Augen wanderte nach links, wo neben seinem Bett Atheris saß. Er streckte eine Hand aus. „Wasser…“ keuchte er, nahm die Karaffe, die der Größere ihm reichte, riss sie ihm mit derartiger Wucht aus den Händen, dass seine geschwächten Arme den Krug beinahe nicht halten konnten und Atheris doch helfen musste. Er schämte sich. Schämte sich ob seiner eigenen Schwäche. Der Unbeholfenheit. Der Fehler. Er hasste dieses Gefühl. Hasste sich selbst. Hass.
Mühsam nur richtete Gabhan sich im Bett auf, dankbar um das kühle Holz der geschnitzten Rückenlehne mit den Messingbeschlägen. Messing. Antherion. Noch immer roch der Bärenhexer die Monster. Sie waren nicht fort. Und wenn sie es waren, dann noch nicht lange. Gabhan betrachtete seine Seite, den dicken Verband der dort herumgeschlungen war und der noch mehr nach Kräutern roch wie er. Hagebutte. Knoblauch. Weinraute. Eine seltsame Mischung. Mit Sicherheit keine, die Atheris verwendet hätte. Andererseits…
„Was hast du mir da gegeben?“ Gabhans Stimme war rau, fühlte sich an wie über ein Schmirgeleisen gezogen. Mehrfach. Von einem gewalttätigen Kleinkind. „Ich meine die Flasche auf der Schwalbe stand. Verfluchtes Teufelszeug. Hat die Blutung kein bisschen gestillt!“ er blinzelte, während sein Körper sich erst langsam wieder seinem Willen unterwarf. Es benötigte wahrer Anstrengung seine Pupillen wieder auf ein gesundes Maß zu verkleinern, damit er Atheris auch wirklich erkennen, statt nur erahnen konnte.
„Eine Schwalbe, Gabhan, es war eine Schwalbe die bisher noch immer geholfen hat …und ja mir ist durchaus bekannt, dass die Mutationen der verschiedenen Schulen, unterschiedlich auf die Tränke reagieren, aber dass er keine Wirkung zeigt, habe ich noch nie gehört oder erlebt“
„Eine Schwalbe. Eine Schwalbe. Eine Plörre war das, kaum mehr wert als das Pfützenwasser, dass du ohne jeden Zweifel als Grundlage dafür genommen hast. Verteufeltes Zeug. Schau es dir an!“ Gabhan zog den Verband herunter, in Erwartung der Schmerzen, die ihn diese Geste kosten würde. Eine beinahe freudige Erwartung. Körperlicher Schmerz machte es leichter den seelischen zu vergessen. Doch da kam kein Schmerz. Keine kurze Erlösung. Das Fleisch unter dem Verband war noch gerötet, aber verheilt. „Leck mich doch…“ knurrte er und besah sich seine Bauchdecke. „Gut. Es wirkt. Verzögert.“
Atheris wirkte zufrieden „Siehst du Gabhan, sieht doch schon wieder ganz gut aus … aber ich gebe dir Recht, du hast ungewöhnlich lange gebraucht, um wieder zu Bewusstsein zu gelangen!“
Ungewöhnlich lange. Gabhan knirschte mit den Zähnen, schien eine Erwiderung auf der Zunge zu tragen, schluckte sie jedoch unter. Ein bitterer Geschmack auf der Zunge, ob Gedanke oder Galle konnte er nicht sagen. „Wie lange?“
Atheris sah, wie Gabhan mit seiner schlechten Laune rang … so war er ihm aber deutlich lieber, als im fiebrigen Koma. „sieben Tage Gabhan, es war eine Woche!“
Eine Woche. Eine verdammte Woche. Sie hatten Zeit verloren verdammt viel Zeit. Dass er nicht sein Leben verloren hatte war nur seiner Mutation zu verdanken. Bärenhexer heilten nicht schnell, dafür aber fast alles. „Scheiße.“ Nicht gerade sprachlich geschliffen. Aber passend. Gabhan schloss die Augen, atmete tief ein und aus. Konzentrierte sich nur darauf. Atmen. „Was ist geschehen?“
Da war er wieder, Gabhan wie er ihn kannte und schätzte. Es war ein gutes Zeichen, dass er sich bereits wieder ärgern konnte und das war zunächst die Hauptsache. „Die ersten zwei Tage haben ich und der alte Heiler der Antherion um dein Leben gekämpft! Du hattest verdammt viel Blut verloren und eine deiner Rippen war gebrochen und ein Splitter hatte sich in deine Lunge verirrt! … Nachdem du zumindest wieder stabil warst, habe ich viel Zeit mit dem Dorfältesten geredet … und dabei viel erfahren können!“
„Du verbringst zu viel Zeit mit Valerian…“ knurrte Gabhan, noch immer mit geschlossenen Augen, wenngleich sich auch ein alter Bekannter auf sein Gesicht schlich: Das schmerzhafte Lächeln. „Viel zu viel. Immer nur reden, reden, reden ohne viel zu sagen. Wenn du etwas sagst, dann sag auch etwas aus. Komm zum Punkt mein Großer – was hast du herausgefunden. Nutze die Gelegenheit, ich habe kaum die Kraft aus dem Bett aufzuspringen und dir verstand einzuprügeln. Wir hätten nicht hierbleiben dürfen. Haben uns da in eine Sache reinziehen lassen. Jetzt stecken wir drin. Tief drin. Bis zum Hals in der Scheiße. Also erklär sie mir. Erklär mir die Scheiße. Ich will wissen wie sie riecht. Wie sie schmeckt und wer den verdammten Haufen gelegt hat.“
Valerian … richtig … von seinem Meister hatte sich Atheris viel abgeschaut in den letzten Jahren, vor allem nicht vorschnell zu Urteilen. Nur weil etwas aussieht wie ein Monster, musste es keines sein. „Das Gerede mit dem alten Antherion hat mir zwei Erkenntnisse gebracht. Die Elfenruine, die ich in der Nacht entdeckt hatte, ist ein Teilabschnitt, von dem auf deiner Karte, wir wissen also zumindest einen möglichen Eingang … die zweite Erkenntnis ist, dass einige der Antherion aus dem Dorf einen alten Kult wiedererweckt haben, der eben jene Maeven verehrt. Der Kult wurde von den Altvorderen schon vor Dekaden verboten, denn er verhindert das friedliche Leben unter den Antherion. Durch meine zufällige Entdeckung und ihre fehlgeschlagenen Verschleierungsversuche, ist der Kult aufgeflogen und hat zu den Kämpfen geführt …“ Atheris machte eine Pause um Gabhan’s Reaktion abzuwarten.
„So groß also,“ erwiderte der Hexer der Bärenschule und öffnete langsam die Augen. „Ich nehme nicht an, dass der Kult komplett vernichtet wurde und nun wieder Frieden herrscht? Ja. Das dachte ich mir. Wir haben also deinen Bruderkrieg verursacht. Warum auch nicht. Das hat auf meiner Liste noch gefehlt…“ er atmete tief ein und aus. „Das heißt in den Ruinen wird ein Teil des Kultes auf uns warten. Gut…“ ein bitterer Zug umspielte seinen Mund. „Wollen die hier lebenden Antherion womöglich ein paar Monster loswerden? Könnte ein paar Münzen gebrauchen.“
„Ja … die Elfen waren wahre Baumeister in jener Zeit. Ich bin jedes Mal von neuem Beeindruckt, wenn ich in meine Heimatstadt Beauclair komme … aber ich weiche ab. Der Weiße und vier weitere sind geflohen und die Dorfbewohner gehen davon aus, dass sie sich in die Ruinen zurückgezogen haben. Der Dorfälteste hat mir versichert, dass die hier lebenden Antherion kein Interesse an den Ruinen haben und wir machen können, was wir wollen. Der Alte hat mich aber ausdrücklich gewarnt. Der Kult wurde verboten, weil noch nie etwas Gutes aus diesen Ruinen hervorgekommen ist. Tod und Missgunst sind die Begleiter des Namen Maeven. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ein Kopfgeld verhandelt werden kann, die Antherion reagieren überraschend emotional, wenn es zu den Kultisten kommt … viele erschlagene waren jüngere Bewohner, keine zwanzig Jahre alt … der Weiße … er war der Lehrer des Dorfes!“
Gabhans Miene wurde weicher, verlor jene Härte die er sich in den letzten 80 Jahren angeeignet hatte und die seit Ihrem verschwinden wie in Stein geschlagen dort stand. Kinder. Es waren Kinder gewesen. Jugendliche. Verführt von den Verlockungen alter Größe. Noch naiv genug um zu glauben, dass etwas was einst war jemals wieder sein konnte. So war es schon bei den Elfen gewesen. Die Scoia’tael waren dem gleichen Irrtum erlegen. Auch hier waren es die Jungen gewesen. Die Fruchtbaren, die in den Krieg gezogen waren und damit ihr eigenes Todesurteil unterschrieben hatten. Und das ihres ganzen Volkes gleich mit. „Nein,“ erwiderte er schließlich kopfschüttelnd. „Kein Kopfgeld. Nicht diesmal. Das was wir in der Ruine finden wird uns als Bezahlung ausreichen müssen.“ Kinder. Es waren schon wieder Kinder gewesen. „Wie alt war der, den ich in der Scheune erschlagen habe?“ fragte er, beinahe zu leise um ihn noch zu verstehen.
Atheris war verwundert, er hatte Gabhan noch nie so … so menschlich gesehen. Ja, der Volksmund sagte, dass die Hexer ihre Emotionen durch die Mutationen eingebüßt hatten, das stimmte aber nicht … es war das Leben, dass sie führten, die oftmals die Vatt’ghern zu emotionalen Wracks werden ließ. Das der Bärenhexer kein Kopfgeld mehr verlangen wollte, kam Atheris entgegen, die Antherion in dem Dorf waren schon gebeutelt genug durch die letzten Tage. „Zwanzig!“ war die kurze Antwort.
Zwanzig. Zu jung um zu sterben. Aber das war man eigentlich immer. Noch nie hatte es jemanden gegeben, der zu alt zum Sterben gewesen wäre. Was hätte der Antherion noch alles erleben können? Was hätte er noch tun, wen lieben können? Doch diese Gedanken änderten nichts. Sie änderten nie etwas, denn der Fluss der Zeit kannte nur eine Richtung. Etwas was verloren war kehrte nicht mehr wieder. Gabhan betrachtete Atheris eine Zeit lang. „Wie alt bist du Atheris?“ fragte er schließlich. Er hatte sich diese Frage nie gestellt. Hexer lebten lange, alterten langsam. Aber hier und jetzt erschien es ihm wichtig.
„Sechzig! … Warum fragst du?“
„Nur so“ antwortete Gabhan. „Es kam mir immer seltsam vor, dass du ein Lehrling bei den Greifen bist. Mit sechzig war ich…“ er war auf Skellige gewesen. Glaubte er. Hatte dort Monster gejagt, ein Geschenk das Eist Tuirseach Königin Calante schenken wollte. Die folgenden Jahre…
„Aber auch das ist schon wieder eine halbe Ewigkeit her. Gut Atheris. Du willst etwas lernen. Ich will wieder Bewegung in die steifen Knochen bringen. Ich sehe keinen Sinn darin auch nur eine Stunde mit dem Aufbruch zu warten…“ er richtete sich schwankend auf.
Atheris beobachtete, wie sich Gabhan in den Stand quälte … er half nicht … Gabhan würde es hassen. Während sein Zunftbruder sich anzog und seine Ausrüstung anlegte, musste Atheris über sich selbst nachdenken. Sechzig … er hatte viel erlebt … der Großteil seines Lebens hatte er in der kaiserlichen Armee gedient … es war nie seine Vorsehung gewesen, den Pfad eines Hexers einzuschlagen … aber dennoch war er hier … Zwei Jahre war es nun her, dass er nach der ersten Schlacht um Kaer Iwhaell vom Großmeister der Greifenhexer als Lehrling angenommen worden war … und seitdem hatte sein Schicksal eine Wendung genommen.
Einige Zeit später sah man zwei Hexer, die ungleicher nicht hätten sein können, durch das Tor mit dem quietschenden Schild schreiten. Ihr Ziel war klar, die Ruine.
Gegenwart – Spuren
Die Sonne, die vor einer Woche noch so erbarmungslos auf Cintra gebrannt hatte, lag nunmehr hinter dichten Wolken verdeckt. Sie war noch da, ganz ohne Zweifel, aber ihre Allmacht war bei weitem nicht mehr so deutlich, wie es noch zuvor der Fall gewesen war. Man spürte ihre Wärme, doch der Herbst stritt sich bereits mit ihr um die Vorherrschaft. Der Wind war kälter geworden. Die Sonne war noch da. Doch hinter Wolken verdeckt. Die Sonne. Nilfgaard.
Gabhan betrachtete seinen Zunftbruder, der neben ihm dem Waldweg folgte und sich zu erinnern suchte, wo die Ruine gewesen war. Seine eignen Spuren und die des Feindes waren längst kalt geworden. So kalt wie die Kettenrüstung, die leise raschelnd die meisten Bewegungen Gabhans kommentierte. „Atheris,“ durchbrach Gabhan die Stille, die aus ihrer monotonen Schrittfolge bestand und die, da war sich der Hexer sicher, zu nicht geringen Teilen seine Schuld gewesen war. Und um Schuld sollte es nun ebenfalls gehen. Eine alte Schuld. Die sie beide trugen.
„Solonia ist untergegangen,“ begann Gabhan das leidliche Thema, das so oder so angeschnitten werden musste. Dann konnte er es genauso gut jetzt tun. Es machte nichts schlimmer und nichts besser es nicht zu tun. „Es ist untergegangen obwohl wir die Möglichkeit gehabt hätten es zu retten. Eine Möglichkeit von der wir beide wissen und die – auch so wussten wir, auch eine Möglichkeit für vieles andere gewesen wäre. Schreckliche Dinge vor alledem. Grausige Dinge. Und es grauste uns allen davor die Möglichkeit zu ergreifen, die doch so viele andere Möglichkeiten ermöglichte. Wir entschlossen uns dazu die Möglichkeit verstreichen zu lassen. Sie nicht zu ergreifen. Und doch haben die Greifen nach dieser Möglichkeit gegriffen. Ich habe euch davor gewarnt das zu tun. Habe Valerian ausdrücklich gewarnt. Man entschied sich nicht auf mich zu hören. Die Möglichkeit weiterhin im Bereich des Möglichen zu lassen. Ihr sagtet, dass ihr sie sicher verwahren würdet. Und doch sagtest du mir, dass Kaer Iwahell gefallen ist. Daher stellt sich mir eine Frage Atheris. Eine entscheidende Frage. Was ist aus ihr geworden? Aus unserer Möglichkeit.“
Atheris blieb abrupt stehen … „A d’yaebl aép arse!“ fluchte er leise. Gabhan spielte mit seiner Frage auf ein Thema ab, das der Nilfgaarder am liebsten vergessen würde. Nur Unheil hatte das Ding gebracht, seitdem sie es letzten Winter in Solonia an sich genommen hatten. Es war hinter einem mächtigen magischen Siegel verborgen gewesen … und da hätte es nach seiner Meinung auch am besten bleiben sollen. Das letzte halbe Jahr hatte er dieses mächtige Artefakt mit sich um die halbe Welt geführt, nur um es zu verbergen, bis alle Vorbereitungen abgeschlossen waren … und gerade, als er seinen Großmeister Valerian das Ding nach all den Vorkommnissen wieder gegeben hatte und es abgeschirmt vor jedweder Art der Magie-Detektion, sicher verwahrt wurde … da kam Er, den er einstmals als Freund bezeichnet hatte und nahm das Artefakt in einer hinterlistigen Nacht- und Nebelaktion an sich und verschwand. Die Spuren verloren sich in Solonia, eben jene Welt, die sie verlassen hatten, da ihr der Untergang drohte. „Sie ist nicht mehr in unserer Obhut, Gabhan. Wim hat nach all den Vorfällen in den letzten drei Jahren endgültig den Verstand verloren und sich des Artefaktes bemächtigt. Es bleibt zu hoffen, dass mit dem Untergang von Solonia auch das Problem mit dem Ding ein für alle Male ein Ende nimmt … “ Atheris schaute Gabhan mit seinen katzenhaften Augen an, die letzten Worte hatte er nur noch in Gedanken verloren Vorbringen können, zu sehr schmerzten ihn die Erinnerungen an diese verhängnisvolle Nacht.
Gabhan schnaubte. Er hätte es sich denken können. Mit einem Mal bereute er es. Bereute nicht das getan zu haben, was ihm im ersten Moment in den Sinn gekommen war. Bereute es, das verdammte Ding nicht wieder in jenen Raum aus Dunkelheit zurück gebracht zu haben aus dem es stammte und in dem Valerian diesen Magier, diesen Veritas zum Sterben zurückgelassen hatte. Bereute es, nicht Habbats Vorschlag gefolgt und das Artefakt am tiefen Punkt vor den Skellige-Inseln im Meer versenkt zu haben. Sie hatte es auch gewollt. Hatte gewollt, dass dieses Artefakt nie wieder in die Hände eines lebendigen Wesens fallen sollte. Macht korrumpierte und ultimative Macht korrumpierte ultimativ. Sie hatten es nicht getan. Hatten vertraut. Ein Fehler. Ein weiterer auf seiner eigenen, langen Liste.
Er wollte nicht mehr über das Thema reden. Es war vergangen und nicht sein Problem. Hexer waren neutral. Sie retteten keine Welten. Wie sollten sie auch? Sie konnten nicht einmal sich selbst retten. „Und das andere Projekt?“ hob Gabhan die Stimme wieder. „Du sagtest die Nekromantinnen kommen gut voran? Schau nicht so. Es ist mir egal wie sie sich bezeichnen. Ich habe es gehört. Habe gehört was sie sagte. Sie könne nur helfen, wenn es bereits zu spät sei. Eine Schule, die sich nur der Wissenschaft widmet. Welcher Wissenschaft frage ich mich da. Welches Wissen schaffen Sie? Welche Erkenntnisse? Schau nicht so. Blick nicht so drein – du kannst es dir ersparen. Ich habe ein schlechtes Gefühl bei ihnen. Habe ich damals schon gesagt. Sage ich immer noch. Und was sagst du? Kommen sie voran? Schaffen sie Wissen?“
Atheris blieb erneut stehen … er hatte die beiden Cousinen erst vor wenigen Monaten, nach der zweiten … verlorenen Schlacht um Kaer Iwhaell und der anschließenden Flucht durch ein Portal angetroffen. Miklagard, dieser exotische und wunderschöne Ort in Ofir hatte ihn verzückt. „Eiwa und Saleha kommen gut mit ihren Untersuchungen voran … sie verstehen viel von der Materie und ihre Labore in Miklagard zählen zu den besten, die ich je gesehen habe!“ von dem Überfall auf die Labore und die anschließende Jagd auf die dabei entflohenen Mutanten ging er lieber nicht ein, Gabhan’s Laune war sowie so schon nicht mehr die Beste.
Atheris beantwortete seine Frage nicht. Weder die, die er gestellt noch die, die er nicht gestellt hatte. Gabhan schwieg erneut eine Weile. Eine lange Weile. Und Langeweile kam auch auf. Langeweile und Durst und das Eine, wie das Andere trieb sie zu einem kleinen Bach in der Nähe, von dem sich Atheris sicher war ihn gesehen zu haben und von hier aus den Weg zur Ruine bestimmen zu können. Doch zuerst wollten sie eine kurze Pause machen. Die Wasservorräte auffüllen.
Gabhan nahm einen tiefen Schluck des eiskalten Wassers, spürte wie sich dieses in seinem Buschigen Oberlippenbart verfing und noch nach einigen Sekunden hinab tropfte. Er fixierte Atheris erneut, besah seinen Zunftbruder, wie dieser Wasser aus der hohlen Hand schöpfte. „Die Kräuterprobe“ hob Gabhan die Stimme. „Ich weiß, weshalb ich mein Blut an Valerian gegeben habe. Weiß, weshalb ich Teil des Projektes sein will…“ ja. Er wusste es. Aber Valerian wusste es nicht. Wusste nichts von den hintersinnigen Gedanken Gabhans. Wusste nichts davon, dass er bei weitem nicht so überzeugt von der Sache war, wie er getan hatte. Damals, im Keller des Gasthauses. Doch es gab nur eine Möglichkeit im Fall der Fälle da zu sein. Zu handeln. Und handeln würde er. Auf die eine oder andere Weise. Wie? Das wusste er nicht. Noch nicht. Es gab viele Dinge, die er noch nicht wusste und es war an der Zeit einige wenig davon zu beseitigen. „Aber weshalb tust du all das? Wieso neue Hexer?“
Atheris genoss das kalte Wasser, auch wenn er in diesem Moment einen guten Schluck Wein vorgezogen hätte – und dann stellte Gabhan erneut eine sehr interessante Frage … warum eigentlich? Er konnte es sich jetzt einfach machen und antworten, dass sein Meister Valerian es wollte und er als Lehrling sich den Wünschen fügte … Er konnte erzählen, wie die Gelehrten des Kastell Graupian ihn in seiner Jugend bereits auf Herz und Nieren untersucht hatten, mit dem selben Ziel … es gab viele, die an den zum Teil verlorenen Geheimnissen der Kräuterprobe der Hexer interessiert waren … aber das war es nicht, was Atheris antrieb. „Einer von zehn – du weißt es, ich weiß es. Die unvorstellbaren Qualen – du kennst sie, ich auch. Jugendlicher Leichtsinn – du kennst ihn, ich auch. Ich muss mir nur all die Möchtegern Monsterschlächter und Glücksritter vorstellen, die losziehen um Abenteuer zu bestehen oder eine Frau zu beeindrucken – und dann nicht mehr heimkehren. Gabhan, es wird immer Menschen geben, die den Weg der Vatt’ghern – unseren Weg, faszinierend finden werden und die sich dem Risiko der Kräuterprobe willentlich aussetzten würden. Ich muss nur an meine Freunde Logan und Egon denken, beide haben großes Leid in ihrer Kindheit erfahren und sie wollen mit dem Weg des Hexers verhindern, dass anderen Kindern etwas Ähnliches widerfährt. Ich habe gesehen, wie sie ihr Leben gegen Wesen riskiert haben, denen sie ohne die Mutationen hoffnungslos unterlegen waren … aber das ist nicht alles, Gabhan. Wie leben in verfluchten Zeiten, ja … die zunehmende Zivilisation hat dazu geführt, dass es weniger gefährliche Wesen gibt als noch vor dreihundert Jahren. Die Ausbreitung der Menschen führt aber auch dazu, dass sie häufiger auf Wesen treffen, die ihnen Leid zufügen … und nein ich rede nicht von Bestien, die in ihrem natürlichen Lebensraum vorkommen wie Draconiden … ich meine die unnatürlichen Wesen wie zum Beispiel Erscheinungen, Leichenfresser und Konstrukte. Mir ist klar, dass das Wissen um die Mutationen Begehrlichkeiten bei den Herrschern und deren Geheimdiensten weckt. Aber wenn wir realistisch sind, wird jemand Mutationen erfolgreich durchführen können … ich habe es in Miklagard gesehen, was alles möglich ist. Aber das ist auch nicht alles, Gabhan. Mir ist es lieber, wir Greifenhexer kümmern uns um die Wiederentdeckung der Kräuterprobe, als jemand anderes – nur so bin ich in der Nähe und kann Eingreifen, wenn sich meine Beweggründe ändern!“ Atheris schwieg für eine Weile nach seinen Ausführungen. Die Forschung an der Kräuterprobe und deren Ergebnis konnten für ihn eines Tages zu einer Zwickmühle führen, aber das behielt er lieber für sich.
Gabhan hörte Atheris zu und war überrascht. Diese Überraschung war dabei in zweierlei Bewandtnis besonders – zum einen hatte Gabhan sich vorgenommen nicht mehr überrascht zu sein. Zum anderen – und das war das überraschendste an seiner Überraschung: Sie war positiv. Gabhan war seit vielen, vielen Jahren nicht mehr positiv überrascht worden.
„Du hast Recht,“ stimmte Gabhan Atheris langsam zu. Zum einen, weil es zu Teilen der Wahrheit entsprach. Zum anderen, weil er seine Rolle in dieser Geschichte zu spielen hatte. „Es ist besser, wenn niemand anderes die Kräuterprobe entdeckt. Ebenso wie du Recht hast, dass Geheimdienste und Herrscher ein Interesse an Mutationen haben. An verbesserten Kriegern. Doch in einem, in einem hast du nicht Recht – es braucht uns nicht mehr. Deine Glücksritter und Helden sind so zahlreich und so voller Idealismus, dass es den Marktpreis zerstört. Aber nicht nur ihn. Es zerstört auch die Monster – die natürlichen und die unnatürlichen. Vielleicht sterben einige der Idioten dabei. Aber Idioten sterben jeden Tag – ob sie ein Monster töten oder ihr Dach mit Hilfe einer wackeligen Leiter neu decken wollen macht da keinen Unterschied“ er nahm noch einen weiteren Schluck Wasser, sog das kühle Nass gierig auf und hob dann wieder den Blick um jenen von Atheris zu begegnen. „Aber die Monster aus alter Zeit sind es nicht, die wahrlich gefährlich für die Menschen werden. Denn sie sind an den Rand des Aussterbens gedrängt worden. Was dem Menschen wahrlich gefährlich wird sind die neuen Monster einer neuen Zeit. Rassenkrieg. Umweltverschmutzung. Korruption. Die Maschinerie des Krieges. Es gibt keine kleinen Scharmützel mehr. Der Krieg selbst ist zur Ware geworden. Der Mensch ist des Menschen Monster. Dagegen können wir nicht ankommen. Wir sind Relikte Atheris. Alte Männer aus vergangenen Zeiten“ langsam stand Gabhan auf, ein grimmiges Lächeln auf dem Gesicht. „Aber wir werden weiter tun was wir am besten können. Monster erschlagen. So wie es der Brauch will. Wir werden tun wofür wir erschaffen wurden. Denn das ist das einzige was wir tun können, in einer Welt die am Abgrund tanzt. Etwas tun, dass Bestand hat. Tradition. Ein fester Grundpfeiler in einer Welt, in der noch nicht einmal das Morgen sicher ist…“ er starrte in sein Spiegelbild im Wasser, die Narbe in seinem Gesicht, die Raubtieraugen, die nichts Menschliches mehr an sich hatten. Die Narben an der Schläfe. Er war dreckig und unrasiert. Mehr Tier als Mann. Und mit einem Mal schämte er sich. Schämte sich ob seines Zynismus. Ob seiner Worte gegenüber Atheris. Schämte sich, dass er aufgegeben hatte. Was hätte Sie dazu gesagt? Ihr Ritter… und was für ein Ritter er war.
„Gibt es etwas, an das du glaubst, Atheris?“ fragte er und seine Stimme hatte das Knurren verloren. War weicher, sanfter.
Atheris empfand Mitleid mit Gabhan, der Hexer hatte sicherlich vieles miterlebt und zum Teil hatte er mit seinen Ausführungen recht, aber die Situation der Menschheit war immer im steten Wandel und genau dafür stand seine Heimat Nilfgaard. Auch wenn es die nördlichen Reiche nicht einsahen, aber das Kaiserreich führte zu Frieden, kulturellen Errungenschaften, zur Förderung von Kunst und Wissenschaft, all jenes, was Gabhan so auf der Seele lag. Atheris hatte eingesehen, dass die Mittel die Nilfgaard einsetzte nicht immer angemessen waren. Die Eroberungskriege im Norden waren blutig gewesen und hatten nicht zum gewünschten Ziel geführt. Aber wie sehr die Welt von dem modernen Staat profitierte hatte man vor dem zweiten nördlichen Krieg gesehen. Die Städte nördlich der Jaruga profitierten von der Wirtschaftskraft Nilfgaards und erlebten eine richtige Hochkonjunktur. Es führte soweit, dass die Kaufleute im Norden lieber mit der Währung des Kaiserreiches bezahlt werden wollten, als mit der Einheimischen. Es waren die Nordländer, die den zweiten Feldzug in den Norden provoziert hatten und Atheris hatte bei seinen Einsätzen nördlich der Jaruga die Landungsschiffe der Temerier gesehen, die bereit gewesen waren einen Überfallkrieg gegen Nilfgaard durchzuführen. Atheris schweifte ab, Gabhan hatte ihm eine Frage gestellt und er war die Antwort noch schuldig. Er blickte hoch zur Sonne und fühlte ihre warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Letztes Jahr wurde ihm eine ähnliche Frage bereits schon einmal gestellt. „Nach meinem Empfinden … Gabhan … entfaltet sich das Elysium eines Vatt’ghern in seinem Gewissen, und wenn er sich seiner Verantwortung bewusst ist, wenn er gesucht und gefunden hat, wenn er sich dem gemeinsamen Ideal seiner Schule angenähert, seine Pflichten als Jäger erfüllt hat, dann ist er gut darauf vorbereitet, eine Welt zu verlassen, die er ein wenig besser zu machen sich bemüht hat. Er wird seinen Nachfolgern ein Königreich hinterlassen, das von seiner Arbeit geprägt und für alle Menschen lebenswerter sein wird.“
Atheris wartete einen Moment bevor er noch einen Satz hinzufügte „Ich glaube daran, dass Veränderungen durch jeden Einzelnen von uns angestoßen werden. Wer, wenn nicht wir, können die Welt erschaffen, in der wir leben möchten! Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder Mensch ein Platz in dieser Welt hat und wenn er die ihm gegebenen Möglichkeiten nutzt und hehren Zielen folgt, wird die Menschheit als Ganzes aufblühen!“ Atheris schwieg und beobachtete den Bärenhexer. Hoffnung … Gabhan brauchte wieder Hoffnung.
Gabhan betrachtete seinen Zunftbruder und beobachtete ihn genau. Jede Bewegung der Muskeln in seinem Gesicht. Jede Betonung nahm er auf. Atheris Worte waren schön – und etwas in ihm wollte ihm glauben. Wollte glauben, dass es wirklich so war. Dass die Welt so einfach war. Das sie einfach nur versuchen mussten das zu tun was richtig war und sich dann alles zum Guten wenden würde. Er wollte es glauben. Wollte wirklich. Aber er wusste es besser. Wusste, dass es nicht ausreichte das Beste zu wollen. Wusste, dass es nicht ausreichte das Richtige zu wollen. Man musste auch das Richtige tun. Und manchmal war auch das falsch. Man verletzte Menschen. Menschen die einem etwas bedeuteten. Und vielleicht lag man falsch. Vielleicht tat man nicht das Richtige. Wer konnte schon sagen was das Richtige war?
Aber dann sah er Atheris, sah den Glanz in den Augen des Mannes. Atheris glaubte wirklich daran. Glaubte mit ganzem Herzen daran. Gabhan wusste es besser, aber vielleicht – ganz vielleicht war die Welt das eine oder andere Mal doch wie in den Märchen? Gabhan hoffte es. Hoffte es für Atheris. Und er würde nicht zulassen, dass Atheris das Gleiche durchmachen und die gleiche Erkenntnis durchleben musste wie er. Er würde ihn vor dieser Erkenntnis beschützen. Atheris sollte weiter daran glauben dürfen. Das Tun was er für gut und richtig hielt, ganz gleich wie aussichtslos es auch war. Es genügte, wenn Gabhan das tat was notwendig war. Wenigstens Atheris sollte die Möglichkeit haben besser zu sein. Besser als er. Er verstand Atheris. Der Andere war ein guter Mann. Er glaubte an etwas, das größer war. Deswegen brauchten gute Männer keine Regeln. Und die Götter wussten, Gabhan hatte viele Regeln.
„Man hat bei dir einen Fehler gemacht mein Größer,“ befand Gabhan und klopfte ihm auf die Schulter. „Du hättest Ritter oder Priester werden sollen, kein Hexer. Bei allen Göttern – du bist ein Greif durch und durch. Ein Narr mit hehren Zielen. Aber davon könnten wir ein paar mehr in dieser Welt gebrauchen.“
Atheris lächelte seinen Zunftbruder liebevoll an. „Lass uns aufbrechen, Gabhan! Der Eingang zur Ruine ist nicht mehr weit und wir wollen doch die Welt nicht auf uns warten lassen!“ Er stand auf und reichte Gabhan seine ausgestreckte Hand.
Kapitel 10 – Staub der Zeit
Es dauerte nicht lange und die beiden Zunftbrüder hatten die Lichtung erreicht, auf der sich der Angriff auf Atheris zugetragen hatte und in deren Mitte sich ein Eingang in die Elfenruine befand. Sie befestigten das lange Seil, dass sie mitgenommen hatten an einem Baum und näherten sich vorsichtig dem Loch im grünen Rasen. „Es ist schon seltsam, Gabhan. Das letzte Mal als ich hier war, hatte das Medaillon schon längst angeschlagen – hier und jetzt … nichts! Ob das mit der Tageszeit zusammenhängt?“ „Möglich“ knurrte Gabhan, der gerade seinen Kopf durch die Öffnung gesteckt hatte und sich ein Bild von der Situation im Inneren machte. „Lass uns keine Zeit verschwenden“ war nach einigen Augenblicken sein kurzes Fazit der Untersuchung.
Gabhan griff nach dem Seil, welches Atheris ihm entgegenhielt, wickelte sich dieses einmal um seine Hüfte und einmal um die eigene Hand. Die schwere Rüstung die er trug machte Bewegungen schwerfällig – an genügend feinmotorig um gut klettern zu können war nicht zu denken. „Ich gehe als erster runter, du lässt mich hinab und wenn ich mir sicher bin, dass es unten sicher ist kannst du nachkommen. Wenn du auch nur glaubst zu hören wie mich die Viecher anfallen, dann will ich, dass du Fersengeld gibst und abhaust. Dort unten sind so viele von denen, dass sie mich nicht nur getötet hätten ehe du unten ankommst, sondern auch mit dir kurzen Prozess machen würden. Ich kann im Tod nicht auch noch ein schlechtes Gewissen gebrauchen!“ Und mit diesen, durch und durch erbaulichen Worten stieg Gabhan in das Loch und ließ sich Meter für Meter von Atheris hinablassen. Der Abstieg dauerte einige qualvolle Sekunden und Gabhan schätzte den Weg bis zur Decke auf rund zehn Meter. Keine erbauliche Vorstellung im schlimmsten Fall von Antherion gejagt diese zehn Meter an einem kleinen Seil wieder zurück nach oben gelangen zu müssen, aber das war ein Problem, mit dem er sich später beschäftigen konnte.
Dumpf kam er auf dem Boden der Halle auf löste sich vom Seil und fingerte in seiner Tasche nach einer winzigen, abgegriffenen Flasche. Er nahm diese zwischen Daumen und Zeigefinger, entkorkte sie mit den Zähnen und spuckte den Korken aus, ehe er sich die übelschmeckende Flüssigkeit – Pimentwurzel, Mutterkornsamen und fünfte Essenz. Äther. Karmin. Hydragenum. Gabhan spürte wie die Flüssigkeit wie beißender Essig in seinen Magen floss und sich beinahe augenblicklich ein stechender Schmerz in seinen Schläfen einstellte. Er verklang so schnell wie er gekommen war, dafür begannen die Augen zu tränen, als sich die Pupillen weiteten und Gabhan das Innere des Tempels – denn ein solcher war es – erkennen konnte.
Langsam, beinahe ehrfürchtig durchschritt er die Anlage, fuhr mit seinen Fingern die aus den aufgeschnittenen Handschuhen hervorlugten über die staubigen Reliefs. Elfisch – es war ein elfischer Tempel. Dafür sprachen die Ornamente und Säulengänge, wenngleich dieser spezielle Stil Gabhan auch fremd war. Er erkannte Verzierungen, die an der Außenseite der dort abgebildeten Figuren zu sehen waren. Sie waren nicht aus Silber oder poliertem Eisen, sondern aus Messing. Gabhan stutzte. Er glitt weiter. Messing, animalische Andeutungen. Er ließ die Schultern sinken. Jetzt ergab auch alles einen Sinn. „Atheris!“ rief er nach oben. „Komm runter!“
Atheris beobachtete wie Gabhan sich im Gewölbe umschaute und als er ihn rief, ließ er sich ebenfalls an dem Seil hinunter. „Ein Tempel – kein Palast!“ stellte er überrascht fest. „Sieh dir die Materialien an, Atheris!“ brummte Gabhan. Der Nilfgaarder erkannte die inzwischen komplett schwarzen Augen seines Zunftbruders. Er hat bereits den Hexertrank ‚Katze‘ zu sich genommen, was seine Sicht in vollkommener Dunkelheit ermöglichte. Atheris lies seinen Blick über die Säulen und Skulpturen wandern. „Bronze! Das ändert einiges!“ stellte Atheris fest und Gabhan nickte anerkennend. Es war nun an ihm, seinen Trank zu nehmen. Er zog das kleine Fläschchen aus seinem Beinholster, öffnete den Korken mit seinen Zähnen und trank den Inhalt in einem Zug hinunter. Die Flüssigkeit schmeckte leicht süßlich, im Gegensatz zu manch anderem der Tränke, die er sonst zu sich nahm. Es dauerte einen Augenblick bis die Wirkung einsetzte, aber auf einmal war da ein kleines kribbeln hinter seinen Augen und nur einen Wimpernschlag später hatte er das Gefühl, dass sich zwei brennende Kohlen in seinen Augenhöhlen befanden. Es war nur ein kurzer Schmerzimpuls und auf einmal wich die Dunkelheit und Atheris sah das innere des Tempels fast genauso gut wie im Sonnenlicht. Atheris prüfte den korrekten Sitz seiner Ausrüstung und zog seine Silberklinge. Erneut behandelte er das kostbare Schwert mit dem Eisensulfid und reichte es dann an Gabhan weiter, der es ihm gleichtat. „Wenn ich die Karte richtig im Kopf habe, müssen wir uns weiter nach Süden bewegen, bereit mein Bruder?“
Gabhan ließ nur ein knappes Schnauben als Antwort hören, rückte noch einmal seinen Schultergurt zurecht, denn dieser störte ihn ein wenig in der Bewegung, die in seiner schweren Rüstung ohnehin nicht allzu ausgefeilt war. Aber ausgefeilt musste sie auch nicht sein. Sie musste schnell sein und vor allen Dingen kräftig. Gabhan griff nach dem Stahlschwert, welches er – im Gegensatz zu den meisten seiner Zunftbrüder – an der Seite trug und zog das Kurzschwert aus der Scheide.
Als Atheris ihm das Eisensulfat zuwarf fing Gabhan es geschickt auf, schmierte seine eigene Klinge damit ein und reichte Atheris dieses dann zurück. Weshalb der Andere das Silberschwert nahm, statt das genauso effektive und weniger anfällige Stahlschwert blieb ihm zwar ein Rätsel, doch er rechnete diese Entscheidung Atheris Hang zur Idealisierung des Hexertums zu. Eine Idealisierung, die er nie gelernt und niemals begangen hatte. Ebenso wenig wie jeder andere Hexer den Gabhan kannte. Mit Ausnahme vielleicht von Valerian, dem Großmeister der Greifen und Atheris Lehrmeister. Aber Valerian war… eine andere Geschichte. Und der alte Mann schuldete Gabhan noch einen Gefallen – und eine Rose.
Sie durchstreiften gemeinsam den großen Tempel und während Atheris aufmerksam die Gegend nach Feinden absuchte ließ Gabhan seine Deckung unten. Er würde den Feind schon hören – genauso wie der Feind sie hören würde. Die Akustik in diesem Gewölbe war von solcher Präsenz, dass manche Konzerthalle in den nördlichen Königreichen neidisch gewesen wäre. Nein. Gabhans Gedanken waren nicht bei möglichen Feinden. Waren nicht beim nächsten Kampf und dessen unvermeidbares Blutvergießen. Sie waren noch immer bei der Erklärung des alten Antherion und was dieser Tempel hier dann bedeutete. Was ihre Anwesenheit bedeutete. Was sie womöglich angerichtet – oder verhindert hatten. Gabhan verfluchte sich. Er hatte nur einige alte Runen gewollt. Runen die längst vergessen waren. Die niemand mehr benötigte. Die niemand brauchte. Nur er. Und nun war er in einen Schlamassel hineingeraten. Steckte über beide Ohren drin – und er hatte Atheris da auch noch mit reingezogen und der andere schien noch nicht einmal etwas zu ahnen. Gabhan plante nicht Atheris hier und jetzt in seine Befürchtungen einzuweihen. Vielleicht irrte er sich ja. Schätzte die Informationen und somit die Lage falsch ein. So etwas kam vor. Nicht oft. Seltener als ihm selbst lieb sein konnte. Aber es kam vor.
Gabhans fühlte die Unebenheiten auf dem Stein, die jedoch so winzig waren, wie sie nur in den Bauten der Elfen, Zwerge oder Gnome vorkamen. Und wenngleich auch die Architektur jener der Elfen ähnelte, so unterschied sie sich doch so sehr, wie ein Haus in Cintra sich von einem Haus in Kaedwen unterschied. Es waren beides Häuser, ohne jeden Zweifel. Aber es war… anders. Die Antherion waren anders. Sie, die Hexer, waren anders. Das hier würde Blut vergießen bedeuten. Oh ja, das würde es. Und Gabhan fürchtete sich. Er fürchtete sich sehr. Doch Furcht durfte einen Hexer niemals aufhalten oder auch nur Zögern lassen. Seine dunklen Augen huschten über die Wandreliefs. Eine Gestalt in Form eines aufrecht stehenden Wolfes, mit einer Krone angetan führte eine Schar ähnlicher Wölfe an, doch die Schatten dieser Schlachtenreihe, die kunstvoll aufgestellt worden waren, zeigten Gestalten mit spitzen Ohren. Auf der anderen Seite – eine Schar die an Monster erinnerte, doch eindeutig Rüstungen menschlicher Machart trug. Gabhan riss sich mit Mühe von den Zeichnungen los, denn er wusste was auf dem nächsten Bild sein würde. Wusste es.
„Halt,“ Gabhan hob eine Hand und deutete zu einem in den Felsen geschlagenen Gang. „Riechst du das?“ Gabhans Nasenflügel weiteten sich. „Es riecht nach… Nitron und Natron. Harz und Bienenwachs“ seine Nüstern weiteten sich noch weiter. Myrrhe. Palmwein. Er ließ die Schultern sinken und starrte Atheris an. „Das alles riecht wie… ein Einbalsamierungsraum. Wir sind nicht in einem Tempel Atheris, wir sind in einem Grab.“
Atheris bemerkte, wie der Blick des Bärenhexers für einen Moment an dem Wandbild haften blieb. Es zeigte vermutlich die Antherion wie sie von ihrem Anführer gegen ein Heer von Menschen zogen. Falls es diese Schlacht jemals gegeben haben mochte, Atheris hatte noch nie von ihr gehört. Seine Gedanken wurden durch das „Halt!“ von Gabhan unterbrochen. Der Bärenhexer hatte recht, es war ein Grab – vielleicht Maevens? „Meinst du, dieser Ort ist die letzte Ruhestädte von Maeven, Gabhan? „
„Wir beide sind hier unten Atheris,“ erwiderte Gabhan. „Es wäre wirklich zu viel verlangt, wenn uns das Leben nicht so hart ficken würden. Du kannst Gift drauf nehmen, dass wir so richtig, richtig tief in die Scheiße gegriffen haben“ aber es brachte nichts. Hier und jetzt umzukehren würde nur bedeuten, dass alle Arbeit bisher umsonst gewesen wäre. „Wir sollten weiter. Tiefer hinein in dieses Grab, es kann ja nicht ewig nach unten gehen irgendwann werden wir in einen richtigen Raum kommen. Wenn dort Abzweigungen sind suchen wir uns einfach den raus, der aussieht als würde dahinter unser sicherer Tod lauern – die Methode funktioniert immer,“ ätzte der Bärenhexer und ließ angespannt das Schwert zweimal in seiner Hand kreisen.
„Hört sich nach einem Plan an – einfach zwar, aber das sind die Besten!“ antwortete Atheris und folgte an der Seite Gabhans tiefer ins Grab. Das Gewölbe zog sich in die Länge – Länger als es Atheris bei einem Grab erwartet hätte. Auf ihrem Weg kamen sie an weiteren Gemälden vorbei und diese erzählten ihnen die Geschichte, die sich hier vor vielen Jahrhunderten abgespielt haben musste. Die blutige Schlacht endete zwar mit einem glorreichen Sieg der Antherion über die Menschen, doch dieser Sieg war teuer erkauft worden. Maeven wurde beim Kampf schwer verletzt und nur wenige Krieger überlebten die Schlacht. Atheris ging weiter und ebenso die Erzählung. Schritt für Schritt wurde der Mythos des Wesens, dessen Grab sie betreten hatten dargestellt. „Gabhan! Schau dir das an!“ Atheris blieb bei einem Bild stehen, dass zeigte, wie ein Wesen vor Maeven kniete – ob es sich um einen Antherion handelte, konnte man nicht sagen. Interessant war eine geöffnete Schatulle mit Runen. „Ist es das, was wir suchen?“
Gabhan betrachtete das Bildnis und die Schatulle mitsamt ihrem Inhalt genau und schwieg für eine ganze Weile. Das hier war kein Tempel und seine Runen keine längst vergessenen Relikte die niemand mehr vermissen würde. Sie waren in ein Grab eingestiegen und drauf und dran Runen zu entwenden, die in der Geschichte dieser Kriegerkönigin eine hohe Bedeutung gehabt haben mussten, wenn man sie schon auf einem Wandbild verewigt hatte. Gabhan schluckte, während er noch einige Schritte am Wandbild weiterging – die Gestalt mit den Runen befand sich nun auf mehreren Bildern. Zu sehen war ein Fest, welches wohl zu Ehren des Sieges ausgerichtet worden war. Gabhans Herz schlug schneller in seiner Brust, während sich in seinem Verstand die letzten Puzzleteile zusammensetzten. „Scheiße“ war sein einziger Kommentar, als er das letzte Bild erreichte, welches eine gesamte Wand eines großen, viereckigen Raumes einnahm. Die Figur mit den Runen stieß Maeven von hinten einen Dolch in den Hals. „Das hätte sie mir sagen müssen…“ knurrte Gabhan, dem erst jetzt das vollkommene Ausmaß dieser ganzen Misere vor Augen geführt wurde. Er warf Atheris einen kurzen Blick zu, der sich bereits daran machte einen Geheimgang zu finden, denn von hier aus ging es nicht mehr weiter. Zumindest nicht offensichtlich. Offensichtlich war für Gabhan jedoch nun die Wahrheit, direkt vor ihm ausgebreitet und sie war wie immer kompliziert.
„Atheris, warte…“ bat Gabhan den Zunftbruder und ließ sich auf eine kleine Stele sinken. Seine Wunde schmerzte noch immer, seine Schultern waren verspannt und anfänglicher Zweifel nagte in ihm. „Ich weiß nun was geschehen ist. Ich weiß es…“ er ließ ein tiefes Seufzen hören, eines das durch die alten Mauern drang und den Staub der Zeit aufwirbelte, der die Geschehnisse bis zur Unkenntlichkeit bedeckt hatte. „Antherion heißt nur die Oberkategorie der Wesenheiten denen wir uns hier nähren. Es gibt sie in den unterschiedlichsten Ausprägungen. Aguara zum Beispiel sind Fuchswesenheiten die sich durch das Entführen elfischer Kinder fortpflanzen. Das scheint – in Anbetracht des jungen Alters der vielen Antherion in dem Dorf bei unseren nicht der Fall zu sein,“ begann Gabhan seine Erklärung. „Ich glaube mittlerweile zu wissen welcher Unterkategorie wir uns hier gerade nähren – Yaguaru. Wolfswesen, die sich normal fortpflanzen und ebenso wie Aguara über starke magische und noch deutlich stärkere körperliche Macht verfügen. Vor vielen Jahrhunderten, als die Menschen neu in diesem Landstrich waren, müssen sie auf diese Yaguaru gestoßen sein – und auf Maeven. Keine Ahnung ob sie Königin, Kriegerin oder Alpha-Wölfin war, aber das ist auch vollkommen egal. Die Yaguaru besiegten die Menschen unter schweren Verlusten – und die Menschen boten den Yaguaru als Zeichen des Friedens einige Runen. Die Yaguaru erkannten das Zeichen an. Ein Zeichen der Unterwürfigkeit ist bei Wölfen nun einmal normal. Aber weißt du was nicht normal ist Atheris? Hinterlist. Verrat. Die Menschen kennen diesen Wesenszug, die Yaguaru kannten ihn bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Also töteten die Menschen Maeven hinterlistig – und das Volk der Yaguaru wurde in die Wälder getrieben. Dort blieben sie viele Jahre, ehe sie sich – dank ihrer Fähigkeiten als Menschen getarnt – hier in der Gegend niederließen. Aber die Menschen breiteten sich immer weiter aus. Die Yaguaru können immer weniger in ihre eigentliche Form wechseln. Ich habe es gesehen. Habe gesehen welche Mühe die Alten hatten ihre Form anzunehmen und zu halten. Je länger sie es unterdrücken, umso mehr verlieren sie ihre Fähigkeiten. Ihr Sein. Ihre Kultur. Die Jungen Atheris, die, die ich erschlagen und die gegen die Alten gekämpft haben. Jene jungen Yaguaru, die sich tief in dieses Grab zurückgezogen haben. Sie verehren nicht einfach nur Maeven, sondern das wofür sie stand. Für Freiheit und die Unabhängigkeit ihres Volkes. Diese Yaguaru sind bereit in den Krieg gegen die Menschen zu ziehen. Einen Krieg, den sie nur verlieren können und der die Yaguaru auslöschen wird. Sie werden stolz sterben. Aufrecht. Als Yaguaru. Aber sie sterben. Und die Dorfbewohner? Sie verlieren langsam ihre Kräfte. Hören auf Yaguaru zu sein. Werden zu etwas Anderem. Die Menschheit assimiliert sie. Eine Assimilation, die die Yaguaru ebenfalls auslöschen wird…“ er ließ die Schultern sinken und schüttelte den Kopf. „Und wir sind mittendrin mein Großer. Und da ich weiß wie diese Geschichte ausgehen wird stelle ich dir nun eine Frage – ein einziges Mal. Ich benötige diese Runen. Ich benötige sie sehr. Und ich sehe mich weder in der Pflicht noch in der Lage dieses Volk zu beschützen. Weder vor sich, noch vor den Menschen. Aber ich weiß, dass du es anders siehst. Ich weiß nicht, ob es etwas ändert. Ob wir beide überhaupt etwas ändern, jemals geändert haben. Aber ich will dich nicht noch tiefer in eine Sache hineinziehen, die dein Gewissen noch mehr belastet. Du hast hier und jetzt die Möglichkeit zu gehen. Geh. Oder komm mit mir. Tiefer in die Finsternis.“
„Ich werde dich auf keinen Fall da alleine reinlassen, Gabhan! Die Runen gehören nicht zur Kultur der Yaguaru und dürften ihnen deswegen wohl kaum heilig sein. Der Dorfälteste hat mehrmals klargestellt, dass sie mit dieser Ruine und allem was hier drin ist, nichts mehr zu tun haben wollen – und selbst die überlebenden des Kultes müssten nach den Wandmalereien anerkennen, dass diese Runen vermutlich von Menschenhand stammen und nicht von den Yaguaru!“ antwortete Atheris auf die ihm gestellte Frage. Gabhan schien mit der Antwort zufrieden und gerade als sich Atheris wieder der Wand widmen wollte, hörte er ein leises ‚Klacken‘ unter seinen Stiefelsohlen, dass ihn zusammenzucken lies ein leiseres zweites ‚Klacken‘ war leicht zeitversetzt zu hören – aber es geschah nichts. „Seltsam!“ knurrte Gabhan und näherte sich einer Wand und berührte diese vorsichtig. Seine Hand wanderte langsam zu seinem Hexer-Medaillon, dass den Kopf eines Bären darstellte. Seine Augen weiteten sich augenblicklich – es vibrierte kaum merklich mit einer hohen Frequenz, so marginal, dass er es nicht sofort bemerkt hatte. Er drehte sich langsam um und blickte zu Atheris. Als dieser die Augen seines Zunftbruders erblickte, wusste er sofort, was los war … „A d’yaebl aép arse!“ entfuhr es seinen Lippen und seine rechte Hand schloss sich fest um den Griff seiner Klinge.
Gabhan folgte nur einem Gefühl. Eine Vorahnung, die dunkel und tief verborgen in ihm schlummerte. Der Instinkt des Raubtieres, das in seine Gene eingebrannt worden war. Er hob das Schwert und spürte den Aufprall noch ehe er ihn hören konnte. Ein schwerer, verteufelt schwerer und verteufelt haariger Gegenstand kollidierte mit der Gewalt eines rasenden Ochsen mit ihm. Er spürte, wie das Schwert auf etwas traf. Konnte spüren, wie unter seiner Klinge Muskeln und Sehnen zerschnitten wurden, dann geschah das, was nach den Regeln der Physik immer geschehen musste, wenn ein bewegliches Objekt auf eines traf, das nicht in Bewegung war. Die Regeln der Physik waren noch unbarmherziger als die Antherion die sie angriffen. Gabhan wurde von den Füßen gerissen, flog im hohen Bogen durch die Halle und prallte gegen eine nahe Wand. Er fluchte beim Aufprall, fluchte ein zweites Mal, als er auf dem Boden aufschlug. Sterne explodierten vor seinen Augen. Sein Schwert. Wo war sein Schwert? Keine Zeit. Klauen und Zähne nährten sich ihm, blutig und geifernd vor Mordlust. Gelbe Wolfsaugen. Augen. Gabhan kämpfte sich wieder auf die Füße, da setzte das Wesen zum Sprung an, doch Gabhan drehte sich zur Seite. Beinarbeit, Schritt zurück, den Schwung nutzen. Gabhans Nietenbesetzter Handschuh donnerte mit solcher Gewalt auf das Auge des Angreifers, das er spürte, wie das weiche Gewebe unter seiner Hand nachgab. Der Hexer gab sich keinem Siegestaumel hin, sondern wirbelte herum. Wo war sein Schwert? Und wo war Atheris? Den Hexer sah er nicht, wohl aber sein Schwert, das keine zwei Schritt von ihm entfernt lag. Gabhan hechtete zu seiner Waffe, griff mit der linken danach – schloss den Griff. In diesem Moment explodierte der Schmerz in seinem anderen Arm. Schon wieder wurde er zu Boden gerissen, spürte wie spitze Zähne sich durch den Punkt seiner Armschienen bohrten, wo Ober- und Unterseite aufeinandertrafen. Das Monster schliff ihn mit sich. Gabhan spürte es. Die Unebenheit des Bodens, die Zähne des Antherion. Die Position war ungünstig. Der Winkel Schmerzhaft. Schmerz. Schmerz. Wut. Unbändige Wut. Gabhan griff das Schwert fester. Er hatte keinen Winkel um richtig Schwung zu holen – daher tat er das einzig mögliche. Mit aller Gewalt drosch er auf den Kehlkopf des Antherion ein. Einmal. Zweimal. Dreimal. Beim vierten Mal hörte er das befriedigende Knacken, das Drecksvieh ließ seinen Arm los und Gabhan wuchtete sich mit all seiner Gewalt gegen den Antherion, der winselnd zur Seite sprang. Gabhan ignorierte den schmerzhaft pochenden Arm, zog ein grünes Fläschlein aus seinem Gurt und leerte es in einem Zug. Der Schmerz verklang vollends und die Mordlust nahm überhand. „Kommt her…“ knurrte er, und hob die Klinge. Wo Atheris gerade war wusste er nicht. Aber das war ihm auch egal. Er sah die beiden Antherion die ihn bislang angegriffen hatten langsam auf ihn zu pirschen. Der eine auf allen Vieren, der andere hoch aufgerichtet auf zwei Beinen, wie ein Mensch.
Der Antherion kam mitten durch die Wand gesprungen – wobei Wand falsch war, es war eine Illusion. Gabhan fing den Prankenhieb mit seiner Klinge im letzten Moment ab, wurde aber bei dem Aufprall durch die Luft geschleudert. Atheris brachte sich mit einer Flugrolle nach rechts aus der Flugbahn, um nicht auch noch mit seinem Zunftbruder zu kollidieren. Mitten im Sprung sah der Nilfgaarder die Wand auf sich zu kommen, er hatte sich kräftig abgedrückt und nun bereitete er sich auf den Einschlag mit der Wand vor, aber es gab keinen Widerstand und er schlitterte über den fast ebenen Boden. Elegant kam er wieder auf die Füße und fand sich Auge in Auge mit einem Antherion wieder. Die stechenden gelben Augen hatten ihn fixiert und er baute sich zu seiner vollen Größe auf – Das war sein Fehler! Im Tierreich gab es oft das Phänomen, dass sich die Kombattanten aufrichteten oder aufplusterten, um ihren Gegner einzuschüchtern und Überlegenheit zu symbolisieren. Furcht war eine Waffe – kein Zweifel – aber Atheris war ein Jäger und Soldat und lies sich nicht durch Gesten beeindrucken. Auch wenn er als Greifenhexer einen eleganten Kampfstil pflegte, waren kurze letale Hiebe und Stiche ein effektives Mittel einen Kampf kurz und schmerzlos – für ihn selber – zu beenden. Das Wesen, dass vor ihm stand war groß und gewaltig, aber kein Krieger. Atheris nutzte die sich ihm bietende Blöße, stieß sich vom Boden nach vorne ab und führte einen sauberen Stich in die untere Magengegend aus. Die scharfe Klinge fuhr durch die Eingeweide des Antherion und trat auf dessen Rückseite mit einem Blutschwall wieder hervor. Um nicht von den wilden, unkontrollierten Hieben getroffen zu werden, machte er einen Ausfallschritt zurück und brachte wieder Distanz zwischen sich und seinen Gegner, dessen Augen ihm in der Gewissheit seines Todes leer anstarrten. Das schmerzhafte Schreien Gabhan’s ließ ihn aufhören, er hatte keine Zeit zu warten, bis der Antherion zusammenbrach. „N’ess tedd a thu!“ – mit zwei kurzen Schritten überwand er die Distanz zu seinem Opfer, führte eine einfache Finte aus, um den letzten Verteidigungsversuch ins Leere laufen zu lassen und führte einen kräftigen Hieb gegen die Kehle des Wesens durch, dass daraufhin gurgelnd zu Boden ging. Die Schreie von Gabhan hatten aufgehört. Atheris drehte sich um und sah, wie sein Freund sich unter seinem Gegner hervorwühlte und nach seinem großen Schwert griff. Zwei weitere Antherion waren im Begriff ihn anzugreifen. Er setzte zu einem kurzen Sprint … sprang hoch in die Luft mit der Klinge über dem Kopf erhoben und lies diese auf den linken, stehenden Antherion niederfahren.
Gabhan hatte sich bereits gemacht. War auf den Angriff vorbereitet gewesen. In diesem Augenblick tauchte Atheris wieder auf – wie der verdammte Teufel aus der Kiste schoss er aus der Wand hervor und ließ sein Schwert auf den linken Antherion niedersausen, traf diesen knapp oberhalb des Ohres und trennte einen Teil von diesem ab. Der Antherion jaulte, was seinen Bruder dazu bewegte zu ihm zu sehen.
Gabhan zögerte keine weitere Sekunde, konnte nicht zögern. Durfte nicht zögern. Jeder Fehler des Gegners musste ausgenutzt werden. Gabhan richtete das Schwert nach vorne, machte drei große Schritte, ließ das Schwert kreisen, in einem Winkel, dass der Feind es sehen musste. Der Antherion hob eine Klaue um abzuwehren. Gabhan drehte das Handgelenk, leitete die Kraft und die Geschwindigkeit am Knaufende um, wechselte mitten im Angriff die Seite. Das Schwert traf. Fraß sich gierig durch Fell und Fleisch. Gabhan riss seine Waffe zurück, wirbelte sie über dem Kopf und setzte nach. Deckte den Feind mit Hieben ein. Zielte auf Arme und Beine. Der Antherion und er befanden sich in einem wilden Tanz. Hexer und Monster. Blut und Stahl. Zähne und Klauen. Ausfallschritt, Ausfallschritt. Sie begegneten einander, lösten sich. Abraisen. Ausfallschritt. Abnehmen. Der Coup misslang. Der Antherion schlug Gabhan mit solcher Wucht, dass er beinahe wieder den Boden unter den Füßen verlor. Doch er hielt sich, machte eine knappe Drehung zur Seite. Wenige Bewegung. Nichts Kunstvolles. Kurze Bewegungen. Knapp. Tödlich. Erneut setzte der Antherion an und Gabhan machte einen Schritt zur Seite, stieß den Knauf des Schwertes mit aller Gewalt nach vorne, traf seitlich am Hals. Der Antherion winselte, machte einen halben Schritt zur Seite und fiel zuckend zu Boden. Gabhan wirbelte herum, sah wie Atheris von seinem Antherion bedrängt wurde und streckte die Hand aus – ein Blitz. Ein Zischen. Ein Ball aus Feuer schoss förmlich aus seiner Hand und traf den Antherion in das trockene Fell, dass wie Zunder Feuer fing.
„Sheyss!“ schrie Atheris noch in der Luft, als sich sein Ziel abrupt zur Seite Wand und er anstatt den Kopf zu spalten nur das Ohr vom Kopf trennte. Er hätte es besser wissen müssen, zu stürmisch und ungeduldig war der Angriff gewesen. Zumindest konnte er aus dem Augenwinkel sehen wie Gabhan den Moment der Ablenkung nutzte und den zweiten Angreifer unter Druck setzte. Er rollte sich über die Schulter ab und wendete sich sofort seinem Gegner zu – und das keinen Moment zu früh. Rasend vor Wut setzte das Wesen zum Sprung auf ihn an und er schaffte es gerade noch das Zeichen ‚Quen‘ zu wirken. Der Schild baute sich augenblicklich auf und schützte Atheris vor dem Aufprall. Eine wilde Kaskade aus Schlägen und Hieben trommelten auf das magische Energiefeld ein und es war nur eine Frage der Zeit, bis er in sich zusammenbrechen würde – zu schwach waren seine magischen Fähigkeiten um länger Stand halten zu können. Um einer unkontrollierten Implosion des Schildes zuvorzukommen, entzog Atheris dem Quen-Zeichen in einem günstigen Augenblick die Energie, was zur Folge hatte, dass der mächtige Hieb des Antherion ins Leere ging und dieser sein Gleichgewicht verlor. Blitzschnell ließ der Nilfgaarder seine silberne Klinge nach vorne zucken. Mit einem gellenden Aufschrei quittierte dieser den tiefen Schnitt, den die Klinge in seiner Schulter hinterlassen hatte. Mit blutigem Schaum vor dem Mund setzte das Monster wieder mit einer Kaskade an Schlägen und Hieben ein. Atheris Klinge war schnell, aber die Kraft die hinter den Angriffen steckte war gewaltig. Ein Rhythmus konnte er in den wilden, unkontrollierten Bewegungen nicht ausmachen. Tänzelnd bewegte sich Atheris rückwärts von seinem Gegner weg und versuchte alles, um diesen auf Distanz zu halten. Es gelang ihm immer wieder kleine präzise Wunden zu schlagen, mal am Handrücken, mal am Oberarm oder an der Hüfte, aber eine ernsthafte Ausfallmöglichkeit bot sich ihm nicht, zumindest keine, bei der er nicht selber schwerste Verletzungen befürchten musste. Der Kampf dauerte länger als ihm lieb war, die meisten Gefechte die er bestritten hatte, waren nach wenigen Hieben beendet … aber nicht dieser. Aus dem Augenwinkel sah Atheris, wie Gabhan ein Igni-Zeichen wirkte und der Feuerball seinem Gegenüber den Pelzverbrannte. Der brennende Schmerz sorgte dafür, dass der Antherion jedwede Deckung aufgab und Atheris sich die Blöße in Ruhe aussuchen konnte. Mit drei schnell geführten Hieben war das Wesen von seiner Qual erlöst und sackte leblos zu Boden.
Der Gestank nach verbrannten Haaren und verkohltem Fleisch stieg Atheris in die empfindliche Nase und der Qualm brannte unangenehm in den Augen. Erinnerungen an die Schlacht von Sodden kamen in ihm auf – Erinnerungen, wie er schwer verletzt unter den verkohlten Leibern seiner Freunde und Kameraden geborgen wurde…es war ein Massaker gewesen, was die Magier auf der Anhöhe unter den angreifenden Truppen Nilfgaards angerichtet hatten. Atheris schüttelte die Erinnerung ab, das war Vergangenheit, er hatte im hier und jetzt etwas zu erledigen, das seine ganze Konzentration erforderte. Er schritt hinüber zu Gabhan, der ziemlich übel zugerichtet aussah. „Danke dir, Gabhan!“
„Dank mir später,“ knurrte der Bärenhexer, während er sich seinen blutigen Arm besah und das Gesicht verzog. Ein paar Wunden und Narben mehr, darauf kam es nun wirklich nicht mehr an. Der Arm pochte unangenehm, aber die Zähne schienen nicht so tief eingedrungen zu sein, wie er zuvorderst befürchtet hatte. „Scheint so, als ob die felligen Arschlöcher nicht sehr scharf drauf wären mit uns zu verhandeln, was?“ er schüttelte den Kopf. Das sie bisher so gut durchgekommen waren war reines Glück gewesen. Antherion waren furchtbare Gegner – aber diese hier waren jung, unerfahren und nicht kampferprobt. Wenn doch… Gabhan wollte nicht darüber nachdenken was geschehen wäre, wenn die Dinge anders lagen.
„Wir werden tiefer hineinmüssen. Da wo die herkommen gibt es noch mehr – schau nicht so, ist nur eine Fleischwunde. Gehört haben sie uns sowieso, der Blutgeruch wird es nicht noch schlimmer machen. Wir können es sogar zu unserem Vorteil nutzen…“ Gabhan wartete gar nicht mehr auf Atheris, sondern marschierte stoisch voran, zog seinen Arm über die nahe Wand, trat durch die Illusion und verteilte weiteres Blut im Gang. Blutgeruch überall. Blut. Geruch. Selbst Gabhans empfindliche Nase konnte sich bereits verwirren lassen. Es wäre kein großer Vorteil, die Antherion rochen bestimmt noch besser als er, konnten mehr Nuancen unterscheiden. Aber ein Anfang war getan. Manchmal benötigte es nicht mehr als einen Anfang um ein Ende setzen zu können. „Kommst du? Oder muss ich dich tragen?“
Kapitel 11 – Zeit der Opfer
Atheris folgte seinem Zunftbruder durch die Illusion und dem dahinterliegenden Gang. Der Gang endete in einer breiten Wendeltreppe, die sie nach unten führte. Es roch nach Blut, Gabhan’s Blut und Atheris machte sich erneut Sorgen um seinen Freund. Bärenhexer waren bekannt dafür, robuste Kerle zu sein, die einiges aushielten. Aber Gabhan hatte erst vor einer Woche eine schwere Verletzung kurieren müssen und es schien nicht so, dass er sich davon bereits komplett erholt hatte. er ließ sich aber nichts anmerken und schritt Runde um Runde die Treppe hinab, bis sie endlich nach vielen Höhenmetern und noch mehr Stufen einen Gang erreichten, der sie vor ein steinernes Tor führte, auf welchem das Antlitz eines Yaguaru abgebildet war. Die Tür war geöffnet, weit genug, dass sich ein Antherion hindurchzwängen konnte. „Klauenspuren!“ meinte Atheris, als er sich den Rahmen der Tür genauer anschaute. „Sie haben die Tür gewaltsam geöffnet!“ knurrte Gabhan zustimmend. Vorsichtig schoben sich die beiden durch den Spalt und folgten einem weiteren kurzen Gang, der sie zu einem Vorsprung führte. Vor ihnen öffnete sich eine große unterirdische Höhle, die durch lumineszierende Pilze erleuchtet wurde. Quer durch die Höhle verlief ein Fluss, der durch einen Wasserfall auf der anderen Höhlenseite gespeist wurde. In der Mitte erblickten die beiden eine kleines mit Säulen gesäumtes Gebäude, aus dem geöffneten Eingang leuchtete ein Licht.
„Drei Mal darfst du raten, wo sich das Ende dieses kleinen Abenteuers befindet,“ flüsterte Gabhan, während er langsam den abschüssigen Hang hinabging. Der Fluss rechter Hand plätscherte für Gabhans Meinung viel zu fröhlich und der Hexer blieb schließlich stehen. Schien für einen Moment zu überlegen. Dies war ein Moment der Entscheidungen. Eine Entscheidung weshalb sie hier waren und ob es das wert war. Was war schon irgendetwas wert? Es war nicht ihre verdammte Schuld, dass die Yaguaru und die Menschen sich vor Jahrhunderten bekriegt hatten – es war nicht ihre Schuld, dass die jungen Idealisten des Dorfes diesen Kampf wiederaufnehmen wollten. Es war nicht ihre Angelegenheit – sie waren wegen etwas Anderem hier. „Atheris,“ Gabhan wandte sich zu dem anderen um, währen der in seiner Tasche kramte. „Hast du noch etwas von dem Eisensulfid übrig?“ der Bärenhexer zog eine Kartätsche aus der Gürteltasche und zog den Stopfen, in welchem auch die Zündschnur steckte. „Und wenn du jetzt noch Sturmhut oder direkt Lyoconitin hast, dann bist du mein persönlicher Held.“
Atheris blickte zu dem kleinen Gebäude und musste Gabhan Recht geben, ihre Suche würde vermutlich hinter der geöffneten Tür auf die eine oder andere Weise Enden. Atheris zog das kleine Gefäß mit dem Eisensulfid hervor und blickte auf den kläglichen Rest. „Viel ist es nicht mehr, aber einen kleinen Vorteil könnte es uns verschaffen!“ sagte er und reichte Gabhan das kleine Fläschchen. Gelber Sturmhut oder Wolfswürger wie er auch genannt wurde, war die giftigste Pflanze die Atheris kannte, leider auch inzwischen nicht mehr so häufig zu finden. „Tut mir leid, Gabhan – Sturmhut habe ich leider keinen bei mir. Ich habe mich vor einiger Zeit an Argentia probiert und noch eine Probe dabei. Als Klingenöl gegen Werwölfe soll es wahre Wunder vollbringen – ob es gegen Antherion ebenfalls wirkt, kann ich nicht sagen. Valerian warnte mich nur davor, es auf Stahlklingen aufzutragen!“
„Du hast Mondöl?“ hakte Gabhan ungläubig nach und betrachtete den größeren Hexer ungläubig. Diese verdammten Greifen hatten offenbar Zugang zu mehr seltenen Ingredienzien als er angenommen hatte. Doch hier und jetzt mochte ihnen dieses unverschämte Monopol zum Vorteil gereichen. „Ein Versuch ist es zumindest Wert. Doch denk daran, wir haben nur diesen einen Versuch – nur einen einzigen. Alles was danach kommt,“ er musste nicht weiter ausführen was danach kam. Es war ihnen beiden bewusst – zumindest hoffte Gabhan dies inständig, aber Atheris war kein Frischling mehr. Er wusste welche Gefahren hier lauerten. „Wenn du Tränke nehmen willst, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür…“ er selbst griff in seine Tasche und zog zwei weitere Tränke hervor. Donner hatte er bereits intus – was immer dort lauerte… mit einem selbstmörderischen Grinsen setzte er die beiden anderen kleinen Flaschen gleichzeitig an und trank. Er keuchte, krümmte sich, als das Gift durch seine Venen floss. Er packte die beiden Flaschen mit der Aufschrift „Würger“ und „Vollmond“ fort, unterdrückte das Zittern das sich einstellte, legte den Kopf in den Nacken, während sich seine Venen dunkel färbten. Dann blickt er zu Atheris. Er spürte wie sein Körper aufbegehrte, wie sein Herz raste und klopfte, seine Lungen Luft pumpten, glaubte seine Pankreas selbst zischen zu hören. „Los geht’s…“ knurrte er und entzündete die Kartätsche, nahm Schwung – und warf.
Atheris betrachtete den Trank in seiner Hand ‚Donner‘ – was würde ihm Meister Valerian für den bevorstehenden Kampf raten, schoss es ihm durch den Kopf. Er zögerte einen Moment und schaute Gabhan zu, wie dieser die Kartätsche nahm und in einem hohen Bogen durch die geöffnete Tür warf. Schnell ließ er den Trank in seinem Beinholster zurück gleiten – er hatte sich entschlossen mit klarem Kopf dem Ende entgegenzutreten.
Mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte das Wurfgeschoss im Inneren des Gebäudes und kaum einen Wimpernschlag später stürmten die beiden Zunftbrüder durch die Tür. Atheris erblickte sofort mehrere Antherion, die sich vor Schmerzen am Boden wälzten und versuchten, die behandelten Splitter aus ihrem Fell zu bekommen. „Ich nehme die rechte Flanke!“ schrie Atheris und stürmte auf den ersten Gegner zu. Mit etwas Glück konnte er einen von ihnen schnell erlegen, bevor sie wieder bei Sinnen waren.
Staub. Der Geruch nach Eisen, Blut und zersplittertem Stein. Gabhan glaubte alles in Zeitlupe zu sehen, während er durch den Eingang marschierte. Seine Schritte hallten auf dem einst polierten Marmor wider, der nun zersprungen und gerissen war. Die Antherion lagen auf dem Boden. Blut verklebte ihr Fell, welches ob des Eisensulfats dampfte und zischte, tiefe Wunden brannte. Tod. Tod überall. Für einen kurzen Augenblick wurde ihm schlecht, ehe seine Instinkte wieder übernahmen. Er trat an einem auf dem Boden liegenden Antherion vorbei und trat ihn mit aller Gewalt mit dem Stiefelabsatz. Einmal. Zweimal. Dreimal. Knochen knackten. Blut verteilte sich auf dem Boden. Der zweite noch auf dem Boden kriechende Antherion wurde mit einem einzigen schnellen Hieb durch den Hals von schräg oben von seinem Leiden erlöst. Blut. Der Geruch von Blut und von Tod. Tod. Tod überall. Er sah in die Augen eines weiteren Antherion, der rückwärts kroch, ein nur noch an einzelnen Sehnen hängendes Bein hinter sich herziehend. Er sah die Angst in den Augen des Monsters. Angst in den Augen eines Jungen. Angst in den Augen eines Jungen. Ihre Angst in den Augen. Diese Augen. Für einen kurzen Moment, den Bruchteil einer Sekunde hielt Gabhan inne. Zögerte. Er, der niemals zögern durfte.
Der Antherion riss sich eine lange Kette vom Hals – knurrte etwas in seiner kehligen Sprache. Es war sein Medaillon, dass Gabhan aus der Starre riss, indem es an seinem Hals zog und zitterte. Er sprang nach vorne, trennte den Kopf von den haarigen Schultern. Dass es zu spät war wusste er, noch ehe er das Geräusch des gewaltigen Sargdeckels im hinteren Teil des Raumes vernahm, der krachend zu Boden fiel.
Atheris wandelte durch die Reihen der am bodenliegenden Yaguaru wie der personifizierte Tod. Er hätte nie gedacht, dass die Kartätsche eine so verheerende Wirkung haben würde, aber so hatte er ein einfaches Spiel. Zwei präzise Streiche mit der scharfen Klinge beendete das Leiden der ersten Beiden. Ein Dritter versuchte sich Atheris in den Weg zu stellen – schnell formte er das Zeichen Aard und lies mit einer kurzen Bewegung seiner linken Hand die Druckwelle gegen die bereits zittrigen Beine des Wesen fliegen. Unsanft landete es wieder auf den zerstörten Marmorplatten und Atheris trieb ihm die Klinge von hinten ins Genick. Ein knurren erweckte seine Aufmerksamkeit und er wendete sich in Richtung des Sarges, der in der Mitte des Raumes stand. Zuerst sah der Nilfgaarder die beiden weißen Klauen, die sich auf dem Sarg platzierten, dann den großen Kopf mit den roten Augen und schließlich das riesige Maul. Mit einem Satz sprang der riesige Antherion auf den Sarg und lies wie vor einer Woche einen lauten Schrei von sich. Atheris Hand schloss sich eng um den Griff seines Schwertes und erhob es, bereit es mit dem Großen aufzunehmen.
Er konnte nicht sagen, woher auf einmal der große Dolch in der Hand des Antherion auftauchte, aber er erinnerte ihn stark an den Dolch, mit dem der Mensch im Gemälde hinterhältig Maeven gemeuchelt hatte. In dem Moment als Atheris seinen Angriff starten wollte, hob das Wesen die Hand und in einer flüssigen Bewegung stieß es sich die Waffe bis zum Anschlag in eigene Herz. Mit einem zweiten, wilderen Brüllen, riss er die Klinge aus seiner Brust und das Blut ergoss sich über den Sarg. Nur einen Moment später, spürte Atheris, wie sein Medaillon wie verrückt an der Kette um seinen Hals anfing zu ziehen. Und für einen Moment dachte Atheris, dass sein Herz aufhören würde zu schlagen. Langsam hob sich der Sargdeckel und er sah eine riesige Pranke – viel größer und älter als die des Weißen. Das Maul war wie aus einem Albtraum entsprungen und die stechenden Augen, die ihn nun fixierten, waren die Augen der Hölle. Langsam erhob sich das Wesen, das einst Maeven gewesen sein mochte aus seinem Grab und baute sich zur vollen Größe auf. „A d’yaebl aép arse!“ entfuhr es Atheris mit einem stöhnen.
Gabhan wäre beinahe ein irres Lachen entfleucht, als er sah wie das riesige Wesen sich vor ihm aufbaute. Die Muskeln verwest und doch ganz offensichtlich funktionsfähig. Ihre Augen wild und voller Mordlust – und doch war dort etwas Anderes. Das Echo einer Königin. Eine Königin, die ihr Volk selbst noch im Tod beschützen wollte. Das da vor ihnen war keine Antherion mehr. Wenn Gabhan es hätte klassifizieren wollen – und das hatte er in diesem Moment nicht vor – dann war sie wohl eine Draug. Oder etwas Ähnliches. „Du bist wunderschön,“ flüsterte Gabhan fasziniert von dem Wesen, welches nun ganz aus dem Sarg stieg. „Eine Schande…“ das war es. Eine Schande. So viele Dinge waren verloren gegangen im Staub der Zeit und sie würden nun dafür sorgen, dass auch der letzte Rest verloren ging. Entweder das, oder man konnte sie selbst im Sand der Jahrhunderte begraben finden.
Gabhan ließ das Stahlschwert noch einmal durch die Luft sausen, genoss den Klang der Klinge, das Schlagen seines Herzens in der Brust. Er atmete tief ein und aus. Ein. Und aus. Dann hob er erneut den Blick, ließ ihn über Atheris schweifen, der seinen Anderthalbhänder fester griff und festigte seinen eigenen Stand. Atheris hatte einen guten Winkel. Eine gute Position. Langsam beugte sich Gabhan hinab, griff in seinen Stiefelschaft, umgriff das kühle Metall dort fester während er sich aufrichtete. Die Zeit verging so langsam. So unendlich langsam. Sein Blut pulsierte schmerzhaft in seinen Adern, während seine Nieren den Marsch der Verdammnis pfiffen, noch immer darum bemüht das Gift zu verarbeiten. Er drehte das Stück Metall, dann sirrte es los – traf Maeven mitten in die Schulter und die gewaltige Kriegerin wandte sich schnell wie ein Gedanke zu Gabhan um. „Ganz genau Hundsfott. Komm und hol mich!“ dann stürzte sich der Antherion auf den Bärenhexer.
Atheris spürte, wie das Adrenalin endgültig in seinen Adern zu kochen begann, er spürte wie Energie durch seinen Körper schoss. Systematisch suchten seine Augen nach Schwachstellen in dem Wesen, dass an Hässlichkeit kaum zu überbieten war. Es mochte einst eine Königin oder Kriegerin ihres Volkes gewesen sein, aber dies hier war nichts mehr von alle dem. Ein untotes Wesen, das durch eine makabreres Ritual aus dem Staub der Zeit zurückgeholt worden war, um den alten Glanz vergangener Zeiten wiederzubringen.
Aus seinen Augenwinkeln sah Atheris wie etwas in Gabhans Hand den Schein der Kerzen spiegelte und nur einen Augenblick später steckte das Messer in der Schulter des Monsters. Blitzschnell wendete sie ihre Aufmerksamkeit auf Gabhan – und Atheris rannte los. „Se’ege na tuvean!“ brüllte Atheris, sprang auf den Rand des steinernen Sarges, drückte sich mit aller Kraft empor, gewann an Höhe, zielte mit seinem Schwert auf das Genick des Wesens und lies die Klinge mit aller Kraft die ihm zur Verfügung stand niederfahren. Er spürte, wie der gewaltige Hieb durch verrottetes Fleisch und altes Gewebe schnitt und tief in den Nacken von Maeven eindrang – jedem anderen Antherion hätte dieser Treffer das Leben genommen, aber was tot ist, kann nicht sterben und so konnte Atheris nicht verhindern, dass sein Freund mit der vollen Wucht des riesigen Körpers angegriffen wurde.
Gabhan hätte Atheris gerne noch einen Idioten genannt. Hätte ihm gesagt, dass er ihm persönlich die Zunge rausschnitt, wenn er noch ein einziges Mal mit irgendeinem Kampfschrei angriff, der den Gegner auch noch warnte. Doch dazu kam es nicht mehr. Maeven riss ihn mit sich, pflügte durch dutzende von hölzernen Bänken und Gabhan spürte jede einzelne von ihnen unter sich bersten. Sein Kettenhemd und der hohe, gesteifte Kragen seines Lederharnischs verhinderten schlimmere Verletzungen an Wirbelsäule und Nacken, aber auf mehr konnte er auch nicht hoffen. Die Wand war es, die sie gemeinsam stoppte. Gabhan war froh um den harten Gegenstand im Rücken, der es ihm ermöglichte weiterhin aufrecht stehen zu bleiben.
Er sah auf. Auge in Auge mit Maeven, ihren gewaltigen Augen. Ihrem fauligen Atem. Gabhan schmeckte Blut in seinem Mund und grinste. Dann spuckte er Maeven das Blut mitten ins Gesicht. Maeven brüllte auf – als der Trank Würger sein Werk tat. Das Gesicht der Wolfskönigin warf Blasen und wie von Sinnen schlug sie um sich, gab Gabhan genug Zeit sich zur Seite zu Werfen und dem nächsten, tödlichen Angriff zu entgehen. Er kämpfte sich wieder auf die Beine. Schwäche. Irgendwo musste das Wesen eine Schwäche haben. Dann erkannte er die lange Wunde am Hals Maevens, die durch all die Jahrhunderte ledern geworden war. Erkannte den Leichnam des großen Weißen Antherion und den Dolch dort. Natürlich. „Atheris! Der Dolch!“ brüllte er, in der Hoffnung, dass der Andere verstand.
Atheris war den beiden Kombattanten durch die Reihen der Bänke gefolgt und als Maeven den Bärenhexer an die Wand nagelte, packte er das Biest von hinten in die Mähne, und schaffte es im letzten Moment ihren Kopf nach hinten zu reißen, so dass ihre scharfen Fänge Gabhan nicht zerfleischen konnten. Atheris sah nicht, was sein Zunftbruder tat, aber er hatte offensichtlich Erfolg gehabt, denn mit einem Aufschrei löste Maeven ihren Griff und schlug wild um sich. Dem ersten Prankenhieb, der wild durch die Luft wirbelte, konnte er noch mit einem Sprung nach hinten ausweichen. Den zweiten Schlag konnte er nur noch mit einem Quen-Zeichen blocken, in das Atheris aber nicht mehr genug Energie fließen lassen konnte und es damit zwar die Kraft des Schlages milderte, der Schild aber implodierte und ihn weit durch die Luft fliegen lies. Unsanft landete er zwischen den zerstörten Bänken. Für einen kurzen Moment musste er nach Luft schnappen und konnte die aufsteigende Gallenflüssigkeit gerade noch so unterdrücken. Er hörte über das Gebrüll von Maeven hinweg die Stimme Gabhan’s, er hatte ihm etwas zugerufen, aber was? Er folgte dem Blick des Bärenhexers zu den sterblichen Überresten des weißen Antherion – und dann wurde ihm klar, was sein Zunftbruder meinte, „natürlich … der Dolch!“ erkannte Atheris. Fluch ist Fluch und wie er von seinem Meister Valerian gelernt hatte, konnten die meisten Flüche durch Artefakte, die den Fluch ausgelöst hatten auch wieder beendet werden. Atheris kämpfte sich zurück auf die Beine, er war deutlich näher am Sarg und so begann er seinen Sprint.
„Sheyss!“ entfuhr es Atheris, als er sah, wie Maeven von Gabhan ab lies und auf allen vieren sich ihm rasch näherte und aus dem kurzen Sprint ein Rennen auf Leben und Tod wurde. Er würde es nicht rechtzeitig schaffen, wurde ihm wenige Momente später klar, das Biest war verdammt schnell und würde ihn in wenigen Sprüngen eingeholt haben. Er sprang und streckte dabei seinen linken Arm nach vorne und … dann geschah alles ganz schnell. Bevor er den Dolch berühren konnte, schlossen sich Maeven’s Klauen um Atheris Hüfte und rissen ihn brutal aus seiner Flugbahn. Seinem so nahen Ziel beraubt verzweifelte der Greifenhexer für einen Moment und sah dann nicht weit entfernt Gabhan auf sie zu rennen. In einem letzten Geistesblitz formte er mit den Fingern das Zeichen Aard und entfachte eine unkontrollierte Druckwelle in Richtung des Dolches, der da frei vor ihm auf dem Boden lag. Das letzte was Atheris sah, war wie der Dolch zu Gabhan rutschte, dann wich seine freie Sicht und es umfing ihn eine stinkende Mischung aus Fellresten, Hautfetzten, scharfen Klauen und Reißzähnen … und unmenschlicher Schmerz!
Gabhan unterdrückte ein Fluchen. Wenn der verdammte Nilfgaarder nicht immer wieder durch lautes Brüllen auf sich aufmerksam gemacht hätte… aber es brachte ihn kein Stück weiter sich nun aufzuregen. Nicht einmal ein bisschen – und normalerweise regte Gabhan sich gerne auf. Als das Aard in seine Richtung geschossen wurde schloss er die Augen, hob die Hände und wehrte die kleinen Steinchen ab, die ihm wie Geschosse entgegenflogen und an Kettenhemd, Leder und Platte abprallten. Dann flog der Dolch nach und Gabhan versuchte ihn irgendwie aus der Luft zu schnappen, streckte die Hand aus – und knirschte mit den Zähnen, als es ihm gelang den Dolch tatsächlich im vollen Flug abzufangen. Er schnappte nach Luft und besah sich den Dolch in seiner Hand, der sich blutig durch seinen Handschuh geschnitten hatte. Blut troff von seinem Handschuh. Die verdammte Klinge war scharf wie ein Rasiermesser gewesen. Ein Bluttropfen fiel tief, tief hinab und platschte Geräuschvoll auf den Steinboden. In dem Moment drehte sich Maeven um, die Lefzen rot. „Ach komm schon…“ knurrte Gabhan.
Maeven hatte Atheris fest in ihren Pranken umschloss und die Krallen Kratzten über Stahl, zerfetzten Leder und Rüstwams und bohrten sich tief in das Fleisch des Hexers. Das Biest wollte seine scharfen Fänge in seinen Hals schlagen, aber er schaffte es zumindest soweit auszuweichen, dass das hässliche Viech nur seinen Schulterpanzer erwischte. Mit einem übelklingenden Kratzen rutschte das Maul ab. Atheris nutzte den Bruchteil eines Wimpernschlags und brachte seine Silberklinge zwischen sich und die Fänge, so dass er die scharfen Zähne hindern konnte, ihn erneut zu beißen. Mit aller Kraft drückte er gegen die Klinge und Blut begann aus den Lefzen zu fließen – konnte das Wesen überhaupt bluten? Immer wieder, wenn der Druck auf das Schwert für einen Moment nachließ, nutzte Atheris die Gelegenheit mit der linken Faust dem Vieh aufs Auge zu hauen – immer wieder und immer wieder, der Moment schien sich endlos hinzuziehen – und dann ließ Maeven abrupt von ihm ab.
Gabhan sah das riesige Wesen auf ihn zu brechen. In diesen wenigen Sekunden, jene Momente zwischen Mann und Monster entschied sich nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal das Schicksal des Hexers. Gabhan nahm einen letzten, tiefen Atemzug – vollkommen im Klaren, dass dies womöglich sein letzter sein mochte. Maeven – die große Kriegerin eines Volkes großer Krieger, deren Erben und Nachkommen um sie herum als stumme Zeugen lagen war keine zwei Meter mehr von ihm entfernt. Gabhan sah die offengelegten Muskeln unter dem vergilbten Fell arbeiten, sah wie sie sich anspannten, zum Sprung ansetzten. Und er duckte sich, wirkte das Zeichen Yrden auf den Boden und ein bläuliches Leuchten umgab ihn, Maeven segelte bereits auf ihn zu, wirkte dabei jedoch verlangsamt, als gleite sie durch zähflüssigen Pudding. Gabhan stieß mit der freien Hand den Dolch nach oben und traf Maeven am Hals. Die Wucht des Schlages riss ihm den Dolch aus den Fingern, ein Hinterlauf der einstigen Königin traf Gabhan, schleuderte ihn zur Seite und löste Yrden auf. Der Antherion krachte hinter ihnen in eine Reihe Bänke und Gabhan erhob sich, zuerst auf allen Vieren und schließlich wieder auf beide Beine, klaubte sein Schwert vom Boden und hob es erneut an, einen kurzen Blick zu Antherion werfend und jederzeit erwartend, dass Maeven doch wieder aufstand.
Atheris rappelte sich wieder auf, wobei der Schmerz seinen ganzen Körper durchfuhr. Er sah gerade noch, wie Gabhan das Yrden Zeichen wirkte und dann mit dem Dolch die Bestie erstach und weggeschleudert wurde. Er suchte nach seiner eigenen Silberklinge und fand sie einige Meter von sich entfernt am Boden liegend. Er schleppte sich zum Schwert, beugte sich hinunter, wobei ihn erneut schmerzen durchfuhren. Als er sich wieder zu Maeven wandte, sah er wie sein Zunftbruder mit gezogenen Schwert über dem Körper der Bestie stand. Schwer atmend trat ging er hinüber und baute sich neben Gabhan auf und betrachtete den leblosen Körper. Wobei, was hieß leblos … hatte er überhaupt gelebt? „Ist es vorbei, Gabhan?“ gab er erschöpft von sich.
Gabhan wartete noch einige Augenblicke ab, musterte den Körper der Königin, die sich jedoch nicht mehr rührte. „Es ist seit Jahren vorbei,“ erwiderte Gabhan nur kopfschüttelnd und trat zu dem Leichnam der Antherion, wuchtete sie um und betrachtete den Leichnam. Ein weiteres Leben. Eine weitere Existenz. So stand er da, eine ganze Weile. Sein Blick wanderte über die toten Antherion, die im gesamten Tempel verstreut lagen, die Extremitäten in einer Art und Weise verdreht, wie sie niemand verdrehen sollte. Das Leben aus ihren Augen gewichen. Er sah an sich selbst herunter. Er war schmutzig, staub hatte sich in sämtlichen Poren von Kleidung und Haut festgesetzt, schweres, beinahe dunkles Blut triefte aus tiefen Wunden und tropfte mit lautem Zischen auf den Boden, wo es sich brutzelnd in den Stein fraß. Gabhan ignorierte die Nebenwirkungen von Würger, ignorierte den Schmerz und die Müdigkeit. Er hatte kein Recht darauf.
„Hilf mir,“ er packte Maeven an den Füßen und zog die Königin langsam aber sicher in Richtung ihres Sarges. Er trat zum Sarg, sah hinein in das Grab, das ihr ewiges hatte sein sollen und schnaubte. Beugte sich hinab. Zog fünf Runensteine mit glänzend-leuchtenden Zauberzeichen und betrachtete sie einen Augenblick. „Jetzt ist sie schon ein zweites Mal aufgrund dieser kleinen Dinger gestorben,“ murmelte er leise und hielt einen kurzen Augenblick inne. Dann, erst dann, ließ er die Steine in seine Tasche gleiten. Es änderte nichts mehr, redete er sich selbst ein. Es machte keinen Unterschied mehr, ob er sie nun mitnahm oder hierließ. Ihm würden sie mehr nutzen als der toten Königin. Hier gab es nichts mehr zu holen. Weder für ihn, noch für die Anhänger einer Königin, die genauso tot war wie ihr Volk. „Wir sollten die Leichen aufreihen,“ die Worte kamen nur langsam, zögerlich und vor allen Dingen schwerfällig aus ihm hervor. „Maeven in den Sarg und ihre Anhänger vor dem Sarg in einer Reihe aufgereiht. Als ihre Totenwache. Das ist das Einzige, was wir noch für sie tun können…“ woher dieser Gedanke kam wusste Gabhan nicht, aber er hatte etwas Tröstliches an sich und es erinnerte ihn an die eigenen Begräbnisriten seiner Heimat. „Sie sollte nicht alleine hier liegen, im Dunkeln und vergessen von der Welt…“
Gabhan spürte Atheris Blick auf sich ruhen, der von Zweifeln sprach. Der Bärenhexer ignorierte die Blicke und begann selbst mit der Arbeit und da Atheris am Ende des Tages sehen musste, wie viel Mühe sein Zunftbruder hatte, so half er ihm doch mit seinem anachronistischen Vorhaben. Gabhan wusste, dass Atheris nicht verstehen konnte. Wie auch? Der andere blickte immer nur nach vorne – sein Optimismus und der Glaube an eine gerechte Welt war nur so zu erklären. Niemand, der auch nur einen Blick zurück warf in die Geschichte aller Völker konnte der Meinung sein, dass einfach alles gut wurde. Und da Atheris nicht zurückblickte hatte er keine Möglichkeit das zu sehen, was Gabhan sah: Die Schönheit eines Ortes, der längst vergangen war. Den Mut einer Königin, die für ihr Volk den Tod selbst überlistete, dessen dunkle Majestät über jedem schwebte und der nun, dank ihrer Taten erneut Einzug gehalten hatte in diese Hallen. Gabhan machte sich nichts vor, während er den schweren Leib der Kriegerin in ihren Sarg wuchtete. Der Tod dieser Antherion war unvermeidlich gewesen. Ihr Todesurteil in jenem Moment unterzeichnet, da sie sich entschlossen hatten aus den Schatten zu treten, die sie beschützt hatten. Sie wären wie ein Sommergewitter unter die Menschen gefahren. Heftig, und kurz. Sie wären vorbeigezogen, hätten Verwüstung angerichtet, aber letztendlich hätten sie die Menschen damit nicht aufgehalten. Es wäre nur noch mehr Blut vergossen worden. Das Blut unschuldiger Menschen, die genauso wenig mit diesem Konflikt zu tun hatten wie die Antherion, die sich für uraltes Unrecht rächen wollten. Und es wären Hexer gerufen worden. Am Ende hätte seine Klinge sie getötet. Es war ihre Entscheidung zu den Monstern zu werden, für die die Menschen sie hielten. Es war seine Entscheidung sie aufzuhalten ehe sie es tun konnten. Es war ihre Bestimmung gewesen zu sterben. Es war seine Bestimmung sie zu töten. Und dennoch – Gabhan wusste, oder ahnte zumindest, welches Erbe sie hier vernichtet hatten. Atheris schien dies bedeutend weniger zu kümmern, wenn er überhaupt darüber nachdachte. Gabhan konnte es ihm nicht verübeln, auch wenn er es nicht nachvollziehen konnte. Gerade, weil der andere so deutlich gefühlsduseliger war als er selbst…
Gabhan wischte sich die letzten Reste jener Flüssigkeit, die der Kampf gefordert und produziert hatte an seinem Gambeson ab und ließ noch einmal seinen Blick über die Toten und Gefallenen gleiten, ehe er langsam nickte. „Es ist Zeit zu gehen.“
Gegenwart – Zeit der Versöhnung
Der Rückweg gestaltete sich alles andere als einfach. Mit den zum Teil schweren Verletzungen, die sich die beiden Hexer im Kampf zugezogen hatten, war es eine Tortur das Seil zur Öffnung im Gewölbe hochzuklettern, aber letztendlich schafften sie es und traten mit den erbeuteten Runen den Weg zurück zum Dorf an. Die Bewohner verdienten es, die Wahrheit über die Ereignisse zu erfahren, da waren sich Gabhan und Atheris einig. Atheris merkte, wie Gabhans Stimmung seit dem sie Maeven besiegt hatten ziemlich bedrückt war. Ja, er war sich darüber bewusst, dass sein Zunftbruder viele Dinge anders sah als er selbst. Für Atheris war die Königin schon vor Jahrhunderten gestorben und dass was sie in der Gruft erlegt hatten eine Abnormalität, eine Perversität, die der Schöpfung ins Gesicht lachte.
Als sie endlich den befestigten Weg erreichten, saß Atheris auf den schwarzen Hengst auf und ließen sich von dem treuen Tier zurück zum Dorf tragen. „Was machen wir jetzt mit den Runen? Kennst du einen Schmied in der Nähe, der sie verarbeiten kann?“ fragte Atheris seinen Zunftbruder.
Gabhan, der bislang schweigend neben Atheris hergetrottet und in seinen eigenen Gedanken versunken war blickte schließlich auf und wandte sich zu Atheris. „Runen sind eine verteufelt schwierige Angelegenheit. Viele Schmiede können sie auf ein Schwert draufdängeln als gäbe es kein Morgen – aber die, die wir hier gefunden haben? Sie sind alt, lassen sich nur schwer verarbeiten und sind sehr machtvoll. Ich habe da jemanden zur Hand, aber sie ist weit fort und kostet mich eine gute Stange Geld. Geld, das ich nicht habe. Noch nicht…“ er schluckte, dachte nach.
„Ich habe in letzter Zeit mehrere Aushänge gesehen,“ überlegte er schließlich laut. „Und da du hier bist um noch etwas Erfahrung in Hexerarbeit zu bekommen – und ich das Geld gut gebrauchen kann, könnten wir uns an gutes, altes Hexerwerk halten“ befand er. Denn wenngleich sie dort unten auch ein Monster erschlagen hatten – das war alles weit entfernt von einem guten Job gewesen. Sie hatten keine Vorbereitung gehabt, keine Nachforschungen, keine speziellen Tränke. „Das eine ist relativ in der Nähe – irgendein nilfgaardischer Adliger hat wohl ein Fluchproblem. Das andere weiter im Norden. In Temerien, oder das was davon übrig ist – dort verschwinden Menschen im Wald.“
Atheris überlegte einen Moment – Temerien war seit fünf Jahren ein Teil des Kaiserreichs Nilfgaard … auch wenn es viele nicht wahrhaben wollten und dem alten König Foltest nachtrauerten. Gabhan interessierte Politik nicht und Atheris wollte auch nicht mit ihm darüber diskutieren … Zeiten ändern sich nun mal und es war an ihnen, die im hier und jetzt lebten, das Beste daraus zu machen. „Ich finde es hört sich beides gut an! Ich bin dabei“ antwortete er und lächelte dabei – er freute sich auf einen Besuch in der Heimat. „Der Auftrag mit dem Adligen, ist das zufällig in Toussaint?“ fragte er den Bärenhexer.
Gabhan blinzelte. „Nein,“ erwiderte er leise. Es gab da durchaus einen nilfgaardischen Adligen in Toussaint mit einem Fluchproblem soweit Gabhan wusste, aber dieser Auftrag wäre weit schwieriger an Land zu ziehen. Er konnte bereits Atheris Enttäuschung in den Augen aufblitzen sehen. „Er ist hier in Cintra. Wie gesagt, in der Nähe…“ diese Enttäuschung in den Augen. Gabhan knirschte mit den Zähnen. „Aber wir können vielleicht… wenn wir, dass alles erledigt haben möglicherweise… nach Probleme in Toussaint sehen.“
Es war nur ein kurzer Moment der Enttäuschung, aber er war nun mal nicht zum Vergnügen hier. „Also abgemacht, die zwei Aufträge und dann nach Süden…nach Toussaint. Du wirst es im goldenen Herbst lieben, Gabhan!“
Sie erreichten das Dorf kurz bevor die Sonne den Horizont berührte. Als die Dorfbewohner die Rückkehr der beiden Hexer bemerkten, bildete sich ein Tross, der den beiden zum Zentrum folgten, dort wo der Gasthof lag. Sie schritten durch das Tor, über dem das Schild mit dem Hund sich im Wind wiegte. Der Dorfälteste, Katharina und viele mehr erwarteten sie. Als sich alle um die beiden Zunftbrüder versammelt hatten, trat der Alte vor. „Wie ich sehe, seid ihr noch am Leben … wenn gleich sehr mitgenommen. Erzählt, wie ist es euch ergangen?“
„Kann’s kaum erwarten,“ knurrte Gabhan auf Atheris Lobpreisungen des goldenen Herbstes. Die Sommer seien ihm wohl zu warm, doch der Herbst könnte womöglich sogar sein Herz berühren – das hatte Grazyna von Strept gesagt. Gabhan wusste, dass die Zauberin in Toussaint ihn erwarten würde, selbst wenn er keine Kunde seiner Ankunft verlauten ließ. Doch das Wiedersehen zögerte er nur allzu gerne heraus. Besonders in Anbetracht der Tatsache, dass sie ihn hier in Cintra beinahe in sein Verderben hatte laufen lassen.
Als sie schließlich das Gasthaus betreten und zwei Krüge – einer mit Wein, den anderen mit Quellwasser, vor sich hatten begann Gabhan zu erzählen. Die Bewohner des Dorfes verdienten die Wahrheit. Verdienten es zu erfahren was geschehen war und was nunmehr geschehen würde – oder auch nicht, denn mit dem Tod der jungen Antherion, der Vernichtung Maevens und der Zerstörung von aufkeimender Rebellion war dieses Kapitel in ihrer Geschichte nunmehr beendet. „Wir waren im alten Grab eurer Urahnin,“ seine Stimme war rau; heiser vom Schreien und dem Staub in der Ruine und selbst das Wasser konnte nur wenig dazu beitragen dieses Gefühl zu vertreiben. „Wir haben sie gesehen, die Wandfresken und Bilder. Haben gesehen wie die Menschheit Verrat an eurer einstigen Königin geübt haben. Haben gesehen, welches Sinnbild eure Jugend verehrte und haben gesehen welches Zerrbild dessen aus ihrem Sarg entstieg. Ich sehe keine Verwunderung in euren Augen. Keine Zweifel. Das dachte ich mir. Und es sagt viel aus. Sehr viel. Über euch und über euer Wissen bezüglich all dessen was geschehen ist. Ihr wusstet was dort lauert. Wusstet was es auszurichten vermag. Und ihr wusstet, welche Bedeutung sie haben konnte. Was geschehen würde, wenn sie wegen etwas Anderem erweckt werden würde als wegen uns. Das Alter hat euch Weise gemacht Dorfvorsteher. Und milde. Auch ich bin alt. Aber weniger milde. Ihr habt uns benutzt. Das weiß ich nun und es war euer Recht, denn wir hatten eine Schuld bei euch. Eine Schuld, die nun abgetragen ist. Maeven ist tot. Endgültig. Niedergestreckt von dem Dolch aus den Legenden. Sie, ihre Anhänger und ihr Sinnbild ruhen nun für immer verborgen unter der Erde, zugedeckt vom Staub der Zeit. Das war es doch, was ihr wolltet nicht wahr? Nun. Ihr habt es bekommen. Es tut mir leid. Tut mir leid um jeden Sohn. Jede Tochter. Ich hoffe, dass alles war es wert. Hoffe es für euch. Und für mich.“
Atheris genoss den Geschmack des Weines. Er war müde und seine Wunden bereiteten ihm Schmerzen. Er lauschte Gabhans Ausführungen und beobachtete die Gesichter der Antherion, die passender Weise ihre menschliche Gestalt angenommen hatten. Gabhan erzähle die Geschichte etwas theatralisch, aber so war er nun mal. Ins Bett … er wollte nur Schlafen und der Schwalbe, die er eingenommen hatte die Zeit geben sie Wunden zu heilen.
Die Sonne war untergegangen und ein sommerlicher Herbstregen prasselte aufs Dach des Gasthauses. Die beiden Hexer waren gerade dabei, die letzten Fragen der Dorfbewohner zu beantworten, als die Tür aus den Angeln gerissen wurde und mit einem lauten Poltern auf den Boden flog. Atheris reagierte sofort und zog die Silberklinge, die neben ihm am Tisch lehnte, aus der Scheide. Gabhan trat ebenfalls mit gezogener klinge neben ihm. Das furchtbare Schreien verriet ihnen, wer da die Versammlung störte. Es roch nach nassen, alten Fell … und als sich der gewaltige Körper Maevens durch die Tür schob, wahr Atheris bereit für den nächsten Tanz auf Leben und Tod.
Gabhan wirbelte herum, zog das Schwert und stieß im selben Atemzug mit seinem Fuß den großen Tisch um, so dass dieser krachend auf dem Boden aufschlug. Als er erkannte, was sie da heimsuchte setzte sein Herz für einen kurzen Schlag aus. Jedweder Gedanke, dass das was er sah nicht sein konnte, weil sie den Fluch gebrochen hatten verbannte er sofort aus seinem Geist – dies waren Fragen, denen er sich zu einem späteren Zeitpunkt stellen konnte. Hier und jetzt ging es um handfesteres. Sein Bein schmerzte, während er es so setzte, dass er eine gute Position einnahm. Seine Augen weiteten sich und nahmen blitzschnell die Umgebung auf. Die Bänke, die Tische, die anderen Antherion. Niemand schrie. Der Regen peitschte, vom Wind getrieben, durch die offene Tür in den Gastraum. Niemand bewegte sich. Niemand schrie. Gabhan formte bereits das Zeichen Quen, Maeven spannte bereits die Muskeln an. Jemand bewegte sich. Niemand schrie. Jemand sprach.
Der Dorfälteste hatte sich nach vorne geschoben. Hatte sich aus der Masse gelöst und vor Maeven gestellt. „Go leor, seanmháthair“, Gabhan blinzelte – erwartete geradezu, dass der Alte vor ihm in Stücke gerissen wurde. Doch Maeven hielt inne, sprang nicht, sondern machte einen Schritt nach vorne, die Nüster aufgerissen, den Geruch des anderen einziehend. „Ní naimhde iad na strainséirí seo. Tá a cogadh thart. Tá suaimhneas ann. Ba streachailt fhada é agus fuair a lán daoine bás. Ach tá cónaí orainn. Ná cuir é seo i gcontúirt“ Gabhan verstand nur Bruchteile von dem, was der Alte dort sprach. Er war nicht sehr bewandert in der Alten Sprache und in diesem Dialekt noch viel weniger. Er war rau und kehlig, mehr ein Bellen als ein Sprechen. Gabhans Blick wanderte nur für eine Sekunde zu Atheris, sie beide standen dort, Rücken an Rücken, die Klingen erhoben. Der Alte wandte sich zu ihnen um. „Ísligh lanna Vatt’ghern. Doirteadh go leor fola inniu!“ das verstand Gabhan und auch Atheris schien zu verstehen, denn sie beide senkten unisono die Schwerter. Langsam trat der Alte zu Maeven. Langsam glitten die Schwerter in die Scheiden. Langsam legte er seine Stirn an die der einstigen Königin. Langsam schloss er die Augen. „Maeven, iníon le Morainn. Níos láidre i measc na mban. Comhlíontar do ghealltanas. Do mhuintir slán. Ná caith fuil ar do shon chaillfidh tú ár gcuid féin freisin. Ná tabhair bás, óir is tusa a bheidh a locht go páirteach as ár gcuid féin. Tá am Na Sean caite. Tá tús curtha le ham den nua. Codladh Maeven, iníon le Morainn. Codail agus faigh do shíocháin“ die Worte, die er intonierte waren Alt. Gabhan konnte es schmecken. Was immer er da sagte, es klang in seinem Singsang nach einer alten Beschwörungsformel, auch wenn es keine Magie war die hier wirkte. Momente kamen ihm wie Stunden vor und dann, ganz langsam, zog sich Maeven zurück.
Atheris hörte sich die Worte an, die der Alte sprach. Es war ein Dialekt, den er nicht sonderlich gut verstand, aber seine Heimatsprach war eng angelehnt an die Alte Sprache und so verstand er das, was er verstehen musste. Im Grunde sowas wie, „Es reicht Großmutter, es wurde genug Blut vergossen“…“Nehmt die Waffen runter, Hexer“ und am Ende: „Maeven, Tochter von Morainn. Stärkste unter den Frauen. Dein Gelübde ist erfüllt. Dein Volk in Sicherheit. Vergieße kein Blut, denn du wirst unseres ebenfalls vergießen. Bringe keinen Tod, denn du wirst unseren mit verschulden. Die Zeit des Alten ist vorbei. Eine Zeit des Neuen hat begonnen. Schlaf Maeven, Tochter von Morainn. Schlaf und finde deine Ruhe.“
Atheris atmete hörbar aus, als sich die untote Königin der Antherion abwand und wortlos verschwand. Aus dem Fenster des Gasthauses verfolgte er, wie das mächtige Wesen durch das Tor schritt und dabei das quietschende Gasthausschild mit dem Hund drauf berührte. Es wackelte noch einmal, dann riss die alte Kette und es stürzte zu Boden in den Dreck. „Wahrlich … die Zeit des Alten ist vorbei … eine neue Zeit bricht heran!“ flüsterte er während das Wesen in der Dunkelheit verschwand um sich für die Ewigkeit in ihrem Grab zu betten. „War es das jetzt, Gabhan … ist der Fluch gelöst, weil diejenigen die er schützen sollte, den Schutz nicht bedürfen, sie eher sogar gefährdet?“. Er blickte neben sich, auf den kleineren Hexer. Dieser stand da, er wirkte wehmütig … vermutlich, weil er sich selber wie ein Relikt aus alten Zeiten ansah.
Gabhan blinzelte zu Atheris hinauf und schnaubte. Er hatte wenig Lust darauf für den Jüngeren den Erklärbär zu spielen, ihm tat alles weh, sein Herz schlug noch immer schmerzhaft in seiner Brust und er war verdammt müde. Doch er hatte es versprochen und Atheris hatte eine Erklärung verdient.
„Ich weiß es nicht Atheris,“ flüsterte er leise, während sich die Antherion draußen versammelten und ihrer Königin und Vergangenheit nachsahen, wie sie das Dorf für immer verließ. „Es gibt keine Anleitung für Flüche oder dergleichen. Aber ja… ja ich glaube, dass dieser Fluch ein selbstauferlegter war. Verteufelt selten. Verteufelt schwierig zu lösen. Das was hier geschehen ist, war nicht unser Werk. Es war Glück“ Glück war es durchaus – wenn auch nur für sie, denn die Antherion – da war sich Gabhan sicher, hatten kein Glück. Aber es war nicht mehr zu ändern. Dieser Tod auf Raten war längst in Gang gesetzt. Unaufhaltsam. „Maeven war eine Königin, die nur das Beste für ihr Volk wollte. Die sie beschützt hat, sogar über den Tod hinaus. Dieser Schutz wird niemals aufhören Atheris. Sie wird sich wieder schlafen legen, ja. Vielleicht ist der Fluch wirklich gelöst und sie steht deshalb nie wieder auf. Oder ihr Volk verlangt von ihr, dass sie nicht mehr eingreift, stirbt aus und sie bleibt deswegen auf ewig liegen. Vielleicht erhebt sie sich in eintausend Jahren wieder, wenn der letzte dieses Volkes am Siechtum stirbt. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass der Fortschritt unaufhaltsam ist. Dass das was war nicht mehr zurückkehrt, ganz gleich wie sehr wir es uns wünschen. Die Vergangenheit ist vergangen. Womöglich ist es besser so. Wer sind wir das zu entscheiden Atheris? Wer sind wir schon?“
Epilog – Die Rache des Waldes
Der Weg war schlammig, machte das voranschreiten des Pferdes hinderlich. Der Mann auf dem Rücken des Pferdes zog seinen Umhang fester und hoffte, dass der Loden den hier anbrausenden Sturm möglichst von ihm und seiner wertvollen Ware abhalten mochte. Der Reiter rutschte ein wenig auf dem Pferd hin und her um eine angenehmere Position zu finden. Ein Unterfangen, dass nach den Stunden im Sattel ebenso bemüht wie zwecklos war.
Es war ungewöhnlich dunkel für diese Tageszeit befand der Reiter nach einem Blick in den von dunklen Wolken gänzlich verschluckten Himmel, aus dem es mehr Wasser goss als in Wyzima an einem guten Waschtag aus den Fenstern geschüttet wurde. Der Mann auf dem Rücken des Pferdes hieß Godwin Birnbaum. Sein Name stand in weißen Lettern aufgestickt auf seiner Brust, direkt über einem darunter stehenden Stickwerk, dessen Buchstaben das Wort ‚Vattweir Botendienste‘ bildete. Godwin hasste diese Aufschrift auf seiner Brust, denn wenngleich auch Menschen dazu neigten sich nichts merken zu können – den Namen eines Dienstleisters, der sie nicht zufrieden stellte, den merkte sich jeder. Und Menschen die auf Post warteten waren selten zufrieden. Sie ignorierten den Fakt, dass die Straßen mit all ihren Passierwegen, Schlagbäumen und Zöllen nicht mehr so einfach zu bereisen waren wie dereinst unter König Foltest Zeiten. Ja, damals unter Foltest war das Leben noch einfacher gewesen. Damals hatte er als königlicher Bote gedient, hatte Befehle des Königs ausgeliefert, an jeder Herberge ein frisches Pferd verlangen können und war stolz auf seinen Beruf gewesen. Heute gab es keinen Foltest mehr. Keine königlichen Boten, keine Befehle die er ausliefern konnte. Statt einem frischen Pferd an jeder Herberge durfte er nur an genau bestimmten Wegposten sein Pferd wechseln. Wegposten, die als Außenstellen zu den ‚Vattweir Botendiensten‘ gehörten. Es gab genau zwei davon in ganz Temerien.
Aber die Zeiten änderten sich. Einst war er ein königlicher Bote gewesen. Aber einst war sein Weib auch schön, die Kinder brav und seine Manneskraft unvorstellbar gewesen. Die Welt änderte sich. Er wurde alt, sein Weib runzelig und seine Kinder Tyrannen, die ihm auf der Tasche lagen. Also musste er weiterarbeiten und da er nie etwas Anderes gelernt hatte, war er zu den ‚Vattweir Botendiensten‘ gegangen. Aber die Zeiten änderten sich nunmal. Und das Gehalt. Meistens zum schlechteren.
Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken, die sich in behäbiger Regelmäßigkeit um den Körper seines Weibers vor mehr als dreißig Jahren oder die Körper anderer Weiber, die heute keine dreißig waren, drehte. Er blickte sich in dem kleinen Waldstück um, welches sie nun erreicht hatten. Sein Pferd und er. An den Rändern des Weges lagen hohe Baumstämme, gefällt und aufeinandergeschichtet, weitere Bäume am Rande waren mit weißer Farbe markiert. Der Regen hatte zugenommen, zog lange Flüsse aus braunem Schlamm durch die Rillen am Wegesrand. Ein Rascheln war zu hören. Godwin sah in die Richtung des Raschelns, doch nichts zeigte sich. Godwin hätte schon geglaubt, dass er sich getäuscht hatte, dass er von der Reise müde und erschöpft war. Erneut wollte er das Pferd antreiben, doch der alte Gaul bewegte sich nicht. „Komm schon du verdammtes…“ er trieb die Fersen in die Flanken, doch das Tier scheute nur auf, warf Godwin von sich, der mit einem krachen auf dem Boden aufschlug und schrie, als er sah was der Sturz mit seinem Bein angerichtet hatte. Er schrie, als er sah was sich ihm nährte. Schrie, als die Wurzeln ihn packten, schrie als sich die Raben auf ihn stürzten. Er schrie nicht mehr als die Wölfe kamen. Konnte nicht mehr schreien.
Auf unbekannten Pfaden
Vorwort
Die Handlung der folgenden Geschichte setzt direkt nach den Ereignissen von ‚Das letzte Gefecht‘ ein und erzählt die abenteuerliche Reise der Greifen, nachdem sie durch das Portal geflohen sind.
Auf unbekannten Pfaden
Metagame von Peter
Winter 1280
Kapitel 1 – Flucht
Blaue Blitze bildeten sich um den Portalkreis und durchzuckten den Innenhof im alten Teil von Kaer Iwhaell. Die Szenerie vor seinen Augen schien zu verschwimmen, und einen Augenblick später umhüllte ihn absolute Dunkelheit. Ein inneres Gefühl der Zerrissenheit überkam ihn. Sein Körper fing an zu kribbeln und zu stechen, als wenn er in einem Ameisenhaufen liegen würde. Der Zustand hielt eine gefühlte Ewigkeit an. Atheris traute sich weder zu atmen noch sich in irgendeiner Form zu bewegen, sofern er dies überhaupt hätte tun können. Wie lange der Portalsprung dauerte, konnte er nicht sagen, denn er hatte jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren. Erst als der Portalkreis erneut anfing blaue Blitze zu erzeugen, und sich das Ganze zu einem wahren Lichtinferno entwickelte, endete der Spuk in einer grellen Lichtexplosion, die dem Nilfgaarder alle Sinne raubte.
Nachdem sich das bunte Nachbild vor dem inneren Auge des Hexers verflüchtigt hatte, umhüllte ihn erneut die absolute Finsternis. Sein Puls raste, der Atem war flach und schnell, seine sonst so ruhigen Hände zitterten wie Espenlaub. Atheris versuchte sich zu sammeln, als ihn ein würgendes Geräusch, sowie der darauffolgende Gestank von Gallenflüssigkeit und Erbrochenen aus seiner Starre riss. „Damit wäre der Beweis erbracht, dass wir offensichtlich nicht tot sind!“ merkte Atheris trocken und erntete zustimmendes Gemurmel. „Heskor! Alles gut?“ fragte er weiter. Es war nur eine Vermutung von Atheris gewesen, aber der alte Assassine war derjenige unter ihnen, der mit gewirkter Magie nicht zurechtkam. „Hier hinten ist alles gut! Ich hoffe ich habe niemanden getroffen!“ erwiderte Heskor. „Wie wäre es mit ein wenig Licht?“ fragte Atheris in die Runde seiner Begleiter. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis der Nilfgaarder hörte wie ein Stück Stoff zerrissen wurde, dann wie geschickte Hände etwas bastelten und letztendlich das Tropfen einer Flüssigkeit. Mit einem leisen „Igni!“ entzündete Viktor seine improvisierte Fackel und die Dunkelheit verflog.
Mit seinen katzenhaften Augen reichte Atheris das wenige Licht, um sich einen guten Überblick zu verschaffen. Zunächst war er erleichtert zu sehen, dass alle Greifen den Sprung durch das Portal geschafft hatten. Auch konnte er zumindest auf den ersten Blick keine schweren Verletzungen bei seinen Freunden erkennen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass bei der Gruppe alles in Ordnung war, konzentrierte er sich auf den Raum in dem sie sich befanden. Er war fensterlos, das Gewölbe etwa zehn Schritt hoch und die Wände bestanden aus hellen Sandsteinquadern. Zwei dicke Säulen hielten das große Gewölbe in der Mitte, sie waren mit Früchten verziert und auf ihnen standen Worte, die Atheris nicht lesen konnte. Nur ein Tor schien aus diesem dunklen Raum zu führen und es war durch eine schwere Tür verschlossen. Direkt neben ihm befanden sich drei bronzene Feuerschalen, die in einem Dreieck um das Portal herum angeordnet standen. Apropos Portal, Atheris fiel auf, dass die vorher lose auf dem Boden ausgelegten Portalsteine nun auf in den Boden eingelassenen Sockeln ruhten … „seltsam!“ entfuhr es dem Hexer, als er die Konstellation betrachtete, und er zog die rechte Augenbraue leicht nach oben. Dies tat er meistens, wenn er sich etwas nicht erklären konnte. Er bemerkte Logan, wie er seinen Dolch durch die Luft schneiden sah. Dieser bemerkte den Blick des Nilfgaarders. „Ich denke wir können aus dem Portalkreis gefahrlos heraustreten!“ stellte der Blondschopf mit ernster Miene fest. Kein Wunder, so lag doch zu Logans Füßen der abgetrennte Kopf eines Fanatikers, der noch vor wenigen Augenblicken genau in dem Moment zum Angriff auf sie angesetzt hatte, als sich das Portal aktivierte. Wie durch eine unsichtbare, scharfe Klinge hatte sich der Körper von dem Kopf getrennt. Mit der Gewissheit, den Kreis sicher verlassen zu können, machten sich Atheris und seine Begleiter daran, den Raum weiter zu erkunden. Zunächst kümmerte sich sein Freund Raaga um die Feuerschalen, indem er zunächst daran roch und anschließend die zähe Flüssigkeit zwischen Daumen und Zeigefinger etwas verrieb. Zufrieden gab er Viktor und Atheris mit einem kurzen Nicken zu verstehen, dass er keine Bedenken hatte, die Flüssigkeit zu entzünden. Die drei Hexer entzündeten das Feuer in einer fast perfekten Synchronisation mit dem Hexerzeichen ‚Igni‘. Das warme Licht des Feuers auf dem hellen Stein wirkte friedlich. Bei genauerer Betrachtung, konnte Atheris erkennen, dass die Steine der Wände in einem schlechten Zustand waren, überall taten sich feine Risse auf und die dicke Staubschicht auf dem Boden gab ihm deutlich zu verstehen, dass sie hier die ersten Besucher seit einer sehr langen Zeit waren.
Erst jetzt bemerkte Atheris, wie etwas Warmes von seiner linken Hand auf den Boden tropfte, es war Blut, sein Blut! Wie die anderen Hexer war auch der Nilfgaarder nicht ohne Blessuren aus dem Gefecht um Kaer Iwhaell davongekommen. Die Wunde befand sich am Übergang zwischen seiner Schulterplatte und der Ellenbogenkachel. Das war die Quittung dafür, dass er für eine höhere Beweglichkeit auf die schwerere Panzerung verzichtet hatte. Zumindest war es ein sauberer Schnitt von einer scharfen Waffe gewesen und würde nur eine kleine Narbe hinterlassen. Ansonsten hatte er Glück gehabt, die alten Teile seiner schwarzen Rüstung hatten ihn vor den schlimmsten Verletzungen geschützt. Raaga hatte es deutlich übler erwischt, eine Speerspitze musste ihren Weg durch seine Deckung gefunden haben und hatte sich in seine rechte Seite gebohrt. Im Fackelschein war ihm diese Wunde bei seinem Zunftbruder nicht aufgefallen, aber inzwischen hatte das Blut die Tunika dunkelgefärbt und somit die Verwundung offenbart.
Atheris ging von Logan gefolgt zum Tor und betrachtete die alte, massive Tür genauer. „Verschlossen!“ stellte er fest, als er an der Tür rüttelte. Er schaute zurück zu Heskor. Der Mann für solche Fälle hatte die Folgen des Portalsprunges noch nicht überwunden, er saß neben Nella auf dem Boden und ließ sich seine letzte Mahlzeit erneut durch den Kopf gehen. „Also schön Logan, dann eben auf die nicht feine Art!“ schmunzelte er, ging einen halben Schritt zurück … suchte sich einen festen Stand und trat mit aller Kraft gegen das alte Holz. Ein lautes Knacken war zu hören und einige Risse wurden sichtbar. Logan stellte sich neben den großen Nilfgaarder und sie wiederholten es gemeinsam. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen, die beiden hatten einige Bretter lose getreten und nach einem dritten Kraftakt war es ihnen möglich, drei Bretter aus der unteren Hälfte der Tür zu entfernen, so dass Logan hindurch schlüpfen konnte. Mit einem rostigen Klacken öffnete sich der Schließmechanismus und der Weg war frei. Zufrieden ging Atheris zurück zum Portalkreis und kniete sich neben Nella, die auf ihrem roten Mantel gebettet neben Heskor lag. Ihr Atem ging ruhig und das Herz schlug zwar langsam aber dafür kräftig. Er hatte gesehen, wie sie bei der Schlacht um Kaer Iwhaell mehrere Feuerbälle auf die Angreifer losgelassen hatte … blind vor Wut, weil die Fanatiker ihren geliebten Valerian auf einem Scheiterhaufen verbrennen wollten. Er hatte nicht viel Ahnung von Magie, aber vermutlich litt sie an einer Art magischer Erschöpfung … falls es sowas überhaupt gab. Atheris erhob sich langsam, zumindest war sie für den Moment nicht Gefahr und transportfähig. Als letztes ging er zu seinem treuen Streitross Ker’zaer, der schwarze Hengst stand ruhig am Rande des Portals und kaute an einem Stück Schwarzbrot, das er aus einer der kaputten Proviantkisten gezogen hatte. „Sheyss!“ fluchte er, als er realisierte, dass einige der Ausrüstungskisten und Taschen kaputt waren. Ob sie durch den Portalsprung oder während der Schlacht in Mitleidenschaft gezogen worden waren, konnte er nicht sagen … vermutlich beides. Schlecht gelaunt strich Atheris seinem Pferd beruhigend durch die dichte schwarze Mähne und klopfte ihm dann zum Schluss auf den muskulösen Hals. Nachdem die anderen sich auch wieder zusammengefunden hatten und es in diesem Raum nichts weiteres Aufregendes zu entdecken gab, setzte sich Atheris auf eine größere Tasche. Seine Gedanken wanderten für einen Moment zu Meister Valerian, sie hatten ihn vor der Burgmauer mitten im Schlachtgetümmel auf dem Rücken eines Trolles zurücklassen müssen. Ob er entkommen war?
Die knurrige Stimme von Raaga riss ihn zurück ins hier und jetzt. „Atheris, ich denke es ist Zeit zu gehen! … Lass uns rausfinden, was uns außerhalb dieser Wände erwartet!“ Der Nilfgaarder blickte zu dem bärtigen Skelliger auf, der mit seiner geschulterten Axt bereit für den Aufbruch schien. „Raaga … ich weiß du bist hart im Nehmen, aber du solltest dich zuerst um deine Wunde kümmern. Du bist inzwischen verdammt bleich, selbst für einen Skelliger, der die Sonne nur aus Erzählungen kennt!“ antwortete Atheris. Raaga schien zum ersten Mal Kenntnis von seiner Verletzung zu nehmen und brummte zustimmend. Er kniete sich ohne weitere Worte auf den Boden, zog aus einer unscheinbaren Tasche an seinem Gürtel eine Nadel, einen stabilen Faden aus Tierdarm und ein sauberes Stück Stoff. Während sich Raaga daranmachte, die Wunde mehr oder weniger schön zu nähen, tastete Atheris nach einem kleinen Fläschchen, das er für gewöhnlich an seinem linken Beinholster befestigt hatte. Seine Hand fand geübt das gesuchte Objekt, und er warf dem Skelliger den roten Trank mit der Aufschrift ‚Schwalbe‘ zu. „Geh kein Risiko ein Raaga, die Wunde scheint tief zu sein und womöglich hast du auch innere Verletzungen!“ erläuterte Atheris. Mit den Zähnen zog der Skelliger den Korken aus der Flasche und entleerte die Flüssigkeit in einem Zug. Sofort begann der Hexertrank seine Wirkung zu entfalten, mit der Folge, dass sein Gesicht noch bleicher wurde und seine Adern pulsierend hervortraten. Jeden ‚normalen‘ Menschen würde die Einnahme dieses Trankes das Leben kosten. Einzig der veränderte Metabolismus der Hexer ermöglichte ihnen, sich auf diese Art zu heilen. „Logan!“ rief Atheris und der blonde Jüngling, der gerade dabei war mit Egon die Portalsteine aus den Sockeln zu entfernen und in eine Kiste zu verstauen, blickte zu ihm auf. „Logan, lass uns schauen, was hinter der Tür auf uns wartet!“ fuhr der Nilfgaarder fort.
Eine etwa drei Schritt breite, verstaubte Rampe führte die beiden nach oben. Tiefe Spuren im Boden zeugten davon, dass hier schwere Wägen auf und abgefahren sein mussten. Ob die Bewohner den Portalraum für den Gütertransfer genutzt hatten, fragte sich Atheris. Zumindest würden sie keine Probleme damit haben, ihre Ausrüstung und Ker’zaer hier hoch zu bekommen. Der Weg nach oben endete vor einer weiteren massiven Flügeltür. „Wieder verschlossen!“ fluchte Atheris, als er die schweren Riegel bewegen wollte. Auch mehrmalige Tritte der beiden Hexer blieben wirkungslos. „Tritt mal beiseite, Logan!“ sagte Atheris und ging ebenfalls drei Schritt zurück und fing sich an zu konzentrieren. Nachdem er genügend Energie gesammelt hatte, wirkte er das Zeichen ‚Aard!“ und ließ die Druckwelle gegen die Tür peitschen … die gewünschte Wirkung blieb allerdings aus. „Warte kurz auf mich, Atheris!“ rief Logan, der sich bereits auf den Rückweg zum Lager befand. Kurze Zeit später kam er mit einer Flasche wieder. „Hey, hast du etwa den guten Wein darin weggekippt?“ beschwerte sich der Nilfgaarder, als er eine seiner Weinflaschen erkannte. Logan zog nur entschuldigend die Schultern hoch und hielt ihm die Flasche hin, aus der oben ein Stück Stoff rausragte. „Könntest du bitte?“ fragte der junge Hexer und Atheris entzündete mit einem kleinen ‚Igni‘ die provisorische Lunte. Aus sicherer Entfernung warf er dann die Flasche gegen die Tür. Mit einer Explosion zerbrach die Flasche in tausend Scherben und die nun brennende Flüssigkeit verteilte sich über die Tür. Die Hitze war so hoch, dass es nicht lange dauerte, bis das Holz der Tür zu glühen anfing. Der Rauch brannte Atheris unangenehm in den Augen und das Atmen wurde schwerer. Die Nase in der Ellenbeuge versteckt beobachteten die beiden Hexer, wie das verkohlte Holz endlich nachgab. „Stronthe!“ entfuhr es Atheris, als er sah, wie eine Sandlawine sich ihren Weg durch die Öffnung bahnte. Schnell wichen die beiden zurück und nach etwa zwanzig Schritt kam die Lawine zum Stehen. Vorsichtig traten die beiden durch die verkohlten Überreste der Tür, die nur noch lose in den Angeln hing.
Augenblicklich brannte den beiden die heiße Sonne mitten ins Gesicht. Atheris musste sich erneut die empfindlichen Augen reiben und es dauerte einen Moment, bis er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Sie befanden sich am Rande eines Innenhofes, der von einer alten dicken Mauer umgeben war. Die einstmals kunstvollen Verzierungen des Säulenganges, der den Hof umschloss, waren verwittert und die Männerstatue, die im Hof stand, hatte ihren Kopf und die Gliedmaßen verloren. Vermutlich würde man diese im Sand wiederfinden, der die Figur bereits bis zu den Knien verschlungen hatte. „Verdammt lange war hier niemand mehr!“ stellte Atheris nüchtern fest. „Das Leben großer Menschen erinnert uns daran, dass wir unser Leben erhaben leben und beim Abschied unseren Fußabdruck im Sand der Zeit hinterlassen können!“ zitierte Atheris einen alten Spruch, den er im Kastell Graupian in seiner Heimat gelernt hatte. Ein Fußabdruck im Sand der Zeit … der Sand der Zeit hatte dies alles hier in Vergessenheit geraten lassen. Atheris löste sich von seinen Gedanken und prüfte mit wachem Auge weiter die Umgebung. Der Keller, aus dem sie soeben geschritten waren, gehörte zu einem großen fünfstöckigen Palais, dessen Dach eine zerborstene Kuppel bildete. „Von da oben sollten wir eine gute Aussicht haben, Logan!“ Atheris zeigte auf einen Balkon im vierten Stock, der zumindest von unten noch stabil aussah. Mit aller gebotenen Vorsicht arbeiteten sich die beiden Hexer durch die Räumlichkeiten nach oben. Vorbei an vom groben Sand geschliffenen Säulen und Mosaiken … vorbei an zersplitterten Vasen und Skulpturen … über mit Sand bedeckte Treppenstufen und Hallen … der Sand … wie ein riesiges Leichentuch hatte er das einstige Leben hier bedeckt. Es dauerte länger als gedacht bis zum Ziel vorzustoßen, immer wieder mussten sie Umwege in Kauf nehmen, da Wände eingestürzt oder Treppen ihre Last nicht mehr tragen konnten. Endlich setzte Atheris seinen Fuß auf den Balkon … er hielt. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris und Logans Gesichtsausdruck verdeutlichte, dass der Blondschopf es nicht anders beurteilte. Zu ihren Füßen lag eine ganze Stadt, die zu ihrer Blütezeit gut und gerne fünftausend Seelen beheimatet haben durfte. Die großen und kleinen Gebäude mussten in einem noch schlechteren Zustand sein als der Palais, durch den sie sich soeben gekämpft hatten … und über allem lag Sand. Die Stadt wurde umschlossen von einer breiten Stadtmauer, die im Verhältnis zu den anderen Objekten, relativ gut erhalten war. Was hinter der Stadtmauer zu sehen war, ließ den beiden Hexern das Herz in die Hose rutschen. Nichts … absolut nichts … Sand! „In was für eine verdammte Scheiße sind wir hier geraten?“ fragte Logan und starrte zum Horizont.
Kapitel 2 – Erkenntnisse
Zurück in der Portalkammer berichteten die beiden Hexer den anderen Greifen von den gemachten Entdeckungen. Nachdem diese den ersten Schock verdaut hatten und sie über ihre Lage kurz debattiert hatten, packten sie alles, was ihnen als Ausrüstung nach der Flucht von Kaer Iwhaell geblieben war zusammen und schlugen ihr neues Lager in der großen Eingangshalle des Palais auf. Tageslicht und frische Luft waren trotz der hohen Temperaturen, die hier draußen herrschten, der Dunkelheit und der stickigen Luft im Portalraum vorzuziehen. Im Innenbereich des großen Gebäudes war die inzwischen hoch am Firmament stehende Mittagssonne noch erträglich. Anders sah es aus, wenn man aus dem Schatten trat. Der direkte Kontakt mit dem Licht der Sonne ließ die Haut förmlich verbrennen. Es war so unerbittlich heiß, dass sich nicht mal ein Schweißfilm auf der Haut bildete und somit die kühlende Wirkung ausblieb. Atheris hatte von solchen Temperaturen gehört und nun wünschte er sich, dass es dabeigeblieben wäre. „Weit werden wir mit unseren Wasservorräten bei dieser Hitze nicht kommen!“ stöhnte Raaga, der unter der Sonne am meisten zu leiden schien. Seine weiße Haut hatte sich schon nach wenigen Momenten in der Wüstensonne rot verfärbt. „Atheris … Logan … Viktor … Egon! Ihr zieht los und durchkämmt die Stadt! Wir müssen etwas finden, was uns weiterhilft … Karten … Essen … Ausrüstung … alles was uns helfen könnte. Bei Einbruch der Nacht treffen wir uns wieder hier und fällen eine Entscheidung, wie wir weitermachen!“ fasste Raaga die Ergebnisse einer vorangegangenen Diskussion zusammen.
Um ein größeres Gebiet in der verbliebenen Zeit bis zum Sonnenuntergang abdecken zu können, zogen die Hexer jeweils alleine los. Wenig später fand sich Atheris einsam in der Häuserschlucht nach Norden wieder. Es war befremdlich auf dem weichen Sand durch die Ruinen der Stadt zu streifen. Immer wieder betrat Atheris Gebäude, bei denen sein Bauchgefühl ihm sagte, dass es hier vielleicht etwas zu holen geben könnte, aber dem war nicht so. Vieles lag unter einer meterdicken Schicht aus Sand und der machte es nahezu unmöglich, die unteren Räumlichkeiten zu untersuchen. Ab und an fand er Dinge aus dem alltäglichen Leben der einstigen Bewohner, nichts besonders oder etwas, was sie gebrauchen konnten … ein Löffel, eine kleine Holzkatze und einen Puppenkopf aus Ton. Wo waren sie geblieben, was ist hier vor langer Zeit vorgefallen? Vielleicht hatte sich die Stadt in Mitten einer blühenden Oase befunden und nachdem die Quelle versiegt war, musste die Stadt geräumt worden sein. Zumindest fand er keine sterblichen Überreste bei seiner Suche. Atheris konnte nicht mehr sagen, wie viele Straßenzüge und Gebäude er ohne einen nennenswerten Erfolg durchsucht hatte. „Hoffentlich haben die anderen mehr Glück als ich!“ stöhnte er, als er erneut ein Gebäude erfolglos verlassen hatte und zurück auf die Straße trat. Es war unmöglich, bis zum Sonnenuntergang alles abzuklappern und mit jedem Schritt wich die Hoffnung weiter. „Aen iarean nyald aep kroofeir!“ brummte er fast schon resignierend, als ihm ein Gebäude am Ende einer schmalen Seitengasse ins Auge fiel. Im Vergleich zu den anderen Häusern hatte es nicht das hier typische Flachdach, sondern war als ein großer, breiter und runder Turm angelegt. Das Dach war ähnlich wie beim Palais eine Kuppel und bestand aus einem Metall … vielleicht Kupfer? Atheris beschleunigte seinen Schritt und eilte auf das überraschend gut erhaltene Tor zu. „Verzinkt!“ stellte der Hexer fest, als er die Tür etwas genauer untersuchte. Sie stand einen Spalt offen und war durch den Sand blockiert. Die Öffnung war breit genug, dass Atheris ohne Probleme hindurchschlüpfen konnte – die langsamen Bewegungen im Sand hinter ihm bemerkte er dabei nicht.
Es überraschte ihn nicht, dass es im Erdgeschoss wie in den bisherigen Häusern wenig zu entdecken gab. Es herrschte ein wildes Durcheinander und falls es hier jemals etwas Wertvolles gegeben haben sollte, so waren Plünderer oder die Naturgewalten inzwischen am Werk gewesen. Enttäuscht nahm er die alte hölzerne Wendeltreppe in das obere Stockwerk. Hier sah es deutlich besser aus. Alte Tische und Gerätschaften, deren Sinn und Zweck dem Hexer verborgen blieben, standen in einem kleinen Raum … vielleicht war es mal das Labor eines Wissenschaftlers gewesen … oder eines Magiers? Die Behälter, die er in einem Wandschrank fand, waren nicht mehr brauchbar … die Flüssigkeiten über die Jahrzehnte verdunstet und der Rest hatte die Haltbarkeit weit überschritten. Interessant waren einige vergilbte Pergamente, die in einem Fach im Schrank fein säuberlich sortiert abgelegt waren. Als Atheris sie musterte, erkannte er, dass es sich um verschiedene Sternenkonstellationen handelte … Sternzeichen! Atheris machte große Augen. „Aen Ard Feainn!“ rief er auf einmal freudig aus. Er war sich ziemlich sicher, dass er einige von ihnen kannte, was bedeutete, dass das Portal sie zumindest auf ihre eigene Welt gebracht hatte. Hoffnung keimte in dem Hexer auf und aufgeregt suchte er weiter in den Schriftstücken … die langsame Bewegung an der Treppe nahm er dabei nicht wahr. Enttäuscht legte Atheris das letzte Dokument beiseite, er hatte keine weiteren Hinweise finden können. Nun gut, es gab ja noch ein Stockwerk. Eine recht enge, diesmal eiserne Wendeltreppe führte ihn direkt unter die Kuppel. Durch eine große rundliche Öffnung drang das Sonnenlicht in den ansonsten fensterlosen Raum. In der Mitte musste etwas Großes gestanden haben, zumindest ließ der Sockel, der sich dort am Boden befand, dies vermuten – eines von diesen Ferngläsern? Atheris kannte die Apparaturen, dieses hier musste aber Jahrzehnte alt gewesen sein. Eine verlorene Hochkultur? Dieser Ort hier war wirklich merkwürdig. Vor dem leeren Sockel befand sich eine alte ebenfalls verzinkte Kiste. Eine vergilbte Papierecke lugte aus der Seite hervor – es sah aus wie der Rand einer Karte. Atheris kniete sich vor die Entdeckung und betrachtete das Vorhängeschloss … es war nicht verzinkt. Mit dem Knauf seines Dolches schlug er dreimal kräftig gegen das verrostete Ding und es gab nach. Es war in der Tat eine Karte, und die Schrift auf ihr kam ihm verdächtig bekannt vor … fast wie elfisch. Das alleine war aber keine große Erkenntnis, denn die Sprache vieler menschlicher Länder basierte auf der Sprache des alten Volkes. Seine Heimat Nilfgaard ging sogar einen Schritt weiter und sah sich in direkter erblicher Nachfolge zu der einstigen Hochkultur dieser Wesen. Die heute lebenden Elfenvölker waren hingegen nur noch ein Schatten ihrer Vorfahren. In den nördlichen Kriegen hatte er mal eines ihrer Dörfer besucht und er war alles andere als angetan gewesen. Er schweifte schon wieder ab. Endlich kam es ihm wieder, Saleha, eine Alchimistin aus Ophir und Freundin der Greifenschule, hatte ihm vor einigen Monaten ein Forschungsdokument über die Mutationen der Hexer gezeigt. Die Schrift … die Sternbilder … die Wüste und nicht zuletzt der Baustil … wie Schatten fiel es Atheris von den Augen … natürlich, sie mussten in Ophir sein! Der anfänglichen Freude folgte sogleich eine bittere Erkenntnis. Viel wusste er über die Länder, die weit südlich des Kaiserreiches lagen nicht, außer dass der Großteil des Landes aus Felsen und Sandwüsten bestand, also keine gute Aussicht, aus dieser Gluthölle schnell zu entkommen.
Ein leises kaum hörbares kratzendes Geräusch ließ ihn aufblicken … war da was? Seine scharfen Augen suchten den Raum ab, aber er sah nichts Auffälliges. Er packte die Karte vorsichtig zusammen und steckte sie in die Tasche, die er an seinem Brustgurt befestigt hatte. Ein Gelehrter hätte vielleicht noch so manchen Schatz in dieser Truhe finden können, aber die Sonne hatte den Horizont erreicht, und die Zeit drängte. Atheris machte sich auf den Weg zurück zum Treffpunkt und stieg die die enge Wendeltreppe wieder hinab. Ein zweites Geräusch ließ ihn auf der untersten Treppenstufe verharren und seine Hand wanderte an seine Brust, wo sein großer Jagddolch befestigt war. Wieder blickte er sich um, doch auch diesmal konnten seine Sinne die Quelle nicht ausfindig machen … seltsam! Atheris schüttelte den Kopf, vielleicht spielten ihm seine Sinne wegen der Hitze und des Wassermangels einen Streich. Vorsichtig nahm er die letzte Stufe und genau in dem Moment, wo er seinen Fuß auf dem Boden absetzte, griff etwas nach seinem Knöchel und ihm wurde der Fuß weggezogen. Den Sturz fing der Hexer mit einer Schulterrolle ab, krachte aber gegen ein altes Wandregal, das über ihm zusammenbrach. „A d’yaebl aép arse!“ schimpfte Atheris, als er sich wieder aufsetzte und seinen Kopf abtastete. Es war nur seinen schnellen Reflexen zu verdanken, dass er diesen nicht verlor. Ein wurmartiges Wesen war unter der Treppe hervorgeschnellt, und hatte mit seinem kreisrunden Maul, das gespickt war mit kleinen spitzen Zähnen, versucht seinen Kopf abzubeißen. Erst im letzten Moment hatte er sich über die rechte Schulter kippen lassen, so dass der Wurm nur den Boden erwischte. Mit einem kräftigen Tritt gegen den vermeintlichen Kopf schickte der Hexer das Wesen zu Boden und mit zwei kräftigen Stichen seines Dolches versicherte er sich, dass es dort auch blieb. Gerade als er sich zum Gehen anschickte, kamen hinter einem der Regale zwei weitere dieser Viecher hervorgekrochen. Atheris wich ihnen aus und versuchte zur Holztreppe, die nach unten führte zu gelangen, aber als er sie erreichte, war die Treppe bereits übersät von diesen Monstern, die ihren Weg nach oben suchten … gerade Wegs zu ihm. Der Hexer machte drei schnelle Schritte zum Fenster, aber die beiden Würmer, die bereits auf dem Stockwerk waren, schnitten ihm den Weg ab. „Oh Mann, ihr seid echt ekelig!“ schimpfte er, während er sich rückwärts zur eisernen Treppe bewegte und langsam die Stufen hinaufstieg – und die Würmer folgten ihm. Er erhöhte seine Geschwindigkeit – und seine Verfolger passten sich ihm an. Atheris erreichte wieder das dunkle Dachgeschoss und seine Aufmerksamkeit richtete sich sofort auf die Öffnung im Dach.
Schnell kletterte er auf den massiven Sockel, ging tief in die Knie, schätze die Entfernung ab und Sprang. Schon in der Luft wurde ihm bewusst, dass er es nicht schaffen würde, seine Fingerkuppen streiften zwar den Rand, aber es reichte nicht aus, um einen Halt zu gewinnen und so stürzte er wieder zurück in den Raum zu den Würmern. Die Landung war hart, aber mit einer geschickten Rolle konnte er schlimmere Verletzungen verhindern. Die zahlreichen Viecher stürzten sich augenblicklich auf die Stelle, bei der er aufgekommen war … nicht aber auf ihn. Bewegungslos verharrte er an Ort und Stelle, beobachtete seine Jäger und suchte einen Ausweg.
Die Wesen besaßen weder Augen noch Ohren … kleine Stacheln, vielleicht Fühler waren überall an ihren zylindrischen Körpern zu finden … riechen konnten sie vermutlich nicht, oder zumindest nicht gut, sonst hätten sie ihn schon längst wittern müssen. Ein besonders großes Exemplar ahnte sich seinen Weg die Treppe hinauf. Die kleineren Artgenossen wichen dem schweren Körper aus, um nicht zerquetscht zu werden. Es war gut und gerne sieben Schritt lang und ein Schritt breit. Als dieser ‚Große‘ über den Sockel glitt, fasste sich Atheris ein Herz und nutzte den Moment. Er drückte sich fest vom Boden ab und mit drei weiten Sätzen überwand er die Entfernung zum Sockel, sprang auf die dicke Wulst des Wurmes und von dort in Richtung Dachöffnung. Diesmal bekam er die Kante zu fassen, und mit einem Klimmzug hievte er sich gerade noch rechtzeitig durch die Öffnung, um nicht von dem Riesenvieh verschlungen zu werden. Mit einer Hand hielt er sich am Kuppeldach fest, während sich der große Wurm durch die Öffnung schlängelte … er suchte den Hexer, konnte ihn aber trotz der Nähe nicht spüren. Reglos hing Atheris an der Kuppel und überlegte seinen nächsten Schritt. Er musste sich entweder seinem Häscher entledigen oder aber einen Fluchtweg finden. Seine Augen suchten die Kuppel ab, fanden aber keinen Weg hinunter auf die Straße. Einzig ein halsbrecherischer Sprung auf das Nachbargebäude versprach eine erfolgreiche Flucht. Es wurde Zeit, seiner Hand verlor langsam den Halt. Mit der freien Hand zog er langsam und vorsichtig die Silberklinge vom Rücken. Als er das vertraute Gewicht in seiner Hand spürte, setzte er seine Füße auf und begann die Kuppel hinunterzurennen. Als er eine Lücke zwischen den Panzersegmenten des Wurmes erspähte, stieß er die Klinge bis zum Heft in den Körper, drehte sie um und zog sie wieder hinaus. Der ‚Große‘ quittierte das mit einem lauen Schrei und der Kopf fuhr blitz schnell in seine Richtung. Jetzt wurde es Zeit, und er rannte erneut los und als er die Kante des Daches erreichte, passte er den richtigen Moment ab und flog durch die Luft. Eine gefühlte Ewigkeit dauerte die Flugphase, bevor er unsanft auf dem Dach landete und sich mehrfach abrollte. „Gloir aen Ard Feainn! Was für ein Satz!“ freute er sich, als er feststellte, dass er noch lebte. Er blickte zurück zur Kuppel und vergewisserte sich, dass er nicht verfolgt worden war. Um dennoch kein weiteres Risiko einzugehen, legte er den Weg bis zur Hauptstraße über die flachen Dächer zurück, was sich als ziemlich einfach erwies. Bei den in seiner Heimat üblichen Giebeldächern wäre ein solches Unterfangen deutlich schwerer gewesen.
Als die Sonne den Horizont berührte, erreichte Atheris das provisorische Lager. Die anderen warteten bereits auf ihn, und als er an den Kreis seiner Freunde herantrat, strahlte die Abendsonne ein letztes Mal hell auf. Raaga schmunzelte, „Man könnte meinen, du machst das mit Absicht, dass du als Nilfgaarder mit dem Sonnenschein im Rücken den Raum betrittst!“.
Kapitel 3 – Durch die Hölle
Die Karte, die Atheris gefunden hatte, erwies sich nur als bedingt nützlich, da sie nicht sicher sagen konnten, wo sie sich befanden. Ein möglicher Hinweis waren die eingezeichneten Städte auf der Karte, in deren Mitte ein stilisiertes und für die Stadt markantes Gebäude eingezeichnet war. Eine der Zeichnungen sah dem Palais ähnlich, indem sie sich befanden. Einen weiteren Hinweis lieferte Viktors Entdeckung am Westtor. Eine gut erhaltene, mit großen Steinen gepflasterte Handelsstraße führte von dem Tor in die Wüste. Eine der Wegmarkierungen wies zudem ein Zeichen auf, das dem über einer dicken eingezeichneten Handelsroute auf der Karte glich. Da sie nichts Besseres hatten, entschlossen sie sich diesem Weg zu folgen, da zumindest einige Oasen eingezeichnet waren und sie früher oder später an einer Stadt vorbeikommen mussten.
Im Gegensatz zu der Hitze, die ihnen tagsüber zugesetzt hatte, war die Nacht in der Wüste verdammt kühl. Dick eingepackt in seinen Mantel, bahnte sich Atheris zusammen mit den anderen Greifen seinen Weg durch die unwirtliche Leere der Wüste. Am Zügel führte er Ker’zaer, der eine von Heskor gebaute provisorische Pritsche zog, die neben der bewusstlosen Nella auch einen Teil des Proviants beförderte. Der Mond hatte fast seine volle Größe erreicht, und er spendete mehr als genug Licht, dass er sich in dieser fremden Umgebung zurechtfinden konnte. Hinzu kam, dass die alten Erbauer vor Jahrhunderten in festen Abständen mehrere Fuß hohe Wegemarkierungen gesetzt hatten, die zum Teil noch sichtbar waren, obwohl der Wüstensand die Pflastersteine unter sich begraben hatte.
Trotz der Kälte und dem tiefen, weichen Sand kamen sie in dieser ersten Nacht gut voran, und erst als die Morgensonne schon hochstand am Himmel stand und es anfing deutlich wärmer zu werden, machten sie halt und spannten ein improvisiertes Sonnensegel aus ihren Umhängen auf, unter dem sich alle zusammendrängten. Nach einem kargen, streng rationierten Mahl und etwas Wasser legten sich Atheris wie seine Begleiter zum Schlafen nieder. Gegen Mittag hatte die Sonne ihren höchsten Stand erreicht und brannte unerbittlich auf sie nieder. Die Hitze war inzwischen so unerträglich geworden, dass Atheris keinen Schlaf mehr fand. Ker’zaer, der schwarze Hengst, litt am schlimmsten, und der Nilfgaarder begann sich große Sorgen um sein treues Tier zu machen. „Die Wasserreserven werden schneller zu Ende gehen als gedacht!“ stöhnte Viktor, als er den letzten Tropfen aus einem der Wasserschläuche trank. Atheris war inzwischen schon so erschöpft, dass er schon nicht mal mehr nickend zustimmen wollte. Wie in einem Delirium wartete er darauf, dass die glühende Sonne endlich am Horizont verschwinden würde, und er erwischte sich sogar dabei, wie er sich eingestand, dass die verregneten und vereisten Fjorde von Skellige schöner waren als das hier. Nach einer gewühlten Ewigkeit zog endlich die Kühle der Nacht heran und die Temperaturen wurden angenehm. Schnell packten sie das improvisierte Lager zusammen und zogen in die Dunkelheit weiter nach Westen. Trotz der körperlichen Strapazen und der bitteren Kälte empfand Atheris die Nacht als wohltuend, und den anderen Greifen schien es ähnlich zu ergehen. Auch in dieser zweiten Nacht kamen sie für sein Gefühl gut voran und die Hoffnung lebte, dass sie diesen Glutofen verlassen konnten, bevor sich die Vorräte dem Ende zuneigten. Leider hatte Nella nicht ihr Bewusstsein wiedererlangt, und so lag sie auch in dieser Nacht in eine dicke Decke eingepackt auf der Pritsche und nur ihre spitzen Ohren bewegten sich im Rhythmus des Pferdes. Atheris begann sich langsam ernsthafte Sorgen um ihre Gesundheit zu machen. Er kannte sich mit der Anatomie der Elfen nicht wirklich gut aus und konnte nicht abschätzen, wieviel Wasserverlust sie ertragen konnten, aber ihr inzwischen fahles, eingefallenes Gesicht sprach Bände. Immer wieder versuchten sie ihr Wasser einzuflößen, aber das gelang ihnen nur bedingt. Sie waren so verzweifelt, dass sie sogar die Möglichkeit diskutierten, ihr einen Hexertrank zu verabreichen, doch die Idee verwarfen sie schnell wieder, zu ausführlich und eindeutig waren Valerians Ausführungen im Alchemie Unterricht gewesen, dass für jemanden ohne die notwendigen Mutationen die Elixiere das reinste Gift darstellten. Die Stimmung erreichte ihren absoluten Tiefpunkt, als die Morgendämmerung einsetzte. Atheris ärgerte sich, sein gutes Gefühl hatte ihn getäuscht. Sie hatten fleißig die Steinmarkierungen gezählt, die sie passiert hatten, und es sah so aus, als ob sie eine deutlich geringere Strecke zurückgelegt hatten, als in der vorangegangenen Nacht. „For helvede! So kommen wir hier nicht raus!“ schimpfte Raaga beim erneuten Aufbau des Sonnensegels. „Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren, mein Freund!“ antwortete Viktor in seinem, für ihn typischen, ruhigen Tonfall. Als die Sonne höher stieg und die Temperaturen erneut brutal wurden, versuchte sich Atheris mit den Meditationstechniken, die er von Meister Valerian erlernt hatte, so gut wie möglich zu entspannen und seine innere Ruhe zu finden, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen. Völlig ausgelaugt machten sie sich am Abend erneut auf den Weg, in der Hoffnung, dass in dieser Nacht ein Wunder geschehen möge. „Verdammt, das war erst der zweite Tag in dieser Hölle!“ schimpfte Logan. „Wir halten durch, bis unsere Vorräte verbraucht sind, und wenn dann alle Stricke reißen, legen wir die Portalsteine wieder aus und probieren unser Glück eben erneut!“ antwortete Atheris, „ich habe wirklich keine Lust hier auf dem sandigen Boden als Gerippe unter dem Sand zu liegen oder von irgendeinem Wüstenwurm gefressen zu werden!“ fuhr er fort und Logan stimmte ihm zu. Immer wieder blickte Atheris in die Gesichter seiner Kameraden und sah, wie ausgelaugt und müde sie waren. Das harte Training von Valerian zahlte sich zumindest aus, denn in den Augen der Hexer konnte der Nilfgaarder die tiefe Entschlossenheit sehen, sich mit jeder Faser des Körpers gegen diese aussichtslose Situation zu stemmen, die Qualen zu überwinden und lebend aus diesem Glutofen zu entkommen.
Es war kurz vor Morgengrauen, als Atheris ein Geräusch vernahm, dass ihm die Nackenhaare aufrichten ließ … Würmer? Er schaute sich um, aber seine Augen fanden in dem fahlen Licht keine Hinweise. Zum dritten Mal errichteten sie ihr Lager und machten es sich so bequem wie möglich. „Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals eine flammende Sonne für ein schlechtes Zeichen halten könnte!“ stellte Atheris fest, dessen Heimatland genau dieses Symbol im Wappen führte. „Aen Ard Feainn! Dann soll es wohl so sein!“ seufzte er und ging zur Pritsche, suchte das Buch heraus, das er bereits vor einigen Tagen, während der Belagerung von Kaer Iwhaell erfolglos versucht hatte zu studieren und setzte sich unter das Sonnensegel. Falls sie keinen Weg aus dieser Wüste finden sollten, musste er wenigstens mehr über die Portalsteine herausfinden, sie könnten erneut die einzige Fluchtmöglichkeit bieten. Zu seinem Glück fanden die anderen ebenfalls keine Ruhe, und sie sinnierten gemeinsam über die Zeichnungen in dem Buch.
Gegen Mittag hatte es Atheris endlich geschafft etwas Schlaf zu finden, als er erneut das verdächtige Geräusch vernahm und aufschreckte. Er blickte sich um … keiner der anderen schien die Gefahr zu spüren. Es war Ker’zaers Schnauben, das Atheris dazu veranlasste, sich zu erheben, und langsam nach seiner Klinge zu greifen, die neben ihm in der Scheide auf dem Boden lag. „Atheris! Was ist los?“ flüsterte Raaga, der ihn mit einem offenen Auge musterte. „Die Würmer! Von denen ich euch erzählt habe!“ antwortete der Nilfgaarder…“ich glaube es sind welche hier!“. In einer flüssigen Bewegung erhob sich der Skelliger und gesellte sich mit seiner Axt an die Seite von Atheris. Eine ganze Weile standen die beiden kampfbereit da und beobachteten den Sand um sie herum. Sie nahmen keine Bewegungen war und obwohl sie auf einen eventuellen Angriff vorbereitet waren, überraschte sie eines dieser wurmartigen Wesen: Obwohl sie den Angriff erwarteten, waren sie dennoch überrascht, als eines dieser wurmartigen Biester aus dem Boden geschossen kam und versuchte, sich in Raagas Bein zu verbeißen. Reflexartig zog der Skelliger sein Bein nach oben und machte einen Hechtsprung zur Seite, wobei er einen Schrei von sich gab, der die Gefährten aus ihren unruhigen Träumen riss. Währenddessen führte Atheris einen schnellen Hieb mit seinem Schwert aus, traf auf die gezielte Stelle zwischen den Segmenten und schnitt den Wurm sauber in zwei Hälften … doch wider Erwarten fiel der Körper nicht sofort leblos zu Boden, sondern der vordere Teil setzte Raaga nach, während der hintere Teil wild zuckelte. Raaga beendete den Spuck, als er mit seiner Axt den Kopf des Wesens zertrümmerte. Auf einmal herrschte wieder Ruhe, keiner sprach ein Wort … der erlegte Wurm war Erklärung genug. Die Sonne brannte Atheris ins Gesicht und verursachte Kopfschmerzen. Der schwarze Hengst wurde unruhig und fing an mit den Hufen zu scharren. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris und stürmte los zu seinem Pferd. Es dauerte keinen Wimpernschlag und der erste Wurm, der sich unter Atheris befunden haben musste, schoss nach oben. Raaga reagierte schnell und nagelte den Wurm mit seiner Axt fest, so dass er dem Nilfgaarder nicht nachsetzten konnte. Vier weitere der Biester schossen nun an die Oberfläche und hefteten sich an Atheris Fersen. Für einen kurzen Moment herrschte Chaos unter den Gefährten, aber die Routine im Kampf gegen die ungewöhnlichsten und seltsamsten Kreaturen war ihr Handwerk und Valerian wäre sicher Stolz auf sie gewesen. Mit kurzen gezielten Hieben und Stichen machten sie ihren Gegnern schnell den Garaus. Sie formierten sich unter dem Sonnensegel und warteten … aber nichts geschah. „Haben wir alle erwischt?“ fragte Logan nach einer Weile. „Ich glaube nicht … sie liegen auf der Lauer!“ antwortete Atheris im Flüsterton. Viktor nahm vorsichtig ein großes Stück von einem der erschlagenen Würmer und warf es einige Schritt weit entfernt auf den Sand. Augenblicklich wurde der Kadaver unter die Erde gezogen. „Verdammt!“ kommentierte Viktor die bittere Erkenntnis, die sie soeben gewonnen hatten. Es gab viele Jäger im Tierreich, die ihre Beute in die Enge trieben oder verletzten und dann warteten, dass sie starben oder so geschwächt waren, dass sie leichtes Spiel hatten. Inzwischen hatten die Viecher sicherlich gelernt, dass ihre Beute nicht leicht zu erlegen war und sie hatten ihre Taktik geändert. Vermutlich würden die Wesen, in deren natürlichen Habitat sie sich befanden, darauf warten, dass sie einen entscheidenden Fehler machten … die Zeit war auf jeden Fall auf ihrer Seite.
Als die Nachmittagssonne sich langsam wieder dem Horizont näherte und die abendliche Kühle die Gruppe durchschnaufen ließ, kam auch der Moment der Entscheidung. Lange genug hatten sie sich darüber ausgetauscht, was sie für Möglichkeiten hatten, während sie auf einen weiteren Angriff gewartet hatten … der aber nicht gekommen war. Sie hatten sich vorerst gegen eine erneute Nutzung des Portals entschieden und würden den Versuch wagen, sich durch die unbekannte Anzahl dieser Würmer zu schlagen in der Hoffnung, dass sie von ihnen abließen, wenn sie sich nur teuer genug verkauften. Atheris war das recht, er wollte lieber seinen eigenen Fähigkeiten vertrauen, als erneut sich auf einen glücklichen Zufall zu verlassen.
Gerade als sie sich wieder marschbereit machen wollten, durchbrach ein seltsamer Tierschrei die morgendliche Ruhe. „Was bei Valerians grauem Bart war das?“ zischte Logan. Atheris blickte gespannt in die Richtung, aus der sie das Geräusch gehört hatten. Es dauerte nicht lange bis fünfzehn berittene Gestalten am Horizont erschienen, und sich mit rascher Geschwindigkeit näherten. „Dromedare!“ stellte Atheris erstaunt fest, Saleha hatte ihm bei einem guten Wein von den exotischen Tieren ihrer Heimat erzählt. Neben Dromedaren und riesigen Geiern gab es auch schwarzweiß gestreifte Pferde in Ophir, nur diese ekelhaften Würmer hatte sie ihm vorenthalten. Die Reiter waren in lange bunte Roben gekleidet und trugen große Turbane auf dem Kopf. In ihren Händen hielten die meisten von ihnen kleine Rundschilde und in der anderen langen Lanzen.
Was genau ihre Intension war, konnte Atheris nicht erkennen und nachdem sie auch noch anfingen mit wildem Geschrei auf ihre Schilde zu trommeln, schloss sich seine Hand fester um den Griff seiner Klinge. „Egal was passiert! Haltet die Formation!“ brüllte Atheris über den Lärm hinweg. Zwanzig Schritt vor dem Lager wichen die Reiter nach rechts aus und begannen, in einer enger werdenden Spirale die Greifen zu umkreisen. Auf einen lauten Befehl hin stießen die Männer ihre metallenen Lanzen in den Boden und zogen ihre Säbel. „Wollen die uns verarschen!“ schimpfte Logan, der sichtlich genervt schien von dem Spektakel. Als sie auch noch anfingen mit der flachen Seite gegen die Lanzen zu schlagen, konnte Atheris spüren, wie der Boden leicht anfing zu vibrieren. Schon nach kurzer Zeit schossen die Würmer aus dem Boden und die Reiter zogen die Lanzen wieder aus dem Boden und machten Jagd auf die wild umherkriechenden Biester. Das Spektakel dauerte nicht lange und neun weitere Würmer lagen tot auf dem Wüstenboden … dann wurde es ruhig. Atheris, der seine Klinge noch immer erhoben hatte, war verwundert über das was die Fremden gerade veranstaltet hatten. Einer der Wüstenreiter, vermeintlich der Anführer der Gruppe, näherte sich ihnen und begann, in einer für Atheris kaum verständlichen Sprache zu reden. „Hört sich entfernt nach elfisch an!“ dachte er sich. Die Stimme des Anführers hörte sich warm und unerwartet freundlich an. „Wir verstehen deine Sprache nicht!“ versuchte er höflich mit Gesten zu vermitteln, und erhob dabei seine beiden Hände, um ihre friedlichen Absichten zu untermauern, dabei machte er drei Schritte aus der Formation heraus auf den Anführer zu. Der Anführer schien zu verstehen und wechselte in eine andere Sprache, die für Atheris entfernt nach den Dialekten, aus den südlichsten kaiserlichen Provinzen klang und er zumindest die grobe Kernbotschaft verstand. Da er nicht wusste, inwiefern seine Freunde in der Lage waren, selber zu verstehen, was gesagt wurde, versuchte er es sinngemäß zu übersetzten. „Friede sei mit euch, Sadiq! Mein Name ist Zahir ben Salem!“ sprach der Anführer und breitete dabei seine Arme offen vor der Brust aus, wobei seine Handflächen gen Himmel zeigten. „Aen Ard Feainn! Mein Name ist Atheris von Toussaint!“ antwortete der Nilfgaarder und wieder holte die Geste von Zahir. „Was treibt euch in diese trostlose Gegend?“ stellte der Wüstenmann weiter seine Fragen. „Meine Freunde und ich sind durch unglückliche Umstände in diese missliche Lage geraten!“ entgegnete Atheris. „La yuhimu! Ihr habt Glück gehabt meine Freunde, dass meine Späher euch entdeckt haben, die nächste Oase liegt etwa zwei Tagesreisen von hier entfernt, und so wie es aussieht werdet ihr sie mit euren Vorräten und eurem zustand kaum erreichen können!“ fuhr Zahir fort. „Werdet ihr uns Helfen… Sadiq?“ fragte Atheris und machte eine Geste in Richtung seiner Freunde. Zahir entblößte eine Reihe strahlend weißer Zähne, bevor der braungebrannte Mann antwortete: „Das Gebot der Gastfreundschaft wird bei meinem Volk hochgehalten, Sadiq. Wir werden euch nicht den Aasfressern überlassen. Meine Karawane befindet sich nicht weit von hier und erwartet meine Rückkehr. Macht euch bereit und folgt uns!“ erneut machte Zahir eine einladende Geste.
Während die Greifen ihre Ausrüstung zusammenpackten und auf zwei Dromedaren verstauten, die Zahir ihnen zur Verfügung gestellt hatte, trat Egon zu Atheris. „Meinst du, wir können ihm vertrauen?“ – „Haben wir eine bessere Wahl?“ antwortete Atheris mit einem leichten Schulterzucken. „Wenn du die Portalsteine meinst…nein!“ erwiderte Egon mit einem leicht resignierten Blick. Atheris war überrascht, als die Ophiri sie einluden auf ihren Dromedaren mitzureiten und auch seinem Hengst wurde die Last der Pritsche abgenommen. Das Aufsteigen auf die exotischen Tiere war gewöhnungsbedürftig, denn sie legten sich auf den Boden, damit die Reiter Platz nehmen konnten. Atheris hatte so etwas Ähnliches im Krieg erlebt. Bei den Friedensgesprächen von Cintra war König Henselt von Kaedwen so fett gewesen, dass man seinem Pferd beigebracht hatte, für ihn auf die Knie zu gehen, damit der Mann ohne seine Würde zu verlieren aufsteigen konnte. Der ungewohnte Passgang der Tiere fühlte sich seltsam an und mehrfach erwischte er sich dabei, wie er sich am Sattel festkrallte, weil er dachte, das Dromedar würde umkippen. Er brauchte nicht lange um für sich zu entscheiden, dass er den Kreuzgang der Pferde bevorzugte. Zumindest konnte er aber nun nachvollziehen, warum man diese Tiere auch Wüstenschiffe nannte, denn in der Tat hatte man bei geschlossenen Augen das Gefühl, sich auf einem Boot bei leichtem Wellengang zu befinden. Wie ihnen Zahir versprochen hatte, dauerte es nicht lange und sie gelangten zu dem Rest seiner Karawane, und gemeinsam zogen sie durch die kühle Nacht weiter. Kurz nach dem Sonnenaufgang schlugen sie das Lager im Schatten zweier massiver Felsen auf. Es dauerte auch nicht lange und zehn große Zelte waren aufgestellt. Es herrschte trotz der steigenden Temperaturen ein reges Treiben im Lager. Ihr Gastgeber Zahir hatte sich erwartungsgemäß in das größte und prunkvollste der Zelte zurückgezogen, aber auch das ihnen zur Verfügung gestellte Zelt konnte sich sehen lassen. Es war groß genug, dass alle bequem platzfanden und sich auf weichen Kissen ausstrecken konnten. Im Zelt war es trotz der hohen Außentemperaturen angenehm kühl, und ein ‚Khadim‘ – eine Art Bediensteter – brachte ihnen Wasser und seltsame braune, getrocknete Früchte, die aber recht gut schmeckten und ein sättigendes Gefühl verursachten. Atheris fiel auf, wie sein Pferd das Interesse einiger Ophiri weckte. Saleha hatte ihm erzählt, wie pferdebegeistert die Menschen in Ophir waren. „Die besten Reittiere der Welt stammen aus Ophir!“ hatte sie erzählt … aber er glaubte das nicht. Im Gegensatz zu den eher kleinen und wendigeren Tieren aus Ophir, war Ker’zaer eine Züchtung aus seiner Heimat Toussaint, bei der viel Wert auf Kraft, Vielseitigkeit und einen guten Charakter gelegt wurde, damit die Tiere sich hervorragend für die Hohe Schule der Reitkunst eigneten. Er hätte sich selber ein so edles Tier nie leisten können, aber Ker’zaer war ein Geschenk von einem nilfgaarder Adligen für seine Verdienste nach der Schlacht von Brenna und der darauffolgenden gemeinsamen Flucht durch die Sümpfe bis zur Jaruga, gewesen. Neben der Verpflegung sendete Zahir ihnen auch seinen persönlichen Medicus vorbei, der ihre Wunden untersuchte und versorgte. Für Nella konnte der Mann, der sich als Sharif vorstellte, leider nicht viel machen. „Ihr Körper ist durch den Wasser- und Nahrungsmangel zwar geschwächt, aber ansonsten fehlt ihr nichts!“ war seine Diagnose gewesen. Bei den Mangelerscheinungen konnte er zumindest helfen, mit einer Art Schlauch und Trichter verabreichte er der Magierin eine trübe, gelb-bräunliche Flüssigkeit, die in den feinen Nasen der Hexer fürchterlich stank. „Das wird ihren Körper stärken, so dass er sich von den Strapazen erholen kann … gegen ihre Bewusstlosigkeit haben meine Mittel nicht geholfen, es tut mir leid Sadiq!“ erklärte er sich, bevor er das Zelt nach einiger Zeit wieder verließ.
Es war das erste Mal seit dem Fall von Kaer Iwhaell, dass die Greifen sich richtig erholen konnten. Bis auf Raaga und Atheris hatten sich alle zum Schlafen niedergelegt. Mit einem Weinkelch in der Hand näherte sich der nilfgaarder Hexer seinem Freund, der es sich auf einem weichen Kissenlager bequem gemacht hatte und zu ihm hinaufblickte. „Wir hätten es deutlich schlechter erwischen können!“ meinte Atheris und der Skelliger nickte zustimmend, wie es seine Art war. „Ob es Valerian ebenfalls in Sicherheit geschafft hat? Ich habe in dem Gemetzel nicht mehr sehen können, was passiert ist.“, fuhr er fort. „Ich bin mir sicher, dass der Alte heil rausgekommen ist, er hat nicht nur die Augen einer Katze, sondern auch deren sieben Leben!“ antwortete Raaga und wirkte dabei ziemlich zuversichtlich. Die beiden älteren Hexer unterhielten sich noch eine ganze Weile über die Vorgänge in den letzten Tagen. Sie waren sich einig, dass der beste Weg um zu ihrem Ziel – die Leuenmark – zu kommen über Miklagard führte. Die beiden Cousinen waren reich und hatten beste Verbindungen – allerdings trieben sie sich nicht immer in ihrer Heimatstadt rum, aber über das Problem konnten sie sich noch Gedanken machen, wenn es eintreten würde. Von dem riesigen Handelshafen Miklagards würden sie sicher über den Seeweg weiterreisen können. Die Frage war, wie weit lag Miklagard von ihrer jetzigen Position entfernt? Wenn sie Glück hatten, war das Ziel der Karawane von Zahir bereits eben jene Stadt und sie mussten ihn nur überzeugen, sie mitzunehmen.
Gerade als sich die beiden über den besten Ansatz unterhielten, betrat ein Ophiri das Zelt. „Mein Herr hat nun Zeit für euch, Sadiq!“ sprach er, wartete einen höflichen Moment und trat wieder ins Freie. Die beiden Hexer erhoben sich und folgten dem Khadim aus dem Zelt, während sie den Rest der Gefährten weiterschlafen ließen. Sie schritten an mehreren Zelten vorbei, in denen sich die Wachen und Arbeiter ausruhten. Die kostbaren Waren wurden streng bewacht, und als sie das große Zelt von Zahir erreichten, hatten sie sich einen guten Eindruck über die Karawane verschaffen können. Vor dem Zelt stand ein Wächter, der Atheris um einen guten Kopf überragte, und der sie mit seinem großen Krummsäbel in der Hand kritisch beäugte. Letztendlich trat er aber zur Seite und gab den Weg ins Innere frei. Das Zelt war geräumig und ließ trotz seiner Zweckmäßigkeit den Reichtum Zahirs erahnen. Der Kaufmann saß auf einem großen Kissen auf einer Empore und hatte eine Art Schlauch im Mund stecken, der zu einem Gefäß führte, in dem eine grünliche Flüssigkeit über einem kleinen Feuer blubberte. Kleine, weiße Wolken verließen beim Ausatmen seine Nase und verbreiteten einen interessanten Geruch im Zelt. Hinter ihm stand ein junger, in kostbare Gewänder gehüllter Mann und betrachtete die Fremdlinge aus aufgeweckten, fast schwarzen Augen. Atheris erinnerte sich, dass dieser Ophiri schon während der letzten Nacht nicht von Zahirs Seite gewichen war … vielleicht ein Leibwächter? Was folgte war ein traditioneller Ophirische Gästeempfang, bei dem Essen und Wein geteilt und höfliche Floskeln ausgetauscht wurden. Die ganzen Rituale zogen sich ziemlich in die Länge, und Atheris bemerkte, wie sein Freund Raaga bereits ungeduldig auf seinem Platz hin und her rutschte – der Skelliger hasste derart offizielle Anlässe. Im weiteren Verlauf des Gesprächs lenkte Atheris mehr oder weniger geschickt auf das Thema Miklagard. Er war erleichtert zu erfahren, dass die Stadt sich tatsächlich in ihrer Nähe befand und die Wüste im Westen an den Grenzen zu eben jener Stadt endete. Nachdem er zusätzlich noch die Namen der beiden Cousinen Eiwa und Saleha in einem Nebensatz fallen ließ, hatte er spätestens das Interesse Zahirs geweckt. Ob Miklagard tatsächlich auf seinem Weg gelegen hätte konnte Atheris nicht sagen – es interessierte ihn aber auch nicht weiter, denn der Kaufmann bot ihnen an, sie bis zu ihrem Ziel zu bringen. Als sie viel später endlich wieder in ihrem Zelt waren, ließ sich Atheris auf sein Kissenlager fallen, streckte sich ein letztes Mal und schlief erleichtert ein. Der Weg durch die Wüste könnte sich von einer üblen Tortur zu einer angenehmen Erfahrung wandeln.
Kapitel 4 – Überfall
Zahir hatte recht behalten, es dauerte noch gute zwei Tagesreisen durch die trostlose Wüste, bis sie schließlich die Oase erreicht hatten. Atheris hatte die Zeit damit verbracht, mehr über Ophir zu erfahren. „Wissen ist Macht!“ war der Leitspruch der Gelehrten vom Kastell Graupian gewesen, wo er seine Jugendzeit verbracht hatte. Frei nach diesem Credo hatte er Gespräche geführt, beobachtet und sich unter die Leute gemischt. Die größten Gefahren in der Wüste waren tatsächlich die extremen Temperaturen, verbunden mit Wassermangel und die unliebsamen Sandwürmer, die über Erschütterungen des Bodens ihre Opfer fanden – diese Gefahren wären aber noch einigermaßen überschaubar gewesen, da die Würmer nicht bekannt dafür waren, große Gruppen an Menschen anzugreifen – eine große Gefahr war der rechtsfreie Raum, der viele Räuber und Verbrecher anzog. Weder Miklagard noch irgendeines der anderen an die Wüste angrenzenden Königreiche in Ophir versuchten diesen Glutofen komplett zu kontrollieren, zu groß und zu unwirtlich war dieses Gebiet. Die Folge war, dass Karawanen, wie die von Zahir, ihre eigene Privatarmee benötigten, um dieses Gebiet sicher zu passieren. Der alte Karawanenführer von Zahir schien aus Atheris Sicht ein Meister seines Faches zu sein, denn er führte sie über geheime und sichere Pfade ohne Zwischenfall zu der Oase, die sich in einem kleinen Tal vor ihnen ausbreitete.
Die Größe und das geschäftige Treiben, das hier herrschte, erstaunte Atheris. Er hatte sich nicht vorstellen können, dass so ein lebendiger Ort in einer Wüste existieren kann – auch wenn er davon gehört hatte. Es mussten mindestens drei unterschiedliche Karawanen ihr Lager hier aufgeschlagen haben, um ihre Wasservorräte zu füllen. Dieses kleine Tal war wohl ein wichtiger Knotenpunkt der Handelsstraßen zwischen den östlichen und westlichen Reichen Ophirs – vielleicht war es sogar mal eine Stadt gewesen, die ebenfalls zum Teil aufgegeben worden war. Es gab große Steingebäude, in denen geschäftstüchtige Familien ihre Leistungen für die Reisenden Händler darboten, einen kleinen Markt, auf dem Früchte und Getränke verkauft wurden und so manch ein Geschäft zwischen den Karawanen schon gemacht wurde, bevor diese ihr Ziel erreichten. Zuletzt gab es sogar noch eine kleine Arena, in der ab und an Wettkämpfe ausgetragen wurden. Nachdem ihnen einer der Dienstbote Zahirs mitgeteilt hatte, dass sie hier einen Tag lagern würden, um den Tieren und Menschen die dringend benötigte Erholung zu bieten, machte sich Atheris auf, und schlenderte zwischen den alten Gebäuden umher. Auf seinem Streifzug traf er auf Heskor, der dabei war, die verschiedenen Handelsgüter genauer zu inspizieren. Atheris kannte ihn schon eine ganze Weile und wusste, dass der alte Dienstleister immer auf der Suche nach der nächsten gewinnbringenden Geschäftsidee war. Das kleine Handelsgeschäft, das er führte, war jahrelang sein finanzielles zweites Standbein und zugleich auch seine Tarnung für seine nicht legalen Aufträge gewesen.
Die letzten Jahre waren bescheiden gelaufen, Atheris hatte miterlebt, wie der Großteil seines Vermögens innerhalb von wenigen Tagen verloren gegangen war. Gerade als der Gute wieder einigermaßen Fuß gefasst hatte, ging ein Großteil seiner Ware bei der Schlacht um Kaer Iwhaell in Flammen auf. Die wenigen Besitztümer, die Heskor noch hatte, trug er entweder am Körper oder – so hoffte Atheris – auf dem Weg in die Leuenmark. Die Welt bot unendlich viele Möglichkeiten, man musste nur die Augen und Ohren offenhalten und die Gelegenheit beim Schopf ergreifen. Heskor zeigte ihm, wie intensiv die Ophiri ihren Handel betrieben – gestenreich, lautstark und schnell. Ein Handschlag hier, eine erhobene Hand dort und die Ware wechselte den Besitzer. Neben der Art und Weise war auch die Frage, was die Händler hier an Waren darboten, für Heskor von Interesse. Feinste Seide und andere kostbare Stoffe, herrlich verarbeiteter Schmuck mit seltenen Juwelen besetzt, fruchtige Weine und etwas, stärkerer Alkohol – der nach Lakritze schmeckte, Gewürze, die Atheris nicht kannte und Felle von Tieren, von denen er noch nicht einmal geträumt hatte. Heskor schien begeistert zu sein, wenn er diese Waren auf den Märkten in den nördlichen Königreichen oder vielleicht auch im Kaiserreich feilbieten würde, könnte er ein Vermögen machen. Einzig die lange Überfahrt zwischen den Kontinenten war ein nicht zu unterschätzendes Risiko, sonst würde der Handel bereits florieren. Heskor kam mit der Idee, die Portalsteine zu nutzen. Eine permanente Verbindung zwischen den Kontinenten wäre eine schnelle und sofern von einem Magier überwacht auch sicherer Weg, die kostbaren Waren zu transportieren. Er würde bei nächster Gelegenheit auf jeden Fall ein Gespräch mit Nella oder Lennox führen. Gut gelaunt schlenderten die beiden weiter und Heskor ließ seinen Geschäftsphantasien freien Lauf und Atheris hörte ihm mal mehr oder weniger interessiert zu.
Als die Dunkelheit über die Oase hereinbrach und das Treiben in den Lagern zunahm – eine Karawane schien sich für die Weiterreise vorzubereiten – machten es sich die beiden unter einer Palme bequem. Heskor zog eine dicke Pfeife aus seiner Tasche, stopfte diese mit ‚dem besten Tabak der Welt‘ und ließ kleine Ringe in den Abendhimmel steigen. Atheris lehnte sich zurück an den Baum, schlug die Beine übereinander, faltete die Hände hinter dem Kopf und betrachtete, wie die letzten Sonnenstrahlen am Horizont verschwanden.
„Oh! Jetzt wird’s interessant!“ freute sich Heskor und zeigte mit seinem Finger auf eine Gestalt, die zwischen den Zelten umherstrich. Atheris wusste, dass Heskor kein moralisches Urteil über Diebe oder vielleicht auch heimlich Liebende fällte. Noch interessanter wurde es, als ein weiterer Schatten zum ersten stieß. Einen dritten entdeckten die beiden hinter einem seltsamen Baum. „Was habt ihr vor?“ sinnierte Atheris noch laut, als einer der Schatten eine Fackel entzündete und begann, diese hoch in der Luft zu schwenken. Er folgte der Blickrichtung, in die der Verdächtige schaute und auf einmal war da am Rande einer Düne ein zweites Signal. Das war alles andere als ein harmloser kleiner Diebstahl oder eine heimliche Liebschaft, das war ein verdammter „Überfall!“ schrie Atheris seinen letzten Gedanken laut aus und zog sein Stahlschwert vom Rücken. Heskor neben ihm hatte die Situation ebenfalls erkannt und begann bereits mit gezogenen Dolchen hinunter zu den anderen Kameraden zu rennen.
Seine feinen Ohren warnten Atheris vor dem heranreitenden Angreifer. Im letzten Moment warf er sich zu Boden und entkam damit der gekrümmten Klinge, die sich von hinten auf ihn herabgesenkt hatte. Er rollte sich schnell zur linken Seite, um nicht von einem zweiten Reiter nieder gemacht zu werden. Zu seinem Leidwesen waren es mehr als zwei Reiter die angriffen und so erwischte ihn ein dritter Angreifer, und er wurde hart niedergeritten, wobei ihn das Knie des Pferdes hart am Kopf traf. Für einen kurzen Moment schien es so, als ob die Sterne vor seinem inneren Auge mit hoher Geschwindigkeit zusammengezogen wurden, bevor er von einer alles umfassenden Dunkelheit umgeben wurde. Er musste für einen längeren Moment das Bewusstsein verloren haben, denn als er die Augen wieder öffnete und sich seine Sicht wieder schärfte, war in der Oase die Hölle losgebrochen. Brennende Zelte und Häuser, schreiende Menschen und Tiere und überall Leichen. Der Vollmond wurde von dem dunklen Rauch verhüllt. Seine Augen suchten das Zelt, indem seine Freunde lagerten. Das Zelt stand in Flammen und der Sandboden vor dem Zelt war vom roten Blut durchtränkt. In der Mitte standen Viktor und Raaga Rücken an Rücken und erwehrten sich der Angreifer. Mit einem kurz aber kräftig geführten Stich seiner im Mondlicht blitzenden Klinge holte Viktor gerade einen der Banditen aus dem Sattel, während Raaga seine Axt aus einem zertrümmerten Brustkorb zog, nur um sie einen Augenblick später in den Schädel eines in schwarz gekleideten Mannes zu versenken. Aber wo waren die anderen? Immer noch leicht schwankend und mit einem schmerzenden Kopf rannte er so schnell es ging durch den tiefen Sand auf Viktor und Raaga zu. Als er noch etwa vierzig Schritt von seinen Freunden entfernt war, flog einer der Banditen durch eine Zeltöffnung und blieb reglos vor ihm liegen, dabei starrten die leeren Augen ihn an, als ob sie immer noch nicht realisiert hatten, was soeben passiert war. „Atheris, wo warst du? Wir haben dich überall gesucht!“ schrie Logan, als er durch die Zeltöffnung, dicht gefolgt von Egon, ins Freie trat. „Ihr habt mich gefunden! Los zu den anderen!“ rief Atheris und rannte weiter. Wo war eigentlich Heskor geblieben? Immer wieder suchte er nach dem Assassinen, nicht, weil er sich Sorgen um ihn machte, denn er konnte sehr gut auf sich selbst aufpassen, viel mehr interessierte ihn, warum er nicht hier war zum Helfen! Mit den beiden jungen Hexern dich an seinen Fersen rannte er zu dem, was einst ihr Zelt gewesen war. „A d’yaebl aép arse! Wo ist Nella?“ entfuhr es Atheris. Panik stieg in ihm auf, die Magierin war in ihrer Bewusstlosigkeit den Angreifern schutzlos ausgeliefert. Er versuchte sich einen Überblick über das Chaos zu verschaffen, aber das war unmöglich, es gab keine Ordnung mehr. Er entdeckte Viktor und Raaga, die inzwischen stark unter Bedrängnis standen und sich zwischen zwei steinerne Mauerreste zurückgezogen hatten. „Helft den beiden!“ sagte Atheris und die beiden jüngeren Hexer rannten los.
Atheris rannte auf der Suche nach Nella durch die umkämpften Straßenzüge, bis er Ker’zaer entdeckte. Einer der Banditen hatte sich des Tieres bemächtigt und ritt mordend durch die fliehenden Zivilisten. Wütend rannte der Hexer dem Reiter hinterher und als der Dieb den Fehler machte, das Pferd zu zügeln, um sich einen Kelch aus einen der Straßenläden zu nehmen, kannte Atheris keine Gnade und trieb seine Stahlklinge dem Mann von hinten durch das Genick. Leblos fiel der Körper zu Boden und Atheris schwang sich auf sein Ross, das ihn mit einem freundlichen Schnauben begrüßte.
Der Rückzug der Banditen kam genauso überraschend wie der Angriff. Atheris sah, wie immer mehr der Reiter ihre Plünderungen einstellten und sich aus dem Staub machten. Wider besseren Wissens entschloss sich der Hexer den Fliehenden zu folgen. Etwas außerhalb der Oase war offenbar der Sammelpunkt der Schurken. In einer großen Senke zwischen zwei Dünen warteten inzwischen zwei Dutzend Reiter und es trafen tropfenweise immer noch Nachzügler ein. Atheris wartete etwas abseits und beobachtete ungesehen, was sich vor seinen Augen abspielte. Es war sein Glück, dass die Meute nicht sonderlich diszipliniert zu sein schien, denn anstatt leise zu warten, jubelte die Menge über den erfolgreichen Raubzug, wohl fest in der Annahme, dass sie keiner verfolgen würde. Neben verschiedensten Kisten, Töpfen und Körben hatten sie auch einige Gefangene gemacht, darunter entdeckte er auch die Elfenmagierin, die sich einer der Männer vor sich auf sein Pferd gezogen hatte. Nun hing sie dort wie ein nasser Sack und Atheris war kurz davor seinem Pferd die Sporen zu geben und die Drecksäcke niederzumachen. „Warte, Atheris!“ flüsterte Heskor, der scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht war. „Wenn du jetzt angreifst, erreichst du nur deinen schnellen Tod!“ fuhr er fort. Heskor hatte sicherlich recht, ein Fontalangriff war nicht sonderlich erfolgsversprechend, aber er hatte schon aussichtslosere Kämpfe geführt und überlebt. So warteten die beiden unerkannt bis sich die Gruppe gesammelt hatte. Der vermeintliche Anführer, ein großer Mann mit hageren Gesicht und einem fein rasierten Vollbart, zählte seine Männer und war sichtlich sauer über das Ergebnis, es schien ein höherer Blutzoll gewesen zu sein, als ihm lieb war. Nichts desto trotz machten sie sich im Licht des Mondes auf den Weg zurück in die Wüste. Atheris und Heskor hielten etwas Abstand und folgten den im Sand gut sichtbaren Spuren. Der Mond hatte noch nicht seinen Zenit erreicht, als die Räuberbande vor einem kleinen Gebirgszug haltmachte. Ein Felsen versperrte ihnen den Weg in die dahinterliegende Schlucht. „Aftah ya samsam!“ sprach der Anführer in einem gebieterischen Tonfall, und wie von Geisterhand bewegte sich das Hindernis zur Seite und gab den Eingang frei. „Hmmmm…!“ flüsterte Heskor und Atheris stimmte seinem Kameraden zu. Als der letzte der Räuber die Schlucht betreten hatte, rollte der Felsen zurück in seine ursprüngliche Position. Die beiden Gefährten machten einen großen Bogen und näherten sich dem Eingang von der Seite. Die Pferde ließen sie unter einem Felsvorsprung zurück und legten die letzten Schritte zu Fuß zurück. Am Felsen angelangt hielten sie kurz inne und lauschten nach Geräuschen. Heskor hob die Faust, dann den Zeigefinger und den Mittelfinger – Zwei. Atheris nickte zustimmend. Seine feinen Ohren hatten auch mindestens zwei leise Stimmen vernommen, die sich unterhielten. Atheris beobachtete, wie Heskor vorsichtig mit der Handfläche über den Felsen strich und sich dann die Berührungspunkte am Übergang zwischen Fels und Steinwand genauer betrachtete. Mit einer flinken Bewegung tauchte auf einmal aus dem Nichts ein kleines Messer in der Hand von Heskor auf und er schnitt eine kleine Öffnung in den Felsen … wobei Felsen falsch war, wie Atheris erkannte. Es musste sich um eine Attrappe handeln. Heskor benötigte eine gefühlte Ewigkeit mit seiner Arbeit, denn immer wieder hielt er inne und schien zu lauschen, was sich auf der anderen Seite des Eingangs abspielte. Gerade als Atheris anfing ungeduldig zu werden, verschwand das Messer und Heskor zauberte einen kleinen Spiegel hervor, der an einem Stab befestigt war. Diesen führte er durch das Loch und machte sich vermutlich ein genaues Bild der Situation. Er schien mit seiner Erkenntnis zufrieden zu sein, denn er steckte auch den Spiegel wieder weg und zog dafür ein kleines Ledertäschchen hervor und öffnete es leise. Atheris erkannte zwei kleine metallene Röhrchen, die Heskor herausnahm und zusammensteckte – ein Blasrohr, interessant. Der Hexer beobachtete weiter, wie sein Begleiter eine kleine Innentasche öffnete, in der vier kleinen metallenen Phiolen befestigt waren. Der Auftragsmörder schien einen Moment zu überlegen und entschied sich dann für eines der Gifte ‚Nowitschok` – interessante Wahl, dachte sich Atheris.
Als nächstes zog er zwei kleine Pfeile aus ihrer Befestigung, öffnete das Giftfläschchen und tauchte die Pfeilspitzen hinein. Langsam steckte er das Blasrohrdurch die Öffnung und schaute durch das Rohr, steckte dann den ersten Pfeil hinein und schoss. Heskor wiederholte das Ganze in atemberaubender Geschwindigkeit ein zweites Mal, als wenn es das natürlichste der Welt war. Atheris vernahm nur einen Wimpernschlag später das dumpfe Aufprallen zweier Körper. Zufrieden mit seinem Ergebnis nahm Heskor die Felsenattrappe und schob sie weitgenug zur Seite, dass sie passieren konnten. Atheris sah die beiden Wachen, die leblos am Boden lagen und offensichtlich bei einem Kartenspiel ihr zeitliches gesegnet hatten. Nicht gerade ehrenhaft, dachte sich Atheris, aber andererseits waren das Räuber und keine Männer von Ehre. Atheris wollte schon der Schlucht weiter folgen, als er merkte, dass Heskor zurückgeblieben war. Als er sich nach seinem Begleiter umblickte, sah er, wie sich dieser die Zeit nahm, um die beiden Männer so zu drapieren, dass man auch den ersten Blick denken musste, dass sie friedlich dasaßen und Karten spielten – Atheris lief es kalt den Rückenrunter. Er hatte seinen Freund noch nie bei seiner eigentlichen Tätigkeit beobachtet … vielleicht musste er das Bild, das er sich von Heskor gemacht hatte doch nochmal überdenken … aber dafür war jetzt keine Zeit. Sie folgten der schmalen Schlucht zu einem Höhleneingang, der gerade breit genug war, um einen Reiter passieren zu lassen. Nachdem die beiden sich vergewissert hatten, dass der Eingang nicht bewacht wurde, schlichen sie sich in die Dunkelheit. Im Inneren öffnete sich eine große natürliche Halle, die über tausende von Jahren durch Wasser und Sand aus dem harten Stein geschliffen worden war. Ein schmaler Pfad, der aus dem harten Stein der Höhlenwand geschlagen worden war, führte gut zehn Schritt in die Tiefe. Am Höhlenboden sah er das Lager der Räuber, wobei Lager absolut untertrieben war, es wirkte vielmehr wie eine kleine Siedlung mit Gebäuden und Ställen. Das wertvollste in der Höhle war mit Sicherheit ein kleiner See mit genügend Wasser, um die Siedlung zu versorgen und das Leben in der Wüste überhaupt erst ermöglichte.
Ob es hier eine unterirdische Quelle gab oder das Wasser woanders herkam, konnte er auf die Schnelle nicht feststellen. Durch ein großes Loch in der Höhlendecke gelangte etwas Mondlicht, so dass Atheris mit seinen scharfen Augen keine Probleme hatte sich gut zurecht zu finden, ob die Lichtverhältnisse für Heskor ein Störfaktor waren, konnte er nicht sagen, aber der Attentäter machte keine Anzeichen, dass er darüber nachdachte. Von ihrer Position aus hatten sie einen guten Überblick und konnten sehen, wie die erbeuteten Waren in einem Lagerhaus gesammelt wurden. Der Räuber, der Nella entführt hatte, schien auf einmal nicht mehr glücklich mit seiner Beute zu sein, denn er musste sich von seinem Anführer eine ordentliche Standpauke anhören – vielleicht sollten bewusst keine Personen entführt werden? Egal, der Anführer ließ die Elfe von zwei weiteren Männern in das größte der Häuser tragen. Langsam schlichen sie den Pfad hinab, wobei schleichen nicht die größte Stärke von Atheris war. Die gefühlte Sicherheit, in der sich Räuber wähnten, machte es ihnen aber verhältnismäßig einfach, ungesehen zwischen die ersten Gebäude zu gelangen. Der Hexer bemerkte eine ihm inzwischen bekannte Bauweise, es war dieselbe wie in der verlassenen Wüstenstadt – aber deswegen waren sie nicht hier. Beide harrten einen Moment zwischen zwei Kisten versteckt aus und beobachteten das Treiben. Die meisten Männer waren noch beim Verladen und Begutachten der geraubten Güter beschäftigt. Zwei weitere ließen sich von einem alten Feldscher die Wunden behandeln. Ihre Toten hatten sie in der Oase zurückgelassen. In einem ungesehenen Moment kletterte Heskor auf das Flachdach des Gebäudes und verschwand aus dem Sichtfeld von Atheris. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris leise und kletterte dem Gefährten nach aufs Dach. Heskor hatte sich inzwischen neben eine alte Holzkiste gelegt, die genügend Deckung bot und sich eine von Ratten zerfressene, durchlöcherte Decke über den Kopf gezogen. Atheris robbte zu ihm hinüber, vermied aber mit der übelstinkenden Decke in Kontakt zu kommen. Eine Weile lagen die beiden dort auf dem Dach und beobachteten das große Gebäude, in dem sich Nella aufhielt und dessen Umgebung. Sie durften sich nicht ewig Zeit lassen, die Nacht war schon so gut wie vorbei und Atheris wollte vermeiden, dass sie durch die pralle Mittagssonne den Weg zur Oase finden mussten. Es war ein stetes Kommen und Gehen in dem Haus, Atheris vermutete, dass es sich vielleicht um eine Art Taverne handeln konnte, in der sich die Männer ihre Rationen holen konnten, oder sich zu gesellschaftlichen Zwecken trafen. Das Haus hatte insgesamt drei Stockwerke und im obersten schien der Anführer sein Lager aufgeschlagen zu haben. „Heskor! Wie machen wir es?“ flüsterte Atheris. „Ganz einfach, du marschierst rein und lenkst sie ab und ich hole Nella!“ antwortete er mit leiser Stimme. Das klang zwar nach einem dummen Plan, aber Atheris hatte keine Geduld mehr, wenn er sich nicht verzählt hatte, waren keine fünf Mann in dem Haus, das Risiko war er bereit einzugehen. Etwas hielt ihn am Fuß fest – „Atheris, zieh die Decke über deinen Kopf, wenn du über die Straße zum Haus gehst, sonst schlägt noch jemand Alarm und dann haben wir ein Problem!“ Im Schatten meinte er ein boshaftes Lächeln von Heskor zu sehen. Widerwillig nahm er das stinkende, flohverpestete Ding unter den Arm und ließ sich in die Nebengasse hinunter. Dort zog er sich das löchrige Teil über den Kopf und marschierte los. Als er halber über der Straße war, erkannte er Heskor’s Antlitz auf dem Dach – wie war er so schnell auf die andere Seite gekommen? Egal – das konnte er ihn noch später fragen. Atheris erreichte die hölzerne Tür und öffnete sie, sie war erwartungsgemäß nicht verschlossen gewesen. Das Erdgeschoss ähnelte entfernt einem Tavernen Raum, nur gab es keine Stühle sondern die in Ophir üblichen Sitzkissen und flache Tische. An einer Art Tresen stand ein Wirt oder Koch – was auch immer und füllte kleine tönerne Becher mit einer klaren Flüssigkeit. Ein Mann stand bei ihm und wartete vermutlich auf die Getränke, die er für sich und seine Kumpane holen wollte. Diese saßen zu viert an einem Tisch und löffelten eine Suppe – keiner beachtete den Hexer mit den zwei Schwertern auf dem Rücken. Erst als der Mann mit den gefüllten Bechern zum Tisch zurückkehren wollte entdeckte dieser Atheris, der inzwischen mit gezogener Stahlklinge mitten im Raum stand. „Ich muss ja ziemlich furchterregend wirken“, dachte sich der Hexer, als er sah, wie das Tablett zitterte. „Karim, kommst du endlich?“ fragte einer am Tisch, als er sah, dass der Mann mit dem Tablett stehen geblieben war. Erst als er dessen Blick folgte, schrak er ebenfalls auf und wollte seinen Dolch ziehen. Doch Atheris hatte das kommen sehen und im gleichen Moment wie die Hand des Mannes den Griff seiner Waffe spürte, spürte er auch die Spitze der Klinge an seiner Kehle. Mit dem Zeigefinger seiner Linken vor den Lippen, zeigte er den Männern an, dass sie schweigen sollten – und das taten sie auch. Es dauerte nicht lange und Heskor kam mit Nella über die linke Schulter geworfen die Treppe hinunter. „Wie hast du …?“ wollte Atheris ansetzten, unterließ aber den Rest der Bemerkung. Er legte Nella auf das Kissen vorsichtig ab, griff in seinen Mantel und zog ein Flächen heraus. Atheris sah, wie er einen Tropfen des Inhaltes auf den Tisch fallen ließ und wie sich dieser sofort durch das Holz fraß – Säure! Die Augen der Männer wurden größer, als er sich dem Mann mit dem Tablett näherte und in jeden der Becher etwas schüttete. Dann nahm er die Gefäße und stellte jedem eines vorsichtig auf den Kopf, selbst der Wirt entkam dem Spiel von Heskor nicht. Heskor steckte seinen Kopf durch die Tür und gab Atheris das Zeichen, dass der Weg frei war. Über zwei Seitengassen näherten sie sich schnell den Stallungen – sie hatten keine Zeit! Als sie die Rückseite des Stalles erreicht hatten, bedeutete Heskor dem Hexer mit Nella im Arm zu warten. Atheris sah, wie Heskor sich dem Stallburschen von hinten näherte und ihn dann kurz und schmerzlos mit einem Würgegriff außer Gefecht setzte. Er zog den bewusstlosen Jungen zum Hintereingang, versteckte ihn hinter einem Stapel Holzbrettern und ließ ihn dort liegen. Anschließend gab er Atheris ein Zeichen und er eilte zu ihm. Leise sattelten sie zwei Pferde und sabotierten bei den nicht benötigten Sätteln die Gurte und Riemen, um eine mögliche Verfolgung zu verzögern. Zuletzt nahm Heskor eine brennende Fackel und warf sie in die große Futterkrippe. Die Flammen schossen augenblicklich nach oben und die Pferde gerieten in Panik. Heskor schwang sich gerade noch rechtzeitig auf das für ihn vorgesehene Pferd, um mit der fliehenden Herde davon zu galoppieren. Es war ein halsbrecherischer Ritt durch die engen Straßenzüge der kleinen Siedlung, aber Atheris schaffte es, zügig sich an die Spitze der Herde zu setzten und auf den schmalen Pfad nach draußen. Als sie den schmalen Pfad hinaufgaloppierten, war sich der Hexer nicht mehr so sicher, dass es eine gute Idee gewesen war- aber nun mussten sie da durch. Atheris war erleichtert, als er mit Nella vor sich im Sattel das Dunkel der Höhle verließ, dicht gefolgt von Heskor, der sich sichtlich Mühe gab, nicht von seinem Pferd zu fliegen. Einige Schritte weiter wartete das nächste Hindernis auf sie, der falsche Felsen. Ein letztes Mal trieb Atheris sein Pferd zu einem gestreckten Galopp an und mit einem Sprung setzte das Tier durch den getarnten Eingang hindurch und die drei Gefährten sahen das Morgengrauen über der Wüste heraufziehen. Nachdem Atheris sein treues Ross eingesammelt hatte, brachten sie im Galopp so viel Strecke wie möglich zwischen sich und die Höhle. Wenig später stand die Sonne bereits hoch am Himmel und Atheris fand sich erneut mitten in der Wüste wieder. Zum Glück hatte er die verlauste, stinkende … ist ja auch egal. Dieses gehasste Ding spendete nun während des Rittes wertwollen Schatten. Ohne Ausrüstung für ein Lager und nur mit wenig Wasser ausgestattet kämpften sie sich durch den Glutofen, der sich Wüste schimpfte zurück in Richtung Oase, was sich gar nicht als so leicht herausstellte. Atheris sah, wie Heskor im Sattel zusammengesunken war und offensichtlich eingeschlafen war. Immer wieder hörte er, wie sein Gefährte im Schlaf wirres Zeug redete, etwas von einem Wesen, das weder Form noch Gestalt hatte … das aus den Tiefen der Hölle stammte … das ihn beobachtete – schon sein ganzes Leben und das Jagd auf ihn machte. Atheris schüttelte den Kopf, aber Albträume waren keine Seltenheit bei dem was sie bei ihrer Arbeit alles erlebten.
Am späten Nachmittag, die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten, riss ein lauter Ruf Atheris aus seinem Schlaf. Er brauchte einen kurzen Moment sich wieder zu finden und er konnte sich nicht erinnern, wann er in der Hitze eingenickt war. Er wischte sich über die trockenen Augen, was er sogleich bereute, die wunden Augen schmerzten bei der Berührung, verrieten ihm aber, dass er nicht mehr am Träumen war und dass Viktor und Egon tatsächlich auf ihn zu gerannt kamen. “Endlich, ihr habt euch ganzschön Zeit gelassen!” stammelte er in seiner kecken Art und lächelte seinen Freunden zu.
Kapitel 5 – Miklagard
Nach dem Überfall auf die Karawane vor fünf Tagen und der geglückten Rettungsaktion waren sie noch in derselben Nacht weitergezogen. Atheris saß weit oben über dem Wüstensand, bequem auf einem der Dromedare und betrachtete das gewaltige Naturschauspiel, das sich ihm bot. Bereits vor zwei Tagen hatte sich das Spektakel am Horizont angedeutet. Zahir hatte ihnen erklärt, dass diese riesige Felsenkante, die sich wie eine Sichel durch die Wüste zog, die natürliche Grenze zum Königreich Miklagard bildete. Die fast senkrechte Wand, auf die sie zuhielten, war etwa hundert Schritt hoch und es existierten nur wenige, streng bewachte Pfade, die hinauf zum Hochplateau führten. Wie streng die Pässe bewacht wurden erlebte Atheris, als sie am Fuße des Plateaus ankamen. Eine schmale etwa drei Schritt breite Rampe war in den Felsen geschlagen worden, an deren Ende ein massives, gut fünf Schritt hohes Tor den Weg versperrte. Oben hinter den Zinnen des Tores sah Atheris vier Armbrustschützen, deren bronzefarbene Schuppenpanzer in der Sonne funkelten. Zahir ritt als erstes zum geschlossenen Tor und nach mehreren höflichen Grußworten und einigen gewechselten Münzstücken öffnete sich die großen Flügeltüren und ein Trupp von zehn schwerbewaffneten Soldaten trat hindurch. Die ebenfalls mit bronzefarbenen Rüstungen ausgestatteten Männer begannen sofort mit der Überprüfung der Karawane und gingen dabei für Atheris Empfinden ziemlich gründlich vor – hatte Zahir etwa zu wenig für die Passage bezahlt? In seiner Heimat Nilfgaard gab es wie in jedem anderen Land, das er bereist hatte, das Problem der Korruption, wobei der Kaiser im Vergleich zu den Königen in den nördlichen Reichen diese nicht duldete und die Strafen für derlei Vergehen empfindlich waren. So akribisch wie die Soldaten hier vorgingen, kannte er allerdings nur in Kriegszeiten. Als die Wachen zu Atheris und seinen Freunden kamen, wurde die Situation etwas komplizierter. Wie sollte man auch erklären, dass eine ganze Reihe schwer bewaffneter Fremder, mit zwei Klingen auf dem Rücken und einer bewusstlosen Elfenmagierin sich bei einer Handelskarawane aufhielten. Zahir erwies sich als Meister der Zunge, denn auch wenn Atheris nicht alles verstand, was der Händler so über die Greifen erzählte, die Geschichte hörte sich wahnsinnig interessant an, vor allem wie er die Rettung Nellas laut und gestenreich erzählte, schien die Soldaten zu überzeugen … oder waren es wieder die Münzen gewesen, die den Besitzer gewechselt hatten? Atheris musste lächeln. Als Zahir auch noch die beiden Cousinen aleha bint Nour bint Heema bint Zarah al’Hakima und Eiwa Al’Razina nannte und dass diese Fremden Freunde von ihnen waren, ging es auf einmal ganz schnell mit der Kontrolle und die Karawane wurde durch das Tor gewunken. Als es endlich weiterging, schwang sich Atheris erfreut zurück auf sein exotisches Reittier und nur wenige Momente später genoss er die Aussicht, die sich ihm bot. Der schmale Pfad, welcher in die Felsenwand getrieben worden war, bot gerade genug Platz für ein Dromedar oder Pferd und war ganz sicher nichts für schwache Nerven. An manchen Stellen war der Pfad mit einer Art Hängebrücke verbessert worden, da Teile abgestürzt zu sein schienen. An einer besonders engen Stelle, musste Atheris kurz an das Portal denken und überlegte, ob es wirklich so viel gefährlicher war, als das, was die Ophiri hier als Weg bezeichneten. Es dauerte fast den ganzen Tag, bis sie oben am Plateau angelangt waren und vor einem weiteren Tor standen. Die Papiere, die sie unten erhalten hatten, machte es bei der zweiten Kontrolle deutlich leichter zu passieren. Atheris blickte noch einmal zurück und schaute auf die riesige Wüstenebene hinunter. Der Anblick war atemberaubend, zeigte aber auch unmissverständlich auf, wieviel Glück sie gehabt hatten und aus dieser lebensfeindlichen Umgebung entkommen waren. Hier oben war das Klima deutlich angenehmer, so dass Zahir sie darüber informierte, dass sie von nun an tagsüber reisen würden. Am nächsten Morgen zogen sie in aller Früh weiter und Atheris wechselte zum ersten Mal wieder auf sein geliebtes Ross. Es dauerte auch nicht lange, bis sie die erste Siedlung passierten und es war offensichtlich, dass die Bewohner in dieser Gegend von der Tonarbeit lebten. Vor den Hütten der Handwerker stapelten sich wunderschöne Töpfereien und unglaubliche Menge an gebrannten Ziegeln. Die Lehmgruben, an denen sie vorbeizogen, waren die größten, die Atheris in seinem Leben gesehen hatte. Je weiter sie zogen umso mehr nahm die Luftfeuchtigkeit zu und zwei Tagesreisen später hatte sich der trockene Tonboden in ein kultiviertes Sumpfgebiet gewandelt. Die Leute wohnten in begrünten Hütten und bauten Pflanzen in seichten, überfluteten Feldern an. In seiner Heimat wurde viel Aufwand betrieben, solche Sumpfgebiete trockenzulegen, von der Möglichkeit Wasserpflanzen anzubauen hatte er bisher noch nie etwas gehört. Die Gegend war nach den Tagen in der Wüste eine schöne Abwechslung, einzig die ständige Belästigung durch die Mücken war ihm ein furchtbarer Dorn im Auge. Erst als die Hexer nach der zweiten zerstochenen Nacht sich zusammensetzten und eine Tinktur auf Basis eines Insektoiden-Öls zusammenbrauten, wurde ihre Situation erträglicher.
Einige Tage später erreichte die Karawane die Kornkammer Ophirs. Die goldenen Ährenfelder erstreckten sich, soweit das Auge reichte und am Horizont sah Atheris das Ziel ihrer Reise, die Stadt Miklagard. Ihr Weg führte sie durch die Felder und Weiden. Die weißen Türme und die blaugoldenen Dächer wurden größer und erhoben sich wie ein einziger riesiger Palast vor ihnen. Je näher sie kamen, desto beeindruckender wurde die Kulisse. Zahir erklärte ihnen, dass die palastähnlichen Gebäude zur Madrasa gehörten – Madrasa, so hatte Atheris gelernt entsprach im weiteren Sinne einer Universität. Die Wissenschaft hat einen großen Einfluss auf das Stadtleben und die Politik, hatte ihm Saleha erzählt, und das ist es, was Miklagard so einzigartig macht. Obwohl die ganze Stadt wie ein Palast wirkte, war dieser nicht inmitten der Stadt, sondern lag etwas außerhalb der Stadtmauern auf einem Gebirgskamm. Mit bloßem Auge konnte man ihn nicht sonderlich gut erkennen, lediglich das Glitzern der prunkvollen Dächer verriet ihm die genaue Position. Besonders auffällig war ein großer, in seiner Architektur chaotisch wirkender Turm, die Hauptbibliothek der Stadt, die unter den Einwohnern ‚Babaal‘ genannt wurde.
Das Wetteifern der Kaufleute sorgte dafür, dass innerhalb der Stadt neben den Gebäuden der Madrasa wunderschöne und repräsentative Bauten entstanden waren. Noch bevor sie das südöstliche Stadttor erreichten, wurden Boten zu Saleha und Eiwa ausgesandt, welche die beiden Cousinen über die Ankunft der Greifenhexer unterrichten sollten, sofern sie sich in der Stadt aufhielten. An den Toren Miklagards trennten sich die Wege von Zahir und den Greifen. Der Kaufmann hatte sein Versprechen erfüllt und sie sicher in die Stadt gebracht. Nun zog er nach einer langen und freundschaftlichen Verabschiedung seines Weges. Während sie hinter dem Stadttor auf einem kleinen Platz auf die Boten warteten, beobachtete Atheris das rege Treiben auf den Straßen. Es war lange her, dass er in einer solch großen Stadt gewesen war und er empfand es als willkommene Abwechslung, nachdem er die letzten Jahre meist in der Wildnis oder in Kaer Iwhaell verbracht hatte. Es dauerte nicht sonderlich lange, bis Saleha’s Bote auf dem Platz eintrat und sie im Namen von ihr willkommen hieß. Zu ihrer Überraschung hatte er vier große Sänften mitgebracht, die jeweils von acht starken Männern getragen wurden. Die immer noch nicht zum Bewusstsein gekommene Nella wurde in einer der Sänften gelegt und die anderen Greifen nahmen in den übrigen Platz, lediglich Atheris bevorzugte den Rücken seines Pferdes. Ihr Weg führte sie über Prachtstraßen, die mit vielen verschiedenen kleineren und größeren Geschäften sowie Kaffeehäusern gesäumt waren, über zwei Marktplätze, auf denen allerlei Exotisches Feilgeboten wurden, vorbei an Stadthäusern, die sich mit Marmor und Brunnen schmückten und an Dekadenz kaum zu überbieten waren. Es war eine reiche Stadt und von dem was der Hexer sah, konnten nur wenige Städte mit der Schönheit dieses Ortes mithalten. Eine dieser Städte, die ihm in den Sinn kam, war die Hauptstadt des Kaiserreiches, die auch liebevoll die Stadt der goldenen Türme genannt wurde.
Die Zeit verging schnell und sie erreichten ihr Ziel, das Stadthaus von Saleha. „Nicht schlecht!“ kommentierte Atheris das Bauwerk, das vor ihm aufragte. Die meisten Herrscher kleinerer Reiche konnten mitnichten ein Palais wie dieses vorweisen. Durch das mit blauen Mosaiken und Marmor verzierte, repräsentative Eingangstor gelangten sie in einen großen rechtwinkligen Innenhof, der neben einem kleinen schönen Kräutergarten, vor allem die Stallungen, eine große Küche und die Gemächer der Bediensteten beherbergte. Hier wurde ihnen von einem ziemlich großen, grobschlächtig wirkenden Skelliger das Gepäck abgenommen und er war es auch, der wenig später Ker’zaer im Stall versorgte – warum Saleha trotz ihres Reichtums nicht mehr Bedienstete hatte, verwunderte Atheris. Liebevoll streichelte Atheris sein treues Tier und beeilte sich dann seinen Gefährten zu folgen, die bereits in Richtung Hauptgebäude geführt wurden – von dem einen großen Skelliger. Verwundert schüttelte der Hexer den Kopf und beschleunigte seinen Schritt. Über eine breite weiße Treppe mit drei Stufen wurden sie zu einem weiteren Eingangsbereich geleitet, dessen Portal von zwei schönen Statuen geschmückt wurde. Der Boden war mit feinem Marmor ausgelegt und die Wände mit kunstvollen Mosaiken geschmückt, die unterschiedlichste Szenarien darstellten. Hinter dem Eingangsbereich lag ein weiterer, kleinerer Innenhof, in dessen Zentrum ein weißer Springbrunnen stand, in dessen Wasser drei Seerosen schwammen. Außenherum waren bunte Blumenbeete angelegt. Die für Atheris unbekannten Blumen verströmten einen faszinierenden Duft. Der Innenhof wurde eingeschlossen von Säulengängen, die es ermöglichten, trockenen Fußes zum Hauptflügel zu gelangen oder aber Sitzgelegenheiten im Schatten boten. Ein Pfau bemerkte die Neuankömmlinge und schlug sein Rad. Direkt neben dem Brunnen stand eine niedrige Bank aus weißen Marmor, die mit großen bunten Kissen ausgelegt war.
Saleha stand nah am Eingang und unterhielt sich leise mit einem hochgewachsenen Mann in edlen dunklen Gewändern. Atheris hatte den Eindruck, als ob sie ihn gerade hinauskomplimentieren wollte. Sie hatte zwar ein nettes Lächeln aufgesetzt, aber das musste nichts heißen, es konnte auch nur aus Höflichkeit sein. Es dauerte ein kleines Weilchen, bis sich der Mann endlich überreden ließ. Er verabschiedete sich mit einer sehr tiefen Verbeugung und einem Handkuss von Saleha, wobei letzterer überraschend lang dauerte. Endlich wendete sich der Mann ab und schritt auf die Hexer zu. Vermutlich ein Krieger, dachte sich Atheris, der die raubtierhaften Bewegungen musterte. Er grüßte die Hexer freundlich, zu freundlich für seinen Geschmack und er war sich sicher, dass dieser Mann genau wusste, was sie waren – Hexer. Vielleicht hatte er von ihnen gehört oder gelesen … egal, für den Moment freute sich Atheris einfach nur, die Gesichter der beiden Cousinen zu sehen, die sie nun fröhlich begrüßten.
Nach einer herzlichen Begrüßung nahm Saleha Atheris zur Seite und führte ihn in eine der Ecken des Hofes. „Was um alles in der Welt ist passiert, Atheris? Was hat euch an dieses Ende der Welt verschlagen und wo ist Valerian?“ fragte sie etwas überrascht. Ihre Augen musterten ihn von oben bis unten – er musste wohl immer noch ziemlich fertig aussehen, nach all den Strapazen der unfreiwilligen Reise. „Bevor ich dir die ganze Geschichte erzähle, benötigt Nella dringend eure Hilfe, sie hat seit Tagen nicht mehr das Bewusstsein erlangt und musste mit einem Schlauch ernährt werden“ fuhr Atheris fort. Er drehte sich zu der Magierin um und bemerkte, dass Eiwa bereits bei der Elfe stand und dem großen Skelliger Anweisungen gab. Vorsichtig hob er sie hoch und folgte Eiwa ins Haupthaus. „Mach dir keine Sorgen, Atheris! Wenn jemand sich mit leergebrannten Magiern auskennt, dann ist es Eiwa!“ beruhigte Saleha den Hexer. Schon bald kam der Diener wieder zurück und zeigte nun den übrigen Gästen ihre Quartiere. Auch hier kannte der Luxus keine Grenzen und Egon merkte fröhlich an, dass Großmeister Valerian überlegen sollte, ob sie nicht lieber ihre neue Schule hier gründen wollten. Zumindest was die Annehmlichkeiten anbelangte, gab Atheris dem jungen Hexer recht.
Nachdem sie sich frisch gemacht und etwas ausgeruht hatten, wurden sie zum Essen gerufen. Eiwa, die eine Spezialistin der magischen Analyse war, hatte in der Zwischenzeit Nella behandelt und sie war auf dem Weg der Besserung. Eiwa erzählte Atheris zwar beim Essen, was sie genau gemacht hatte und wo das Problem lag, aber er hatte es nicht wirklich verstanden – und an das monotone Nicken der anderen Zuhörer, dass er nur zu gut aus Valerians Unterrichtsstunden kannte, verriet ihm, dass es ihnen nicht anders erging. Zumindest grob hatte er die Ursache für die Bewusstlosigkeit kapiert. Nella hatte sich während der Schlacht um Kaer Iwhaell und bei der anschließenden Flucht durch das Portal so verausgabt, dass sich ihr Astralkörper runtergefahren hatte, um sie vor weiterem Magieentzug zu schützen. Einer der Nebeneffekte war dabei, dass sie auch das Bewusstsein verloren hatte. Später erzählte Atheris den Cousinen ausführlich die Geschichte, wie die Greifenhexerschule Kaer Iwhaell letztendlich durch die Fanatiker gefallen war … von Valerians Flucht und der bleibenden Ungewissheit, ob er überlebt hatte … und von ihrer eigenen Flucht durch das Portal, mit der anschließenden Reise durch die Wüste. „Es war ziemlich leichtsinnig, mein lieber Atheris, das Portal ohne Kenntnisse über dessen Funktionsweise zu nutzen – aber ich verstehe, dass ihr nicht gerade eine Wahl in der Situation hattet!“ mahnte Saleha und lächelte den nilfgaarder Hexer keck an, bevor sie wieder ernster fortfuhr, „und ihr meint Valerian hat es ebenfalls geschafft zu entkommen?“ „Wir haben nur gesehen, wie der Steintroll, auf dem Valerian stand, zu Fall gebracht worden ist und kurz darauf eine blendende Explosion … ab dem Zeitpunkt verlieren sich seine Spuren! Wir werden erst wissen, ob es ihm gelungen ist zu fliehen, wenn wir ihn am vereinbarten Treffpunkt wiedersehen!“ entgegnete Atheris.
Wenig später lenkte Saleha das Thema in eine andere Richtung. „Wie sieht es mit den Forschungen an der Kräuterprobe aus? Sollen wir fortfahren? Eiwa und ich sind in den letzten Monaten gut mit unserer Arbeit vorangekommen und die Gelegenheit drei mutierte Hexer, hier mit den Möglichkeiten unserer Labore untersuchen zu können, würde die Forschung deutlich beschleunigen … Was meinst du?“ die begeisterte Aufregung war in Saleha’s Stimme deutlich zu hören. „Unabhängig von Valerians Schicksal, stehen wir als Greifenhexer weiterhin hinter dem Vorhaben, und ich für meinen Teil stehe dir für deine Untersuchungen zur Verfügung!“ antwortete Atheris ohne zu zögern. Seine Gedanken schweiften kurz ab und er erinnerte sich an seine Zeit an der Universität in Nilfgaard. Man hatte ihn damals, nachdem man ihn in der Wildnis aufgelesen hatte, auf Herz und Nieren untersucht, um mehr über das Wesen der Hexer und deren Mutationen zu erfahren. Auch heute noch waren seine kaiserlichen Landsleute hinter den Geheimnissen her und Atheris musste sich, zum ersten Mal seit langem, an seinen letzten Auftrag erinnern, welchen er im Namen des Kaisers erhalten hatte. Schnell schüttelte er die Gedanken wieder ab und lächelte Saleha charmant an.
Nach dem ganzen Erzählen widmete sich Atheris endlich dem Essen. Die beiden Cousinen hatten sich nicht lumpen lassen und ein wahres Festmahl aufgetischt und er hatte sich vorgenommen, von dem Angebot an Speisen und Tränken alles einmal probiert zu haben. Die Stimmung wurde zunehmend ausgelassener und alle lachten und hatten ihren Spaß, fast so wie bei ihrem letzten Abendessen in Kaer Iwhaell. Bei gutem Wein und einigen anderen Spirituosen führte Atheris tiefsinnige Gespräche über alles was ihm an diesen Abend so in den Sinn kam. Als er sich gerade mit vollem körperlichen Einsatz dem Nachtisch zu widmen wollte, kam Saleha zu ihm und baute sich vor seinem Platz auf … es wirkte fast schon gebieterisch. Mit der rechten Hand zog sie eine Weinflasche hinter ihrem Rücken hervor und hielt sie ihm unter die Nase mit den Worten „Wie wäre es mit diesem Nachtisch?“ „Nein!“ hauchte der Hexer „doch!“ grinste die Gelehrte zurück. Atheris hatte das Etikett sofort erkannt. Es war ein echter ‚Est Est‘ aus seiner Heimat und sein absoluter Lieblingswein. „Wie bist du an die gekommen?“ fragte er voller Begeisterung. „Du hast mir beim letzten Treffen so von dem Wein vorgeschwärmt, dass ich keine Kosten gescheut habe und mir ein paar Flaschen direkt aus Toussaint besorgt habe!“ lächelte Saleha und zog den Hexer auf die Beine. „Wie wäre es, wenn wir mit den Untersuchungen … schon heute Nacht loslegen würden?“ sprach sie und zog den Hexer mit sich. Atheris lächelte vergnügt und folgte Saleha, die mit einem verführerischen Hüftschwung den Raum verließ. Ihm war durchaus bewusst, dass Miklagard streng matriarchisch geführt wurde und dementsprechend von einem Mann erwartet wurde sich unterzuordnen, was er in dieser Nacht liebend gern machte.
Kapitel 6 – Das Labor
Am nächsten Morgen machten sich die beiden Cousinen und die mutierten Hexer Viktor, Raaga und Atheris auf den Weg zur „Universität“, während der Rest der Gefährten im Stadthaus verweilte. Die Madrasa al’Alchemya, also die Schule der Alchemie lag im Osten der Stadt an den Ausläufern der Gebirge und ruhte auf einem Felsenplateau. Die mit sieben großen weißen Säulen ausgestattete Front des Bauwerkes erinnerte Atheris mehr an einen alten Tempel, als an eine wissenschaftliche Akademie, aber der äußere Eindruck täuschte. Kaum waren sie durch das Eingangsportal geschritten, wandelte sich der prunkvolle Stil, der die Ophirischen Bauten ausmachte, in eine der Wissenschaften dienliche Funktionalität. Die Grundstruktur im Inneren bildete ein zylindrisches, offenes Treppenhaus, das sich über sieben Stockwerke nach oben erstreckte und nur knapp unterhalb der großen Kuppel, die das Zentrum des Gebäudes bildete, endete. Der Boden im Eingangsbereich war im Vergleich zu dem prunkvollen Stadthaus von Saleha schlicht gehalten.
Über eine der Wände in der großen Hall erstreckte sich eine große Wandzeile mit Regalen und Fächern, in denen hunderte von Dokumenten und Büchern lagen. An einem langen Tresen vor dieser Wand waren Angestellte damit beschäftigt, sich um das Anliegen der Studenten zu kümmern. Einige Wächter behielten das muntere Treiben im Auge. Immer wieder wurden Saleha und Eiwa respektvoll und freundlich gegrüßt, wenn sie jemanden passierten.
Atheris fiel eine interessante Konstruktion in einer Ecke auf, es handelte sich um eine Transportplattform, die an einem Seilzug hing, und über die man ebenfalls auf die verschiedenen Ebenen gelangen konnte. Die Kuppel hatte viele große ovale Fenster und im Treppenhaus waren überall geschickt platzierte Spiegel zu sehen, mit deren Hilfe der zentrale Bereich von Licht durchflutet wurde. „Willkommen in der Madrasa der Alchemie meine Freunde!“ strahlte Saleha und breitet dabei die Arme aus. „Folgt mir, ich gebe euch eine kleine Führung durch die Anlage, bevor wir zu meinem Labor gehen!“ sagte sie und schritt voran. Wieder fühlte sich Atheris in seine Jugendzeit erinnert, die er an der kaiserlichen Akademie im Kastell Graupian verbracht hatte. Auch hier in Miklagard gab es die zu erwartenden Räumlichkeiten wie eine riesige, über mehrere Stockwerke reichende Bibliothek, Lehrzimmer für den Unterricht der Studenten, Büros für die Professoren und was nicht fehlen durfte, die verschiedensten Arten von wissenschaftlichen Laboren. „Wo befindet sich dein Labor?“ fragte Atheris die Gelehrte. „Im Keller, mein Lieber!“ antwortete Saleha und als sie den fragenden Gesichtsausdruck von dem Hexer sah, fuhr sie mit einer Erklärung fort, „die Labore im Keller unterliegen hohen Sicherheitsvorkehrungen! Die drei Ebenen sind aus dem harten Felsengestein geschlagen worden und der Zugangsbereich wird durch eine Schleuse von mehreren Türen abgeriegelt. Ja, die Universität hat aus ihren Fehlern in der Vergangenheit gelernt!“ Als sich die Gruppe dem Kellereingang näherte, sahen sie, dass Saleha nicht untertrieben hatte. Der Eingangsbereich war überraschend klein gehalten und die äußersten Türen waren aus schwerem dickem Metall gearbeitet, die eher an einen Tresor als an einen Durchgang erinnerte. Das zweite Tor bestand aus einer Art Bleilegierung, warum das so war, wollte er lieber nicht wissen. Vier schwer bewaffnete Wachen grüßten Sie respektvoll und prüften mit kritischen Blicken die Fremden, ließen sie aber unbehelligt passieren. Eine schmale gewundene Treppe führte sie ziemlich steil nach unten in die Tiefen des Felsenplateaus. Spätestens hier war der Glanz Ophirs komplett verschwunden und die Funktion bestimmte die Form und Ausstattung der Räumlichkeiten. Saleha’s Räumlichkeiten befanden sich auf der untersten Ebene. Die Wendeltreppe endete in einem langen, kahlen aber mit alchimistischen Lampen gut ausgeleuchteten Gang. Zwei weitere Soldaten standen am Anfang des Ganges und wie zuvor, wurden sie genau gemustert. Ihr Weg führte sie vorbei an verschiedenen Lagerräumen und Arbeitsräumen, an deren Tür Symbole angebracht waren, die klar verrieten, dass hier nicht unvorsichtig gehandelt werden durfte. Ein der Metalltüren schimmert bläulich – Atheris vermutete eine Dimeritiumlegierung, vermutlich befanden sich in dem Raum besonders wertvolle oder gefährliche alchimistische Zutaten. Atheris empfand eine bedrückende Stimmung, wie konnte man hier unten bloß die ganze Zeit aushalten? Vor einem, mit einer schweren Tür, verschlossenen Raum blieben sie stehen. Saleha drehte sich zu ihnen um und sagte: „Wie euch vielleicht aufgefallen ist, werdet ihr als Hexer hier in Miklagard nicht so sehr angestarrt wie in eurer Heimat. Das liegt nicht nur daran, dass das Wissen und die Geschichten über die Hexer hier nicht sonderlich verbreitet sind, sondern vor allem daran, dass wir andersartige Erscheinungsbilder gewöhnt sind. Die Wissenschaftler unserer Universität widmen sich schon seit vielen Dekaden der Erforschung von Mutagenen und ihren Folgen auf den Organismus. Fast alles, was wir im Alltag verwenden, wurde durch Mutationen verändert, von Pflanzen über Tiere bis hin zu den Menschen. Viele Änderungen haben uns das Leben leichter gemacht, bessere Ernteerträge, mehr Milch bei den Kühen oder aber auch wetterresistentere Pflanzen. Auch in der Medizin haben wir Fortschritte gemacht, so konnten wir eine beachtliche Anzahl an Erkrankungen lindern oder sogar ausmerzen und somit unsere Lebensqualität verbessern. Aber neben ethischen Fragestellungen gab es und gibt es auch massive Probleme durch das Eingreifen in die Organismen. Ein Problem kennt ihr als Hexer ja selber, die Unfruchtbarkeit! Viele der Pflanzen und Tiere sind unfruchtbar, und wir müssen bei jeder Generation wieder neu eingreifen und die Mutation erneut durchführen. Zudem haben wir durch die Veränderung in den natürlichen Kreislauf der Natur eingegriffen und somit ein Aussterben der Arten verursacht. Ihr seht also, es gibt massive Probleme, an denen wir arbeiten.“ Eiwa nahm den Faden auf und ergänzte: „Zudem könnt ihr euch sicherlich vorstellen, dass unser Wissen über Mutationen zu Begehrlichkeiten, vor allem beim Militär, gesorgt haben. Auch Diar al’Fahid, der Kriegsminister, den ihr bei eurer Ankunft gesehen habt, hegt Ambitionen in dieser Richtung. Versteht ihn nicht falsch, er ist sicher einer der ‚Guten‘ aber die Sicherheit unserer Heimat liegt ihm am Herzen. Unsere Wissenschaftler haben auch in der Vergangenheit mit mehr oder weniger Erfolg an militärischen Projekten gearbeitet … bis die Mutter unserer Regentin in ihrer Regierungszeit, auf Drängen des Volkes und Empfehlung ihrer Räte, die Forschungen in diese Richtung strikt verboten hat und dieses Verbot bis heute Bestand hat – zum Missfallen von unserem Kriegsminister. Hier hinter dieser massiven Tür befinden sich die wichtigsten Forschungsergebnisse bezüglich der Mutationen. Neben den Dokumentationen lagern hier auch die Reserven für die Samen und Föten, die für unsere Landwirtschaft zwingend notwendig sind!“ Die beiden Gelehrten gingen einige Schritte weiter zum nächsten verschlossenen Lagerraum und Saleha fuhr mit ihren Erklärungen fort: „Was hinter dieser Tür gelagert ist, nenne ich das Gruselkabinett. Es sind die Überbleibsel der Bemühungen einer vergangenen Generation von Wissenschaftlern, die uns daran erinnert, was alles schiefgehen kann, wenn man mit der Natur spielt. Ich möchte es euch zeigen um euch eine Vorstellung davon zu geben, wie schwer und kompliziert es ist, eine gezielte Mutation mit einem gewünschten Ergebnis herbei zu führen, ohne dabei schreckliche und nicht gewollte Nebenwirkungen zu verursachen. Genau dort liegt auch das Problem mit eurer Kräuterprobe begraben. In meinen Gesprächen mit Valerian und den Untersuchungen der Blutproben, die ich bereits erhalten hatte, ist es gut nachvollziehbar, warum die Mortalitätsraten so enorm hoch sind, warum nur Jungen unter zehn Jahren überhaupt eine realistische Chance hatten, die Mutationen zu überleben und warum die Mutationsergebnisse so unterschiedlich ausfallen“. Eiwa versuchte noch eine Erklärung zu geben, welch wichtigen Einfluss die Magie bei der Wandlung hatte, gab es aber auf, als sie die leeren Blicke der jungen Hexer bemerkte und blickte mit hochgezogener Augenbraue zu Saleha. Saleha verkniff sich ein Schmunzeln. Sie schätzte die kühle Analytik ihrer Cousine sehr, jedoch musste dies die jungen Männer ohne die jahrelange akademische Ausbildung überfordern. „Aber nun seht selber, was alles schieflaufen kann, folgt mir!“ sprach sie mit einem ernsten Tonfall und öffnete die Tür. Schon bei den ersten Exponaten verstand Atheris, warum dieser Raum den Namen ‚Gruselkabinett‘ verdient hatte. In langen Regalen lagerten hunderte von Glasbehältern in unterschiedlichen Größen und Formen. Die meisten von ihnen waren mit einer durchsichtigen Substanz gefüllt, in der massiv verunstaltete Kreaturen schwammen, die direkt aus einem Alptraum entsprungen zu sein schienen. Die Vielfalt der Experimente war für Atheris erstaunlich und beängstigend zugleich, neben nicht lebensfähigen Föten, bei denen man das Ausmaß der Mutationen nur erahnen konnte, gab es auch mannshohe Behälter, bei denen unter anderem versucht worden war, Menschen und Tiere zu kreuzen. Für letztere Versuche waren die Verwandlungen der Werwölfe die Forschungsgrundlage gewesen. Viele der fehlgeschlagenen Experimente waren schon Jahrzehnte her, und nur anhand der Aufzeichnungen konnten die heutigen Wissenschaftler, sofern sie das wollten, nachvollziehen, wie und was der Zweck des Versuches war. Atheris hatte schon viel Übel in seinem Leben gesehen und auch seine eigene Mutation, so hilfreich sie auch im Kampf gegen Monster sein mochte, warf immer wieder ethische Debatten und Ausgrenzungen auf. Was er aber hier und jetzt sah, übertraf seine schlimmsten Vorstellungen. „Ein Ghul ist eine wahre Schönheit, im Vergleich zu dem was hier teilweise zu sehen ist!“ fasste Raaga trocken zusammen. Am Ende des ‚Gruselkabinetts‘ gab es eine weitere schwere Tür, vor der Saleha kurz innehielt, bevor sie auch diese schweren Riegel öffnete und die Hexer hineinführte. Der Raum bestand grob aus zwei Teilen, einem vorderen Bereich, der an eine kleine Bibliothek erinnerte und einen durch Gitterstäbe abgetrennten zweiten größeren Teil, der mehr wie ein Gefängnis aussah. Im letzteren waren sechs weiß gekachelte Tische kreisförmig angeordnet, in deren Mitte ein großer kupferner Behälter stand, von dessen Mitte aus gläserne und kupferne Röhrchen zu den Tischen liefen. Auf jedem Tisch ruhte ein abscheuliches Monster, das Atheris nicht zuordnen konnte. Die Röhrchen endeten in verschiedenen Regionen der Körper und versorgten diese mit unterschiedlichen Flüssigkeiten. Das leichte Heben und Senken der Brustkörbe verriet, dass diese Kreaturen am Leben waren, was dazu führe, dass Atheris scharf die Luft einzog. „Das hier sind die lebensfähigen Experimente aus den militärischen Forschungen unserer Universität. Sie wurden hier vor knapp vierzig Jahren weggeschlossen, da sie eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellten, da sie charakterlich zu labil waren und zu aggressivem Verhalten tendierten. Seither liegen sie in einem künstlichen Koma, bis der Ethikrat der Universität entschieden hat, was mit ihnen passieren soll. Versteht das nicht falsch, es wurde viel versucht ihnen ein ‚normales‘ Leben trotz der Mutationen zu ermöglichen. Aber vier von ihnen waren bereits zum Tode verurteilte Schwerverbrecher und zwei von ihnen waren treue Soldaten Miklagards, die an einer unheilbaren Krankheit dahinsiechten.“ Erzählte die Gelehrte, während sie die Reaktionen der Hexer beobachtete. Atheris fiel es schwer, seinen Blick von den Mutanten abzuwenden, es war der Universität tatsächlich gelungen, Mischwesen aus Tieren und Menschen zu erzeugen und damit Mutationen zu bewirken, die über die der Hexer hinausreichten. Einzig die magische Komponente der Kräuterprobe fehlte hier komplett. Atheris betrachtete die Wesen genauer, ähnlich wie bei den Werwölfen waren die Körper im wesentlichen humanoid, wohingegen der Kopf ziemlich dem des gekreuzten Tieres entsprach. Bei den Extremitäten war die Mischung zwischen Mensch und Tier am größten, hier hatten alle klauenbewährte Hände und Füße und einer der Mutanten sogar den Ansatz von Flügeln. Atheris wäre nicht in den Sinn gekommen, verfluchte Wesen zu untersuchen und diese auf den menschlichen Körper anzuwenden. Die Tiere, die verwendet wurden, besaßen Eigenschaften, denen man wohl militärisch etwas abgewinnen wollte, eine Panzerechse, ein Löwe, ein Stier, eine Schlange und eine Fledermaus. Nachdem die Cousinen mit den Hexern noch ein wenig über die Wesen philosophiert hatten, verließen sie den Raum wieder und kamen endlich zum eigentlichen Labor von Saleha.
Der Raum war geräumig und mit bunten Kacheln verkleidet, was Atheris einen sauberen Eindruck vermittelte, es war so ganz anders als das Labor von Meister Valerian, bei dem mehr Chaos als Ordnung herrschte. In einer Ecke stand ein großer hölzerner Schreibtisch, auf dem einige Schriftrollen und Bücher gestapelt lagen. Die Mitte des Raumes nahm ein sehr großer, metallener Tisch ein, auf den verschiedenen, komplex wirkenden Konstellationen von Glaskolben, Reagenzgläsern, Glasspiralen, Kupferbehälter und drei Ölbrenner aufgebaut standen. An den Wänden befanden sich schwere Holzregale, die mit Büchern, Schriftrollen und verschiedenen Reagenzien vollgestellt waren, wobei auffiel, dass alles fein säuberlich beschriftet war. Zuletzt fiel dem Hexer eine Apparatur in einer weiteren Ecke des Raumes auf. Sie bestand aus einem zylindrischen Metallbehälter, in den mehrere unterschiedlich vermutlich geschliffene Linsen gesteckt werden konnten. Unterhalb des Zylinders war ein kleiner flacher Teller, dessen Mitte aus durchsichtigen Glas bestand. Unter dem Teller befand sich ein schwarzes Tuch, welches einen runden, faustgroßen Gegenstand verdeckte. Saleha hatte das Interesse des Hexers bemerkt und trat an ihn heran, während sie seinen starken Schwertarm umschlang. „Damit mein lieber Atheris, können wir dein Blut und deine Zellen untersuchen, auch wenn dies nur ein kleines Exemplar ist. Ich werde es dir in den nächsten Tagen zeigen!“ lächelte die Alchemistin und schob ihn weiter in den Raum, das Augenrollen von Raaga, der in seinem Rücken stand, hatte er nur erahnen können.
Die ersten Untersuchungen dauerten den ganzen Vormittag, während Eiwa die magische Analyse der Hexer Mutationen genauer unter die Lupe nahm, und dafür Raaga mit seltsamen Geräten systematisch viele Fragen stellte, widmete sich Saleha der anatomischen und physiologischen Auswirkungen und machte sich daran, die Körper von Atheris und Viktor genauer zu vermessen, Organe abzutasten und mit Durchschnittswerten zu vergleichen. Schon nach den ersten Ergebnissen, zeichnete sich ab, dass alleine schon die Mutationen von Atheris und Viktor nur bedingt ähnlich verlaufen waren, zu unterschiedlich waren die Auswirkungen in den körperlichen Eigenschaften. Nachdem sie auch einige Tests der Sinnesfertigkeiten durchgeführt hatte, zogen sich Raaga, Viktor und Eiwa zum Mittagessen in Salehas Anwesen zurück, nur Atheris und Saleha blieben im Labor zurück um noch einen Versuch durchzuführen. Immer wieder erwischte sich Atheris dabei, wie er an seine Jugend denken musste und die Experimente, die die Professoren damals in Nilfgaard an ihm durchgeführt hatten, um mehr über die Kräuterprobe der Hexer zu erfahren, und ihm war klar, dass der Geheimdienst des Kaiserreiches nach wie vor an den Ergebnissen interessiert war. Auch der Eid, den er vor vielen Jahren abgelegt hatte, seine Heimat unter allen Umständen zu beschützen, lastete in diesem Moment schwer auf seinem Herzen. Was könnte der Kaiser mit dem Wissen anfangen, das in diesen Keller schlummerte … er brauchte sich das gar nicht weiter vorzustellen, das, was einige Schritte von hier entfernt hinter der dicken Tür lauerte, konnte und wollte er nicht gutheißen. Atheris fiel ins Grübeln, aber andererseits, was die Hexer mit der Wiederentdeckung der Kräuterprobe und sogar deren Verbesserung vorhatten, unterschied sich nicht wirklich so sehr von dem, was mit den sechs Wesen angestellt worden war. Zwar waren vier von den sechs Mutanten schon vorher gewalttätig gewesen, aber konnte man das bei einem Hexer ausschließen? Die Geschichten der Katzenschule kannte Atheris von Valerians Erzählungen gut genug, obwohl auch hier wieder nicht alle verrückt waren, er hatte einen getroffen, der bei der Verteidigung von Kaer Iwhaell geholfen hatte und der hatte sich als ein recht anständiger Kerl erwiesen hatte. Auch das äußerliche Erscheinungsbild war aus seiner Sicht keine Rechtfertigung, klar sahen die sechs Wesen in ihrer Mischform zum Fürchten aus, aber auch die weniger gravierenden äußeren Veränderungen der Vatt’gern verursachten bei den Menschen alles andere als vertrauensvolle Gefühle … wobei die Katzenaugen auch bei den Frauen meist gut ankamen. „Was schmunzelst du, Atheris?“ fragte Saleha von der anderen Seite des Tisches. „Ich freue mich einfach nur hier zu sein!“ antwortete der Hexer, während er der Gelehrten ein Gefäß mit einer schleimigen, grünlichen Flüssigkeit überreichte, einem Elixier, das vielleicht den ersten Schritt zur neuen Kräuterprobe darstellen konnte.
Kapitel 7 – Was bei Valerians grauem Bart?
Es war spät geworden und die Sonne über Miklagard war vor einigen Augenblicken am Horizont untergegangen. Im unterirdischen Labor bekamen Saleha und Atheris davon allerdings nichts mit. Vertieft in ihre Experimente hatten die Gelehrte weitere Versuche mit dem Hexer durchgeführt und er ließ es beharrlich über sich ergehen. „Lass uns noch eine letzte Testreihe starten, mir ist da gerade noch eine interessante Idee gekommen!“ meinte Saleha, während sie die letzten Testergebnisse in ihren Notizen erfasste. „Ich bin für jede Schandtat bereit!“ antwortete Atheris, obwohl er sich innerlich darauf gefreut hatte, heute Abend mit den anderen das Badehaus aufzusuchen. Eiwa hatte am Vorabend von dieser Einrichtung erzählt und sie brannten alle darauf, sich von den Masseuren verwöhnen zu lassen. „Lass mich noch kurz Austreten, bevor wir weitermachen!“ ergänzte Atheris seine Antwort. Das bräunliche, warme Getränk, das die Cousinen dem Hexer gegeben hatten und welches leicht bitter schmeckte, trieb ihn öfter auf den stillen Ort, als er es gewöhnt war.
Atheris trat hinaus in den Flur und machte sich zum wiederholten Male auf den Weg zum Abort. Als er die schwere Eisentür zum ‚Gruselkabinett‘ passierte, hörte er ein lautes Klicken und während er sich noch zu dem Geräusch drehte, wurde er von einer Explosion von den Beinen gerissen und hart gegen die Wand geschleudert. Als Atheris wieder das Bewusstsein erlangte, konnte er nicht sagen, wie lange er außer Gefecht gesetzt war. Erst als er seine Augen endlich wieder öffnete und er in seinem Mund einen eisernen Geschmack wahrnahm, wurde ihm wieder klar, wo er sich befand. Beim Versuch aufzustehen stürzte er zweimal unsanft zu Boden, bevor er es endlich schaffte sich zu erheben. Das feine Gehör eines Hexers war oftmals von Vorteil, aber gerade bei Explosionen erwies es sich als ein großes Problem. Er spürte wie ihm das Blut an der Stirnseite runter tropfte und durch das schrille Pfeifen seiner Ohren vernahm Atheris Schreie, die von Saleha sein mussten. Als er gerade seinen Dolch ziehen wollte umschlossen ihn zwei riesige Arme. Die mit Schuppen bedeckten Gliedmaßen fingen sofort an, sich enger zu ziehen, und ihm die Luft aus den Lungen zu pressen. Er versuchte den Solarplexus seines Gegners mit dem Ellenbogen zu erreichen, aber er konnte sich nicht genug bewegen um eine Wirkung zu erzielen, geschweige denn, ob der Mutant überhaupt so etwas besaß. Auch ein Kopfstoß nach hinten erzeugte nicht die gewünschte Wirkung. Durch die Rauchschwaden und seinen sich langsam brechenden Blick sah der Hexer, wie Saleha aus ihrem Labor stürmte und einen Gegenstand auf das Biest warf. Mit einem zischenden Geräusch das gepaart war mit einem schmerzhaften Schreien, löste sich die Umklammerung ein wenig, und das reichte Atheris, um die kurze Klinge aus seiner Armschiene zu lösen und sie in dem schuppigen grünen Fleisch zu versenken. Mit all seiner Kraft drehte der Hexer das Messer und zog es anschließend quer über den Unterarm des Mutanten, wobei er merkte, wie er die Muskeln und Sehnen trennte. Der Griff lockerte sich soweit, dass er seinen linken Ellenbogen in der Magengrube seines Gegners versenken konnte. Zumindest glaubte Atheris, dass es sich um diese handelte, aber der Erfolg gab ihm recht. Als sich der Griff endgültig lockerte, befreite sich der Hexer mit einer Rolle nach vorne. Wieder auf den immer noch etwas zittrigen Beinen zog er in einer fließenden Bewegung seine beiden Dolche aus den Beinholstern und ging, ohne zu zögern, zum Gegenangriff über. Saleha musste das Biest mit irgendeiner Säure im Gesicht getroffen haben, zumindest war es für den Hexer ein leichtes unter dem versuchten Biss hindurch zu tauchen und die beiden Klingen in den Seiten des Halses zu versenken, wo die Halsschlagadern für gewöhnlich verliefen. Mit einer leichten Drehbewegung löste der Hexer die Waffen wieder aus seinem Opfer, und brachte sich mit einem großen Schritt aus der Schlagdistanz des Monsters. Dieses stellte jedoch keine Gefahr mehr da, mit einem letzten Gurgeln brach das Wesen leblos zusammen. Erst jetzt bemerkte der Hexer den schneidenden Schmerz der Wunden, die ihm die Splitter der Explosion zugefügt hatten und sein weißes Hemd zum Teil rot gefärbt hatten. „Alles in Ordnung bei dir, Atheris?“ fragte ihn Saleha besorgt. Der Hexer musterte die Frau und zumindest sie sah unverletzt aus. „Mir ging es schon besser, aber ich bin noch am Leben, Danke!“ antwortete Atheris und warf einen Blick auf das Trümmerfeld, das sich neben ihm befand. „Sie dir das Desaster nur an!“ brach es wütend aus Saleha raus, als sie die gesprengte Kammer betrat. Atheris trat zu ihr in den Raum und sah die Verwüstung, die die Eindringlinge angerichtet hatten. Am Boden vor ihnen lagen die zwei Wächter und neben ihnen vier in schwarzes Tuch gekleidete Männer, deren Gliedmaßen so verrenkt waren, dass der Hexer keine Zweifel hatte, dass sie keine Gefahr mehr darstellen konnten. Zwischen den Toten lag der erschlagene Fledermausmutant, der aus mehreren letalen Stichwunden blutete und keine Lebenszeichen mehr von sich gab. Weiter hinten im Raum lagen weitere Männer sowie der Löwen- und der Adlermutant. „Die Dokumente und die zwei übrigen Mutanten … sie sind weg!“ Saleha zeigte auf die fast leeren Regale im Vorraum und auf den geöffneten Käfig. Der Behälter, der zwischen den Steinbetten gestanden hatte, war umgefallen und die Flüssigkeiten hatten sich auf dem Boden verteilt. Man musste kein Jäger sein, um zu sehen, wie die Mutanten ihre Schlafstätte verlassen hatten und in den Vorraum geschlichen waren. Hier war es dann zum Kampf mit den Eindringlingen gekommen, den nicht alle überlebt hatten. Atheris beugte sich zu einen der toten Männer und zog ihm das Tuch vom Gesicht. Der Hexer zog überrascht die Luft ein „diesen hier kenne ich … ganz sicher! Er gehört zu Zahirs Männern!“ sagte er zu Saleha. „Wenn das Wissen in die falschen Hände gelangen sollte …“ fuhr die Gelehrte fort und der Hexer nickte, er hatte den gleichen Gedanken gehabt. „Wenn Zahir dahinter steckt, müssen wir ihn ausfindig machen!“ fügte Atheris hinzu. Wenigsten wussten die Diebe nichts von den Experimenten mit den Hexermutagenen. „Also, wo fangen wir an?“ fragte Saleha noch, aber Atheris war bereits auf dem Weg nach oben.
Kapitel 8 – Freizeit
Während die anderen den Tag im Labor verbrachten, hatten es sich die verbliebenen Greifen in der Stadtvilla von Saleha gemütlich gemacht und genossen die Annehmlichkeiten. Erst nach dem Mittagessen beschlossen die drei, sich in der Stadt etwas umzusehen und einige von Eiwa‘s ‚Empfehlungen‘ zu besuchen. Sie kamen allerdings nicht sonderlich weit, denn bereits an der Hafenpromenade entdeckte Logan ein sehr einladend wirkendes Kaffeehaus, in dem er die kulturellen Errungenschaften Miklagards unbedingt vertiefen wollte, und da weder Heskor noch Egon einen sinnigen Einwand gegen etwas Kultur hatten, deswegen waren sie ja schließlich auch losgezogen, betraten sie das bereits gut gefüllte Gebäude und ließen sich auf einer der niedrigen Emporen, die mit Kissen und einem kleinen runden Tisch ausgestattet war, nieder. Die optimale Lage Miklagards an einer großen Flussmündung mit offenen Zugang zum Meer war eine der Hauptursachen für den blühenden Handel und somit den Reichtum der Stadt. Schiffe aus vielen ihnen bekannten und zum Teil auch unbekannten Ecken der Welt liefen hier permanent ein und aus. Neben einigen Handelskoggen aus dem Kaiserreich Nilfgaard, war vor allem der große Anteil an Langschiffen aus Skellige auffällig. „Mir war nicht bekannt, dass die Skelliger mit Ophir einen solchen Handel betreiben!“ sinnierte Heskor und überdachte einmal mehr seine Pläne für ein mögliches Handelsgeschäft. „Eiwa hatte doch gestern Abend erzählt, dass sich viele Skelliger hier in Miklagard niedergelassen haben und sogar einen permanenten Handelsposten hier errichtet haben, und zudem gerne als Soldaten in der Armee von Miklagard angeheuert werden. Die Regentin selber verfügt über eine eigene Skelliger-Kompanie, die ihr als Leibgarde dient Sie leben fast alle in einer eigenen großen Siedlung nördlich der Stadtmauern. Raaga wollte sich dort heute Abend mal umschauen!“ antwortete Logan lehrerhaft auf die Feststellung seines Freundes. „Klugscheißer!“ antwortete Heskor mit einem Lächeln im Gesicht, „würdest du Valerian auch mal so gut zuhören im Unterricht, wärst du auch sicherlich bereits Geselle!“ fügte er feixend hinzu und leerte sein Schnapsglas, dessen Inhalt ihn an Lakritze erinnerte. Nachdem sie sich auch noch an einer sogenannten Wasserpfeife versucht hatten, und Egon sich bei einem Glücksspiel mit den Einheimischen über den Tisch hatte ziehen lassen, was fast in einer handfesten Schlägerei geendet war, machten sie sich gutgelaunt auf den Weg zum Badehaus. „Ich bin wirklich gespannt, wie ein Dampfbad so ist!“ zeigte sich Egon mehr als interessiert, denn wie so etwas funktionieren sollte, konnte er sich nicht vorstellen. In dem Dorf, aus dem er kam, gab es einen kleinen Fluss und ab und an mal einen kleinen Zuber. Ihr Weg führte sie von der Promenade weiter an den Anlegedocks für die größeren Handelsschiffe vorbei, und so gesellig wie die Freunde unterwegs waren, wäre Egon fast mit Zahir zusammengestoßen, der sich gerade mit einigen seiner Männer unterhielt. Freundlich grüßte der Händler die Greifen, wechselte ein paar Nettigkeiten aus und ging weiter seinen Geschäften nach. „Wie es scheint, will er seine Handelsreise mit dem Schiff fortsetzten!“ stellte Heskor beiläufig fest, während er die dicke Handelskogge musterte, welches von Hafenarbeitern bereits eifrig beladen wurde. „Ich würde auch nicht mehr freiwillig den Weg durch die Wüste wählen!“ stellte Logan mit vollkommener Überzeugung fest, drehte sich um und folgte Egon, der von dem ganzen nichts mitbekommen hatte. Das Badehaus lag im Zentrum der Stadt. Um nicht den gleichen Weg wie zum Hafen zu gehen, wählten die drei einen Umweg, der sich allerdings als ein ordentlicher Fußmarsch herausstellte, Heskor aber die eine und andere Gelegenheit ermöglichte, einige Kleinode käuflich zu erwerben – die beiden Cousinen waren bereit gewesen, ihm ein zinsfreies Startkapital zu gewähren, nachdem sie erfahren hatten, dass er fast alles verloren hatte. Als sie vor dem Badehaus standen, überlegten die drei kurz, ob sie auf einen Abstecher im Labor vorbeischauen sollten, aber nach einem Moment der Stille einigten sie sich grinsend darauf, lieber sofort das wohltuende Nass aufzusuchen. Es war Raagas knurrender Ruf, der sie kurz vor dem Betreten des Bades innehalten ließ. Der Skelliger hatte seine Hände in die Hüften gestemmt und starrte die drei an. „Wie ich sehe, habt ihr richtig Spaß gehabt, während wir anderen hart gearbeitet haben!“ stellte der Hexer fest. „Wir haben uns nur kulturell weitergebildet!“ antwortete Logan mit seinem typisch schelmischen Grinsen im Gesicht. „Habt ihr die Übungen absolviert, wie ich es euch heute Morgen aufgetragen habe?“ raunzte Raaga die beiden Lehrlinge an. „Äh…welche…!“ wollte Egon antworten, als ihm Logan auf den Fuß trat und das Wort übernahm. „Atheris meinte, wir sollten die Möglichkeit nutzen und uns kulturell weiterbilden!“ sagte der Blondschopf und fuhr mit seiner Argumentation fort, „und wir sind noch nicht fertig mit unseren Nachforschungen, in diesem Gebäude vor uns gibt es noch viel Kultur zu entdecken! Man soll hier sogar in Dampf baden können!“ Gerade als Raaga zu einer Schimpftriade ansetzten wollte, trat Viktor neben ihn, legte ihm die Hand auf die Schulter und meinte auf seine ruhige, gelassene Art: „Weißt du was Raaga! Ich denke heute kannst du eine Ausnahme machen! Ich für meinen Teil, werde mich den dreien anschließen, ein gutes Bad und etwas Kultur hat noch niemandem geschadet. Die Übungen können wir auch in der kühleren Abenddämmerung nachholen. Kommst du auch mit?“ Raaga, der als Valerians rechte Hand und Geselle für einen Teil der Ausbildung der Lehrlinge verantwortlich war, brauchte einen Moment, um sich innerlich wieder zu beruhigen. Atheris hatte keinerlei Weisungsbefugnis gegenüber Egon und Logan, da er selber nur ein Lehrling war, auch wenn er aufgrund seines Alters und Erfahrungen von Valerian anders behandelt wurde. „Nein Danke! Macht ihr nur, ich suche mir eine Taverne im skelliger Viertel!“ antwortete er, während er bereits kehrtgemacht hatte. Eiwa, die das ganze ruhig mit angehört hatte, zuckte kurz mit den Schultern und meinte dann süffisant: „Raaga, mit schlechter Laune, in einer Taverne voller Landsmänner? … das könnte interessant werden!“ und machte ebenfalls kehrt. Das Badehaus war ähnlich wie die meisten Gebäude in Miklagard aufgebaut, durch das einladend wirkende Eingangsportal gelangten sie in einen großzügig angelegten Innenhof, in dem die Besucher verschiedensten körperlichen Ertüchtigungen nachgingen. „Zum Glück ist Raaga nicht mitgekommen, er wäre bei dem Anblick der Geräte hier sicherlich auf dumme Gedanken gekommen!“ sagte Logan und erntete ein fast verängstigtes Lachen von Egon, „mach bloß keine Scherze darüber! Dagegen wäre die Wüste ein Zuckerschlecken gewesen!“ antwortete er seinem Kameraden. Ein großer Torbogen führte sie in eine große, belebte Halle, die mit den hier typischen bunten Mosaiken ausgekleidet war. Dieser Treffpunkt bildete offensichtlich das gesellschaftliche Zentrum des Bades. Hier saßen und standen die Besucher wie sie die Götter geschaffen hatten und unterhielten sich sowohl über privates als auch geschäftliches Dinge. Der überwältigende Anteil der weiblichen Besucher fiel dabei besonders ins Auge, aber Heskor erinnerte die beiden jüngeren Greifen daran, dass hier in Miklagard ein strenges Matriarchat herrschte, und sie sich hier besser zurückzuhalten sollten, um keine Probleme zu verursachen. Von einem Bediensteten wurden sie in einen Raum geführt, in der sie sich entkleideten und lediglich mit einem Tuch bewaffnet wieder in die Halle zurücktraten. „Psst…Heskor!“ zischte Logan, als er sah, dass sich der ältere Mann das Tuch um die Hüften geschlungen hatte. „Heeessskor!“ wiederholte sich Logan etwas lauter, bis dieser sich zu ihm umdrehte. „Was?“ fragte Heskor mit hochgezogenen Augenbrauen. „Wir wollen doch hier keine Probleme bekommen, also trage dein Handtuch wie die anderen Männer besser auch über die Schulter gelegt!“ grinste Logan, als Heskor sich leicht verlegen umblickte. „Hups!“ grinste er zurück, löste das Tuch um seine Hüften und schwang es elegant auf seine Schulter. „Besser?“ fragte er, „viel besser!“ entgegnete Logan und fügte hinzu „hoffentlich ist das Wasser hier nicht zu kalt!“. Als sie weitergingen meinte Egon: „Valerian würde mit uns ein Hühnchen rupfen, wenn er wüsste, dass wir uns hier unbewaffnet herumtrieben!“ „Dann haben wir ja Glück, dass der alte Mann nicht hier ist, um uns als Strafe Runden um das Badehaus laufen zu lassen!“ erwiderte Viktor trocken und machte sich auf den Weg zum Dampfbad.
Die Zeit verging schnell und ehe sich die Hexer versahen, war die Dunkelheit über der Stadt hereingebrochen. Heskor und Viktor unterhielten sich gerade mit einem Händler aus Skellige, den sie auf ein paar Gläser des hiesigen Schnapses eingeladen hatten. Heskor hatte den Mann schon fast so weit beackert, dass er ihnen eine Passage in die Leuenmark zu einem vernünftigen Preis anbieten könnte. Währenddessen waren die beiden jüngeren Hexerlehrlinge dabei mit zwei ophirischen Schönheiten anzubandeln, beziehungsweise sich anbandeln zu lassen. Ihrer Aufmerksamkeit beraubt, nahmen die Greifen nicht wahr, wie sich im Licht der Fackeln ein großer schwarzer Schatten in eines der Becken gleiten ließ. Ein kreischender und dann abrupt erstickender Schrei einer Frau riss ließ sie aufschrecken. Panik brach aus und die verbliebenen Gäste verließen so schnell sie konnten das Wasser, während sich in der Mitte das rote Blut im sprudelnden Wasser verteilte. Egon und Logan sprangen sofort ins Wasser und begannen den Leute aus dem Wasser zu helfen, während Heskor und Viktor in die Halle gerannt kamen. Wenig später war Logan der letzte, der sich im Wasser befand, nachdem er gerade einer alten Dame aus dem Wasser geholfen hatte, als er in seinen Augenwinkeln die schäumende Welle wahrnahm, die sich sehr schnell auf ihn zubewegte. Gerade als er sich innerlich darauf vorbereitete, sich mit allem zu wehren, was er hatte, packten ihn im letzten Moment zwei kräftige Hände und zogen ihn aus dem Wasser. Der junge Hexer fand sich in den Armen von Heskor wieder, während Viktor mit einem schweren Kerzenständer auf den abscheulichen Kopf einschlug. Nach zwei schweren Treffern, ließ sich das Biest zurück ins Wasser gleiten und schwamm auf die andere Seite des Beckens. Dort sprang es aus dem Wasser und verließ den Raum durch einen Vorhang. Es war mindestens drei Schritt hoch und Viktor erkannte in dem Monster den Mutanten aus der Asservatenkammer. „Verdammt, wie kommt das hierher?“ rief Viktor. Das entsetzte Schreien der Gäste in den anderen Raum ließ nicht lange auf sich warten. „Logan…Egon, hinterher! Heskor, hol die Waffen!“ knurrte Viktor und rannte mit dem Kerzenständer in der Hand dem Monster hinterher. „Bei Valerians grauem Bart!“ schimpfte Logan und stürzte Viktor hinterher. Im anderen Raum erblickten sie das Monster, wie es sich gerade über sein nächstes Opfer hermachen wollte. Bevor die Echse ihr Opfer stellen konnte, schleuderte Viktor den Kerzenständer gegen den Rücken des Biestes, in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit auf sich lenken zu können, und das gelang ihm auch. Das Wesen, halb Mensch halb Tier ließ sich mit einem furchtbaren Brüllen auf alle Viere fallen, und lief mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu. Kurz vor dem Aufeinandertreffen stoben die Greifen auseinander und ließen den Angreifer ins Leere laufen. Es hatte sich Logan als sein erstes Opfer auserkoren und setzte dem nackten Blondschopf nach. Der Blondschopf schlitterte so schnell er konnte den Beckenrand entlang, was gar nicht so einfach war, da diese blöden Kacheln feucht und verdammt rutschig waren und nur ein Fehler konnte ihm in seiner Situation das Leben kosten. Als er merkte, dass seine Flucht aussichtslos war, bremste er ab, drehte sich um und rannte seinem Jäger entgegen. „Logan! Nein!“ schrie Viktor aus einiger Entfernung. Die Echse öffnete ihre vor Zähnen strotzenden Fänge, und keinen Moment zu früh, setzte Logan zu einem Sprung an, zog die Beine an und ließ den Mutanten unter sich hinwegfliegen. Im richtigen Augenblick drückte sich Logan nochmal einmal mit dem rechten Bein von dem Schädel seines Gegners ab, wodurch er einen zusätzlichen Impuls nach oben erhielt und mit seinen nach oben gestreckten Armen einen der Deckenleuchter zu fassen bekam. Den Schwung nutzend zog er sich vollends hoch und schaffte es außerhalb der Reichweite des Jägers, der die Situation mit einem erneuten animalischen Brüllen quittierte. Wütend machte sich das Wesen auf, sich ein neues Opfer zu suchen. Seine Wahl fiel auf Viktor, der sich inzwischen mit einem Wischmopp und einem Holzeimer bewaffnet hatte. Als er den Mutanten nun auf sich zustürmen sah, nahm er den Mopp, schlug diesen gegen die Wand, dass der untere Teil abbrach und richtete die Spitze auf das Maul seines Gegners, während er den Eimer ähnlich einem Faustschild in der anderen Hand hielt. Kurz vor dem Aufprall zerschnitt ein scharfes Pfeifen die Luft und ein kurzer Bolzen grub sich in die Schulter des Biestes und riss dieses überrascht zu Boden. Viktor nutzte die sich bietende Gelegenheit und rammte die Spitze seines Stiels mit voller Wucht in eines der Augen, des sich am Boden wälzenden Wesens. Schwer gezeichnet griff das Wesen nach einem Metallgitter, das eine Öffnung in der Wand verkleidete, riss es aus seiner Fassung und schleuderte es auf den Hexer, der sich gerade noch ducken konnte. Durch diese Öffnung floh das Wesen in die Dunkelheit. Die drei anderen Greifen gesellten sich zu Viktor und starteten zur etwa einen Schritt hohen und ebenso breiten Öffnung in der Wand. Heskor warf ein Bündel vor die Füße seiner Freunde, das deren Ausrüstung beinhaltete, spannte mit Hilfe des Fußbügels die aufgegabelte Armbrust und legte einen neuen Bolzen auf. Viktor war der erste, der in Windes Eile seine Ausrüstung anlegte, sich ein Messer zwischen die Zähne steckte und dann mit dem Kopf voran, dem Wesen in die Dunkelheit folgte. „Ernsthaft jetzt?“ fragte Egon und blickte zu den beiden anderen hinüber. Logan zuckte mit den Schultern „Schade, ich hatte gerade erst gebadet!“ und verschwand ebenfalls durch die Öffnung. „Schau mich nicht so an! Ich habe schon schlimmeres erlebt!“ sprach Heskor und tat es den anderen beiden gleich. So hatte sich Egon das Hexer Dasein nicht vorgestellt, „Na dann, Waldmannsheil!“ rief der junge Lehrling und stürzte sich ebenfalls ins Dunkel.
Kapitel 9 – Die Jagd
Saleha und Atheris waren auf ihrem Weg aus den unteren Ebenen der Madrasa. Die Einbrecher waren schnell und hart vorgegangen. Die schwere Schleusentür hing nur noch in den Angeln und im Eingangsbereich lagen die Wachen sowie einige Studenten und Mitarbeiter erschlagen am Boden. „Ich muss den Alarm auslösen!“ rief Saleha und rannte in einen Nebenraum. Kurz darauf erschall eine helle Glocke und es dauerte nur wenige Momente, als die schweren lauten Glocken der Stadt in das Läuten mit einfiel. Während Atheris die Szenerie betrachtete, sah er wie auf der anderen Seite des Platzes sechs Gestalten, die ähnlich gekleidet waren wie die Eindringlinge in einer der Gassen, die sich auf der anderen Seite des Platzes vor der Universität befand, verschwanden. Bei sich trugen sie etwas, was aussah wie eine große metallene Kiste. Ohne zu zögern begann Atheris mit der Verfolgung.
Unter dem Badehaus waren die Viktor, Logan, Egon und Heskor dem Ungetüm durch die kleine Öffnung in die Kanalisation gefolgt. Zu Beginn war es noch relativ einfach gewesen den Spuren zu folgen. Der Belüftungsschacht hatte sie über Umwege in die untere Ebene geführt, vorbei an Wasserrohren aus Ton und Kupfer bis sie schließlich im Kesselraum angelangten. Hier wurde das warme Wasser für die Bäder aufbereitet und genau hier hatte das Monster wieder zugeschlagen. Der Diener lag in einer sich ausbreitenden Blutlache am Boden und die Spuren wiesen den Greifen den Weg durch eine zerstörte Holztür in die Abwasserkanalisation. Zu Beginn war der Gestank und die Verunreinigung noch erträglich gewesen, das ganze Restwasser, das aus den Becken hier abgelassen wurde, sorgte dafür, dass nicht viel Unrat liegen blieb. Den eingeschlagenen Weg des flüchtigen Mutanten konnten sie gut eingrenzen, da die meisten Rohre, die in den Schacht mündeten zu klein waren, um diese zu betreten. Dies änderte sich abrupt, als sie den ersten großen Knotenpunkt in der Kanalisation erreichten. Hier mündeten vier Kanäle in ein großes Becken, indem die Greifen knietief in einer ekeligen und stinkenden Brühe standen. Nachdem sie das Becken durchsucht, aber den Mutanten unter Wasser nicht gefunden hatten, war es nicht leicht gewesen, eine mögliche Spur aufzunehmen. Letztendlich waren es Viktors scharfe Augen gewesen, die ungewöhnlichen Kratzspuren an der Öffnung des größten Kanals entdeckt hatten, die zu ihrer Beute passten. Wenig später waren sie sich ziemlich sicher, dass sie ihrem Ziel auf der Spur waren, denn sie konnten, wenn sie kurz innehielten, das schwere Kratzen von Krallen auf Stein klar und deutlich vernehmen. Nach einer langgezogenen Biegung gelangten sie zum vermeintlichen Hauptabwasserkanal, hier mündeten die mannshohen Kanäle in einem steten Strom aus Fäkalien und sonstigen Unrat, der sich wie ein brauner, unterirdischer Fluss, in Richtung Meer bewegte. Zu ihrem Leidwesen konnten Sie kein Boot finden, das sie hätten nutzen können und so ließ sich zunächst Logan in die stinkende Suppe hinab. „So eine verdammte Scheiße!“ schimpfte dieser als er begann mit leichten Schwimmbewegungen gegen die Strömung anzukämpfen. „Wollen wir dem Viech wirklich hierhinein folgen?“ fragte Heskor, der sich an der kahlen Stirn kratzte, während er zum jungen Blondschopf hinunterblickte. „Wie haben keinen Auftrag erhalten, und ich denke unsere Schuldigkeit ist mehr als getan!“ stimmte Egon ein, wobei er versuchte nicht zu tief einzuatmen. Viktor war sichtlich hin und her gerissen und man konnte an seinem Gesicht ablesen, dass auch er nicht wirklich Lust hatte, es Logan gleich zu tun. Ein heftiger Schlag traf unerwartet Logan an den Beinen und zog sie ihm unter dem Körper weg, so dass er mit einem lauten Platschen in den braunen Fluten verschwand. Viktor zögerte keinen Moment und sprang Logan hinterher. Egon zog seinen Dolch, bückte sich wie eine Raubkatze und machte sich sprungbereit, während er die bewegte Oberfläche beobachtete. Heskor stand direkt neben ihm und zielte mit seiner Armbrust auf die Stelle, wo die beiden Hexer verschwunden waren. Der Moment zog sich eine gefühlte Ewigkeit hin, und die beiden konnten nur erahnen, was sich unterhalb der Oberfläche abspielte. Egon zuckte für einen Moment zusammen, als sich die Fluten für einen Moment teilten und sich der Echsenmutant aus der braunen Suppe erhob. Auf seinem Rücken befand sich Logan, der seinen linken Arm um den Hals des Wesens gelegt hatte und gleichzeitig immer wieder mit seinem Jagdmesser auf die Flanke einstach. Viktor befand sich direkt vor dem Mutanten, er hatte seine Beine eng um dessen Taille geschlungen, und war mit beiden Händen damit beschäftigt, das riesige Maul, mit den messerscharfen Zähnen von sich fernzuhalten, während die bösartigen Klauen ihm das Kettenhemd am Rücken zerfetzten. Heskor zielte auf die entblößte Flanke des Monsters und ließ erneut einen Bolzen fliegen. Das Geschoss traf aus kurzer Distanz sein Ziel und die Echse ließ sofort von Viktor ab, der aber seine Umklammerung nicht löste und nun mit seinen Fäusten begann, das Wesen zu bearbeiten. Egon warf sich mit einem Hechtsprung ebenfalls auf die Panzerechse und brachte es aus dem Gleichgewicht.
In der festen Umklammerung und im Nahkampf mit den Hexern begann das Wesen mit heftigen Rollbewegungen um die eigene Achse und schaffte es unter dem Fluchen der Greifen diese abzuschütteln. „Verdammt! Wir hatten es!“ schrie Viktor und spuckte einen ganzen Schwall an braunem Wasser aus. „Los hinterher, da vorne schwimmt er!“ schrie Heskor aus seiner erhöhten Position heraus. Mit einem lauten Platschen landete er neben den anderen und gemeinsam nahmen sie erneut die Verfolgung auf.
Atheris rannte so schnell ihn seine Beine tragen konnten durch die engen und dunklen Gassen der Stadt, immer den sechs Einbrechern folgend, die sich fast wie Affen über etwaige Hindernisse hinwegsetzten. Immer wieder musste er diversen Gegenständen und vereinzelten Bewohnern ausweichen, die zum Teil schockiert reagierten und ihm Wörter hinterherwarfen, von denen er nicht wissen wollte, was sie zu bedeuten hatten. Das harte Training der letzten Jahre in den Wäldern rund um Kaer Iwhaell zahlte sich aus. Sein durch die Mutationen veränderter Metabolismus verlieh ihm sowohl eine höhere Geschwindigkeit, als auch eine bessere Ausdauer wie den Flüchtigen. Gerade als er dabei war, die Männer einzuholen, wechselten sie von der Gasse hinauf auf die Dächer. Der Hexer fluchte laut, ergriff einen Stuhl, der vor einer Hintertür stand und vermutlich für die nächtliche Wasserpfeife vorgesehen war, und warf das Ding auf den letzten der Einbrecher. Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, etwas zu treffen, aber der Stuhl streifte den Mann so unglücklich, dass dieser ins Straucheln geriet, den Absprungpunkt verpasste und übel gegen eine Hauswand krachte. Ein inneres Triumphgefühl kam nur kurz auf, denn er war mehr als beschäftigt, den anderen beiden zu folgen. Die Hatz ging weiter über die flachen Dächer, wie ein Bluthund klebte Atheris an den schwarzgekleideten Männern und er kam ihnen immer näher. Als er die ersten Masten des Hafens erblickte, und der Hexer sich überlegte, ob dieser das Ziel ihrer Flucht war, blieben zwei von ihnen stehen und zogen ihre Krummsäbel. Atheris sprang zu den beiden auf das Flachdach. „Wo sind die Dokumente!“ rief er den beiden zu, doch keiner der beiden antworte. „Wäre auch zu einfach gewesen!“ murmelte der Hexer. Er griff langsam über seine Schulter, löste die Schwertscheide vom Rücken, und zog seine scharfe Klinge in einer fließenden Bewegung. Die Schwertscheide warf er achtlos nach vorne auf den Boden, wobei er während der Bewegung das Hexerzeichen ‚Aard‘ wirkte. Die Druckwelle löste sich von seiner Handfläche und wie von einer unsichtbaren Faust getroffen, wurden die beiden Männer unsanft zu Boden geschmettert. Mit drei schnellen Schritten war er über seinen Gegner und bevor die beiden sich wieder sammeln konnten, hatte er sie entwaffnet, den einen Bewusstlos geschlagen und den zweiten in den Schwitzkasten genommen. Er Blickte sich noch einmal um, aber von den letzten drei Gesuchten sah er keine Spur mehr.
Wenig später hatte Atheris den Hafen von Miklagard erreicht. Bei dem Anblick des riesigen Hafens und der gefühlt unzähligen Schiffe, sank ihm das Herz in die Hose. „A d’yaebl aép arse!“ fluchte Atheris, während er seinen Blick über den Hafen wandern ließ, er hatte während des kurzen Verhörs aus dem Einbrecher nicht viele Informationen gewinnen können, entweder waren sie zu allgemeint gewesen, oder er hatte nicht verstanden, was der Mann von sich gegeben hatte. Obwohl es Nacht war, herrschte hier im Hafenviertel noch reges Treiben. Aus den Tavernen ertönten fröhliche Seemannslieder oder wie man es auch bezeichnen konnte, ein fröhliches Gegröle. In den dunklen Nebengassen erspähte der Hexer neben Matrosen, Liebespärchen und den einen oder anderen Haudegen, der sich den Abend nochmal durch den Kopf gingen ließ. „Egal wo man sich auf der Welt befindet, manches ändert sich nie!“ bemerkte Atheris und konzentrierte sich wieder auf seine eigentliche Mission. Kurz spielte der Hexer mit dem Gedanken auf das Dach eines der Häuser zu klettern, um eine bessere Übersicht zu bekommen, aber er verwarf diese Idee schnell wieder, von den Dächern hatte er genug gehabt für diese Nacht, stattdessen rannte er auf die Promenade. Während er den Hafen entlangrannte und die einzelnen Schiffe beobachtete, fragte er immer wieder Passanten ob sie einen Mann namens Zahir gesehen hatten, aber niemand konnte oder wollte dem Hexer helfen. „Aen iarean nyald aep kroofeir!“ schimpfte Atheris verzweifelt, und schlug mit der Faust laut auf ein Fass, das neben ihm stand. „Gloir aen Nilfgaard!“ grüßte ihn auf einmal ein Mann, der hinter ihm aufgetaucht war. Er war in feiner schwarzweißer Gewandung gekleidet und das stilisierte goldene Sonnensymbol des Kaiserreiches schmückte seine Brust. „E’er y glòir!“ erwiderte Atheris, nach dem Brauch seiner Heimat. „Mein Name ist Kapitän Calderon aep Barca, und meine Männer haben vom Schiff aus einen Soldaten des Kaiserreiches in Not gemeldet! Wenn ich es richtig sehe, stimmt diese Annahme jedoch nicht zur Gänze, du bist ein Vatt’ghern! Ist bestimmt eine interessante Geschichte, aber zunächst einmal, was ist dein Problem, du wirkst verzweifelt?“ begann der Mann seine Konversation. „Mein Name ist Atheris aus Toussaint, ein Vatt’ghern und ein Veteran der drei nördlichen Kriege. Ich erzähle dir meine Geschichte gerne, aber vorher muss ich dringend den Händler Zahir finden! Kennst du ihn?“ entgegnete der Hexer. Calderon schien für einen Moment zu überlegen, und schaute zu einem etwas entfernten Dock hinüber. Atheris folgte seinem Blick, doch der Kai war leer. Der Kapitän schaute sich in Richtung Hafenbecken um und zeigte, nach wenigen Augenblicken, auf eine dicke Handelskogge, die bereits einen Teil ihrer Segel gesetzt hatte und auf die Hafenausfahrt zuhielt. „Er hatte mit mir um eine Überfahrtmöglichkeit in seine Heimatstadt verhandelt. Mein Weg führt mich aber in den Norden, zurück in das Imperium. Kapitän Rawan hingegen hat sein Angebot wohl angenommen, zumindest wurden Zahirs Güter auf das Schiff dort gebracht!“ sagte der nilfgaarder Kapitän. „A d’yaebl aép arse!“ wiederholte Atheris seinen Fluch, dankte seinem Landsmann und rannte die Promenade in Richtung Hafenausfahrt entlang. Wie sollte er nur an Bord gelangen, geschweige denn es anhalten?! Es war nicht mehr weit bis zur Hafenausfahrt, spätestens dort würde das Schiff unter vollen Segeln kaum noch einzuholen sein. Die Hafenausfahrt war durch zwei große, massive Türme gesichert, die im Zusammenspiel mit einer Hafenmauer ein Nadelöhr bildeten, die jedes Schiff, das in oder aus dem Hafen wollte, passieren musste. Kurz überlegte er, ob er von der Mauer mit einem Sprung zum Schiff gelangen konnte, aber der Abstand war viel zu weit. In einem Sprung setzte Atheris über einen Stapel Kisten hinweg, passierte zwei torkelnde Seemänner und konzentrierte sich dann wieder auf sein Problem. Die Türme waren mit schweren Katapulten ausgerüstet, man könnte das Handelsschiff versenken und so Zahir an der Flucht hindern, aber er hatte keine konkreten Beweise, dass Zahir selber für den Diebstahl verantwortlich war, zudem müsste er die Wachen erstmal davon überzeugen, auf Grund seiner Aussage, ein fremdes Schiff zu versenken. Kurz bevor er den Turm auf seiner Seite des Hafens erreichte, sah er eine dicke Kette vom Turm ins Wasser hängen, und wenn er es richtig interpretiert, auf der anderen Seite der Verjüngung das andere Ende. Im Kaiserreich gab es einige Hafenstädte, die eine ähnliche Verteidigungsmaßnahme besaßen. „Also gut, dann eben die Kette!“ Atheris lächelte und beschleunigte noch einmal sein Tempo. Er erreichte einige Augenblicke vor dem Schiff die Hafenausfahrt. Die Tür zum Turm stand offen, wurde aber von zwei Soldaten bewacht. Als diese den heranstürmenden Hexer erblickten, zogen diese ihre Krummsäbel und schrien ihm etwas entgegen. Auch wenn er die Worte nicht verstand, war die Ansage eindeutig. Wie bei einem Déjà-vu formte er mit seinen Fingern erneut das Hexer-Zeichen Aard und kurz bevor er die auf ihn gerichteten klingen erreichte, entfachte er die Druckwelle…beziehungsweise, wollte er diese entfesseln, aber sie blieb aus. „Was zum…?“ entfuhr es dem überraschten Atheris, der es gerade noch schaffte, dem ersten Hieb, der gegen seine rechte Schulter ausgeführt worden war, auszuweichen. Die zweite Attacke blockte er mit seinem Dolch, den er aus seinem Beinholster gezogen hatte. Mit einem festen Tritt, gegen den Knöchel des ersten Wächters, zwang er diesen auf die Knie, während er selber im folgenden Moment, aus seiner gebückten Haltung nach vorne schoss und seine Schulter der anderen Wache in die Magengrube versenkte. So gut die Wachen aus Miklagard auch ausgerüstet waren, diese beiden hier, waren zu seinem Glück, schon lange nicht mehr in einen ernsthaften Kampf gefordert gewesen. Als Atheris den Turm betrat, sprangen zwei weitere Wachen von ihren Stühlen auf und kippten dabei ihren Spieltisch um. Ohne sich zu erklären, stürmte er an den beiden Männern vorbei zu der Winde, mit der er hoffte, die Kette straffen zu können. Er betrachtete für einen Moment den komplexen Mechanismus, nahm eine große Axt aus einer Halterung und zerschlug, mit zwei kräftigen Hieben, ein dickes Tau. Mit einem lauten Krachen, das den Turm in seinen Grundfesten erbeben ließ, fiel ein massiver Gegenstand im Keller des Turmes hinunter, und mit einem Blick aus dem Fenster erkannte er, dass sich die Kette aus dem Wasser erhoben hatte, und die Hafenausfahrt versperrte. Die vier Wachen hatten inzwischen den Hexer erreicht, und er blickte auf vier scharfe Klingenspitzen, die vor seinem Gesicht die Luft zerschnitten. Langsam ließ er die schwere Axt aus seinen Händen gleiten, und erhob als Zeichen seiner Aufgabe, beide Hände über den Kopf. Er sah den Knauf der Waffe kommen, ließ sich aber mit einem Schlag auf den Solar Plexus zu Boden strecken. Sein Gehör vernahm, neben dem Brüllen der Wachen, auch das Schreien der erschrockenen Seemänner, die versuchten, eine Kollision mit der Hafenkette zu vermeiden. Unsanft wurde Atheris von den Soldaten gefesselt und an den Füßen aus dem Turm gezogen. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie das Schiff beigedreht hatte. Ein dumpfer Tritt gegen seinen Kopf ließ den Hexer schwarz vor Augen werden und er verlor das Bewusstsein.
Als der Hexer wieder zu sich kam, blickte er in Salehas besorgte Augen. Während sie ihm auf die Beine half, zeigte sie auf die Kogge, die inzwischen von zwei kleinen Patrouillenbooten der Hafenwache geentert wurde. „Wir haben gesehen, wie das Schiff beigedreht hat und dachten uns schon, dass du deine Hände im Spiel hast!“ sagte die Gelehrte und bedeute den Wachen mit einem Wink weiter Platz zu machen. Am Fuße des Turms, befand sich ein weiteres kleines Patrouillenboot, mit dem sich die beiden zum geenterten Schiff übersetzten ließen. Zahir stand vor seinen Männern und protestierte mit wilden Gesten, während er mit dem Kommandanten der Wache diskutierte. Für einen kurzen Moment hielt er in seiner Schimpftriade inne, als er sah, wie Saleha und Atheris an Bord der Kogge gingen. „Sayida, wir haben bisher nichts gefunden!“ meldete sich einer der Soldaten bei Saleha. „Sucht weiter, wir müssen die Dokumente sicherstellen!“ war ihre knappe Antwort.
Mühsam waren die vier dem tiefen braunen Strom gefolgt, noch immer auf der Jagd nach dem inzwischen schwer verwundeten Mutanten. Rücken an Rücken glitten sie durch das Wasser, jederzeit auf einen Angriff gefasst. Ein erschrockener Aufschrei, gefolgt von einem unheimlichen Gurgeln ließ die Greifen in der Kanalisation zusammenzucken. „Das kam von dort hinten!“ schrie Logan und zeigte auf einen abzweigenden Seitenarm. Sie beeilten sich, zur besagten Stelle zu gelangen und ließen dabei in ihrer Vorsicht etwas nach. Wieder hörten sie ein ersticktes Gurgeln, diesmal schien es nah zu sein, aber sie konnten in der Dunkelheit nichts erkennen. Beim dritten Mal sahen sie im seichten Abwasser des Seitenarms, den gebückt über seinem letzten Opfer kauernden Mutanten. Mit einem ausgerissenen Arm im Maul, blickte sie das Wesen direkt an, und die weißen Zähne, scharfen Zähne, bildeten in der Dunkelheit eine abscheuliche Fratze. Heskor fackelte nicht lange, zielte mit ruhiger Hand, atmete langsam aus und betätigte sachte den Abzug. Der Bolzen flog in einer fast perfekten Geraden und traf das Monster am Hals. Schwer getroffen kippte das Monster, nun selber gurgelnd, zur Seite.
Die drei Hexer hatten inzwischen die Entfernung zu der humanoiden Panzerechse zurückgelegt. Mit schnellen und wilden Schlägen ihres Schwanzes versuchte sie, im Todeskampf die Hexer auf Distanz zu halten. ‚Zipp‘ ein vierter Bolzen von Heskor beendete das Schauspiel und das Wesen sackte leblos zusammen. Während sich Viktor zweimal versichert, dass das Monster keine Gefahr mehr darstellte, eilten die übrigen zum schwer verletzten Opfer. Die schwarze Kleidung hing in Fetzten an dem Körper des jungen Mannes. Egon prüfte die Vitalzeichen und schüttelte nur den Kopf, ihm war nicht mehr zu helfen. Logan entfernte das Tuch vor dem Gesicht des Mannes und fuhr erschrocken zurück, es war Amir, der Sohn Zahirs! „Was bei Valerians grauem Bart hat er hier verloren?“ fluchte Logan und blickte zu den anderen. „Das wird er uns nun nicht mehr sagen können!“ schüttelte Viktor traurig den Kopf. Nach einem Moment der Stille räusperte sich Heskor „Also gut, wir sollten schauen, dass wir hier unten wieder rauskommen und Amir nehmen wir mit!“ „Seht mal hier!“ rief Egon von der Mündung des Seitenarms. Er war auf eine metallene Kiste gestoßen, die achtlos zur Hälfte im Wasser lag. Trotz ihrer Größe, war die Kiste überraschend leicht, als Egon versuchte sie anzuheben. „Sie ist versiegelt!“ stellte Heskor fest, während er auf das Schloss zeigte. „Die nehmen wir auch mit und untersuchen sie später im Trockenen!“ knurrte Viktor, der offensichtlich keine Lust mehr hatte länger an diesem Ort zu verweilen. Sie folgten der Strömung des Hauptkanals. Nach einem kurzen Stück des Weges bemerkten sie eine weitere Gestalt im Strom treibend. „Der hier war auch einer von Zahirs Männern!“ schrie Egon „Die Kehle ist von scharfen Zähnen zerrissen worden!“ führte er weiter fort. „Kommt, wir müssen weiter, ich glaube meine Nase fault bei dem Gestank langsam ab!“ schimpfte Viktor, dessen Laune sich zunehmend verschlechterte.
Derweil lief die Durchsuchung am Bord der ‚Mahnaz‘ weiter. „Was machen wir, wenn die Dokumente und Proben nicht hier sind?“ fragte Atheris die Gelehrte. „Frag lieber nicht!“ seufzte Saleha und beobachtete, wie die Soldaten eine weitere Kiste entleerten. „Atheris! Atheris! … Hier drüben!“ drang die Stimme von Logan an das Ohr des Nilfgaarder. „Atheris! Hier drüben, beim Kanal!“ erklang Logans Stimme erneut. „Was für ein Kanal?“ murmelte Atheris und drehte sich um. Nicht weit entfernt sah er an der Mündung der Kanalisation seine Freunde stehen, die ihm wild zuwinkten. Einige Minuten später näherte sich Saleha und Atheris am Bord des kleinen Patrouillenboots seinen Freunden. Von oben bis unten mit Kot beschmiert standen die Vier vor ihnen. Atheris rümpfte die Nase, als er ihnen ein Seil hinüberwarf. Sein Lächeln verblasste, als er die Leiche Amirs am Boden liegen sah. „Wir hatten im Badehaus eine unliebsame Begegnung und das eine führte zum anderen!“ erklärte Logan, nachdem er den Blick des Nilfgaarders gedeutet hatte. „Was hat euch denn auf das Schiff dort getrieben?“ fragte Heskor. „In der Madrasa ist eingebrochen worden. Unterlagen und Dokumente sind aus dem ‚Gruselkabinett‘ entwendet worden!“ antwortete Atheris. „Dort auf der Kogge befindet sich Zahir! Seine Männer waren am Überfall beteiligt und nun suchen wir an Bord nach den Dokumenten!“ fuhr der Nilfgaarder fort. „Dann ist es sicher kein Zufall, dass wir Amir, und einen von Zahirs Männern in der Kanalisation aufgefunden haben! Und das hier dürfte soeben noch interessanter geworden sein!“ Heskor zeigte auf die Truhe, die sie gefunden hatten. Salehas Augen weiteten sich „das ist sie! Es ist zwar nicht alles, was entwendet wurde, aber das ist das wichtigste!“ die Gelehrte sprang unerwartet aus dem Boot und rannte vorbei an den Greifen zur Truhe. Nach einer kurzen Prüfung des Siegels drehte sie sich um und lächelte. „Das Siegel ist intakt!“ Zufriedenheit und die Erleichterung war ihr sichtlich ins Gesicht geschrieben. Gemeinsam machten sie sich alle auf den Rückweg zur Hafenpromenade, wo sie ausgiebig zu den Vorkommnissen von der Wache befragt wurden.
Die Beweislast reichte aus, um Zahir und seine Männer fürs erste in Haft zu nehmen, und die Mahnaz in den Hafen zur weiteren Untersuchung zurückzubringen. Als der Morgen graute, machten sich die Freunde auf den Weg zurück zu Salehas Residenz, wo sie sich ihre Wunden versorgen ließen und sie auf eine endlich wieder wache Nella trafen. „Wo steckt eigentlich Raaga?“ fragte Atheris, als sie bei einer kleinen Mahlzeit gemeinsam am Tisch saßen. „Der wollte endlich mal wieder eine richtige Taverne besuchen, mit richtigem Met und guter Musik!“ antwortete Heskor. „Eiwa müsste bei ihm sein!“ merkte Egon an. „Das war vermutlich der einzige Grund, warum er endlich mal wieder in die Heimat wollte, von wegen persönliche Angelegenheiten klären, der wollte endlich mal wieder richtig einen Drauf machen!“ gluckste Logan lachend und mit erhobenen Weinkelch von der anderen Seite des Tisches.
Kapitel 10 – Ein unerwarteter Gast
Es hatte nicht lange gedauert, bis Raaga eine Taverne nach seinen Vorstellungen gefunden hatte. In all der Pracht und exotischen Schönheit der Stadt, war die rustikale Einrichtung eine willkommene und für Raaga heimatliche Abwechslung. Wie auf den Inseln üblich, gab es einen langen Tisch, an denen sich die Gäste gesellig wie sie waren zusammenfanden und neben einer großen Menge an Bier und Met auch noch die besten und deftigsten Speisen genossen. Zunächst hatte Raaga noch Bedenken, dass die hier ansässigen Landsmänner die Sitten nicht mehr lebten, aber dem war zu seinem Glück nicht so. Es dauerte auch nicht lange, als er in der Begleitung von Eiwa mitten unter ihnen saß, und sie sich das Seemannsgarn und sonstige zotige Geschichten anhörten. Raaga der normalerweise eher ruhig blieb, ließ sich nach der fünften Runde Met und der mehrfachen Aufforderung von Eiwa, ebenfalls zu der einen oder anderen Geschichte aus dem Leben eines Hexers hinreißen. Seine Geschichten, die er in kurzen und wenig ausschweifenden Sätzen von sich gab, ließ die Männer in jeder Pause, die Raaga machte, um seinen Krug zu leeren, einen Gesang anstimmen „Was trinkt ein Hexer bevor er jagen geht! Skelliger-Met! Skelliger-Met!“.
Als der Morgen graute und sich die Taverne weitestgehend geleert hatte, saßen Eiwa und Raaga alleine am Tresen und nippten an ihren Humpen. Der Volksmund sagt, dass Hexer aufgrund ihrer Mutationen trinkfest sind, was grundsätzlich auch der Wahrheit entsprach, es war aber letztendlich wie in so vielen Dingen des Lebens eine Frage der Menge und der Dosierung des Gesöffs, das er zu sich nahm. An diesem Abend hatte er viel getrunken und er spürte die Wirkung des Alkohols. Seine Hand wanderte zu einem kleinen Beutel, den er an seinem Gürtel trug, öffnete diesen und zog eine kleine Flasche mit der Aufschrift ‚Weiße Möwe‘ heraus. Raaga betrachtete die milchig weiße Flüssigkeit für einen Moment. Die meisten Hexer nutzten diesen Trank vor allem in den Wintermonaten, um sich die Zeit angenehmer zu gestalten, da die Einnahme zu leichten Halluzinationen führte. Mit seinem Daumen schnippte Raaga den Korken von der Flasche und schüttete die Flüssigkeit in seinen gerade frisch gefüllten Krug. Eiwa beobachtete den Hexer und das Fläschchen genau und fragte: „Das Elixier ist sicher nichts für mich oder?“ Raaga schaute sie mit ihren katzenhaften Augen an und antwortete, schon leicht lallend: „Lieber nicht, ich kenne keinen Menschen, der das getrunken und überlebt hat!“ Gerade als der Hexer dazu ansetzte, seinen letzten Krug zu genießen, flog die Tür aus den Angeln und jemand sehr großes und schweres betrat mit einem kräftigen Schnauben die Taverne. Die wenigen noch anwesenden Gäste ließen sich vor Schreck unter den Tisch sinken und der Wirt, ein großer und kräftiger Skelliger, brachte sich mit einem beachtlichen Sprung hinter den Tresen in Deckung. Raaga hatte sich umgedreht und betrachtete den Neuankömmling interessiert, während Eiwa den Mutanten aus der Asservatenkammer sofort erkannte. Das Wesen, das er betrachtete, war eine wilde Mischung aus Mensch und Stier, das schwarze Fell glänzte vor Schweiz und aus zwei kleineren Wunden tropfte frisches Blut. Für einen Moment schaute es sich im Schankraum um, bis sein Blick auf den Hexer und die Magierin fiel und hängenblieb. Die gelben Augen schienen den Hexer zu durchbohren und Raaga merkte, wie sich jede Faser seines Körpers anspannte und das Adrenalin in seinen Adern anfing zu kochen. Obwohl der Abend feucht und lang war, wusste er, dass seine silberne Axt hinter ihm am Tresen lehnte und er sie schnell erreichen konnte. Der Mutant setzte sich mit donnernden Schritten in Bewegung und näherte sich dem Tresen. Die verbliebenen Skelliger, die unter dem langen Tischen kauerten, nutzten die Gelegenheit und verließen fluchtartig den Raum. Das Wesen schob sich zwischen Eiwa und Raaga an den Tresen, und ließ seine mächtigen Arme auf diesen krachen. „Wirt, ein Met! Aber schnell!“ grollte das Wesen mit seiner tiefen Stimme. Nachdem er einige Augenblicke gewartet hatte, aber nichts geschah, schlug es mit seiner Faust kräftig auf den Tresen, so hart, dass die Holzplatte einen großen Riss bekam. Raaga, der seinen Krug rechtzeitig von der Platte genommen hatte, blickte äußerlich gelassen auf seinen Nachbarn. Zumindest für den Moment, schien sich das Wesen nicht um den Hexer oder die Magierin zu kümmern. „Wirt! Ein Met! Ich habe Durst!“ grollte es erneut. Raaga schaute zum Krug in seiner Hand, und begann dann in ruhiger Stimmlage „hier nimm meins!“. Der gehörnte Kopf drehte sich langsam zu Raaga und der feuchte Atem des Stiermenschen blies ihm direkt ins Gesicht. Der Hexer streckte dem Wesen den Krug entgegen. Mit einem kurzen „Shukraane!“ nahm es das Gesöff entgegen, roch einmal kräftig daran, und Raaga war es, als könnte er ein Lächeln in seinem Gesicht erkennen. Mit einem großen Schluck leerte es den Krug und warf diesen gegen ein Fenster, durch das inzwischen einige Schaulustige starrten. „Kan dhlk jayidaan!“ sprach das Wesen, dessen Laune sich etwas gebessert hatte. „Wirt! Komm schon! Noch ein Met!“ grollte das Wesen und polterte wieder auf dem Tisch herum. Nachdem sich erneut hinter dem Tresen nichts tat, schnappte sich Raaga seine Axt, und sprang elegant über den Tresen auf die andere Seite. Dort lag der Wirt der Länge nach unter dem Tresen und nur das leichte Zittern seines Körpers verriet, dass er alles mitbekommen hatte. Der Hexer schnappte sich einen frischen Krug, füllte diesen mit Met und schob ihn zu dem wartenden Gast. „Shukraane!“ brummte das Wesen. Der Hexer füllte noch zwei Krüge und schob einen von ihnen zu Eiwa hinüber. Gemeinsam hoben sie die Krüge und tranken den Inhalt in einem Zug. Raaga hatte nicht mitgezählt, wieviel Eiwa an diesem Abend getrunken hatte, aber sie erwies sich als äußerst trinkfest. Insgesamt musste er sich eingestehen, dass sie erfrischend anders war als die meisten Magierinnen die er kannte, auf jeden Fall konnte man mit ihr Spaß haben. Ein Grollen vor ihm riss ihn aus seinen Gedanken und er füllte erneut die Krüge. Nach sechs weiteren Runden begann das Wesen zu gähnen und legte kurz darauf sein Haupt auf dem Tresen ab und begann laut zu schnarchen. Nachdem sich Eiwa und Raaga vergewissert hatten, dass der Mutant auch friedlich schlief, halfen sie dem Wirt auf die Beine und verließen gemeinsam den Schanksaal Richtung Ausgang. Draußen vor der Tür standen inzwischen zwanzig schwerbewaffnete Männer der Stadtwache, die dem Trio wortlos zunickten und dann an ihnen vorbei in die Taverne marschierten. Neben den Soldaten hatte sich auch ein großer Pulk von Schaulustigen eingefunden, die sich das ganze Ereignis durch die Fenster angeschaut hatten und nun Eiwa und Raaga zujubelten. Die beiden Protagonisten bahnten sich langsam ihren Weg durch die Gratulanten und wunderten sich dabei, was sie denn gemacht haben sollten, letztendlich wollte das Wesen einfach mal wieder einen Drauf machen.
Epilog – Der Aufbruch
Atheris stand auf der Hafenpromenade und schaute zu, wie die letzten Kisten und Fässer an Bord der ‚Addan‘ geladen wurden. In einem langen Gespräch mit Kapitän Calderon hatte Atheris herausgefunden, dass dieser im Dienste von Arteveck Aep Laedahm, einem Gelehrten des Kastell Graupian in Ophir unterwegs war, und nachdem Atheris ihm erzählt hatte, wie er seine Jugend an eben jener Universität verbracht hatte und er Francois noch aus seiner Jugendzeit kannte, bot der Kapitän den Greifen eine Überfahrt ins Kaiserreich an, von wo aus sie mit einem anderen Schiff in die Leuenmark weiterreisen konnten.
„Atheris! Da bist du ja!“ Saleha’s Rufen übertönte das geschäftige Treiben am Pier. „Ich hatte dich bei den anderen im Stadthaus gesucht, Egon erzählte mir, dass du bereits zum Hafen aufgebrochen warst!“ fuhr die Gelehrte fort. „Ich wollte nur sichergehen, dass Ker’zaer gut behandelt und sicher verladen wird!“ lächelte der Hexer „Was kann ich für dich tun?“ „Eiwa und ich haben die letzten Tage damit verbracht Ordnung in das Labor zu bringen und zu prüfen, ob alle Dokumente und Proben vorhanden oder vernichtet sind. Wie soll ich sagen … bei den Aufräumarbeiten ist mir die Probe von Viktor in die Hände gekommen. Die Analyse war zum Zeitpunkt des Angriffs noch nicht fertig gewesen … nun ist sie es. Was auch immer bei der Kräuterprobe von Viktor passiert ist, sie unterscheidet sich massiv von denen der anderen Hexer, egal welcher Schule!“ führte Saleha aus. „Hmmm … es waren komplett andere Umstände, er hat die Mutation als Erwachsener durchgemacht und wenn ich mich recht erinnere, war ein Magier namens Silven für die Transformation hauptverantwortlich!“ antwortete Atheris nachdenklich. „Gibt es Probleme?“ fuhr er fort. „Es ist noch ziemlich früh etwas Genaues zu sagen, aber die Mutationen schreiten bei ihm immer noch voran, der ganze Metabolismus ist nicht stabil, auch wenn es im Moment so wirken mag. Ich werde mich bei euch melden, wenn ich mehr herausgefunden habe, aber behalte ihn im Auge!“ antwortete die Gelehrte.
Beide saßen noch eine Weile und unterhielten sich darüber, wie es mit der Erforschung der Kräuterprobe weitergehen könnte und wie sie mit Valerian in Kontakt treten konnten. Später am Mittag kamen die restlichen Greifen zum Schiff und nach einer freundschaftlichen Verabschiedung von Eiwa und Saleha, gingen sie an Bord der ‚Addan‘, die kurz darauf die Segel setzte und den Hafen in Richtung Norden verließ. Als die Sonne am Horizont unterging, erreichte das Schiff die offene See und nahm volle Fahrt auf.
Mehrere Tage nach der Abreise der Hexer verabschiedete sich Saleha von ihren Ratskollegen. Die Sitzung war stellenweise ausgesprochen hitzig gewesen. Dass geheimes Wissen aus den Kellern gestohlen worden war, war nur ein kleiner Teil des Ganzen. Die Ausmaße der Zerstörung in der Madrasa, die hohe Anzahl an Toten und Verletzen hatte im gesamten Stadtstaat für Aufsehen gesorgt. Eiwa und sie hatten die Tage zuvor beratschlagt, was in welcher Form gesagt oder besser nicht gesagt werden sollte. Aber ihre Sorge war unbegründet gewesen. Denn ebenso hatte sich die Kunde verbreitet, dass es eine Gruppe von Hexern war, die Schlimmeres verhindert hatten. So war aus der Sorge, dass Forschung an Mutationen noch strenger untersagt worden, das Gegenteil erwachsen. Nicht nur in den Räten der Regentin, auch auf den Straßen wurde darüber diskutiert, ob die geltenden Vorschriften zur Forschung an Mutanten nicht doch gelockert werden sollten.
Zu Hause angekommen legte Saleha das aufwendige Ornat ab und zog eine bequeme Tunika über. Eiwa hatte währenddessen, halb liegend, in einer der Sitzecken Platz genommen und lauschte geduldig Salehas Tiraden über die blasierten Ratsmitglieder und deren leeren Worthülsen. Sie wusste nur zu gut warum sie sich von den Amtsgeschäften fern hielt und spürte, dass auch ihre Cousine dringend mal wieder Abstand vom diesem Theater brauchte.
Als Saleha sich endlich in die Kissen ihr gegenüber fallen ließ merkte Eiwa trocken an „was alle scheinbar vergessen, natürlich hilft den Hexern ihre Mutation im Kampf, aber am Ende waren es Herz und Verstand und der Wille beherzt einzugreifen, als es notwendig war. Das steckt in keinem Gen, das Du mir je gezeigt hast.“ „Du hast vollkommen recht. ‚Möge unser Verstand stets mit Klarheit und unser Geist stets mit Wachsamkeit gesegnet sein‘“ zitierte Saleha den klassischen Gruß Miklagards in abgewandelter Form. Eine angenehme Pause entstand zwischen den beiden. „Und nun?“ durchbrach Eiwa irgendwann die Stille. Saleha schwieg noch etwas bevor sie antwortete „Ich glaube nicht, dass sich bei uns viel ändern wird. All diese ‚al‘ahmaqs‘ haben eh nicht verstanden um was es ging und wer die Angreifer nun wirklich waren – ich weiß es ja selber nicht… Zahir und seine Männer waren nur Handlanger, er wird sich noch einigen Befragungen stellen müssen, bevor ein abschließendes Urteil über ihn gefällt wird. Diar hat sein neugieriges Bohren zu den Hexern eingestellt, als man ihm mehr Geld und Personal für Wachen und Kampfmagier zugesagt hat… Er ist ein guter Freund, aber er ist noch zu ambitioniert, was seine Karriere betrifft.“ Wieder trat Stille ein. Eiwa beobachtete ihre Cousine, versuchte ihre Mimik und Körpersprache zu ergründen. „Was noch? Etwas hast du mir noch nicht erzählt, oder?“ Saleha lächelte müde zurück „sicher, dass Du nicht doch mit in den Rat möchtest? Du entwickelst Talent.“ sie seufzte „Gangar hat alle Unterlagen aus dem Labor zusammengetragen. Und wenn er sagt, dass er alle Ecken und Ritzen abgesucht hat, besteht für mich kein Zweifel. Es fehlt der Vergleich zwischen Viktor und Atheris.“ Eiwa sog die Luft ein, sagte aber nichts dazu.
Beide blieben noch lange so sitzen, lauschten dem abklingenden Lärm von den Straßen und dem einsetzenden Zirpen der Zikaden. Als es dunkel wurde, kam Esraina mit dem Abendessen herein, zündete ein paar Kerzen an und setzte sich zu den Cousinen. Kurz darauf gesellte sich der große Skelliger namens Gangar dazu und die vier aßen und plauderten über Belanglosigkeiten. Als alle fertig gegessen hatten ergriff Esraina das Wort „Sayida? Sollen wir die Vorbereitungen starten? So wie immer?“ „Ja“ merkte Eiwa knapp an und Saleha ergänzte „und sollte Gangar von seinem Auftrag früh genug zurückkehren, kommt er mit. Sicherheitshalber.“ Wir müssen mit den Hexern reden.
Atheris stand alleine an der Reling des Schiffes und hatte seinen gefüllten Weinkelch in der Hand. Die halbleere Flasche Est Est die er von Saleha als Abschiedsgeschenk erhalten hatte, stand in einem Wassereimer neben ihm am Boden. Eine zierliche Hand legte sich auf seine Schulter. „Nella!“ grüßte er die Elfenmagierin, er hatte sich nicht umblicken müssen, der liebliche Duft, den sie versprühte, hatte sie wie immer verraten. „Atheris!“ antwortete sie mit ihrer zarten Stimme. „Es ist Zeit für dich zu gehen, nicht wahr?“ vollendete der Hexer ihren Satz. Atheris ahnte, dass Nella sehr besorgt um ihren geliebten Valerian sein musste, wenngleich sie es niemals lautstark offen kundtun würde. Es war damit ein leichtes, ihr nächstes Handeln zu erahnen. „Ja!“ war die knappe Antwort und Atheris lächelte verständnisvoll. „Richte Valerian meine Grüße aus und sag ihm, dass ich auf den Rest seiner Schule Acht geben werde!“ fügte Atheris hinzu. „Das weiß er, sonst wäre er nie gegangen!“ antwortete sie. „Gute Reise!“ wünschten sich die beiden fast gleichzeitig. Nella trat einige Schritte zurück und mit einer kurzen Formel und einer knappen Handbewegung öffnete sie ein Portal, das sie nach Wyzima bringen würde, hoffentlich in die Arme ihres Geliebten. Atheris erinnerte sich daran, dass Valerian dereinst Andeutungen gemacht hatte, dass er dort noch einer interessanten Spur auf den Grund gehen wollte. „Eines noch Atheris!“ sagte die Elfe „Ja?“ fragte der Hexer. „Benutze die Portalsteine nicht ohne mich! Du hattest Glück, dass ich in der Mitte des Portals lag und es sich durch meine Magie stabilisiert hat, sonst hätte es böse enden können!“ sprach sie ihre Warnung aus. „Ich weiß!“ war seine kurze Antwort. Nachdem Nella durch das kleine Portal getreten und in einem kleinen Feuerball verschwunden war, wendete sich Atheris ab und nahm wieder seine Position an der Reling ein.
Einige Zeit später … Im tiefsten Inneren des Schiffes saß eine Gestalt versteckt zwischen den Kisten des Laderaums und betrachtete das wissenschaftliche Dokument in seiner rechten Hand und eine Phiole in seiner Anderen. Das Gesicht zeigte keine Freude, ob der Errungenschaft in seiner Hand, es wirkte zutiefst nachdenklich.
Von Fängen, Klauen und braunen Schmuddelbildchen
Von Fängen, Klauen und braunen Schmuddelbildchen
Metagame
Von Matthias
„Der Sturm des Wolfes bricht an, das Zeitalter von Schwert und Axt. Die Zeit der Weißen Kälte und des Weißen Lichts nahet. Die Zeit von Wahnsinn und die Zeit von Verachtung, Tedd Deireádh, die Endzeit. Die Welt wird im Frost vergehen und mit der neuen Sonne wiedergeboren werden.“
Aen Ithlinnespeath, die Prophezeiung Ithlinnes.
Kapitel 1: Alarm im Darm
Wenige Tage nach dem Untergang von Kaer Iwhaell, Rittmarshausen in der Schattenau
Der alte Mann dachte an den Feuerschein und Rauch in der Ferne, die stummen Zeugen der Vernichtung alles, wofür er die letzten Jahre kämpfte. Er dachte daran, wie er mit seinen beiden Begleitern davonritt, das brennende Kaer Iwhaell im Rücken, und sorgte sich wieder einmal um seine Schüler. „Es wird Zeit, in freundlichere Gesichter zu blicken, Valerian – ich dachte ihr seid recht gut mit jedem Freund… man möchte sagen – „Familie“?!“ Volmar lächelte milde, Charlotte grinste verstohlen. Der grauhaarige Alte nickte mit einem leichten Grummeln. Valerian saß auf einem Baumstumpf am Straßenrand und Charlotte stand vor ihm mit ihrem braunen, offen getragenem Wams, unter dem etliche kleine Beutelchen und Taschen umherbaumelten, mit ihrem breiten, braunen Schal der das lyrische Abzeichen auf ihrer Brust beinahe verdeckte und dem olivfarbenen Jägershütchen auf dem Kopf, unter dem ihre langen Haare fast gut versteckt waren. Sie wickelte einen weißen Leinenverband von seinem Kopf und spülte die Platzwunde an der Schläfe noch einmal ab. Valerian sinnierte über ihre eigentliche Haarfarbe, ihm ist bisher nie so recht aufgefallen, ob das ein blond oder ein braun ist – wohl irgendetwas dazwischen. Aber im Zuge seiner Lebensweisheit wusste er, dass man Frauen so etwas nur mit gewissem Risiko fragen konnte, genauso wie wenn man nach ihrem Gewicht in Pfund fragen würde. „Das wars. Wir haben keine Verbände mehr. Aber die Wunde heilt gut Valerian… Nichts, was ich nicht von Hexern gewohnt wäre.“ Sagte Charlotte und bedachte den Wolfshexer Volmar von Brugge mit einem Seitenblick. Der saß ebenfalls auf einem Baumstumpf, aber auf der gegenüberliegenden Straßenseite, und trank etwas aus einem ledernen Trinkschlauch. Danach ruckelte er an seiner braunen Lederrüstung über dem Kettenhemd und dem breiten ledernen Schwertgurt, der über seine linke Schulter ging, um den Sitz seiner beiden Schwerter auf dem Rücken zu ändern. Seine braunen, lockigen Haare und der Vollbart wurden verdeckt von einem mitgenommenen braunen Schal, den er als Kapuze um den Kopf geschlagen hatte. Hinter ihm grasten die Schimmelstute Brunhild, Volmars Rappe Vargheist und Charlottes Fuchs Spalla.
„Wir ändern unsere Route. Wir reiten nicht nach Nordwesten weiter über die Waldau, sondern ziehen westwärts durch die Elfenau und dann erst nach Norden. Mindestens ein freundliches Gesicht erwartet uns – wenngleich es eine typisch elfische Unterkühltheit besitzt… also genau deins Volmar.“ Charlotte kam aus dem Grinsen nicht mehr raus. Zum ersten Mal seit dem Fall von Kaer Iwhaell hob sich die Stimmung des Trios. „Mein lieber Bekannter wird uns sicherlich gut bewirten – und gute Betten haben wir auch mal wieder nötig… außerdem ist der Umweg überschaubar. Ihr kennt ihn: Wir reisen zu Baron Nuriel von der Elfenau, und dann weiter nach Norden zur Elfenküste.“ Volmar betrachtete Valerian: Auch wenn er es ihm nie sagen würde, der etwas kleine alte, grauhaarige Mann besitzt eine natürliche Autorität, ein angeborenes Talent zum Anführer und Lehrmeister – und er kann es noch so sehr leugnen. Sein aubergine-farbener Rüstmantel mit den weißen Runen, seine Lederrüstungsteile mit den Nieten und die runenverzierten Schwerter auf dem Rücken gaben Valerian ein besonderes, passendes Erscheinungsbild zu seiner einzigartigen Persönlichkeit… und dennoch gab es viele Marotten an Valerian, die Volmar unsäglich nervten.
Sie ritten weiter den Weg entlang bis kurz vor die Auengrenze und folgten sodann einer kleinen Straße, die irgendwann von der Haupthandelsstraße abbog. Diese führte sie mitten durch einen dichten Wald, der durch die tiefstehende Nachmittagssonne in mystische, obskure Schattenspiele getaucht wurde. Valerians alte Schimmelstute „Brunhild“ schnaubte. „Willkommen in der Elfenau!“ moderierte Valerian geübt altklug. Volmar spürte, dass dieser Wald voller Geschichte war, voller Zorn und rastloser Seelen. „Der Herr dieser Au, Baron Nuriel, ist seit Beginn unserer Zeit in Solonia ein enger Vertrauter von uns… Er war der erste Auenherr, der eine tiefe Freundschaft zu uns, der Greifenschule aufbaute. Er war es, der uns regelmäßig mit Aufträgen versah…“ „Kann ich mir vorstellen, bei dem scheußlichen Wald.“, warf Charlotte ein. „… zwei gegen einen ist ungerecht.“, grummelte Valerian und zwinkerte Charlotte zu. Plötzlich blieb er stehen und seine beiden Begleiter folgten seinem Beispiel. Die Pferde scheuten und beschwerten sich lauthals. „… du hast nicht zufällig auch diesen Wald intensiv gesäubert, Valerian?“ „Nur die Zonen in der Nähe des waldnahen Anwesens Nuriels, auf der gegenüberliegenden Seite… dieser Wald ist ein Fass ohne Boden, was Geisterwesen betrifft. Auch einige fiese Feenwesen find…“ „VAAAALEEEERIIAAAAAN!“ zwei große bernsteinfarbene, leuchtende Kugelaugen in einer kleinen Silhouette rannte frontal auf die drei Berittenen zu. Charlottes Hand wanderte erschrocken zu ihrem Kurzschwert. Im ersten Reflex ging Volmars linke Hand zum Silberschwertgriff an der linken Schulter – dann lächelte er mild und wies mit einer sanften Handbewegung Charlotte an, sich zu entspannen. Valerian seufzte: „… der Fluch Solonias. Wo man auch hinkommt, immer wieder wird Valerian geschrie…“ „OOPAAAAACHEN!“ Vor den drei Pferden stand eine kleine Gestalt, vielleicht von der Größe eines Gnoms, doch von der Statur eines Kindes. Sie war gehüllt in Sackleinenlumpen, auf dem Rücken lag eine zerrissene alte blaue Pferdedecke wie ein Mäntelchen, und auf dem Kopf thronte ein Reisig Hütchen. An der Spitze aus der Hutmitte blühte ein einzelnes Gänseblümchen – nichtsdestotrotz kam den Hexern ein herber Gestank entgegen. „Hallo Firi. Es ist schön dich zu sehen. Das hier sind meine Freunde Charlotte und Volmar.“ „Hallo Volle Lotte und hallo Voll der Arsch… Was glotzt du so? Du Miesepeter!“ Die kleine Firi streckte Volmar die Zunge raus. „Ein Göttling, Valerian? Hier?“ „Der ist aber süß!“, sagte Charlotte mit geröteten Wangen. „Ich bin Firi! Und bin eine ‚sie‘, wenn schon – ist mein Kleid nicht ein eindeutiger Hinweis?“ Sie machte eine kecke Drehung in der Hoffnung, ihr „Kleid“ würde prinzessinnenhaft wehen – tatsächlich war der schmutzverkrustete Leinenklumpen aber so starr wie Baumrinde, und hing straff an der dürren Gestalt. „Wunderschön Firi. Und es ist schön dich nach den Jahren wiederzusehen. Wir wollen zu Nuriel – erlaubst du uns deinen Wald zu durchqueren?“ Charlotte kicherte über Valerians Förmlichkeit. Firi nahm Haltung an, und sprach stolz: „Gewiss! Ich gewähre euch sogar mein persönliches Geleit! Folgt mir – und wehe der Miesepeter guckt weiter so doof!“ Valerian grinste Volmar an.
„Sag mal, ‚Firi‘…“ begann Volmar, „woher kennst du den alten Mann hier?“ „Er war vor einigen Jahren hier im Wald, und hat dem Elfen, dem neuen Herrn der Elfenau geholfen die Leichenfresser zu verhauen. Ich habe ihn damals zu einigen der Monsternester geführt – muss aber sagen, einige hat er übersehen, vor allem hier im Firiwald! Schäm dich Opachen!“ „Gewiss, wie konnte ich das übersehen…“ Valerian räusperte sich, lehnte sich zu Volmar rüber und flüsterte etwas von ‚Bezahlung Nuriels‘. Volmar nickte bedächtig und lächelte.
„Bekommst du uns sicher hier durch Firi? Ohne Schwierigkeiten?“, fragte Valerian „Klaaaaaar! Es kann nichts passieren. Naja, abgesehen von den zwanzig Leichenfressern hier auf dem Weg!“, entgegnete das kleine Wesen. Alle drei Reiter hielten sofort. „Wie bitte?“, fragte der alte Hexer. „Najaaaa, also ich könnte euch ja eine Abkürzung zeigen – aber dafür müsstet ihr mir einen Gefallen tun…“ Firi drehte sich mit ihren leuchtenden Augen gespenstisch-langsam um, und sah das Trio mit breitem Grinsen an.
„Es ist nicht mehr weit zu meinem Haus. Hopp hopp!“, rief der Göttling fröhlich. Das Trio war inzwischen abgestiegen und führte die Pferde am Halfter durchs Unterholz des Waldes vorbei an dicken Farnen und vorbei an den mächtigen knorrigen Stämmen uralter Bäume. Charlotte und Firi hatten sich inzwischen angefreundet, Charlotte durfte sogar einmal für ein paar Minuten Firis heiligen Reisighut aufziehen – gab diesen Firi aber wegen eines befremdlich unangenehmen Geruches der Kopfbedeckung zügig zurück. Nach einer halben Stunde kamen Sie zu einem riesigen alten toten Baum, dessen massiver Stamm vorne ein kleines Loch aufwies. „So – liebe Hexerchens, hier mein Auftrag.“ Firi räusperte sich würdevoll: „Befreit mein stilles Örtchen von dem dort ansässigen Monsterproblem, und ich zeige euch einen Geheimpfad der sicher zu dem Elfenmann führt.“ Alle drei zogen eine Augenbraue hoch. Charlotte fragte zuerst: „Warum betonst du ansässig so?“ „Ganz einfach Lottilein -weil das Monster wortwörtlich da-sitzt!“, sie zeigte auf das Unterholz weiter hinter den toten Riesenbaum, in das ein kleiner Trampelpfad durch Farne führte. „Hat es dich angegriffen Firi? Bist du verletzt?“ „Nein, nein…“ antwortete sie Valerian. „Eigentlich ist sie ganz lustig. Aber sie weigert sich von meinem Lieblingsplatz runterzukommen – und damit ist meine… Logistik behindert. Ihr sollt sie also nicht totschlagen, nur irgendwie da wegbekommen.“, fuhr Firi fort. Aus drei fragend hochgezogenen Augenbrauen, wurden sechs. „Aaaaach jetzt macht schon. Ihr werdet es sehen, wenn ihr da seid – und tschüss ich warte hier daheim!“ „Und was für ein Mon…“, wollte Volmar gerade ansetzen – aber Firi war bereits im Baum verschwunden.
Die drei Gefährten ließen ihre Pferde angebunden bei Firis Heim zurück und folgten dem Pfad zu Fuß. Trotz der Nacht versuchten sie ihr Glück und suchten nach Spuren und Hinweisen. Der silberne Mondschein war eine leichte Hilfe dabei. Der Pfad war rege gepflastert von jungen wie alten Fußspuren Firis. Sonst war nichts zu sehen – doch stieg mit fortschreitendem Pfad den Hexernasen ein übler Latrinengestank entgegen. „Trollscheiße!“, stellte der alte Hexer überrascht fest. „Wie bitte? Du kannst die Monsterspezies am Gestank der Scheiße erkennen Valerian?“, fragte Volmar ungläubig. „Nur, wenn es sich um miese Diarrhöe handelt… den Geruch kenn ich von unserem ‚Hof-Troll‘ Effenberg und Talbot. Mein Schüler Atheris hatte sich mal den Spaß erlaubt und Effenberg und Talbot etwas weiße Möwe gegeben… wir mussten wegen des Gestanks in der Nacht die Burg evakuieren und im Wald die Nacht verbringen…“, fuhr der Alte fort. Charlotte und Volmar sparten sich lieber die Rückfragen und schlichen weiter voran. Nach einigen Metern offenbarte sich hinter dem Gestrüpp eine kleine, runde Lichtung. In deren Mitte befand sich ein flacher, hohler Baumstumpf, auf dessen Wurzeln ein romantischer Lichtstrahl vom Mond herabschien. Auf dem Stumpf selbst saß eine große dunkle Gestalt. Sie klammerte sich am Stumpf mit ihren riesigen Pranken fest und jaulte unsäglich – wobei ihr ein donnernder Furz entfloh. Dann gleich noch einer – der Wald bebte. Während die drei Helden diesen bizarren Anblick erst verdauen mussten, ließ sie eine dritte gigantische Flatulenz zusammenzucken: Auf diesem Baumstumpf saß eine Trolldame, offenkundig geplagt von ihrem Gedärm – und fäkalierte in die natürliche Latrine inmitten der idyllischen Waldlichtung. „Ich gesagt‘ hab, in Ruhe sch… Oh, ihr nicht Firi? Verschwindet!“, grollte die Dame. Valerian trat vor: „Wir kommen gerade von Firi – wir… wollen dir helfen. Lass mich raten… du hast Firis Eintopf gekostet?“ „Ja! Zwar wenig Fleisch – aber gut lecker. Jetzt ich sitzen drei Tage auf Hintern. Kann Stumpf nicht verlassen.“, erwiderte der Troll. „Moment – woher hast du das mit der dünnschiss-verursachenden Göttlingssuppe gewusst?“, fragte Volmar. Valerian schwieg betreten, und verzog keine Miene – er war zu sehr damit beschäftigt die Erinnerung an jene Suppe vor einigen Jahren zu vergessen. Damals haben seine Jagdgefährten ihm alle mitgeführten wollenen Wundverbände aus ihren Taschen geben müssen für seinen… „Ich kenne dein Leiden. Aber ich kenne auch die Lösung. Warte hier – Volmar und ich werden dir Kräuter bringen, die dir helfen.“, beendete Valerian seine Ausführung. Die Hexer nickten sich kurz zu, und verschwanden dann ins raschelnde Gestrüpp. Die Trolldame wandte sich Charlotte zu, die etwas verloren auf der Lichtung vor dem furzenden Monster stand, im schönsten Mondenschein. „Aaaargh – diese Schmerzen… Was machen Menschleins auf Baumstumpf, um bei Kacka abzulenken?“, fragte das Ungetüm. Charlotte überlegte kurz, lächelte und zog ihren Rucksack vom Rücken.
Wenige Augenblicke später kamen die beiden Hexer zurück. Valerian hatte einiges an Schöllkraut gefunden und hatte nun beide Arme voll davon. Volmar hat ein heilendes Moos gefunden, Wundfuß, das als Allheilmittel der Priesterinnen der Melitele in Ellander genutzt wird. Den Beiden bot sich bei ihrer Rückkehr ein verstörender Anblick: Schräglinks vor der Trolldame kniete Charlotte, aus ihrer Nase ragte ein, in die Nasenlöcher gestopftes Taschentuch, womit sie im Mondenschein aussah wie ein Stier mit stählernem Nasenring, und die kleinen Fasanenfedern an ihrem Hütchen bildeten die Hörner. In Ihren Händen hielt sie kleine und große Pergamentkärtchen. Mit verstopfter Nase klang sie, als ob sie einen üblen Schnupfen hätte: „… und das hier ist Königin Meve von Lyrien. Meine neuste Handelsware! Der mir bekannte Zeichner hat sich bei der Oberweite etwas künstlerische Freiheit gelassen…“, erklärte sie. „Die hat Narbe im Gesicht! Gut Kämpferin?“, fragte die Trolldame. „Oh ja! Während des zweiten Nilfgaard-Krieges verlor unsere geliebte Königin ihre Armee im Kampf gegen das verfickte Nilfgaard. Sie erhielt jedoch Verstärkung durch viele Freiwillige, angeblich auch Zwergen-Söldner aus Mahakam. Sie wurde dann als Anführerin der Rebellen wegen ihrer hellen Haare die ‚Weiße Königin‘ genannt. Es gelang ihnen bis nach Angren vorzudringen und dann zerschlug sie…“ „Ist der da auch weißer König?“, wurde Charlotte von der Trolldame unterbrochen, diese zeigte auf Valerian, der neben Volmar auf die obskure Geschichtsstunde zuschritt. Volmar zuckte zwar kurz als das Wort ‚Angren‘ fiel, antwortete aber dennoch zuerst auf die Trollfrage: „Nein – aber das wäre er bestimmt gern. Er wird ja von allen immer ‚hoher Herr Valerian‘ gena…“ „Wir haben dein Kraut. Kau‘ das hier, in rund einer Stunde wird’s dir besser gehen.“, schnitt Valerian ihn gelassen ab. „So, wir sind hier fertig. Trolldame – hat uns gefreut. Besuch doch mal unseren Burgtroll Effenberg und Tal…“ „Moment – ohne Arschpapier ich hier nicht weg gehen!“ Schweigen legte sich über die drei. Kurz darauf wurde seufzend in den Rucksäcken gekramt: Verbände waren keine mehr da. Zuerst musste also das gute Schreibpergament von Charlotte dran glauben. „Mehr!“ sagte die Dame auf dem Abort. Als nächstes lieferte Volmar aus seinen Taschen eine alte Karte vom Kaiserreich Nilfgaard: „Die ist erstens eh nicht mehr aktuell bei der nilfgaardischen Außenpolitik – und zweitens… wer will schon eine Nilfgaardkarte bei sich haben?“ Charlotte, als Lyrierin erklärte Feindin Nilfgaards, warf Volmar einen belohnenden Blick zu. Valerian meinte sogar ein romantisches Zwinkern zu sehen. „Brauch mehr. Da ist noch…“, beschwerte sich die Trolldame. Valerian kramte weiter in seinem Rucksack, und warf ihr die Karte des Kontinents Solonia zu. „Hast du dem Troll gerade unsere Landkarte für unsere Reise als Arschpapier gereicht, Valerian?“ Valerian räusperte sich „Erstens, kenne ich das Land sehr gut – und zweitens, sind wir gerade dabei zu emigrieren…“, er deutete bedächtig auf den zersplitterten Mond über ihren Köpfen, dessen Teile seit letztem Jahr stetig dem Kontinent entgegenstürzten. „MEHR!“ sagte die Trolldame. „Hab nichts mehr.“, sagten Volmar und Charlotte im Chor. Sie blickten gespannt Valerian an, der seufzte. Er fischte aus seiner Tasche ein Pergament, das kunstvoll in Leder gehüllt war und reichte es den gierigen Trollpranken. „Was war das… Valerian?“, fragte Volmar. „Die Lehensurkunde von Kaer Iwhaell.“ Das Geräusch einer Zikade ertönte. Dann das eines Uhus. „Naja… ist ja jetzt nicht mehr mein Lehen – hab es ja dem Herrn Hartmut von Munzlar übertragen. Der wird’s bestimmt eh umbenennen…“, erklärte der alte Mann. „MEEEEHR!“, schrie das Monster vom Baumstamm herüber. Die drei überlegten kurz, bis schließlich Volmars und Valerians Blicke auf dem Beutelchen vor Charlottes Knien verharrten. „Oooooh neeeein! Nein nein nein! Denkt nicht mal im Traum daran…!“, sagte sie, mit einem Anflug von Panik in ihrem Gesicht.
Das Trio kehrte zum großen toten Baum zurück. „Und, hat alles geklappt?“ „Ja…“, grummelte Charlotte und malte sich aus, wie eine Spur aus braun-besudelten Motivationsbildchen in den Wald führte, eine Spur aus lyrischer Erotik und Trollscheiße. „Sag mal Firi… warum gehst du eigentlich nicht woanders in den Wald zum… fäkalieren?“, fragte Volmar. „Aaaach – fääääääääkaliiiiieren kann ich überall! Aber ich gehe immer da auf meinen Lieblingsstumpf: Seit mir ein Bauer sagte, Kacke sei toll, um Blumen wachsen zu lassen – nehme ich jeden Tag eine frische Handvoll aus dem Baumstumpf für Olivia.“, führte der Göttling aus. „Wer ist Olivia?“, Charlotte bereute die Frage sofort. „Na Olivia ist meine Pflanze im Hut! Die kriegt jeden Tag eine Handvoll aus dem Baumstumpf!“, erklärte Firi. Die Stute Brunhild wieherte laut auf.
Charlotte hat sich im Folgenden stark dafür ausgesprochen Firis Angebot abzulehnen, vor ihrem Baumstumpf die Nacht zu verbringen. Der Göttling hielt sein Wort, und brachte innerhalb von drei Stunden die müde Reisegruppe zum Waldrand. „Sooo – wir sind da Freunde. Grüßt den Elfenmann von mir!“ Sie verabschiedeten sich von dem munteren Göttling mit fehlendem Geruchssinn und wandten den Blick nach vorn: Als sie den dunklen Wald verließen, zeigte sich vor Ihnen weites, offenes Land mit sanften Hügeln, Tälern und Flüssen. In der Senke direkt vor Ihnen stand eine Herrenhaus, das jetzt von dem Licht der aufkeimenden Morgendämmerung kitschig angestrahlt wurde. Die drei lächelten, nickten sich zu, und saßen auf.
Kapitel 2: Träume sanft
Eine Stunde später, in den Gemächern des Herrenhauses
„…Firi kocht also immer noch Suppe – und hat schon wieder jemanden vergiftet…“ Baron Nuriel nickte bedächtig. Der Elf saß in einem silberseidenen Morgengewand mit den drei Gefährten im Kaminzimmer des Hauses, in seiner rechten Hand ein kunstvoll verzierter Tonbecher mit Henkel. Um seinen Hals trug er wie immer die Rune Arhain. Seine spitzen Ohren lugten unter den geflochtenen Strähnen an den Schläfen hervor. ‚Nur ein Elf bringt es fertig früh morgens wie ein gestriegeltes Paradepferd auszusehen‘, dachte Charlotte so bei sich. Nuriel hingegen versuchte Volmar und Charlotte einzuordnen. Er hatte sie zwar an jenen Tagen vor einigen Monden getroffen, jenen schicksalshaften Tagen – an dem König Gernot von den zwölf Auen starb. Doch hatte er sie damals nicht so im Fokus, und allein, weil sie nun die Gesellschaft Valerians teilten, erregten sie seine Neugierde – und Neugier war eine seiner größten Schwächen. „Valerian, so sprich doch endlich – welcher Umstand schickte euch auf die Reise?“ „Auf die Reise hierher, nun… unsere Freundschaft würde ich sagen. Wir wollten nach den letzten unschönen Ereignissen mal wieder ein vertrautes und sympathisches Gesicht sehen.“ Nuriel lächelte kühl und milde – das konnte er seiner Großmutter erzählen. Er hatte den Alten inzwischen allerdings sehr liebgewonnen, und ein loses Band des Vertrauens verknüpfte beide Männer. Valerian fuhr fort: „Ansonsten nun ja, du weißt es ja: Wir verlassen diese Gestade. Kaer Iwhaell wurde vor einigen Tagen verwüstet von hetzenden Fanatikern, und Silberschwerter können sich nicht mit berstenden Himmelskörpern und göttergleichen Lichtelfen aus anderen Sphären messen… Ich meine, wenn es nur popelige Standardelfen wären.“ Nuriel lachte verlegen über den Scherz und verbarg seine tiefe Verbitterung. Einmal hatte er mit anderen diese Welt gerettet, und nun ging sie das zweite mal unter und würde ein Wesen, das so etwas wie einen Tochter für ihn war, wahrscheinlich mit sich reissen, doch behielt er diese Gedanken für sich. „Aber jetzt mal ehrlich, Nuriel. Die Schule wurde vor einigen Tagen zerstört,“ Nuriels Gesicht zuckte einen Bruchteil einer Sekunde bei dieser Nachricht, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle „Ich reise mit Volmar und Charlotte in unsere Heimat… wir machen uns auf die Suche nach Wissen: Um die Spezies der Hexer vor dem Aussterben zu bewahren brauchen wir nicht nur eine neue Heimat – sondern auch Antworten auf die Frage unseres Erschaffungsprozesses. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, wenn du es gestattest, mein Freund.“ Nuriel nickte bedächtig – wenn jemand Verständnis dafür hatte, Dinge vor anderen zu verbergen, dann er. Er strich flüchtig über die kaum noch sichtbare Narbe an seinem Hals. „Du weißt mein lieber Valerian, dass meine Bibliothek dir offensteht?“ „Ja, aber dieses spezielle Wissen wird sich in keiner Bibliothek Solonias befinden – Leider. Ungern lasse ich meine Familie…“ Volmar verschluckte sich bei dem Wort an seinem dampfenden Kräutertee „… ohne mich zur Leuenmark aufbrechen, doch habe ich es Volmar versprochen – und außerdem…“ „…bist du ein verklärter, moralischer, alter Ehrenmann Valerian.“ Die beiden Männer lächelten sich zu. Charlotte rollte mit den Augen bei diesem geschwollenen Geschwafel.
Nuriel erwies Ihnen seine vollumfängliche Gastfreundschaft, und die Reisenden nahmen diese dankbar an. Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht, führten diese unzählige geschwollene und zusehends-nicht-geschwollene Gespräche. Zusehens gewannen auch Nuriel, Volmar und Charlotte leichte Sympathie füreinander. Sie tranken morgens und nachmittags köstlichen Tee und abends sagenhafte Weine, die sich fast mit den besten Toussaints messen konnten. Bis auf Volmar – der sich eher an den Schnäpsen des Hauses erfreute. Der Wolfshexer wollte Nuriel zum Würfelspiel überreden – und zog dem Elfen nach einer Runde derart das Kupfer aus der Geldkatze, dass sich dieser worttrocken aus dem Spiel verabschiedete und Valerian und Charlotte stattdessen den Vortritt zum begnadeten Glücksspieler ließ. Sie tauschten abwechselnd Geschichten und Anekdoten aus, bis die Gefährten sich schließlich zur Nachtruhe in ihre Schlafgemächer zurückzogen.
Doch Nuriel konnte nicht schlafen. Gedankenverloren saß er vor dem Kaminfeuer. Er wischte sich über das Gesicht, als wäre es ein Zeichen für sich selbst, die Maske der Fröhlichkeit abgelegt zu haben. Sicher hatten sie nichts gemerkt, wie aufgewühlt sein Inneres war. Seine Masken waren viele. Unbedarftheit, Naivität, Harmlosigkeit, emotionslose Kühle und viele mehr. Sie verbargen die dünne Schicht, die über dem schlummernden Wahnsinn lag. Er hatte zu viel gesehen. Sogar den Tod selbst.
Er wischte seine Melancholie zur Seite und begann zu meditieren – sein Weg, seinen Geist stabil zu halten, so gut es ging. Nach einiger erhob er sich – er grübelte, und heute wollte seine Konzentration nicht bleiben. Nach einiger Zeit fasste er einen Entschluss: Es war zwar nicht rechtens was er im Sinn hatte, aber er würde sie vielleicht nie wiedersehen – er wollte die letzten Momente mit Ihnen auskosten. Aus einer Truhe holte er seine Glaskugel hervor – er hatte sie Jahre nicht benutzt. Dann setzte er sich mit Blick auf die Kugel vor das Kaminfeuer, öffnete seinen Geist, sein zweites Gesicht und den Blick auf die Astralebenen. Fast liebevoll begann er, seine schlafenden Gäste zu betrachten, als wären es seine Kinder.
„Varin… Varin nein…!“ unruhig wälzte sich Volmar in seinem Bett umher, neben ihm lag Charlotte. Auch Valerian träumte sehr rege diese Nacht. Während die Hexer sich in der Traumwelt bewegten, saß der Baron noch vor dem prasselnden Kaminfeuer. In seinen Händen hielt er eine leuchtende Kugel, von der ein violetter Schein ausging. Nuriel konzentrierte sich, und lenkte seinen Fokus auf Volmar:
Nuriel sah durch Volmars Augen erst eine Stadt, eine große, in deren Mitte eine hohe Burg thronte. Die Burg sah aus wie eine Schule, oder Akademie. Vielleicht eine Universität oder Magierakademie aus Volmars Heimat? Er sah eine Gruppe von Zauberern durch eine Straße flanieren, sie passierten den Laden eines Schmieds… dann sah Nuriel ein Schmiedefeuer, und kunstvolles Elfenschmiedewerkzeug hämmerte auf glühenden Stahl, auf einen Schwertrohling. Das Bild verschwamm, der Ort wechselte und die Szene wandelte sich in Feuersschein am Horizont… Männer, und etliche Kinder schrien, es ertönte Kampfeslärm. Nuriel spürte überwältigende Gefühle. Hass, Wut, Furcht, Entsetzen, Trauer… nun sah er einen sehr jungen Volmar inmitten einer zerstörten Burg, vor ihm ein sehr alter Mann mit langen ergrauten Haaren. Um ihn herum lagen Trümmer, glühende Balken und Leichen. Volmar schrie ihn lauthals an und dem jungen Hexer schienen sogar Tränen über seine Wangen zu laufen. Nuriel verstand leider keine Worte, dafür war der Traum zu undeutlich. Der Streit eskalierte in einem starken Handgemenge, der alte Mann war sichtlich dem jungen Hexer überlegen und so brachte er Volmar schnell zu fall, der Traum löste sich im Nebel und dem lauten Aufschrei Volmars auf, und wurde von einem weiteren Traum abgelöst: Nun sah Nuriel einen Sumpf, und darin ein Lagerfeuer. Am Lagerfeuer saßen zerlumpte Gestalten, wahre Hurensöhne mit Narben, Pocken und Tätowierungen. Nuriel erkannte Volmar unter den Gestalten erst sehr spät, da dieser nur in Lumpen und Fetzen gekleidet war, auch seine Schwerter, das wohl markanteste Merkmal eines Hexers, hatte er nicht bei sich. Auf den ersten Blick erinnerte das Szenario den Elfen an eine Art Gefangenenlager, doch schienen die Gestalten keine Gefangenen zu sein, sondern Holzfäller – so folgerte der Baron aus den zahlreichen Äxten, die bei den Gestalten am Lagerfeuer lagen. Plötzlich verschwamm der Traum durch Scharen krächzender Krähen, die durch die Vision flogen und Nuriel die Sicht nahmen. Dann ein schmerzerfüllter Schrei – Blutfontänen spritzten zum Sternenhimmel, die Gestalten vom Lagerfeuer lagen nun mit schmerzverzerrten Gesichtern aufgespießt von Wurzeln im modrigen Matsch. Vor Volmar, der inmitten des Massakers im Dreck kniete stand eine riesenhafte Silhouette, deren Kopf von einem gigantischen Hirschgeweih gekrönt wurde. Mit einem weiteren Schrei… zerfiel der Traum. Volmar musste aufgewacht sein. Nuriel seufzte bedächtig löschte das Licht der Zauberkugel – und schenkte sich gelassen Wein nach. Er wusste, dass Volmar als Hexer gewiss sein Amulett beobachten könnte, den Magiesensor. Also wartete er einige Zeit ab, bevor er sich erneut mit der Kugel im Schoß seinen Fokus auf Charlotte lenkte, die Begleiterin Volmars, von der er immer noch nicht so recht wusste, womit sie eigentlich ihren Lebensunterhalt verdiente. Er wußte nur – ihre Gestalt löste bei ihm Emotionen aus, die er sonst immer verbannt hatte. Einen kurzen Moment grinste er.
Eine große Stadt bei Nacht, Nuriel sieht Charlotte, wie sie an einer Wand lehnt, neben ihr zwei riesige Kartoffelsäcke. Fünf Zwerge kommen zu ihr, blicken sich vorsichtig um. Sie unterhalten sich, doch ist der Traum zu verschwommen, um etwas zu verstehen. Einer der Zwerge wirft ihr mit einem Grinsen einen prallen Münzbeutel zu. Die Jungs packen sich jeweils zu zweit einen der Kartoffelsäcke, da reißt eine Seite an einem Sack auf und mehre Schwerter, Äxte und Dolche fallen klirrend auf das dreckige Straßenpflaster. Wieder verschwimmt die Szene komplett – Der Elf sieht immer noch eine große Stadt, wenn gar nicht sogar dieselbe? Doch diesmal steht Charlotte unter einem großen Torbogen vor einem riesigen Marktplatz. In dessen Mitte steht ein großer Frühlingsfest-Baum, und leicht bekleidete Mädchen laufen im Reigen bei Gesang und Tanz um den Baum und halten lange Stoffbänder an den Händen, die mit der Mastspitze des Festbaums verbunden sind. Nuriel verspürte bei diesem Anblick eine Woge der Erregung – die Nachwirkungen der verfluchten Kette, die man ihm gegen seinen Willen in der Burg der Hexer angelegt und letztes Jahr unter großen Schmerzen entfernt hatte. Das Artefakt hatte seine Emotionen, die er jahrelang durch Meditation so gut unter Kontrolle gebracht hatte, ins Unermessliche übersteigert, etwas, was eine tiefe Krise in ihm ausgelöst hatte, weil emotionale Kontrolle immer das gewesen war, woran er tief geglaubt hatte. Es hatte etwas in ihm verändert, das er noch nicht abschließend einschätzen konnte. Auf eine verbotene Art und Weise gefiel ihm dieser neue Zug an sich. Er konzentrierte sich wieder. Händler, Gaukler, Musikanten, Spielleute, Barden, Dichter und unzählige Feiernde und Betrunkene verstopfen den Platz. Plötzlich blickt Charlotte über ihre rechte Schulter, und sieht noch wie drei Männer sich am anderen Ende des langen Torbogens hinter der Ecke verstecken. Sie hatten Tätowierungen am Hals die Spielkarten zeigten. Nuriel sieht erstmalig wie Charlotte in Panik verfällt: Sie rennt in die Menschenmenge, verlangsamt dort stetig ihr Tempo, um unterzutauchen, und landet irgendwann an einem Ausschank für Schnäpse. Dort sieht sie Volmar und mustert ihn. Wieder verschwimmt die Szenerie, und Nuriel steht in einer einfachen Herberge in einem spartanisch eingerichteten Gästezimmer. Sein Blick wandert von der einsamen, noch tapfer leuchtenden Kerze am Nachttisch auf das Bett – auf dem sich gerade Volmar und Charlotte heftig liebten. Trotz der verringerten Emotionen der Hexer, konnte der Baron bei ihm rege Freude und tiefe Gefühle ablesen – abgesehen von den hormonellen Explosionen, die der Mann sowieso gerade erlebte. Der Elf verzog das Gesicht, erst leicht angewidert, von dem heftigen menschlichen Koitus, der der Ästhetik von liebenden Elfen in Einigem nachstand, dann blickte er äußerst angetan. Er nahm einen tiefen Schluck aus dem Weinglas. Als das nichts half, griff er zur ganzen Flasche. Derselbe Raum, scheinbar etwas später, da sich nun die Morgensonne durch das schmutzverkrustete, mickrige Fenster zwängte. Charlotte und Volmar lagen in voller Nacktheit auf dem Bett, Arm in Arm. Die Tür zum Zimmer flog schlagartig auf, die drei Männer mit der Tätowierung stürmten in den Raum – Volmar rollte, noch splitterfasernackt, seitwärts vom Bett auf die Männer zu. Noch im Aufstehen zog er sein Stahlschwert aus der neben dem Bett aufgestellten Schwertscheide. Nuriel zwinkerte kurz überrascht, als ihm in der Traumwelt eine enorme Blutfontäne entgegensprühte – genervt wischte er erneut mit der Hand zur Seite.
„Die Frau hat wohl auch schon einiges hinters sich. Und ihr Berufsbild ist mir jetzt immerhin klar. Sowie die ‚Kreise‘, in denen sie verkehrte. Hm, … Nun gut. So wollen wir doch noch einmal einen abschließenden Blick in den Geist des alten Haudegens werfen…“, dachte sich Nuriel. Ein paar Zimmer weiter seufzte Valerian im Schlaf, und wälzte sich unruhig umher. Das Amulett an seinem Hals begann zu zucken, bis es aus der weiten Öffnung seines Leibhemdes rausrutschte und auf dem Kissen neben Valerians Hals zum Liegen kam. Das Zucken wurde stärker…
Nuriel sah Wim, den Lehrling Valerians. Sofort zogen sich Sorgenfalten durch die Stirn des Elfen. Er erinnerte sich an den grausamen Traum, den er gesehen hatte, damals. Der Bursche sprintete über den Burghof, auf seinem Rücken ein Rucksack und ein Schwert geschultert – und in der Hand einen großen Schlüssel zwergischer Machart aus einem dunklen Metall. Valerian stand in einem Burgfenster, und erspähte Wim bei der Flucht. Der alte Hexer rief seinem Schüler etwas nach… Nuriel hielt kurz inne: Also ist Wim geflohen? Zu welcher Truhe könnte dieser Schlüssel passen? Könnte es sein, dass sich die Vision von damals erfüllen wird…? Nuriel rief sich die Vision in Erinnerung, die er selbst vor zwei Jahren auf Kaer Iwhaell gesehen hatte: Wim, vom Blutmagier Isador korrumpiert und voller Wahnsinn, tötete erst seine Hexerlehrlingskollegen, und schließlich nach einem spektakulären Klingentanz Valerian. Sollte diese Vision doch wahr werden? Blickt Wim vielleicht in einen dunklen Abgrund, der in ihn zurückblickt und tiefe Schatten hinterlässt? Dies wäre bei einem Herz voller Schatten und Leere, wie es bei dem Hexerlehrling der Fall ist, nicht verwunderlich.
Der Elf setzte seine Erkundung in Valerians Geist fort. *Er sah nun einen jungen Valerian, das Haar nur an den Schläfen leicht ergraut – ihm gegenüber, ein Mann mit braunem Haar, jünger als Valerian, mit athletischer Statur. Sein Rüstzeug schwarz, auf der Brust ein zuckendes Hexeramulett, im Gesicht zwei leuchtende Katzenaugen, aber nicht von jener ruhigen Klarheit Valerians, sondern Augen mit fehlerhafter Mutation, mit geplatzten Äderchen und irrem Blick. Sie standen sich auf einem Bergplateau gegenüber. Beide hielten ein Schwert in Ihrer Hand, doch war das des Fremden merkwürdig gekrümmt – wie ein Säbel oder ein langes Messer, nur zeigte die leichte Krümmung der schlanken Klinge verkehrtherum nach vorne, fast wie bei einer angedeuteten Kralle. Der Schnee lag eine Elle hoch, und frische Flocken flogen sanft und geräuschlos zu Boden. „Aguire – Schon wieder? Reicht nicht eine Schule? Derselbe Fehler erneut? Nach allem, was wir dir gaben? Keiner sonst gab dir eine zweite Chance. Wie konntest du ihn nur umbringen?“, schimpfte Valerian. Der junge Mann schrie wie irre– und griff an: Er webte einen Zauber, und Nuriel nahm durch Valerian die Hitze eines aufkeimenden Feuerzaubers wahr. Valerian webte den Schutzzauber ‚Heliotrop‘, einen magischen Schild, der frontale magische Angriffe abwehren kann – doch schwenkte der aufkeimende Feuerzauber Aguires chaotisch im Elementfluss um, und der Angreifer änderte seine Fingergestik überraschend: Eine magische Druckwelle ‚Aard‘ schoss in den Schneehang rechts von Valerian, und ein Grollen machte sich bemerkbar. Sofort rollten einige Felsen über die Schneedecke auf Valerian zu. Der Greifenhexer machte erst einen großen Satz nach vorne, aber um der breiten Steinfront zu entkommen, setzte er eine Sprungrolle nach – auf Aguire zu: Dieser hatte schon ein krallenförmiges Wurfmesser gezückt und schleuderte es mit einer knappen Bewegung präzise auf Valerian während seiner Rolle zu – und verfehlte knapp dessen Scheitel. Valerian rollte weiter und stand flüssig aus dem Manöver auf, um mit einem diagonalen Streich von links unten das Klingenspiel zu eröffnen – doch dazu kam es nicht. Aguire trat mit der Fußspitze locker in den Pulverschnee und erzeugte eine kleine Schneewolke, die Valerian blenden sollte. Valerian brach seinen Angriff ab, schlug mit dem Schwert von links nach rechts eine abwehrende Mühle und machte eine Pirouette nach links hinten. Er wollte direkt daraus mit einem Hieb von links oben fortfahren, doch war sein Gegner schon im Gegenangriff mit einem starken Streich von links oben. Valerian brach seinen Angriff erneut ab und blockte den Angriff mit seinem schräg erhobenen Schwert in der Parade ab, und machte einen Ausfallschritt unter dem Angriff Aguires hinweg. Er wollte sich Neu-Positionieren… Aguire jedoch schien jeden Streich Valerians zu kennen und im vornherein zu vereiteln. Valerian setzte immer wieder zu Schnitten und Stichen mit dem Hexerschwert an, musste diese aber immer wieder mit einer Pirouette oder Meidbewegung abbrechen. Aguire steht Valerian in nichts nach – im Gegenteil: Deren tanzender Stil ist sehr ähnlich, wenngleich der jüngere Hexer eindeutig heimtückischer und dreckiger kämpfte. In einer kurzen Pause stehen sich beide gegenüber, das Schwert in horizontaler Fechtstellung neben dem Ohr mit der Spitze zum Feind, der ‚Fensterstellung‘. Da greift Aguire in das Revers seiner schwarzen Lederrüstung und wirft Valerian mit einem bösen Lächeln etwas entgegen: In Zeitlupe sieht Valerian, wie ein blutverkrustetes Menschenohr auf ihn zufliegt – im Reflex schlägt er eine Mühle und wehrt das fliegende Körperteil mit der Klingenbreitseite ab. Nuriel spürt, dass Valerian weiß, wem das Ohr gehörte, und der Elf fühlt das Entsetzen des Greifenhexers. Aguire ging wieder zum Angriff über: Mit einem Hagel aus Schlägen und Stichen brachte er Valerian in starke Bedrängnis. Unzählige Drehungen und Finten machten eine Vorhersage der Angriffe fast unmöglich, dazu kam die fremdartige Mechanik der gekrümmten Klinge, die förmlich um die Paraden Valerians herumstechen wollte und Valerian mit weiten Paraden aus der Deckung lockte. Aguire führte nun einen Schnitt von rechts außen auf die Beine Valerians – welchen der Greifenhexer parierte. Doch plötzlich änderte Aguire die Schlagrichtung, und die geschliffene gebogene Rückschneide des Schwertes schnitt zurück – und traf Valerians Oberschenkelinnenseite. Noch bevor die klaffende Wunde der Oberschenkelarterie mit ihrem Spektakel begann, führte er einen Stich zum Herzen Valerians aus. Der Greif parierte diesen kreisförmig von unten nach oben in einer Wischbewegung, doch Aguire nahm den kreisförmigen Impuls auf und schnitt von links in Valerians rechte Körperseite, er nahm daraufhin mit seiner linken Hand Valerians Schwertarm und verdrehte diesen zur Körpermitte hin – auf sein Krummschwert zu. Er zog dieses aus der blutenden Körperseite Valerians und mit der schneidenden Rückbewegung durchtrennte er Adern, Sehnen und Fleisch an Valerians Arminnenseite. Valerians Schwert fiel zu Boden, kurz darauf gefolgt von Blutstropfen. Der Greifenhexer fiel auf die Knie und um ihn herum bildete sich ein schauriges rotes Muster im weißen Schnee. Nuriel wollte schreien, so sehr belastete ihn das Bild. Doch er beherrschte sich. Die Szenerie kam zum Stillstand – als ob die Zeit selbst innehielt, und alles um Valerian herum verschwand. Langsam blickte Valerian auf – und lächelte Nuriel direkt an. Seine rechte Hand hatte das Hexermedaillon in der Hand. *Nuriel war für einen Moment verwirrt. Opachen überraschte ihn immer wieder.
„Sehr interessant.“, dachte der Elf „Nicht nur, dass Valerian schon mal im Schwertkampf besiegt wurde – er scheint auch schon damals so leichtgläubig anderen gegenüber gewesen zu sein wie er es heute ist. Und so ein Wim-Fiasko scheint er ebenfalls schon einmal erlebt zu haben.“ Nuriel blickte aus dem Fenster. „Und, der Alte hat mich wieder einmal mit seinen magischen Fertigkeiten überrascht. Er hat anscheinend das ‚Ankern‘ als Fertigkeit erlernt. Unser Abschied scheint wie unser Kennenlernen – mit einem Moment der freudigen Verblüffung.“ „Überraschen werde ich ihn auch noch ein letztes Mal…“ murmelte er vor sich hin. Er ging zu seinem Schreibtisch, auf dem ein Tannenzapfen lag, und nahm ihn in die Hand. Gedankenverloren blickte er aus dem Fenster in die Nacht, der Mond stand über dem Herrenhaus. Ein paar Minuten später lächelte er zufrieden und ging zu Bett.
Einige Tage später, an der Elfenküste
„Aaaach – das Gekreische von Möwen, das Läuten von Schiffsglocken und wütende Vorarbeiter, die ihre Ladung-löschenden Hafenarbeiter anbrüllen – das klingt so vertraut nach…“ „Novigrad.“ unterbrach Valerian lächelnd die schwärmende Charlotte. Die drei saßen an der Hafenpromenade auf einem Mauervorsprung, und betrachteten gelassen die wuselnden Arbeiter beim Schaffen und Treiben. „… Ich wollte sagen ‚Arbeit‘, Valerian.“, verbesserte Charlotte. „Arbeit… ach du meinst deine ‚Sonderdienstleistungen im Logistik-Nischengeschäft‘?“, fragte Valerian. „Exakt.“ Die drei lachten. Trotz der alptraumhaften Nacht in Nuriels Anwesen, hatten sie einen freundschaftlichen Abschied, und verließen Nuriels Herrenhaus mit frischen Vorräten – vor allem ein paar Fläschlein von Wein und Schnaps machte das Trio sehr glücklich.
Eine große Möwe kreiste über ihnen. Etwas Weißes platschte auf Valerians Rüstung. Angewidert blickte er zur lachenden Möwe über sich. Für einen Moment glaubte er, etwas aus ihren Füßen fallen zu sehen, dann traf ihn etwas am Kopf. „Au! Blödes Vieh!“ entfuhr es ihm. Ein Tannenzapfen kullerte vor seinen Füßen herum. Charlotte wollte den Tannenzapfen wütend wegwerfen, aber Volmar hielt sie davon ab. „Sieh“ sagte er. Auf dem Tannenzapfen war eine grüne Rune aufgemalt.
Valerian ergriff den Tannzapfen und hielt ihn sich vors Gesicht. „Arhain, Nuriels Rune“, murmelte er nachdenklich. Als wäre es das Stichwort gewesen, flackerte ein Licht über dem Zapfen auf, dass sich blitzschnell zu einer schimmerigen Silhouette Nuriels veränderte, der in der üblich theatralischen Art und Weise anfing zu sprechen, die er immer an den Tag legte, wenn ihm danach war. „Alter Angeber.“ Dachte Valerian, das wäre auch weniger theatralisch gegangen. Der Elf musste immer eine gewisse Dramatik erzeugen, ohne ging es wohl nicht bei ihm. Nuriel bedankte sich für die gute Zeit mit Valerian die vergangenen Jahre und den Abend mit Volmar und Charlotte. Und er hatte auch einige Bitten an Valerian gerichtet…
Nachdem sie alle Drei die Abschieds-Botschaft Nuriels gesehen hatten, lächelte Valerian. Er hoffte, dass sie sich wiedersehen würden. Sollte er wieder eine Burg sein Eigen nennen, so würde er dem Wunsch des Elfen entsprechen ein Zimmer für ihn freihalten – gute Dozenten würde er immer brauchen können. Eines nur ärgerte ihn: Arghal. Dass er die elende Möwe des Elfen über sich füttern sollte, bis er sie zu Nuriel zurücksenden wollte, passte ihm gar nicht. Arghal lachte in der Luft und ließ neben Volmar etwas Weißes auf den Boden platschen. Volmar blickte Charlotte angewidert an, aber die grinste nur und zuckte mit den Schultern. Die Möwe landete auf ihrer Schulter und fing liebevoll an, an ihrem Haar zu knabbern. Charlotte grinste: „Also ich mag sie“. Valerian lächelte, und ging in Gedanken noch einmal die Ereignisse der letzten Stunde durch:
Kurz nach ihrer Ankunft in der zentralen Hafenstadt an der Elfenküste steuerte Valerian selbstbewusst auf eine Filiale des vertrauten Handelskontors ‚Benno Stab‘ zu. Am Tresen stand kein bekanntes Gesicht, sondern ein pockennarbiger Kaufmannsgehilfe. „Benno Stab Handelskontor – ‚Wenn‘s der Stab nicht hat, hat’s keiner‘, wie kann ich Ihnen helfen der Herr?“, begrüßte sie der Gehilfe. „Mein Name ist Valerian, und mir gehört die Funkenflug. Seit Wochen schifft ihr unseren Hausstand in die Leuenmark. Vereinbart war, dass wir erst in einer Woche die letzte Ladung überführen sollen – doch der Plan hat sich geändert: Die Schule wurde angegriffen und die Funkenflug muss dringend jetzt schon ablegen, bevor unsere Angreifer das Schiff…“ „Hoher Herr Valerian… “, fiel ihm der Kaufmann ins Wort. Bei der Betitelung musste Volmar Prusten vor Lachen. „Euer Lehrling war bereits vor einigen Tagen hier und hat sich bereits um alles gekümmert.“, fuhr der Gehilfe fort. „… Welcher Lehrling?“, fragte Valerian mit hochgezogenen Augenbrauen. „Na, Wim Delvoye. Er hat sich vergewissert, dass die Ladung, insbesondere die schwere Steintruhe an Bord ist und hat das sofortige Ablegen in Eurem Namen befohlen. Er hatte sogar einen Brief mit einem Greifensiegel mit Instruktionen dazu dabei…“ Valerian schwieg ob der Antwort des Kaufmannes. Volmar stichelte „… du solltest etwas mehr Sorgfalt walten lassen im Verschluss deines Schulsiegels hoher Herr Valerian.“ Der Gehilfe schaute betreten, und fuhr fort: „… ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten… aber falls es den Herrn Valerian tröstet – Wim wollte ebenfalls den Kurs zur Leuenmark beibehalten, er hat also im weitesten Sinne in Ihrem Interesse gehandelt mein Herr.“, versuchte der Angestellte des Handelskontors zu beschwichtigen. „Wohl kaum. Ich weiß, was er in der Steintruhe sucht… nur gut, dass es sich nicht dort befindet.“, antwortete Valerian mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck.
Valerian konnte beim Kaufmannslehrling trotz Verhandlungsgeschick und ‚Axii‘-Trickkiste keine Überfahrt zur Heimat ermöglichen, da alle Schiffe des Handelskontors bereits ausgebucht oder zu See waren. Charlotte nahm das Ruder in die Hand, und in der erstbesten Hafenkneipe konnte sie einen Kapitän auftreiben, der gegen klingende Münze eine Überfahrt für die drei inklusive Pferden und Möwe in die ferne Heimatwelt des Trios anbot. Später am Abend, nach ein paar Humpen Bier fragte Charlotte leicht angetrunken „Sagt mal ihr beiden – wir machen ja jetzt eine Schiffsfahrt rüber in die Heimat… aber das ist doch mehr als nur ein anderes Land! Also müsste man das eigentlich nicht via Portal machen, so wie ursprünglich geplant? Ich meine, hier ist der Mond in drei Teile gebrochen – in der Heimat ja aber zum Glück nicht… also muss das doch eine ganz andere Welt oder so sein, korrekt? Wie funktionieren diese Schiffsreisen zwischen den Welten denn – ich habe diese Überfahrten zwar wiederholt… ‚arrangiert‘, aber nie so recht verstanden…“ Valerian antwortete unbewusst im Lehrmeisterton: „Gut beobachtet – zumindest das mit dem Mond. Den Rest solltest du eigentlich wissen, weil Nuriel das gestern Nacht erzählt hat. Aber vielleicht warst du auch zu sehr mit dem Rotwein beschäftigt, … oder schmachtenden Blicken zu…“ Volmar räusperte sich geräuschvoll und setzte fort: „Reisen zu fremden Welten sind durchaus via Schiff möglich. Ich meine, schau dich doch mal in den ganzen Welten bei den hunderten von Möchtegern-Abenteurern um: Jeder Hinz und Kunz reist‘ Kreuz und Quer durch die Sphären, nicht nur via Schiff, sondern auch via Portal! Manche Nautiker haben vor langer Zeit durchaus Nadelöhre in andere Welten gefunden, verschlungene Kurse durch mystische Nebel, durch Tore in andere Weltmeere…“, bevor Volmar wieder in einen seiner langen gefürchteten Monologe verfiel, unterbrach ihn Charlotte elegant mit einer beiläufigen Berührung seines Handrückens und sagte: „Danke Volmar, danke Valerian. Ich erinnere mich düster an Nuriels Ausführungen – besonders an den weinerlichen Passus, indem er ausgiebigst beschrieb, dass er zu seiner Welt bisher nicht zurückgefunden hat. Und ja, ich erinnere mich auch an eure Debatte zu ‚Valerians magietheoretischem Wissenschaftspodium mit der Kernhypothese ~steht eine neue Sphärenkonjunktion an? ~‘… da tatsächlich jeder Hinz und Kunz mit Portalen zwischen Welten hin- und herreist… das muss ich zugeben.“ Es gab noch einige Lacher, bevor sich die Sonne langsam dem Meer näherte, und die drei Gefährten das Schiff ‚Iliki‘ bestiegen – was die drei nicht ahnten: Ein neugieriger schwarzer Kater namens Parzival hatte sich bereits an Bord des Schiffes begeben und sollte den Tag verfluchen, an dem er wieder auf ein Schiff mit Valerian gelandet war – wie damals schon in Novigrad. Wie der Burgkater Kaer Iwhaell’s auf das Schiff Iliki kam? Das ist eine andere Geschichte. „Nun, auf zum Festland, auf zur Heimat, auf zur Schatzsuche – gemeinsam werden wir Erfolg haben, zusammen. Auf nach Lan Exeter! Dort…“ „Jaja. Ist schon gut Volmar. Schnapsrunde?“, Charlotte unterbrach Volmar elegant und die drei ließen ihre Zeit in Solonia ein letztes Mal feierlich ausklingen, mit einem klirrenden Anstoßen von Schnaps- und Weinflaschen auf die guten, wie düsteren Tage Solonias und der nunmehr vergangenen Greifenhexerschule Kaer Iwhaell auf dem Kontinent Solonia.
Kapitel 3: Lan Exeter
Mit der Einfahrt in die Praxeda Bucht, rieselten große Schneeflocken sanft zur glatten See hinab, angestrahlt von der roten Morgensonne. Valerian war früh auf. Er konnte schlecht schlafen. Zu viele Gedanken und Erinnerungen kreisten in seinem Kopf umher. Während die Morgenschicht der Deckmannschaft langsam den Dienst übernahm, und begann, die Iliki zum Anlegen klar zu machen, stand Valerian an der Bugreling, faltete seine Hände und stützte die Unterarme auf dem Holz ab und blickte aufs Meer. Einige Meter neben ihm, im gebührenden Abstand, lag der Kater Parzival, und blickte neugierig durch ein Loch in der hölzernen Balustrade der Kogge aufs Meer und die fliegenden Fische darin. Der Kater bemerkte Valerian, fauchte herzhaft und hoppelte davon übers Deck – und versuchte die Möwe Arghal zu fangen, die gerade einen gefangenen Fisch an Deck verzehren wollte. Valerian interessierte die Tiere unwesentlich. Er ordnete seine Gedanken, doch das war schwer. Er fühlte, als hätte er versagt, in der einzigen Aufgabe, die ihm anvertraut war als Ältester der Greifen: Die Schule beisammen zu halten, und das Erbe der Hexerzunft fortzuführen. Kaer Iwhaell in Solonia ist Vergangenheit, und das Schicksal seiner Schüler ist vielfach ungewiss. Ob die Gruppe Atheris, Nella, Logan, Heskor, Egon und Raaga es durch Lennox‘ Portal geschafft haben? Ob sie nun schon in der Mark sind? War es richtig, die Nekromantenmaske heimlich Atheris zu geben, einem Lehrling? Kurz lächelte er, als er an Nella dachte, und den Duft ihrer langen blonden Haare. Doch dann verfinsterte sich seine Miene wieder – Wim. Er hat versucht die Maske aus der Koschbasalttruhe Bruenors auf der Funkenflug zu stehlen… gut, dass er ihm zuvorgekommen ist. Doch was, wenn er mit seinem Vorhaben Erfolg hat? „Warum konnte ich ihn nicht retten…“, seufzte er. Seine Gedanken wanderten zu Mei, seiner Ziehtochter, die in den dunkelsten Stunden der Greifenschule mit irgendwelchen Privatangelegenheiten auf Skellige oder sonst wo beschäftigt war, anstatt bei ihrer Familie, die sie dringender brauchte, denn je, zu sein. Ob sie vielleicht bei diesem adretten Baron aus Orgulistan war – zugegeben, er freute sich für sie, eine so gute Partie gemacht zu haben… Dennoch nahm er eine Distanzierung von Mei zu der Greifenfamilie wahr. Seine Gedanken kreisten weiter: Um Freunde und Bekannte wie Viktor aus Königswald, Tjaske, Vladim, Konrad von Tannhauser, Saleha, Eiwa Al Razina, Hartmut von Munzlar… aber auch um Feinde wie Silven, Isador, Tichondron oder den Lichtelfen… hoffentlich haben die Greifen zumindest vor Letzterem ab nun ihre Ruhe.
Er wischte sich mit beiden Händen deprimiert durch das Gesicht und beruhigte seine rasenden Gedanken. Er musste nach vorne schauen, nach Lan Exeter. Er blickt wortwörtlich auf, und sah nun langsam, durch den Schneefall hindurch, die Silhouette der Drachenberge über der Landmasse aufragen. Er erinnerte sich an diesen Anblick, als er ein junger Mann war. Er hatte sich eine Überfahrt von Novigrad nach Lan Exeter mühsam zusammengeklaut und -gespart, und war gerade dabei das Deck zu schrubben und Taue aufzuschießen, als sich ihm erstmalig der Anblick von Kovir und Poviss anbot, mit seiner wunderschönen Winterhauptstadt Lan Exeter, einer Stadt wie aus dem Märchen.
Moment… wollte Valerian nicht eigentlich den Blick gen Zukunft richten? Er lachte kurz. „Ich bin alt geworden.“ „Nein – das bist du schon lange.“ Mit einem Lächeln gesellten sich Charlotte und Volmar zu ihm, und lehnten sich ebenfalls auf die Reling. Dann begann Volmar mit seiner gefürchteten Erzählerstimme: „Aaaaah – Lan Exeter voraus. Die Winterhauptstadt von Kovir und Poviss. In der großen Tangomündung gelegen ist diese Stadt auf einmalige Art und Weise komplett im Wasser gebaut worden. Eine Stadt ohne Straßen, nur Kanäle, auf denen schlanke Boote mit Rudern und hohem Bug hin und herfahren zwischen steinernen Kais.
Wir werden gewiss den Großen Kanal entlangfahren, die Admiralitätsresidenz, den Sitz der Kaufmannsgilden, und den ‚Kleinen Palast der Kultur und Kunst‘ bestaunen – und alle stattlichen Häuser werden schmale, hohe verzierte Häuserfronten haben, da die Stadtsteuer der Lan Exeter‘ Hausbesitzer an der Breite der Häuserfront progressiv bemessen wird. Sehen werden wir auch den Ensenada Palast König Esterad Thyssens, wo er jetzt gerade noch gewiss im Schlafgemach neben Königin Suleyka von Talgar liegt. Übrigens eine der wenigen Ehen der Edlen, bei denen man sich sicher sein kann, dass beide sich inniglich lieben – so spricht zumindest das Volk und die Palastdienerschaft. Vermutlich liegt neben der Königin ein abgegriffenes, zerlesenes „gutes Buch“ vom Prophet Majoran. Sie ist bekannt für ihre Gläubigkeit.
Kovir ist noch für viele andere Dinge bekannt: Für seine Gelehrten, Händler, Techniker und Magier. Einen der besten Geheimdienste der Welt. Eine der effizientesten Berufsarmeen der nördlichen Welt, mit seinen attraktiven Renten und Prämien für seine Kriegsknechte und Söldner, und allen voran ist es bekannt für seinen unendlichen Reichtum, das war aber nicht immer so:
Erst war Kovir nur für sein Meersalz, und seine Glashüttenarbeiten bekannt, aber auch nicht mehr. Aus dieser Zeit stammen die redanischen oder kaedwenischen Sprichworte ‘jemanden nach Poviss jagen’, ‘dann geh doch nach Kovir!’, ‘ich dulde hier keine kovirischen Zustände!’ oder ‘in Poviss kannst du Schlaumeier spielen!’. Besagte ‚Schlaumeier‘ kamen tatsächlich nach Kovir, so auch einige Geologen. Diese fanden dort reiche Bodenschätze, frei nach dem Motto ‚ist das Land karg, liegen die Schätze der Natur unter dem Lande – denn die Natur liebt das Gleichgewicht.‘ Der Stand heute: Nur Mahakam fördert mehr Eisenerz. Ein Viertel der Kontinent weiten Förderung von Silber, Nickel, Blei, Zinn und Zink findet hier statt. Die Hälfte der Kupfererz Förderung. Ein Dreiviertel von allen seltenen Erzen, die übrigens auch in unseren vorzüglichen Schwertstählen stecken, wie Mangan, Chrom, Titan, Wolfram, Platin oder Ferrosaurum, Kryobelit und Dimeritium – von manchen übrigens auch Dwimerit genannt. Und Gold, Valerian: Man sagt 80 Prozent des weltweit gewonnenen Goldes stammt aus Kovir und Poviss. Fährt man so in Kovir ein, wie wir gleich, so begrüßen einen auf den Molen imposante Mauern und Festu…“ „Volmar…“ Valerian seufzte: „Ich habe hier einen Großteil meiner Jugendzeit verbracht – respektive in Kovir. Du weißt doch, wo die erste Greifenschule Kaer y Seren liegt… oder besser lag, nicht wahr? …Ach Charlotte, warum musste ich ihn diesmal unterbrechen bei seinem Monolog?“ „Ach – ich war dran?“, Charlotte blinzelte unschuldig. „Tut mir leid, ich dachte das letzte Mal war ich dran?!“ Volmar grunzte „Ich such mir was zum Frühstücken…“ und verließ die beiden an der Reling kichernden Kameraden.
Gut gestärkt nach einem gemeinsamen Frühstück und frohen Mutes, standen die drei erneut an der Reling mitsamt Reisegepäck, und bestaunten die von Volmar ausgiebig beschriebenen Mole und Dämme mit seinen Mauern, Türmen und Festungen. Nach den äußeren Hafenmauern überwältigte die drei ein Meer aus Masten und Segeln in dem riesigen Hafen der Stadt. Die Iliki steuerte souverän auf einen der Steinkais im Wasser zu, und nach einem kurzen Händeschütteln mit dem Kapitän verließen die drei über eine knarzende Holzplanke die Kogge. Ein Hafenbeamter mit Holzbrett und Pergament in der einen, und Schreibfeder in der anderen Hand, begrüßte die Ankömmlinge. Er nickte ihnen hektisch zu, sodass beinahe seine große Pelzmütze und seine Hornbrille herunterfiel. „Ihr drei gehört nicht zur Besatzung. Name, Grund des Besuches, Dauer des Verbleibs in Lan Exeter?“ Charlotte sprach mit einem charmanten Lächeln vor: „Grüße von Valentin. Wir gehören zur Handelsgesellschaft.“ Unverhohlen legte sie dem Beamten ein kleines klirrendes Beutelchen aufs Schreibbrett. „So so, Valentin also. Grüß ihn zurück. Na, dann passt auf – ich habe einen Rat für euch. Kehrt direkt wieder auf das Schiff um: Die Stadt ist abgeriegelt. Quarantäne. Seit vorgestern wütet eine Krankheit in der Stadt… man sagt, es sei die Rückkehr der Catriona Seuche. Keiner darf die Stadt verlassen. Ich mach bei euch eine Ausnahme, wenn ihr jetzt gleich wieder zurückwollt…“ Charlotte schüttelte den Kopf: „Kommt nicht in Frage. Aber danke dir, Ansgar.“ Der Schreiberling verbeugte sich, und wollte sich sodann umdrehen, um die gelöschte Fracht zu protokollieren – und stolperte dabei über einen schwarzen Kater der unglücklich hinter ihm saß und sich putzte. Arghal saß auf einem Fass daneben und lachte kreischend.
„Und was nun?“ fragte Volmar die anderen. Sie saßen auf einem der beschriebenen Ruderboote, dass gerade den Hafenkai verließ und auf die Kanäle der Innenstadt zusteuerte, aus der Luft verfolgt von einer weißen Möwe. „Ich kenne da jemanden von früher. Den können wir um Rat fragen, wie wir aus der Stadt kommen.“ Valerian lehnte sich zum Bootsführer rüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr, und gab ihm eine Münze. Der Bootsführer nickte, und das Boot hielt weiter auf den Großen Kanal von Lan Exeter zu. Schon nach einigen der prachtvollen Häuser von Edlen und Kaufleuten, steuerte das Boot in einen kleineren Kanal nach rechts, an dem es anlegte. Das Trio folgte einer kleinen Treppe von der steinernen Anlegestelle aus hoch auf das Plateau des schmalen Gehweges entlang des Kanals. Nachdem ein zweites größeres Boot mit ihren Pferden folgte, gingen sie an der beeindruckenden Häuserreihe den großen Kanal entlang – bis Valerian irgendwann vor einem sehr schmuckvollen Haus stehenblieb. Seine schmale hohe Fassade bildete ab dem ersten Obergeschoss einen Überstand, der vor der Haustür mit gravierten und bemalten Holzsäulen schmuckvoll gestützt wurde. Volmar las ein goldenes Schild über dem Gehweg mit der Inschrift „Carduin von Lan Exeter“. Sie banden ihre Pferde an einem Pfosten an.
Valerian klopfte und wartete einen Moment, dann klopfte er erneut, aber wieder nichts. Valerian wollte sich gerade umdrehen zu Volmar und Charlotte, um betreten mit der Schulter zu zucken, da hörte man ein genervtes „Jaaa jaaa doch…“, von drinnen. Ein Poltern die Treppe hinunter, ein Schemen hinter dem bunten Glasfenster – und dann öffnete sich die Tür: Vor Ihnen stand ein Mann in Nachtgewand und Schlafmütze. Seine Gesichtszüge wirkten erhaben, er hatte eine dominante Nase und starke Nasolabialfalten. Feine Bartstoppeln schattierten sein Gesicht. Im Kontrast dazu standen helle, bernsteinfarbene Augen. „Valerian? Du hier? Jetzt?… muss das so früh sein? Komm doch bi…“ „Carduin. Es ist wichtig!“, unterbrach ihn der alte Hexer. Carduin seufzte, und winkte die drei hinein in einen Raum, der wohl ein Wohnzimmer gewesen sein musste – bis ungeordnete Büchertürme und Staubschichten verschiedener Generationen das Zimmer erobert hatten. Sie gingen zu einem Tisch, der über und über mit Pergamenten voll war. Gelassen aber zügig, sammelte Carduin die Pergamente ein, um Platz zu schaffen für eine Unterredung. „Mach doch bitte ein Kaminfeuer an, Valerian… Ei‘ grau bist du geworden Bursch!“ Valerian gehorchte mit einem Nicken wie ein Schuljunge, und machte ein wärmendes Feuer im kalten Zimmer an. Sie setzten sich an den Tisch. „Viel ist passiert Valerian, und mich dünkt, es müsste nun gut dreißig Jahre her sein… nicht wahr? Möchtest du mir nicht deine Begleitung vorstellen?“, fragte Carduin. Volmar kam ihm zuvor „Volmar von Brugge, Hexer der Wolfsschule. Und das ist Charlotte.“, sie nickte. „Hocherfreut Charlotte von…?“ Nach einem kurzen Schweigen Volmars und Charlottes, fuhr Valerian fort: „Wir sind gerade angekommen in Lan Exeter und haben von der Quarantäne gehört. Wir wollen die Stadt verlassen. Kannst du uns helfen?“ Der Zauberer Carduin seufzte: „Schwierig. Ich sitze ebenfalls hier fest.“ „…möchtest du denn ebenfalls fort, Carduin von Lan Exeter?“ Carduin blickte Valerian an und versucht zu ergründen, was der Greifenhexer von seinen politischen Verstrickungen in die Angelegenheiten des neuen Rats der Zauberer und König Radowids von Redanien der letzten Jahre mitbekommen hatte. „Du hast recht, Valerian, dies ist mein Name. Doch habe ich seit einiger Zeit ‚Verpflichtungen‘ in Redanien… und dort sollte ich mich eigentlich auch die ganze Zeit befinden, wenn ihr versteht, was ich meine.“ Er schwieg bedeutungsvoll, und fuhrt fort: „Ich habe mich also von meiner derzeitigen Funktion zum Wohle des Großen und Ganzen abgewandt und bin für eine kurze ‚Stippvisite‘ vor drei Tagen hier in meine Heimat gekommen – dann wurde die Stadt abgeriegelt, wegen dieser grassierenden Seuche. Ich habe versucht, mittels Portal die Stadt zu verlassen – doch verhindert die Hofzauberin im Ensenada Palast, dass ich dem Unsinn hier entfliehen kann, mit einem potenten Gegenzauber, der Portalreisen unterdrückt. Kein Wunder: Weder will Thyssen aus altruistischen Gründen eine Seuche verbreiten, wie zuletzt den großen Catriona Ausbruch 1272 in den nördlichen Königreichen – noch möchte man die Gerüchte von infrastruktureller Schwäche in Lan Exeter als Handelszentrum der Meere oder von einem geschwächten Poviss streuen. Stellt euch mal den Einbruch von Devisenmärkten oder Handelskursen vor? Auch politisch, alles sehr verständlich…“, führte der Magier aus. „Mag sein Carduin – aber wir sind keine Magier, und unsere Affinität zu Politik hält sich in Grenzen. Kannst du uns hier rausbringen?“, fragte Valerian etwas ungeduldig. „Das weiß ich nicht – aber vielleicht könnt ihr es selbst, beziehungsweise ihr gemeinsam?“ Das Trio blickte sich fragend an, bevor der Magier fortfuhr. „Ich habe auf den Ebenen der Logik und der Informationswirtschaft in Lan Exeter nach einem Ausweg gesucht. Vergeblich, trotz meiner mannigfaltigen Kontakte hier. Eine Option gibt es noch: Gewiss seid ihr mit der Kunst der Wahrsagerei als magische Disziplin vertraut – die Wahrsagerei hat die unschöne Eigenschaft, dass man sie allein nicht derart gut praktizieren kann, wie mit einem Probanden zusammen. Es ist zwar nicht mein magisches Kerngebiet, aber alles nötige Wissen hat mir die Schule Ban Ard mitgegeben – und alles Weitere steht hier in den Büchern zur Oneiromantie…“ „Ungern Carduin. Die Traumdeutung ist ein sehr vages Feld, und offenbart auch viel Persönliches von den Träumenden…“, stellte Valerian fest. „Valerian, ich kenne dich seitdem du als Bursche nach Lan Exeter gekommen bist. Was fürchtest du, das ich sehen könnte?“, entgegnete der alte Magier. Der Greifenhexer schwieg. Charlotte und Volmar stimmten in das Schweigen mit ein. Eine bessere Idee hatten sie nicht.
Schließlich erklärte sich Valerian wider seiner Bedenken bereit. Er wollte Volmar und Charlotte, die Carduin sowieso schon offenkundig misstrauten, nicht persönlichen Offenbarungen aussetzen. „So, ich bin fertig. Lege dich bitte auf das Canapé, Valerian.“ Carduin hatte das Sofa von verschiedenem Krimskrams seiner Unordnung befreit, und zeigte nun mit offener Hand auf das Möbelstück. Valerian sattelte seinen Schwertgurt vom Rücken ab und drückte ihn mit einem vertrauensvollen Nicken Volmar in die Hand. Dann legte er sich auf die bequeme, wenngleich staubige Liege. „Ich werde dir erst einige Fragen stellen, um mich in einen geistigen Einklang mit dir zu begeben. Mein Ziel ist es, dass unsere mentalen Schwingungen zwischen Träumenden und Führenden sich harmonisieren – so vermag ich es dir als Magier den Traum zu induzieren und diesem Traum dann detailliert im Ablauf zu folgen.“, sprach der Magier und begann mit seinem Vorhaben. „Großartig!“, kommentierte Valerian trocken. „Nun gut mein lieber Hexer. Warum möchtest du Lan Exeter verlassen? Was suchst du außerhalb der Stadt mit deiner Begleitung.“ Valerian dachte nach, und schwieg. Carduin räusperte sich höflich ungeduldig. „Wir sind auf der Reise zur Schule der Wolfshexer. Da die Greifenschule sich erneut im Niedergang befindet, haben Volmar und Charlotte eingewilligt mir in der Suche nach Wissen zu helfen, um die Schule zu retten.“, beantwortete Valerian die Frage. „Fabelhaft Valerian. Was empfindest du dabei? So ein Hexer diese Frage beantworten kann…“, fuhr Carduin mit seinen Fragen fort. „Ganz ehrlich, erschreckend viel Carduin. Furcht, Neugierde, Angst, Zaudern, aber überwiegend Sorge.“, zählte Valerian auf. „…um wen?“, fragte der Magier. „Meine Familie.“ Valerian zwinkerte Volmar zu, der genervt seufzte. Carduin wahrte die Professionalität: „Gut Valerian. Du kennst Lan Exeter. Ich möchte, dass du dir nun vorstellst, wie du den großen Kanal entlangfährst. Ab dem Bernsteinviertel wirst du viele Kranke sehen auf den Promenaden, gehetzte Wachen die Ordnung halten wollen, protestierende Kaufleute wegen der Quarantäne und huschende Pestdoktoren… schließ deine Augen. Entspanne dich…“ In der Stimme Carduins lag eine sonderbare Beruhigung, und Valerian schlief, zu seinem Erstaunen, simultan ein.
Valerian sah den Kanal, die prächtigen Häuserfronten. Er saß allein auf einem Ruderboot, er steuerte dieses selbst auf das Tor von Lan Exeter zu. ‚Valerian! ‘ Hört er eine vertraute Stimme rufen. Er blickte zur Seite, und sah Nella, die ihm aufgeregt zuwinkte. ‚Valeeeriaaaan!‘ Diesmal von der anderen Seite des Kanals – wo Meidwynn stand, sie rief verzweifelt, und der orgulistanische Baron zerrte diese in die Dunkelheit einer Gasse zwischen den Häusern. ‚Valerian! …Valerian! Vaaaleeeeriaaaan!‘ Immer wieder ertönten Stimmen seiner geliebten und geschätzten Menschen. Immer wieder erschienen sie über ihm an den Promenaden des sonst menschenleeren Kais. Sie winkten, sie riefen, sie weinten, sie schrien. Sie bedeutetem ihm schneller zu machen! Schneller zu rudern! Genervt schrie Valerian, und eine Aard-Druckwelle, geboren aus seiner Wut, sprengte in einem Kugelförmigen Ausstoß das Boot. Plötzlich sah Valerian schwere Ketten an seinen Füßen, die ihn tiefer zogen, immer tiefer, in das dunkle-türkisblau des Kanals. Gerade als die Ohnmacht drohte, spürte er eine Hand, die die seine ergriff – und ihn mit einem starken Ruck hochzog: Valerian sprang aus dem Wasser, und stand neben seinem Freund, Konrad von Tannhauser. Valerian erkennt die Hafenstadt Novigrad, wie sie in seiner Kindheit aussah. Da lief ein Kaufmann an ihm vorbei, eilends, hinter ihm her eine verzweifelte Dame, offenkundig aus prekärem sozialem Umfeld und mit zweifelhaftem Beruf. Sie zeigte auf ihren Bauch, und gestikulierte wild – der Mann hörte nicht, und lief auf ein Schiff zu. Er ging auf die Brigg, warf die Ladeplanke von Bord – und schaute plötzlich Valerian an. Das Gesicht des Kaufmanns änderte sich – seine Wangen hoben sich, die Lachfalten, die Nasenfalte… und Valerian sah plötzlich in sein eigenes Gesicht, das ihn anlächelte – und wieder änderte sich das Gesicht, diesmal zum Gesicht Konrads.
Valerian schreckte auf. Er befand sich wieder auf dem edlen Sofa. Carduin sah ihn durchdringend an, Charlotte und Volmar hatten inzwischen auf Stühlen Platz genommen und blickten Valerian fragend an. „Was hast du gesehen Valerian?“, fragte Volmar. Der Greifenhexer war noch nicht in der Lage zu antworten. Carduin übernahm die Erklärung: „Valerians Geist ist voller Sorge um seine Engsten und Liebsten. In dem Gewirr seiner Gedanken aber, sind wir auf eine Goldader der Wahrheit gestoßen, einem verblüffendem Quant Schicksal: Valerian scheint einen lebenden Verwandten zu besitzen, den er bisher wohl nur als Freund kannte, und erfuhr etwas über seine Herkunft.“ Valerian schwieg. „Wollen wir weitermachen, Bursche?“ Er antwortete noch immer nicht. Volmar sprang ein: „Ich übernehme ab hier. Ich denke, Valerian hat genügend Dinge im Geist, die er nun zerdenken muss – mein Geist ist frei von den Ketten an Verwandte und… Familie.“ Valerian und Volmar nickten sich einander zu.
Volmar begrüßte den Komfort des Canapé, im Vergleich zum Stuhl. Noch während der Fragen Carduins, schlief er ein und bestätigte dies mit einem herzhaften Schnarchen. Auch er fuhr im Traume auf dem Großen Kanal, und hielt auf das Stadttor zu. Hinter ihm stand Varin, sein geliebter Ausbilder aus Kaer Morhen. Varin flüsterte ihm ins Ohr: „Sieh genau hin.“ Volmar war irritiert. Er blickte sich um, sah die Kranken, die Doktoren, die Wachen, die Kaufleute, die Proteste vor den Toren… doch dann bemerkte er ein Zucken an seinem Amulett. „Sieh genau hin Volmar.“ Er blinzelte. Über den Kranken sah er ein dunkles, ätherisches Band aus Magie. Es reichte hoch in den Himmel. Volmars blickte geradewegs nach oben, und über ihm und ganz Lan Exeter schwebte die Erscheinung einer toten Frau. Ihr Gewand in Fetzen, ihre Haut warf Eiter- und Pestbeulen, die aufplatzten, und das freigewordene Sekret floss aus den Wunden hinab und wandelte sich im Flug zu grünen Schneeflocken, die auf Lan Exeter schneiten. Das Bild veränderte sich – es stellte sich komplett auf dem Kopf, sodass Lan Exeter im Himmel lag und die Erscheinung mit gefalteten Händen auf dem Boden. Vom Himmel fiel wie ein Blitz das Silberschwert eines Hexers hinab, und durchbohrte die Zunge im Rachen der Frau. Volmar erkannte, dass es sein Silberschwert war. „Eine Pesta!“, Volmar setzte sich ruckartig auf. Carduin runzelte die Stirn: „Eine Pestmaid, eine Erscheinung die Krankheit und Seuche verursachen kann… hmmm…“ Ohne weiteren Kommentar stürmte Carduin aus dem Zimmer, und kam wieder mit einem Pergament. Er las murmelnd einen Krankenbericht, und folgerte dann laut: „Die hier grassierende Seuche kann gar keine Catriona sein. Es findet sich bei den umhin beschriebenen Symptomen kein blutiger Auswurf. Lediglich andere Symptome. Ich stimme deiner Theorie zu, Volmar von Brugge.“ Volmar strahlte – so sehr, was ein Wolfshexer in Sachen Mimik vermochte. „Hört zu, ich habe eine Theorie…“
Es war Mitternacht, die vier Gefährten standen auf dem zentralen Friedhofsplatz. Volmar und Valerian hielten ihr Silberschwert in der Hand, dessen Klinge fahl im Mondlicht glänzten. Auf Valerians Schwert, leuchteten blaue, mythische Runen auf. „Hier ist es.“, Carduin zeigte auf ein Grab. „Galita von Hengfors.“ Diese Wissenschaftlerin wurde vor einer Woche hier in Lan Exeter… zu Tode gefoltert. Sie vertrat einige makabre Theorien zur Catriona Seuche von 1268 und 1272, die nicht in Übereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Kanon waren – was erstmal nicht schlimm war. Aber sie ging so weit, dass sie Portale und interdimensionale Reisen untersagen wollte, da sie diese für die Quelle der Catriona hielt. Sie fing an die Portalreisen von anderen Magiern in Lan Exeter zu sabotieren, wobei ein angesehener Stadtzauberer zu Tode kam… das ist gelinde ausgedrückt dafür, dass seine Körperteile an einem Dutzend verschiedener Stellen in der Stadt gefunden wurden…“ Charlotte grunzte. Er fuhr fort: „Die Hofzauberin konnte belegen, dass es Galitas Sabotage war. Nach ihrer Festnahme wurde sie gefoltert und aufgefordert ihre Theorien zu widerrufen. Sie weigerte sich schreiend, bis sie durch den Folterknecht in den Kerkern Lan Exeters den Tod fand…“ „Volmar, hilf mir ein großes Yrden zu ziehen.“ Valerian und Volmar beschworen einen magischen Kreis aus violettem Licht mit einem Durchmesser von rund acht Schritt. Charlotte zündete ein Räucherwerk aus Kräutern an, dass die beiden Hexer vorbereitet hatten, und verteilte den aromatischen Rauch mit wedelnder Hand. Carduin zog ein Pergament aus seiner Tasche und begann: „Nun denn, versuchen wir es wie besprochen. ‚Galita von Hengfors, ich rufe euch zum wissenschaftlichen Kolloquium – um eure These zu verteidigen!‘ …Ean vaín né élle ibháin na larvash!“ Carduins Hände leuchteten grünlich beim Skandieren der elfischen Beschwörungsformel. Nach einer Zeit des Wartens, fuhr aus der Erde eine ätherische Gestalt auf, und manifestierte sich im Kreis des Yrden-Zaubers. Es war die einer Frau, und sie glich der Beschreibung Volmars aus dessen Traum – von fahler ungesunder Haut, in Fetzen einer Gelehrtenrobe gekleidet und voller eitriger Beulen und Pusteln. Ihre Augenhöhlen waren leer und eine lange Zunge lugte aus Ihrem Kopf, dem der Unterkiefer gänzlich fehlte. Sie fauchte, und stöhnte. Carduin räusperte sich: „Verteidige deine Thesen im wissenschaftlichen Disput!“ Die Pestmaid fauchte nun ärgerlicher, und hielt auf Carduin zu. Volmar sprang vom Kreisrand auf die Pesta zu. „So wird das nichts!“ „Verdammt Volmar!“, fluchte Valerian – und sprang von der anderen Seite, weiter entfernt dazu. Carduin stürzte beim Zurückweichen, und fiel rücklings auf den Boden. Die Erscheinung raste jetzt auf ihn zu, und eine meterlange Zunge schoss auf den am Boden liegenden Magier zu. „Vael elan my elyenthain g’lan faray!“ Carduin erhob seine Hände und um ihn herum baute sich eine wabernde goldene Schutzsphäre auf, ein höherer Zauber, an dem die spitze Zunge abprallte. Volmar drosch mit einem horizontalen Hieb von hinten auf die Pesta ein – er spürte den Widerstand von Materie, er hatte sie also getroffen. Galita schrie schrill auf – und alle Vögel und Insekten der Nacht verstummten plötzlich komplett. Charlotte sah es zuerst: „Seht!“ Ein Kreis aus Rattenschwärmen schloss sich um die Gruppe, am Himmel über ihnen flogen Schwärme aus Insekten. „In den Yrden-Kreis!“, schrie Valerian, und zog Charlotte hinein. Die Tiere schwärmten um den Yrden-Kreis herum, aber drangen nicht hinein. Das violette Leuchten der Kreislinien wurde schwächer. Valerian fluchte laut auf, viel mit einer komplexen Handgestik auf die Knie und streckte seine Hände zum Kreisrand hin: „Ich halte das Yrden aufrecht. Volmar halte du die Pesta auf!“ Da war Volmar sowieso schon dabei: In diesem Moment schoss ein Strahl grüner Kotze in einem giftigen Schwall auf Volmar zu – dieser zauberte ein Quen-Schutzzeichen und drehte sich in einer Pirouette zur Seite weg. „Achtung!“, rief Charlotte: Zwei illusionäre Ebenbilder Galitas griffen von den Seiten Volmar an. Der Wolfshexer nutzte den Schwung der Pirouette und schlug in die eine Illusion einen sauberen Schnitt – wodurch sich diese in Rauch auflöste. Charlotte warf ein Wurfmesser auf Galita zu – doch diese löste sich ebenfalls in dunklen Schwaden auf. Plötzlich erschien hinter Charlotte die Pestmaid, um sie von hinten zu umarmen, Charlotte schrie. Volmar nahm sein Silberschwert in die Haltung des ‚Schützen‘, indem er es wie ein Speerwerfer schräg unten hinter sich bereithielt, und dann wie eine Balliste beschleunigte: Das Silberschwert traf genau in den Rachen der Pesta, durchstoß die Zunge und penetrierte die Schädelrückwand des Geistes. Galita sank zu Boden, Volmar nahm Charlotte schützend in den Arm, den Blick auf die Pesta gerichtet. Die Ratten- und Insektenmasse lichtete sich. Valerian erhob sich, und stellte sich schützend neben Volmar und Charlotte. Die Pesta röchelte. Valerian sprach: „Ich bin der Leiter der Schule und Akademie Kaer Iwhaell, und ich habe deine wissenschaftliche Arbeit zu den Hypothesen der Catriona Seuche für wegweisend und deduktorisch korrekt befunden. Ich entlaste deine Arbeit von allen weltlichen Vorwürfen und erkenne diese als Gelehrter an.“ Galitas Röcheln und Fauchen schwand, und ihre Augen weiteten sich. „Wir werden alle weiteren Folgeschritte befolgen, die auf deinen logischen Schlussfolgerungen basieren. Bette dich nun zur Ruhe in dem Wissen, dass du der Menschheit und Wissenschaft ein wichtiges Andenken hinterlassen hast, Galita von Hengfors.“ Der runzlige Körper von Galita wandelte sich kurz in den einer älteren Frau mit einer abgetragenen Professorenrobe, wonach dieser sich sofort in Staub auflöste. Valerian folgerte: „Wissenschaftler wollen nur eines: Anerkennung und Respekt für ihre Arbeit, und ihrem Publikum ein Erbe und Andenken mitsamt ihrem Namen hinterlassen, und den Pfaden ihrer Zunft der Gelehrten dienen und Tore öffnen für die aufkommenden scholarae und studiosi der nächsten Generation…“ Valerian schüttelte den Kopf, und steckte sein Silberschwert routiniert in die Schwertscheide auf dem Rücken. „Also ich würde ja sagen…“, sagte Volmar „… du hast sie greifentypisch totgeplappert.“ „… das kommt gerade von dir Volmar?!“, kommentierte Charlotte. Alle drei lächelten. Carduin nicht – der beschwerte sich über Graberde und Unrat auf seiner orange-roten Magierrobe. Dann hoppelte ein schwarzer Kater aus dem Schatten eines Grabsteins zu Carduin und rieb sich schnurrend an den Beinen des Zauberers.
Kapitel 4: Höhle der Qualen
Die Reisenden blieben noch drei Tage bei Carduin, bis die Beamten der Stadt die Quarantäne aufhoben, da die Seuche wie von Zauberhand verschwunden war. Nach einer intensiven Verkostung der Lan Exeter‘ Weine und Schnäpse bei Carduin in der dritten Nacht, verabschiedete sich das Trio von dem Gastgeber bei Sonnenaufgang. Sie verließen sein Haus, nur um auch ihn durch den Knall eines Portals in seinem Haus verschwinden zu hören. Valerian drehte sich von der Tür des Hauses um, und blickte auf dem Kanal. Vor ihm auf einem stählernen Poller saß eine weiße Möwe – neben einem schwarzen Kater. Der alte Hexer seufzte. „Es kommt nicht in Frage, dass ich euch mitnehme – ‚Kaer Iwhaell ist kein Zoo‘, verdammt! Aber, damit Nuriel oder die tierliebe Mei mir nicht zürnen…“ er räusperte sich, „…lieber Arghal. Bitte bleib bei Parzival bis zu unserer Rückkehr. Diese Reise kann länger dauern, aber wenn wir zurückkommen – dann gewiss über Lan Exeter. Sollten wir in drei Monden nicht zurückkehren – geh zurück zu Nuriel. Ähm… verstanden?“ Arghal kreischte. Parzival gähnte. Volmar schüttelte ungläubig den Kopf. Charlotte nicht: Die hatte angefangen die Szene mit einem Kohlestift flüchtig zu skizzieren, in der der Großmeisterhexer Valerian sich herabbeugte und mit einer Möwe neben einem Kater parlierte – die Skizze wollte sie ihrem Zeichner geben und das fertige Bild „Valerian in Lan Exeter“ taufen. Der Alte war sich irgendwie sicher, dass er die Möwe nicht so schnell loswerden würde – leider. Wieder hatte er einen Zoo an der Backe. Er betrachtete das Federvieh, den Kater und die Pferde, und Brunhild wieherte laut schallend auf.
Sie verließen die Stadt durch das prächtige bannerumwehte Stadttor und ritten zuerst an der Praxeda Bucht ostwärts entlang nach Yspaden in Creyden. Ursprünglich war es Charlottes Plan, ab hier weiter südwärts nach Novigrad zu reisen, doch entschied sie sich freiwillig einen Umweg in Kauf zu nehmen bis zum Kestrelgebirge.
Sie folgten also zu dritt dem Fluss Braa entlang weiter nach Osten bis zur Stadt Jamurlak. Dann gelangten sie weiter über das prächtige Hengfors über die Braa nach Braafeld in das Land Caingorn. Vor ihnen ragte das weiße Kestrelgebirge auf, dass sie von der nächsten Station in Aed Gynvael trennte. Sie beschlossen vor der Passage des Gebirgspasses noch eine Nacht in ordentlichen Betten zu verbringen, und kehrten in eine Taverne an der Hauptstraße ein. Das eingeschneite Gasthausschild zeigte einen steppenden Bären mit der Inschrift: „Zum Tanzenden Bär“. Valerian schmunzelte über den Wortwitzvorrat, den er mit zu seinem befreundeten Bärenhexer Tjaske nehmen würde. Nach dem Absatteln und der Übergabe der Pferde an den pickligen Stallknecht, betraten die drei die geheizte Stube. Es war insgesamt sehr wenig los, sie hatten also freie Platzwahl, und entschieden sich für einen Ecktisch im hinteren Bereich der Wirtsstube, mit guter Sicht über die Taverne. Eine vollbusige Schankmaid empfing sie reizvoll: „Hallo die Herre… Oh! Hallo Volmar. Tut mir leid dich enttäuschen zu müssen, aber deine Stammrunde ist heute nicht zum Würfeln und Kartenspiel da. Ich habe vorhin einen Topf Met heißgemacht, wollt ihr was davon?“
Mit dampfenden Metbechern vertrieben sie die Kälte aus ihren Gliedern. Valerian begann die Konversation: „Sag mal Volmar. Ich gehe davon aus, dass die Schwertlehre der Greifen sich nicht um Welten um die der Wölfe unterscheidet – mein Fechtmeister lehrte mich, dass man sein Schwert im Kampf gegen Monster auf gar keinen Fall in den Schützengriff nehmen und als Speer werfen sollte… ‚sowas tun nur verliebte Narren und Selbstüberschätzer‘. Wie ein Selbstüberschätzer wirkst du mir nicht…“ Er lächelte abwechselnd Volmar und Charlotte zu. Mit etwas Fantasie konnte man den Anflug einer Errötung auf Volmars Wangen erkennen. Charlotte übernahm das Reden: „Er redet nicht so gern über… uns.“ Valerian brach wieder das Schweigen: „Sagt mal, was macht ihr eigentlich, wenn wir in Kaer Morhen fündig geworden sein sollten? Ich werde nach unserer Unternehmung in die Leuenmark reisen und meine Zöglinge suchen.“ Volmar überlegte. Charlotte antwortete zuerst: „Ich werde wie gesagt, morgen abreisen nach Novigrad. Ich habe da noch eine Angelegenheit mit einem gewissen Zwerg namens Hacker zu klären, meine geliebte Arbaleste betreffend…“, Charlotte grummelte etwas in sich rein. Volmar fuhr fort: „Nun Valerian, ich sagte dir damals schon in Solonia – ich möchte dich und die Greifen beobachten. Ich wollte feststellen, worin sich die Wolfsschule von der Greifenschule unterscheidet, und sehen ob und wie wir zusammenarbeiten können. Du siehst, hier an unserer Mission – das Urteil ist vorläufig positiv ausgefallen. Dennoch werde ich mir etwas Zeit auf Kaer Morhen nehmen, um meine weiteren Aktionen in der großen Mission zu planen, die Hexerzunft auf meine Art und Weise zu unterstützen. Du musst wissen Valerian: Ich beäuge deinen Plan zur Kräuterprobe auch sehr Teil kritisch. Ich unterstütze ihn, ja natürlich, das weißt du. Ich habe wortwörtlich mein Blut dafür gegeben. Aber dennoch habe ich Angst vor… fehlgeschlagenen Experimenten, oder fehlgeleiteten Alchemisten oder Magiern, die jenes Wissen missbrauchen könnten, an denen Saleha, Eiwa, Nella und du forschen. Dennoch denke ich, dass es besser ist, dass die Greifen und du, dieses schwierige und notwendige Thema angehen und dabei lieber von mir bewacht und begutachtet werdet, als von irgendwelchen irren Zauberern oder Spinnern. Ich muss gestehen – ich glaube ihr als Greifen könnt das sogar besser ergründen als die paar übrigen einsamen Wölfe.“ Valerian nickte. „Ich verstehe deine Ressentiments. Mehr als manch anderer. Und deswegen freue ich mich so sehr über deine Unterstützung.“, antwortete Valerian. „Doch Valerian, bitte versprich mir, sobald wir in Kaer Morhen sind – kein Wort über unsere Pläne zu meinen Brüdern. Ich möchte nicht, dass sie Probleme bereiten könnten oder sich Sorgen machen, so gerne ich sie auch… teilweise… habe.“, sprach der Wolfshexer weiter. „Einverstanden. Dafür versprich du mir auch etwas Volmar: Ich habe nachgedacht. Wenn das hier vorbei ist, möchte ich im Laufe der nächsten Monate eine Expedition nach Kaer y Seren vorbereiten in den Drachenbergen. Dort liegt zu viel kostbares, als auch gefährliches Wissen, das ich als Ältester der Greifen bergen muss, und zur neuen Greifenschule bringen möchte – so ich diese denn hoffentlich, mit der Zustimmung des Rates der Leuenmark in selbiger errichten darf, versteht sich… aber wenn es soweit ist, versprichst du mir mich zu begleiten, nach Kaer y Seren?“ Theatralisch schlug Volmar in Valerians gereichte Hand ein. „Ach Greif, wenn wir eines gemeinsam haben, dann ist es unsere Einstellung: Wir beide wollen unseren Schulen gerecht werden, unsere Zunft voranbringen und unseren Brüdern helfen. Wir beide sind stolz Hexer zu sein, und das zu tun, was wir tun.“ „Ach Wolf. Der Stolz darauf ist schon lange dahin. Das wird dir in 80 Jahren gewiss auch so gehen.“, antwortete der alte Hexer.
Am nächsten Tag, standen die drei vor der Taverne an der Wegscheidung. Ein Weg kam von Westen, einer führt nach Süden, und einer nach Osten, auf das Kestrelgebirge zu. „Der Zeitpunkt der Verabschiedung, meine lieben Herren.“ Die Schmugglerin wollte südwärts reisen, gen Novigrad. Charlotte und Valerian umarmten sich freundschaftlich. „Ich habe noch was für dich Opa…“, sie kniete sich hin, und fummelte in dem Schaft ihres Stiefels – und zog ein Schmuddelbildchen heraus, dass sie behände in Valerians Gürteltasche steckte. „Hier – mein letztes seit dem Firi-Vorfall… war eigentlich für schlechte Zeiten gedacht – oder schwierige Bestechungen…“ Valerian lachte. „Danke dir Charlotte, ich nehme diese Bestechung von dir gerne an – und beim Wiedersehen sagst du mir, womit ich mich für diese Bestechung dann revanchieren muss.“ Valerian trat zurück, und ließ Volmar nun Raum für die Verabschiedung. Er und Charlotte schauten Valerian aber nur erwartungsvoll an, und etwas betreten. „Achso… ich nun ja, gehe ein paar Schritte vor.“ Valerian räusperte sich, nickte Charlotte zu und schritt gemütlich voran auf die Oststraße zu, wo ihre Pferde schon bereitstanden. Hätte Valerian seine übermenschlichen Hexersinne genutzt, hätte er gewiss gesehen, wie sich Charlotte und Volmar inniglich küssten, bevor sie sich mit einer Umarmung verabschiedeten – aber so etwas hätte Valerian gewiss nie getan, so wie wir ihn kennen, nicht wahr? Er zog stattdessen lieber die Motivationskarte aus seiner Tasche, die Charlotte ihm zusteckte: Sie zeigte einen fetten, betrunkenen Zwerg in unerotischer Pose, der herzhaft rülpste. Er lächelte und stieg in den Sattel auf die treue Brunhild.
So begannen die beiden Hexer mit der letzten Etappe ihrer Reise. Ihr Weg führte über das Kestrelgebirge und seinen Gebirgspass bei Caingorn aus bis nach Kaedwen und die Stadt Aed Gynvael. Auch dort rasteten Sie eine Nacht in einem ordentlichen Wirtshaus, um sich dann weiter ostwärts aufzumachen und der Zielgeraden zu folgen – dem Fluss Gwenllech.
„Ich habe vergessen, wie schön euer Tal ist, Wolf.“, sagte Valerian auf seiner Schimmelstute und bestaunte die Kulisse von Kaer Morhen: In der Talmitte schlängelte sich der türkise Fluss Gwenllech zu dessen rechter Uferseite sie auf einem breiten, erdigen Trampelpfad ritten. Der Fluss war umgeben von grünen Gräsern mit Schneeresten im Schatten, in einem Tal, das von saftig grünen Nadelwäldern gesäumt war, die mit steigender Höhe immer mehr und mehr Schneeweiß zeigten. Eingerahmt wurde das Tal von zwei Gebirgsausläufern der Blauen Berge, des Bergmassivs, auf das sie zuritten. Vor selbigem, in die Gebirgsflanke eines Berges gebaut, lag die Höhenburg Kaer Morhen, gerade rund tausend Schritt entfernt. Volmar auf seinem Rappen hingegen antwortete nicht keck oder stolz auf Valerians Satz – er sah vor dem geistigen Auge die Kulisse in dunkler Silhouette, gekrönt von Rauchsäulen und Feuersschein am Horizont, und hörte die Schreie von… „Volmar?“, Valerian stupste ihn an. Vargheist wieherte besorgt. Der Wolfshexer blinzelte kurz, und nickte. „Ja… gewiss, gewiss Valerian. Jetzt folg mir.“ Er gab dem Rappen die Sporen und wechselte in einen leichten Galopp. Sie ritten den Pfad weiter flussabwärts, bis sie zu einem kleinen Wasserfall kamen. Kurz danach wurde das Flusswasser seichter. Volmar ritt voran und preschte durch das knöchelhohe Wasser der Furt. Die vorher breite Straße wurde nun ein schmaler Trampelpfad, durch hohe Gräser und scharfkantige Felsen. Rechts von Ihnen wurde der Gwenllech breiter, und bildete sogar einige kleine Felsinseln, mit Fichten besetzt, optisch gekrönt von der Ruine der einst stolzen Wolfshexerburg. Sie folgten dem Pfad durch die Idylle weiter, bis direkt neben ihnen eine Holzkonstruktion im Boden begann sich nach vorne hin auszudehnen. „Das hier ist der Damm. Vor hunderten Jahren war hier eine Eisenmine. Der Damm machte die Zeche erst bewirtschaftbar. In jüngerer Historie hatten wir hier eine der Schmieden für die Hexer. Ich weiß, dass dort noch einige Bücher liegen – die können wir inspizieren.“ Volmar nickte nach links, einen steinigen schmalen Weg entlang, der in eine schattige Kluft eines Bergausläufers führte.
Der Pfad führte schlängelnd an den scharfkantigen Flanken der Kluft vorbei, bis zu einem alten Stolleneingang. Die Hexer traten in die allumfassende Dunkelheit und ihre Katzenaugen weiteten sich. „Rechts entlang.“ Volmar schritt voran. Sie durchquerten zwei Abbiegungen und kamen an einem eingestürzten Schacht vorbei zu einer großen Höhle mit Stalagmiten und Stalaktiten. „Hey Volmar, wie kann man sich Stalagmiten und Stalaktiten merken? Mieten steigen – Titten hängen…“, plauderte Valerian. „Valerian… jetzt nicht bitte.“ Valerian räusperte und besann sich. Dieser Ort könnte genauso wie die Höhle der Kräuterprobe ein Platz unschöner Erinnerungen sein, und kein passender für Scherze. „Verzeih.“ Valerian nahm eine feine magische Schwingung wahr. Ihm fielen einige unförmige Steinklumpen am Boden auf. „Volmar schau: Ein Golem stand hier. Wenn du dich konzentrierst, nimmst du noch die Schwingungen des Konstruktes oder seines Befehlszaubers wahr…“ Der Wolf nickte. „Tatsächlich. Einer meiner Brüder erwähnte, dass hier bis vor kurzem einer noch wache gehalten hatte. Komm mal her Valerian.“ Sie gingen weiter durch die Höhle in einen zweiten großen Raum. Dieser war versehen mit einem großen Ofen in der Mitte, Schwertständern an der rechten Seite und Arbeitstischen an der linken, daneben noch einigen Regalen. Wenngleich einige Bücher in den Regalen standen, befand sich in diesen nichts, was für die Kräuterprobe relevant wäre – dort ging es hingegen mehr um Geheimnisse der Metallurgie und der Schmiedekunst. „Die nehme ich mit.“, sagte Volmar.
Sie verließen die Mine am Nachmittag und ritten weiter über den löchrigen Damm, zurück zur Hauptstraße. Diese passierte den Fluss an einer flachen Furt und gabelte sich dann kurz vor der Burg Kaer Morhen. Sie bogen links ab und ritten weiter den Weg entlang nordwärts, und durchquerten die Felsenschlucht zwischen der Hauptburg und einer Turmruine auf einem einsamen Felsvorsprung neben der Burganlage. Nachdem sie die Burgmauern über sich passierten, öffnete sich vor ihnen das Tal erneut und wurde breiter. Jetzt zeigte sich ein kleiner Blick durch weitere Talschlängelungen nordwärts auf den glänzenden See von Kaer Morhen. Sie hielten aber nicht weiter darauf zu, sondern ritten nordwestlich in das Hügelgebiet vor dem See einen schmalen Pfad entlang, vorbei an den abgebrannten Ruinen ehemaliger Holzbehausungen. Der Weg führte direkt in das Gebirge, mehrere hundert Meter steil bergauf. Mit jedem Schritt schloss sich die Schneedecke mehr um das aufstrebende Gras. Irgendwann führte die Serpentine auf einen Felsvorsprung, auf dem sich den Hexern eine Höhle auftat. „Wir sind da. Hier ist es… passiert.“ Sie stiegen von den Pferden ab, schritten durch den knarzenden Schnee und betraten schweigend die Höhle, die aus einem schlauchartigen Höhlengang voller Stalag… zapfen bestand. Das Echo ihrer Schritte war gewaltig – ‚so mussten auch die Schreie der Burschen gewesen sein‘ dachte Valerian sich dabei, aber sagte nichts. Die Höhle selbst öffnete sich nach kurzer Zeit etwas in ihrer Breite. Valerian machte an der linken und rechten Wand alte Fackeln in rostigen, eisernen Fassungen aus, und entzündete diese mit einer magischen ‚Igni‘-Geste. Der Fackelschein gab die Details der Höhle frei: An den Wänden zwischen den knorrigen Steinsäulen der Stalagmiten waren Höhlenmalereien, oder eher Skizzen mit weißer Farbe an der Wand. Hier war der Boden teilweise mit Pflastersteinen geebnet worden. In drei Ausbuchtungen der großen Höhle am Ende des Durchgangs, waren gitterartige Tische aus gebogenen Metallstreben platziert, einige Bücherregale, Tische, Urnen und Bottiche. Valerian und Volmar sahen sich schweigend um. Volmars Blick war auf einen der Metalltische geheftet. Es dauerte, bis er sich von dem Anblick und den üblen Gedanken daran losreißen konnte. Valerian hob ein Blatt vom Boden auf, eine herausgerissene Seite aus einem tabellarischen Register: „… Manfred von Verden, 8, Tod nach Verabreichen des zweiten Kräuterabsuds, Leberversagen. Gisbert von Daevon, 10, Tod nach Verabreichen von Aristida, multiples Organversagen…“ Valerian sparte es sich, den Rest vorzulesen. Ohne dass Volmar es kommentierte, spürte Valerian, dass es so besser sei. Er sah weitere Pergamente auf dem Boden liegen, sammelte wie bei einer Schnitzeljagd die Seiten ein und sortierte die gefundenen Ablaufberichte. Volmar trug eine kleine Urne in der Hand: „Hier. Nimm die mit. Man kann bis heute noch die Mutagenmatsche da drin riechen. Vielleicht hilft es euch ja bei der Entschlüsselung der Formel.“ Valerian sah alle Bücher, Hefte, Kataster und Berichte im Schein alter Fackeln durch. Bei jedem Werk schaute er Volmar mit einem fragenden Blick an, und dieser nickte zustimmend – dann stapelte Valerian die relevanten Dokumente geordnet auf einen Haufen in der Höhlenmitte, neben der Urne mit der stinkenden Mutagenpampe. Mehrere Stunden verlief das so. Sie fanden etliche Versuchsprotokolle, Beschreibungen von Autopsien an den ersten missglückten „Versuchsobjekten“, die Aufschlüsselungen von Versuchsreihen verschiedener erster Mischungen… aber niemals die finale Mixtur der Kräuterprobe, die die Wolfsschule zuletzt nutzte. Immerhin ließen sich einige Inhaltsstoffe und Reagenzien klar bestätigen, wie Germer, Haargerste, Nachtschatten oder Wolfsbann, oder einige Stoffe auch dementieren. „Saleha und Eiwa werden Luftsprünge machen. Ich denke, das wird ihre Forschung immens beschleunigen. Danke Volmar…“, sagte Valerian. Volmar grummelte in Zustimmung. Er inspizierte konzentriert die vermeintlichen Foltertische, diverse Kräuterstößelapparaturen, Bottiche für Kräutertees und, so wie Valerian auch, Bücher – viele Bücher. Plötzlich spürten die Hexer ein Zucken ihrer Medaillons, und die Stimme eines Kindes rief in schwachem Echo: „Ich fühle mich nicht gut Meister… macht mich los! Bitte!“ Die Hexer schwiegen eine Weile. Dann sagte Volmar „Bitte… lass uns hier fertig werden.“
Sie beschleunigten ihr Vorhaben und packten einige Dokumente ungelesen zu dem Stapel in der Höhlenmitte. Auch zwei weitere Urnen haben sich zu den Fundsachen dazugesellt. Alles wurde in mehrere kleine Transportbeutel aufgeteilt, und draußen den wartenden Brunhild und Vargheist an den Sattel geschnürt. Ihr Atem dampfte in der Kälte, denn die wärmende Sonne war längst untergegangen und das Mondlicht untermalte die gespenstische Stimmung des tragischen Ortes. „Es gibt in Kaer Morhen noch einige Bücher die relevant sein könnten… dort reiten wir nun hin, und natürlich, um dort die Nacht zu verbringen. Ich bitte dich, das Reden nach Möglichkeit mir zu überlassen. Und denk an unsere Abmachung: Kein Wort über unsere Unternehmung, Valerian… und alle Dokumente kommen nach dem Abschluss eurer Forschung wieder zu mir zurück.“ Der Alte nickte: „Ich schwöre.“ Sie sprangen auf die Pferde, welche freudig wieherten darob die windige Klippe verlassen zu dürfen und so ritten sie bei hellem Vollmond gemächlich Richtung Tal.
In der Talsohle angekommen ritten sie im langsamen Schritt die Serpentine hoch bis zur Zugbrücke, die über den Burggraben reichte. Vor den beiden erhob sich in der Nacht die Außenmauer und das Tor von Kaer Morhen, voller Löcher und Makel im Mauerwerk. Die Spuren des Angriffs auf die Burg vor etlichen Dekaden, waren immer noch im hellen Mondlicht gut zu sehen. „Komm schon!“, rief Volmar. Sie ritten durch das hohe, schlanke Burgtor durch eine zugige Vorhalle in den ersten Burghof. Valerian hielt inne: Die Burg war auch von dieser Perspektive aus in einem desolaten Zustand. Löcher im Mauerwerk, teilweise dilettantisch geflickt. Morsche Gerüste standen planlos herum und einsame Balken und Bretter verteilten sich über Wände und Böden. Wild wucherndes Unkraut aus jeder Ritze. Er wollte es gerade kommentieren, da hielt er sich doch mit seiner Äußerung zurück: Jemand, dessen Burg gerade erneut zerstört wurde und der gar kein Zuhause mehr besaß, hat sich kritische Kommentare zu der Wolfshexerresidenz zu verkneifen. Außerdem stand es um die Geldgeber der Wolfshexer bestimmt schlechter, als um die der Greifenschule. So hatten sie doch viel Ähnlichkeit miteinander, die Burg der Wölfe und die der Greifen: Beide angegriffen und verwüstet durch wütende Meuten.
Valerian löste sich von den Gedankenspielen. Sie sattelten ab, kümmerten sich um die Pferde und durchschritten die drei verwüsteten Burghöfe der Außenburg, bis sie vor einem großen Portal aus massiver Eiche standen, das in die Innenburg führte. Sie traten ein, und die Hexer rochen den einladenden Duft von Fichtenholzrauch und gekochtem Gulasch. Sie schritten durch die beiden Vorzimmer in die große Haupthalle. Während Valerian die hohen gotischen Deckenbögen und Fensterformen bestaunte, rief Volmar mit einem Echo: „Jemand Zuhause?“ „…Volmar?“ Von rechts hinten her, wo das Kaminfeuer loderte, stand ein Mann auf und kam den beiden Hexern entgegen: Er hatte glatte dunkle Haare und eine verheerende Narbe auf der rechten Wange. „Eskel! Es ist sehr schön dich zu sehen. Bist du alleine hier?“ „Nein. Die anderen schlafen schon, ich bin noch als einziger wach. Wer ist dein Begleiter?“ „Ich möchte dir jemanden vorstellen: Valerian. Er ist ein alter Hexer der Greifenschule.“ Valerian nickte Eskel freundlich zu. Dieser antwortete mit einem Lächeln: „Sehr erfreut, Valerian. Ich bin Eskel. Kaer Morhen hatte immer wieder in seiner Geschichte Angehörige anderer Schulen zu Gast. Sei also willkommen. Bist du ein Freund Volmars, bist du auch mein Freund… Wildgulasch?“
Im Laufe einer ausgiebigen Mahlzeit am Tisch vor dem Kaminfeuer, kamen die drei ins Gespräch. Erst tauschten sich Volmar und Eskel ausgiebig über deren letzte Reisen und Aktionen aus – abgesehen natürlich von dem tatsächlichen Vorhaben, das Volmar und Valerian hier verfolgten. Eskel hakte zum Glück nicht näher nach, weswegen genau die beiden „hier zufällig auf der Durchreise“ waren. Dann irgendwann, nach einer Zeit des respektvollen Zuhörens, klinkte sich der alte Hexer in das Gespräch ein: Valerian berichtete, dass er noch vor der Verwüstung der alten Greifenschule Kaer y Seren und vor dem großen Angriff auf Kaer Morhen einmal die Wolfsschule besuchte. Er war damals noch ein junger Grünschnabel, so erzählte er, und berichtete, wie er einige Bücher aus der berühmten Bibliothek Kaer y Serens nach Kaer Morhen zum Großmeister der Wölfe brachte. Die Drei unterhielten sich ausgelassen über diesen oder jenen Hexer, die sie kennen und kannten und schwelgten in amüsanten Erinnerungen an ihre Ausbildung oder die harte Schule des alltäglichen Hexerdaseins. Die Stimmung war gelockert, also traute sich Valerian: „Welches Vieh hat dir das verpasst?“ und deutete mit seinem Holzlöffel, von dem rote Gulaschsoße tropfte, auf Eskels rechte Gesichtshälfte. Der Narbengesichtige schwieg einen Moment, Volmar blickte betreten in seine Holzschüssel. „Das schlimmste Monster von allen, Valerian. Das Schicksal… Mein Kind der Überraschung hat mich damit überrascht. Ich möchte nicht darüber reden.“ Der Alte nickte verständnisvoll. Eskel wechselte das Thema: „Die Greifenschule… erzähl mir doch mal ein bisschen: Wo treibt ihr euch jetzt herum? Wie viele gibt es noch von euch? Und sag mal… kanntest du eigentlich Coën?“ Valerian hob die Augenbrauen: „Ja, natürlich. Aber was heißt ‚kanntest‘?“ Volmar und Eskel warfen sich einen eindeutigen Blick zu. Eskel berichtete sachlich: „Coën hielt es nicht so mit der üblichen politischen Neutralität der Hexer. Er kämpfte für die nördlichen Königreiche in Brenna. Die Schwarzen haben ihn niedergestreckt in der Schlacht…“ „Verdammt. Er war ein feiner Kerl. Doch wenigstens gehört er zu den wenigen Hexern, dessen Todesumstände seiner Zunft bekannt sind – ein seltenes Phänomen in unserem Berufsstand.“ Eskel sparte sich die pikante Geschichte, dass der Tod Coëns in diesen Hallen, in denen Sie Wildgulasch aßen, von einem Medium vorausgesagt wurde.
Wieder wurde das Thema gewechselt: Valerian ging auf Eskels weitere Fragen ein und erzählte von den vielen Schicksalsschlägen der Greifenschule, erst in den Drachenbergen bei Kaer y Seren, dann in den Amellbergen bei Haern Cadwch und schließlich von Kaer Iwhaell und seiner jüngeren Geschichte. Danach fiel Valerian in bedrückende Gedanken, und eine sorgenvolle Miene breitete sich auf seinem Gesicht aus. Volmar wusste Rat: „Mein lieber Valerian – ich glaube es wird Zeit für eine Fortsetzung unseres Lieblingstrinkspiels aus Ylos: ‚Ich Hexer hab‘ noch nie…‘…“ Eskel lachte laut auf: „Ich hol drei Flaschen weiße Möwe!“ Und so verbrachten die drei ungleichen Monsterjäger einen sagenhaften Abend mit drei Flaschen ungemein starkem, halluzinogenem Hexerschnaps und einem Trinkspiel, bei dem man dann trinken muss, wenn man auf die Frage des Gegenübers hin zu einer Monsterspezies in der Vergangenheit einen Hexerauftrag zu dem Monster versaut hat – und diese amüsanten Geschichten dazu wurden von den Dreien bei schallendem Gelächter in der Halle von Kaer Morhen vor dem Kaminfeuer erzählt, bis tief in die Nacht hinein.
Die strahlende Morgensonne traute sich endlich über die Bergspitzen der Blauen Berge und wärmte den Rücken von Volmar und Valerian und begann den Frost der alten Welt zu schmelzen. Mit gefüllten Taschen ritten sie schweigend und herb verkatert die Straße neben dem kalten Gwenllech entlang. Vargheist und Brunhild schnaubten, und Dampfschwaden verließen ihre Nüstern. Volmar brach die kopfschmerzbedingte Stille: „Sag mal Valerian… einen Platz weiß ich noch, der interessant sein könnte für unsere Reise. Die Wolfshexer hatten vor wenigen Jahren Bekanntschaft gemacht mit einer Bande namens Salamandra, die Wissen um die Kräuterprobe gestohlen haben soll vor einigen Jahren. Diese Geheimnisse wurden zwar weitestgehend von meinen Brüdern zurückerobert – doch existiert da angeblich bei Wyzima ein Labor oder Unterschlupf der Salamandra, dass wir noch inspizieren könnten… was meinst du?“ „Worauf warten wir? Wir werden nicht jünger. Reiten wir los, durch eisige Bergpässe, bevor du deinen jungen Stolz aufs Hexerdasein verlierst, lieber Volmar. Aber selbst, wenn es soweit ist, keine Sorge: Du gehörst jetzt zur Familie.“, Valerian gab seinem Rappen die Sporen und galoppierte voran. Volmar lachte kurz, dann schmunzelte er. „… möge unsere Welt unter einer neuen Sonne wiedergeboren werden.“ Sagte er bei sich und galoppierte dem alten Hexer hinterher. Er meinte noch das Kreischen einer Möwe zu hören, doch ist dies gewiss unmöglich bei der unendlichen Distanz zur Meeresküste.